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Polizeihauptmann Fritz Hugo Kunz ist ein ca. 50 jähriger, eigenwilliger, unkonventioneller Ermittler, welcher, nachdem er in Zürich in Ungnade gefallen und nach Zug abgeschoben worden war, etwas unmotiviert bei der Arbeit ist. Sein Markenzeichen sind seine ironischen, teilweise sarkastischen Bemerkungen. Kunz wird eines Nachts vom Klingeln seines Handys aus dem Schlaf gerissen und zu einem Tötungsdelikt ins Hotel Choller gerufen. Der Ermordete hatte sich als Rabbi Mendel Friedmann eingecheckt. Schon beim Betrachten der Leiche fällt Kunz eine Tätowierung am Unterarm auf. Sein Gefühl sagt ihm, dass der Tote unmöglich ein orthodoxer Jude sein kann. Am Tatort trifft er seine ehemalige Geliebte, eine Journalistin, welche neu auch in Zug tätig ist. Das Treffen reisst bei ihm alte Wunden auf und er versucht, parallel zu den Ermittlungen ihr Herz zurückzuerobern. Beim Ermordeten wird ein Zahlenrätsel gefunden. Während des Verhörs eines Verdächtigen hat Kunz einen Geistesblitz, wie er das Rätsel lösen kann. Anstatt wie erhofft mit der Lösung den Täter eindeutig identifizieren zu können, vermehrt sich die Zahl der Verdächtigen nochmals, was Kunz fast zur Verzweiflung bringt. Kunz ist gefordert. Kann er den Fall lösen und dabei das Herz seiner Ex-Freundin zurückerobern?
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Seitenzahl: 276
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Stephan Dettling
Teufelskreis
Krimi
© 2024 Stephan Dettling
Covergrafik mit KI erstellt
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter Impressumsservice der tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Kapitel
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Der schrille Klingelton seines Handys riss Polizeihauptmann Fritz Hugo Kunz aus dem Schlaf. Halb wach rieb er sich die Augen und fluchte über die nächtliche Störung. Dann fiel ihm ein, dass er Bereitschaftsdienst hatte. Hätte ihm vor ein paar Monaten jemand gesagt, dass er in seinem Alter wieder Bereitschafts-einsätze machen müsse, er hätte laut gelacht. Als ehemaliger Chef des Kriminalkommissariats der Stadt Zürich hatte er Untergebene, welche die von ihm weniger geliebten Aufgaben übernehmen mussten. Dass er in dieser Funktion seine Kompetenzen manchmal überschritt oder Beweismittel zurechtfeilte, interessierte damals niemanden, bis ihm der Anwalt eines Drogenhändlers einen Strich durch die Rechnung machte.
Dem Dealer war er schon lange auf der Spur. Er hasste den Kerl, weil er Drogen an Jugendliche verschenkte, bis diese von den Opiaten abhängig waren und zu willigen Kunden wurden. Als er den Dealer nach längerer Observation in flagranti erwischte, hatte dieser unglücklicherweise keine grossen Mengen an verbotenen Substanzen bei sich. Um die magere Beute etwas aufzupolstern, ergänzte Kunz diese mit je einem Pack Heroin und Kokain aus der Asservatenkammer.
Unter normalen Umständen wäre dieser Abschaum von einem Menschen für ein paar Jahre aus dem Verkehr gezogen worden. Leider waren es bei diesem Fall keine normalen Umstände. Es war ein Kampf David gegen Goliath, nur dass dieses Mal Goliath als Sieger das Feld verliess. Der Vater des Verhafteten war nicht nur ein einflussreicher Nationalrat, sondern auch Kandidat für den nächsten freien Sitz im Bundesrat und demzufolge der Hoffnungsträger der Elite von Zürich. Als Verteidiger seines Sohnes engagierte er einen ehemaligen Staatsanwalt, welcher die Seiten gewechselt hatte und mit Kunz’ eigenwilligen Methoden bestens vertraut war.
Zwei Tage nach der Verhaftung des Dealers wurde er ins Büro seines obersten Vorgesetzten, Polizeikommandant Peter Abegg, beordert. In der geräumigen Besprechungsecke warteten Abegg, der für das Justiz- und Polizeidepartement zuständige Zürcher Stadtrat Peter Türler, Anwalt Dr. jur. Kronenberger und Nationalrat Hans Bodmer bereits auf ihn. Freundschaftlich wurde er vom Kommandanten empfangen und den Anwesenden vorgestellt. Nachdem er jeden Einzelnen per Handschlag begrüsst hatte, setzte er sich auf den letzten freien Stuhl.
Nach einem kurzen Blickwechsel mit Kommandant Abegg ergriff der Nationalrat das Wort: „Hauptmann Kunz, wir haben Sie zu diesem Gespräch eingeladen, um uns mit Ihnen über Ihre Zukunft auszutauschen. Grundsätzlich wird Ihre Arbeit hier in Zürich geschätzt und keiner der Anwesenden hatte bisher einen Grund zur Beschwerde, im Gegenteil, mir wurde viel Positives über Sie berichtet.“
Am liebsten hätte Kunz laut gelacht, denn er glaubte Bodmer kein Wort. Natürlich wusste er den wahren Grund des Treffens, nutzte aber die Gelegenheit, um die Anwesenden ein wenig zu provozieren. „Danke für die Rosen. Darf ich aufgrund Ihres Lobes davon ausgehen, dass diese Sitzung einberufen wurde, um mir meine Beförderung mitzuteilen?“
Bodmer schaute Kunz verdutzt an. „Es wäre mir eine Freude, wenn dies der Grund unseres Treffens wäre. Diese Sitzung wurde leider aber aus einem unerfreulichen Grund angesetzt. Zu unserem Bedauern haben Sie vorgestern einen gröberen Fehler begangen. Sie haben einen Unschuldigen zu Unrecht des Drogenhandels bezichtigt. Anwalt Dr. jur. Kronenberger, mit dem Sie früher erfolgreich zusammenarbeiteten, hat sich mit dem Fall befasst. Bei seinen Recherchen prüfte er die Buchhaltung der Asservatenkammer und stellte fest, dass Sie dieser nach der Verhaftung meines Sohnes Kokain und Heroin entnommen hatten. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei den Entnahmen um die Mengen handelt, welche Sie auf der Liste der angeblich bei meinem Sohn beschlagnahmten Drogen aufgeführt haben?“
Kunz wusste, dass leugnen zwecklos war. Kampflos wollte er sich aber nicht geschlagen geben. „Das stimmt. Die beim Delinquenten gefundene Menge an Drogen war zu gering für eine angemessene Strafe. Deshalb habe ich sie zugunsten Ihres in meinen Augen so wundervoll geratenen Sohnes sinnvoll ergänzt.“
Während sein Vorgesetzter über das Gehörte schmunzeln musste, schaute ihn Bodmer genervt an, liess sich aber von Kunz nicht provozieren und sprach, seines Sieges gewiss, mit sanfter Stimme weiter: „Hauptmann Kunz, das Unterjubeln von falschen Beweismitteln ist eine Straftat. Aber keine Angst, es ist nicht mein beziehungsweise unser Ziel, Sie hinter Gitter zu bringen. Im Gegenteil, ich habe mich, bevor wir Sie haben rufen lassen, für Sie eingesetzt.“
„Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen. Wie komme ich zu dieser Ehre?“
Ohne auf Kunz’ sarkastisch gemeinte Frage einzugehen, fuhr Bodmer in seinem Monolog unbeirrt fort. „Wie mir Ihr Vorgesetzter versichert hat, sind Sie ein hervorragender Fahnder und es wäre eine Schande, wenn man Sie aus dem Dienst entliesse. Deshalb haben wir nach einer für alle Beteiligten akzeptablen Lösung gesucht. Da Sie in Zürich, wie Sie sicher verstehen werden, keine Zukunft mehr haben, haben wir uns ausserkantonal umgesehen und sind im Kanton Zug fündig geworden. Sie können in Zug Anfang nächsten Monats beginnen. In den Zentralschweizer Voralpen werden Sie sich gewiss wohlfühlen. Da es im Steuerparadies Zug schwierig ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, können Sie bei der Stadt Zug eine für Zuger Verhältnisse günstige Wohnung in einer stadteigenen Liegenschaft mieten.“
Zynisch lächelnd bemühte er sich, die Abschiebung mit einer Aufmunterung zu beschönigen. „Freuen Sie sich, Sie arbeiten in Zukunft am malerischen Zugersee, in einer Gegend, in der andere Ferien machen.“
Kunz verzichtete auf eine Antwort und verzog sein Gesicht zu einem mitleidigen Lächeln.
Nach einer kleinen Pause des Schweigens ergriff Bodmer erneut das Wort: „Es versteht sich von selbst, dass jeder der hier Anwesenden über das soeben Besprochene Stillschweigen bewahrt.“
Kunz war klar, dass der Herr Nationalrat kurz vor den Erneuerungswahlen des eidgenössischen Parlaments keine negativen Schlagzeilen gebrauchen konnte. Auch die anderen Anwesenden waren nicht erpicht darauf, der Presse unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Gerne hätte er den Bogen noch etwas gespannt, aber in seiner aktuellen Situation war es mangels Alternativen besser, das Angebot zu akzeptieren.
Dem Zuger Polizeikorps verkaufte man Kunz als erfolgreichen Polizeihauptmann aus der Grossstadt. Dass man ihn in Zürich, nachdem er bei einem Fall von häuslicher Gewalt den angreifenden Mann bewusstlos geschlagen hatte, um diesen davon abzuhalten, weiterhin auf seine Partnerin einzuprügeln, hinter seinem Rücken „Kommissar Haudrauf“ nannte, verschwieg man den Zugern ebenso wie den wahren Grund seiner Versetzung.
Die Ironie dieses Spottnamens erschliesst sich erst, wenn man weiss, dass Kunz in seiner frühen Jugend ein Schwächling war. Damals hätte jeder laut gelacht, hätte man ihm erzählt, dass er in Zukunft einmal den Spitznamen „Kommissar Haudrauf“ erhalten würde. Als scheuer, etwas linkischer Junge hatte er es in dem Vorstadtarbeiterquartier, in welchem er mit seinen Eltern wohnte, nicht leicht. Regelmässig wurde er von anderen Schülern geschlagen. Der Schlimmste von allen war der Bucher Richi. Fast täglich kassierte er von dem Kerl Ohrfeigen, bevor dieser ihm das Pausenbrot stahl. Er konnte nur hoffen, dass seinem Peiniger das konfiszierte Essen schmeckte, denn war dies nicht der Fall, wurde Richi wütend. Helfen wollte ihm niemand. Sein Vater war der Ansicht, dass die Abreibungen seinem Schwächling von Sohn guttun würden, und seine Mutter war mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt, sodass sie keine Zeit für die Sorgen ihres Sprösslings hatte.
Als er einmal nach einer besonders schlimmen Tracht Prügel weinend auf dem Asphalt des Pausenplatzes kauerte, wurde er vom Lehrer Kaiser am rechten Oberarm gepackt und mit einem Ruck auf die Beine gestellt. Pädagoge Kaiser, welcher auf das a stolz war, das ihn vom üblichen Schweizer Nachnamen Keiser unterschied, war allseits gefürchtet. Der Mann war mit knapp 1.60 m Körpergrösse eher ein Bonsai im Vergleich zum Bucher Richi, aber von solch kräftiger Statur, dass ihm jeder Respekt zollte.
„Willst du dein Leben lang das Opfer sein?“, fragte er ihn ganz nett und mit einer Sanftheit in der Stimme, dass er ihm auf einmal sympathisch war. Er spürte, dass der Lehrer es gut mit ihm meinte.
„Nein“, stotterte Kunz unsicher.
„Wenn du willst, helfe ich dir, so kräftig zu werden, dass sich jeder vor deiner Faust fürchtet. Ich weiss, wovon ich spreche. Ich erkenne in dir mich in deinem Alter. Wäre ich nicht so stark, würde ich nicht den Respekt geniessen, den man mir heute entgegenbringt. Bist du bereit, dich zu quälen?“
Er wusste nicht, welche Strapazen Lehrer Kaiser mit dem Begriff „quälen“ verband. Trotzdem antworte er aus Respekt mit Ja, und um seiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen und weil er es im Fernsehen in einem amerikanischen Film einmal so gehört hatte, bekräftigte er seine Zustimmung: „Ja, Sir!“
Diese Antwort gefiel dem Pädagogen. „Sehr gut, komm heute Abend um 18 Uhr zum Eingang der Turnhalle. Es werden noch einige andere Leidensgenossen von dir anwesend sein.“
Wenn er gewusst hätte, was für eine Plackerei auf ihn wartete, er wäre nicht hingegangen. Am Morgen nach dem ersten Training hatte er nicht nur einen extremen Muskelkater, er spürte auch Muskeln, deren Existenz er bisher gar nicht wahrgenommen hatte. Am liebsten wäre er den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und hätte das Training sofort aufgegeben, aber das konnte er nicht. War man einmal bei einer Trainingseinheit dabei gewesen, war man in der Gruppe gefangen. Daher ging er jeden zweiten Tag abends um 18 Uhr pünktlich zur Turnhalle und machte trotz Schmerzen bei allen Übungen mit. Pünktlichkeit war dem Lehrer Kaiser wichtig, denn nach seiner Meinung gingen Disziplin, Verlässlichkeit und Erfolg Hand in Hand. Mit der Zeit fand er Spass am harten Training und der Muskelkater war nur noch selten sein Begleiter. Nach Wochen intensiven Krafttrainings fühlte er sich eines Abends stark genug, um im Kampf zu bestehen. Als der Bucher Richi ihn wie gewöhnlich am darauffolgenden Tag auf dem Schulweg von hinten an der Schulter packte, war er entschlossen, seinem Peiniger die Stirn zu bieten. Er drehte sich abrupt um und schlug unvermittelt mit voller Wucht seine rechte Faust, in welcher seine ganze aufgestaute Wut und Energie steckten, in Richis Bauch, worauf dieser röchelnd nach Luft schnappend zu Boden ging. Von diesem Tag an war er eine Respektsperson auf dem Pausenplatz und mit seiner Kraft wuchs nicht nur sein Selbstvertrauen, sondern auch seine schulischen Leistungen wurden konstant besser, sodass er alsbald zu den Klassenbesten gehörte.
Nachdem er den ersten Anruf in der Hoffnung, dass es ein Versehen war, ignoriert hatte, unterbrach das erneute Klingeln seines Handys sein Schwelgen in Erinnerungen. „Kunz“, meldete er sich etwas ungehalten.
Er sagte meistens nur seinen Nachnamen, weil er mit seinem ersten Vornamen Fritz genauso unglücklich war wie mit dem zweiten Hugo.
Er hasste Sprüche wie „Was ist das für ein Fritz?“ oder „Was macht der Fritz dort?“, ebenso wie die Bemerkung „Du bist nicht ganz Hugo im Kopf.“.
Auch mit seinem Nachnamen Kunz war er nicht zufrieden. Es ärgerte ihn, wenn in der Zeitung Veranstaltungen abschätzig als „Treffen von Hinz und Kunz“ betitelt wurden. Wenn er seinen kompletten Namen sagen musste, nannte er deshalb immer seinen ersten Vornamen in einem Atemzug mit dem zweiten. Fritz Hugo Kunz tönte edler als nur Fritz Kunz, und da er keinen anderen Fritz Hugo kannte, besass er diese Namenskombination womöglich exklusiv.
„Zwyssig, guten Abend, Hauptmann Kunz, entschuldigen Sie die Störung. Aber ich muss Ihnen ein Tötungsdelikt im Hotel Choller melden.“
Lara Zwyssig war eine taffe junge Polizistin im Range eines Wachtmeisters. Aufgrund ihrer zierlichen Figur wurde sie oft unterschätzt. Er hatte sie einmal in ihrer Freizeit, das blonde Haar wallend über ihre Schultern fallend, am See entlang flanieren sehen. Alle Männer schauten ihr nach und waren von ihrem Anblick begeistert. Ihre grazile Erscheinung täuschte. Im Dienst war sie eine robuste Vertreterin des Staates, welche dessen Gesetze durchzusetzen vermochte. Während eines Nahkampftrainings hatte sie ihm einmal einen Tritt versetzt, dass er sich trotz Polsterung setzen und um Luft ringen musste. In Polizeiuniform gekleidet spielte für ihn das Geschlecht keine Rolle und er war als Vorgesetzter stets bemüht, dass Mann und Frau gleich behandelt wurden. Er duldete unter seinen Untergebenen keine anzüglichen Sprüche oder sexuellen Avancen. Dies wurde von den weiblichen Polizistinnen sehr geschätzt, denn sein Vorgänger hatte wegen ungebührlichen Verhaltens den Hut nehmen müssen. Da das durchschnittliche Alter im Zuger Korps sehr gering war, gehörte er zu den älteren Beamten und musste sich spöttische Bemerkungen anhören wie: „Sie waren sicher schon beim Rütlischwur für das Sicherheitsdispositiv verantwortlich.“
Da er selbst auch nicht um Antworten verlegen war, duldete er die entsprechenden Witze, wohingegen er, sobald nach seiner Auffassung Mobbing, Sexismus oder Rassismus im Spiel war, rigoros durchgriff.
„Ein Mord in Zug?“, wiederholte er, halblaut zu sich selbst sprechend. Zur Sicherheit fragte er nochmals nach: „Mord, sind Sie sicher?“
„Ja, der Nachtportier vom Hotel Choller hat uns soeben ein Tötungsdelikt gemeldet.“
„Hotel Choller? Der Name kommt mir bekannt vor.“
„Das ist das ehemalige Swisshotel Zug im Choller Gebiet, ausserhalb von Zug Richtung Cham, nach der grossen Tankstelle in der Nähe des Zuger Sees.“
„Stimmt, das kenne ich. Das ist seit einigen Wochen ein Self-Check-in-Hotel. Wo sind Sie jetzt?“
„Ich bin mit dem Gefreiten Martig und vier Polizeisoldaten auf dem Weg zum Tatort. Zwei Streifen sind ebenfalls unterwegs.“
„Wann sind Sie dort?“
„Ich schätze, in zwei, drei Minuten.“
„Melden Sie sich nochmals, wenn Sie mit dem Gefreiten Martig alleine sind, sodass ich mich mit Ihnen beiden ohne Zuhörer ungestört unterhalten kann.“
Zwyssig und Martig waren seine direkten Untergebenen. Der Gefreite Bruno Martig war vor einem halben Jahr aus dem Wallis in die Üsserschwyz zu den Grüezeni gekommen, wie die Einwohner der restlichen Schweiz im Wallis betitelt werden. Zwyssig war auch kein Eigengewächs, wie Polizisten genannt wurden, welche in Zug die Polizeischule absolviert hatten. Sie war aus dem Kanton Schwyz nach Zug gekommen. Somit bildete er, der aus Zürich stammte, zusammen mit den zweien, die nicht gerade Aussenseiter, aber doch noch etwas fremd im Korps waren, eine Gemeinschaft, die gerne zusammenarbeitete. Sie waren ein richtig gutes Team, wobei er die beiden auch aufgrund ihrer Leistung respektierte. Zwyssig und Martig waren nicht umsonst befördert worden. Er konnte sich gut vorstellen, dass Zwyssig in Zukunft einmal die erste Polizeikommandantin der Schweiz werden würde. Sie war intelligent und konnte sich auch in schwierigen Situationen durchsetzen. Martig war eher gemächlich, aber hartnäckig bei der Arbeit und genauso zielstrebig wie Zwyssig. Sein Ziel war es, eines Tages als Kommandant ins Wallis zurückzukehren.
Ein Mord in Zug war aussergewöhnlich. Ihm waren nur zwei Tötungsdelikte auf Zuger Gebiet bekannt. Kurz vor seinem ersten Arbeitstag im Zuger Korps war ein Mord bei einer Station der Stadtbahn, welcher am Anfang wie ein Raubmord ausgesehen hatte, als Beziehungsdelikt bei einem homosexuellen Paar aufgeklärt worden. Vor diesem Fall hatte es vor Jahren einen bisher unaufgeklärten Mord am Schulhausvorsteher des Marktgasse-Schulhauses in der Gemeinde Baar gegeben. Er hatte sich, nachdem er sich im neuen Job eingearbeitet hatte, die Unterlagen zu dem noch ungelösten Fall kommen lassen, weil er diesen neu aufrollen wollte. Er hoffte, die Aufklärung vor Ablauf der Verjährungsfrist würde seiner Karriere einen positiven Schub verleihen.
Während er beim neuen Namen „Hotel Choller“ nachfragen musste, war ihm der alte Name „Swisshotel“ sehr gut bekannt. Philipp Horber, der damalige Patron, war ihm an einem Anlass vorgestellt worden, welcher in den Räumen des Polizeigebäudes stattgefunden hatte. Die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch und Philipp setzte ihn auf die Gästeliste des Hotels. Fortan wurde er bei allen Anlässen eingeladen, welche die Volks-partei, gleichgesinnte Vereine und Interessensgemeinschaften in den Konferenzräumen abhielten. An diesen Events wurden oft informative Vorträge gehalten, bevor beim anschliessenden gemütlichen Teil zum Smalltalk am Buffet mit Köstlichkeiten geladen wurde. Als lohnender Nebeneffekt lernte man interessante und einflussreiche Leute kennen. So war er in der Zwischenzeit mit vielen Politikern auf allen Ebenen der schweizerischen Politik befreundet. Da er die entsprechenden Einladungen immer gerne angenommen hatte, kannte er das Hotel und dessen Umgebung sehr gut. Er schätzte auch die kostenlosen Parkmöglichkeiten rund um das Hotel, denn er hasste es, für Nichtigkeiten wie das Parken des Autos Geld ausgeben zu müssen.
Er war noch nicht komplett angezogen, als ihn der erwartete Anruf von Wachtmeister Zwyssig erreichte. Er griff mit der linken Hand nach seinem Handy und knöpfte mit der rechten sein Hemd zu. „Kunz.“
„Zwyssig, Sie wollten mich und den Gefreiten Martig alleine sprechen.“
„Ja, danke für Ihren Rückruf. Mir ist zu Ohren gekommen, dass das neue Hotelkonzept eine von uns nicht sehr geschätzte Klientel angezogen hat. Ich denke, wir sollten die Gelegenheit nutzen und den Laden gründlich durchsuchen. Wer weiss, vielleicht können wir den einen oder anderen Beifang an Land ziehen.“
„Räuchern wir den Laden aus“, bestätigte Zwyssig Kunz’ Anweisung.
Er musste das Lachen unterdrücken, hatte Zwyssig wirklich diesen Wildwestspruch gesagt? Solche Redensarten waren markig und kamen beim Laien oft gut an, im Polizeialltag hatte man sich aber an die offizielle Wortwahl zu halten. Im kleinen Rahmen konnte man sich jedoch ausdrücken, wie einem der Schnabel gewachsen war. Ausserdem war er es, der mit seiner lockeren Wortwahl seine Untergebenen zu flapsigen Sprüchen animiert hatte.
„Fischen wir den Teich aus“, doppelte Martig nach.
„Trockenlegen können wir den Sumpf wahrscheinlich nicht, aber diese Gelegenheit sollten wir uns nicht entgehen lassen. Bieten Sie auf, was Sie können. Keiner darf das Haus verlassen, ohne von uns vorher befragt und gefilzt worden zu sein. Postieren Sie beim Ausgang, bei den Zugängen zum Treppenhaus und beim Lift unsere Leute. Machen Sie die Schotten dicht.“
„Ich werde unsere Leute in Ihrem Sinne beauftragen. Die Spurensicherung und ein Spezialist zum Auswerten von Videoüberwachungsanlagen sind auch schon aufgeboten und unterwegs“, informierte ihn Zwyssig.
In Zürich hätte er noch die Sitte und die Frepo aufgeboten, aber im Städtchen Zug waren die Sitten- und Fremdenpolizei keine eigenen Abteilungen.
„Ich ziehe nur noch die Schuhe an und fahre dann gleich los. Wir sehen uns am Tatort. Bis ich anwesend bin, sind Sie, Zwyssig, assistiert von Martig, die Sheriffs vor Ort.“
Beim Wort „Sheriff“ mussten seine Untergebenen lachen.
Kurz vor 22 Uhr erreichte Kunz mürrisch den Tatort. Da er sich schon um halb neun Uhr schlafen gelegt hatte, fühlte es sich für ihn wie mitten in der Nacht an. Er fragte sich, wann aus dem coolen, sorglosen Typen der Langweiler geworden war, der schon um halb neun ins Bett ging. Er musste sich eingestehen, dass er nach der Abschiebung in den Kanton Zug nicht mehr den gewohnten Drive hatte. Irgendwie fehlte ihm die Motivation. Sein Ziel, einmal Polizeikommandant zu werden, hatte er insgeheim aufgegeben. Die Schmach, nach Zug abgeschoben worden zu sein, linderte auch seine Freude über das Scheitern des Nationalrats bei den Bundesratswahlen nicht. Die schmutzige Geschichte über die Drogengeschäfte seines Sohnes, welche durch ein unbekanntes Leck bei der Polizei an die Presse gelangt war, schreckte die Meute der Enthüllungsjournalisten auf und sie stürzten sich wie Geier auf den karrieregeilen Politiker und dessen Umfeld. Eine Geschichte jagte die andere und so fiel nicht nur der bisher geachtete Nationalrat in Ungnade, sondern auch einige seiner Gefolgsleute, welche in seinem Fahrwasser Karriere gemacht hatten. Nur der Anwalt, welcher den Drogenhändler erfolgreich verteidigt hatte, profitierte von der Enthüllung, denn er hatte nun den Ruf, für jeden Delinquenten einen Freispruch erwirken zu können. Nationalrat Bodmer ignorierte alle Forderungen nach Rücktritt aus dem Rat und war fest entschlossen, die Amtsdauer, für welche er gewählt worden war, abzusitzen. Eine weitere Wiederwahl war mehr als unwahrscheinlich, nachdem er aus seiner Partei wegen Rufschädigung und persönlicher Vorteilsnahme durch Ausnützung seines Amtes ausgeschlossen worden war. Natürlich blickten alle in Ungnade Gefallenen auf Kunz und bezichtigten ihn, die Presse mit den brisanten Informationen gefüttert zu haben. Aber man konnte ihm kein Fehlverhalten nachweisen oder belegen, dass er das Leck war. Auch dass er damals die Beweismittel ergänzt hatte, interessierte niemanden, im Gegenteil, die Presse sah in ihm das Opfer einer Intrige.
Eine besondere Genugtuung war ihm die erfolgreiche Ver-leumdungsklage gegen Nationalrat Bodmer, welcher als Ablenkungsmanöver medienwirksam behauptet hatte, Kunz sei ein Verräter und man müsse ihn vom Polizeidienst entfernen. Der erfolglose Bundesratskandidat musste sich nach seiner Niederlage vor Gericht bei Kunz entschuldigen und ihm eine Genugtuung bezahlen. Diese Schmach brach dem einst geachteten Parlamentarier endgültig das Genick, während sein Sohn weiterhin unbehelligt seinen Geschäften nachging. Auch wenn sein guter Ruf reingewaschen worden war, war es für Kunz ein Pyrrhussieg. Er fühlte sich weiterhin als Opfer, abgeschoben nach Zug, weit weg von seinem ehemaligen sehr angesehenen Kommando in der Grossstadt Zürich.
Unmotiviert, einen Mord aufklären zu müssen, parkte er sein Auto neben einem Streifenwagen. An einigen Polizeifahrzeugen vorbei schritt er über den Parkplatz zum Hoteleingang. Neben zwei Streifenwagen und einigen Zivilfahrzeugen waren die Autos der Spurensicherung, ein Mannschaftswagen und der umgangs-sprachlich so genannte Käfigtransporter, welcher für den Transport von Gefangenen mit entsprechenden Sicherungen ausgestattet war, auf dem Gelände geparkt. Wachtmeister Zwyssig hatte genug Personal aufgeboten, um den Laden auszuräuchern. Bei so vielen Helfern konnte eigentlich nichts schiefgehen.
In seiner alten Funktion in Zürich hätte er bei Erscheinen am Tatort sofort das Kommando übernommen. An seinem neuen Arbeitsplatz hatte er sich aber vorgenommen, jeweils die Rolle des Beobachters zu spielen und die Knochenarbeit seine Untergebenen erledigen zu lassen. Zwyssig und Martig waren die von ihm ernannten Chefs am Tatort und er wollte nur unterstützend eingreifen, wenn es nach seiner Meinung nötig war. Indem er sich zurückhielt, konnten seine Mitarbeiter in der Praxis Erfahrungen sammeln und sich dank guter Arbeit für den nächsten Karriereschritt empfehlen. Die Förderung von Talenten war seine neue Passion, seit er seine Karriereziele aufgegeben hatte.
Da er sich als Hauptmann in Zivil kleiden durfte, musste er sich beim Polizisten, welcher den Eingang bewachte, mit seiner Marke ausweisen, obwohl ihn der Wachmann sicher erkannt hatte. In seinen blauen, an den Waden eng anliegenden Jeans, dem weissen Hemd, dem schwarzen Sakko, den weissen Sneakersocken und natürlich immer extravaganten Schuhen fühlte er sich wohl. Weisse Socken trug er, seit ihm in der Jungend eine Freundin solche geschenkt hatte. Ihm war es egal, ob sie in Mode waren oder nicht.
Als der Wachmann ihm die Türe öffnete, bemerkte er, dass diese von einem im Türrahmen platzierten Stein daran gehindert wurde, sich zu schliessen. Er fragte sich, wo der Polizist den Stein gefunden hatte, fand die simple Lösung aber gut.
Zwyssig und Martig hatten ganze Arbeit geleistet, an den strategisch wichtigen Orten standen Polizisten Wache. In der Lobby traf er auf Lara Zwyssig, welche sich mit einem Untergebenen unterhielt. „Wo ist unser Patient?“, fragte er sie scherzhaft.
„Im zweiten Stock am Ende des Korridors“, war ihre kurze Antwort.
Immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, stieg er hoch zum zweiten Stock, lief den Korridor entlang und zwängte sich zwischen Wand und Schaulustigen zu dem Toten durch. Martig versuchte verzweifelt, die Schaulustigen, welche vom Lärm angelockt aus ihren Zimmern gekommen waren, von den Spurensicherern fernzuhalten. Als Kunz seinen verzweifelten Blick sah, rief er laut: „Bitte gehen Sie sofort zurück in Ihre Zimmer und warten Sie, bis Sie von uns weitere Informationen erhalten.“
Kaum hatte er seine Ansprache beendet, bemerkte er, wie ein beleibter Hüne, akustisch untermalt vom Gekicher zweier Damen, sich durch die Menge zu ihm nach vorne schälte. Bei ihm angekommen, baute er sich drohend vor ihm auf, legte seine linke Pranke auf seine rechte Schulter, beugte sich zu ihm nach unten und fragte laut, sodass alle Schaulustigen ihn hören konnten: „Kleiner Mann, bitte erkläre mir, wie du mich davon abhalten willst, der Spurensicherung bei der Arbeit zuzuschauen.“
Kunz fühlte sich von dem Mann bedroht und sein Benehmen erinnerte ihn an den Richi Bucher, welcher auch die Angewohnheit gehabt hatte, sich vor ihm aufzubauen.Anstatt sich professionell zu verhalten und den Mann mit Worten in die Schranken zu weisen, verfiel er in sein jugendliches Verhaltensmuster. Er liess seiner aufkommenden Wut freien Lauf, holte tief Luft und verpasste dem Riesen eine Richi-Bucher-Spezialmassage, indem er seine rechte Faust mit voller Wucht in dessen Bauch versenkte. Das Grossmaul klappte wie ein billiges Sackmesser in sich zusammen. Augenblicklich verstummte das Gekicher und die Menge nahm Abstand von ihm, während sich der mit der Faust Massierte, mit der einen Hand seinen Bauch haltend und der anderen sich nach vorne gebeugt am Boden abstützend, röchelnd vom Schlag erholte. Kunz nutzte die Gunst der Stunde, um endgültig für Ordnung zu sorgen. „Weitere Fragen, die ich beantworten darf? Tipps, Gags, Anregungen oder Wünsche, die ich erfüllen kann? Wenn nicht, dann schlage ich vor, dass jeder in sein Zimmer zurückkehrt und wie von mir angeraten auf weitere Anweisungen der Polizei wartet.“
Während die Schaulustigen sich auf den Weg zu ihren Zimmern machten, beugte er sich nach unten zu dem immer noch um Fassung Ringenden. „Na, du kleiner Duzer, da kommt einiges zusammen. Widerstand gegen die Staatsgewalt, Bedrohung eines Polizisten in Ausübung seiner Pflicht, Nötigung und so weiter. Wenn Sie nicht wollen, dass wir Sie aufgrund der von mir aufgezählten Delikte verhaften, stehen Sie sofort auf und ziehen Sie sich in Ihr Zimmer zurück – oder möchten Sie noch einen Nachschlag?“
Sich absichernd sagte er zu Martig gewandt: „Sie waren Zeuge aller Straftaten, welcher ich den Mann beschuldige?“
Martig nickte. „Ich bin Augenzeuge und kann Ihre Anschuldigungen bestätigen.“
Erneut dem sich noch immer vom Schlag Erholenden zugewandt: „Sie haben es gehört, Gefreiter Martig ist Zeuge.“
Während er sich wieder aufrichtete, gewährte er dem Geschlagenen eine kleine Pause. Dann sagte er: „Für ein Grossmaul, welches mich frech duzt – was ich überhaupt nicht mag –, haben Sie eine jämmerliche Vorstellung abgegeben. Meine Geduld ist am Ende. Ich zähle jetzt bis drei, danach sind Sie auf dem Weg zu Ihrem Zimmer oder ich werde nachhelfen.“
Stöhnend erhob sich der Geschlagene und schleppte sich vor Schmerz gebeugt in Richtung seines Zimmers, ohne dass Kunz bis drei zählen oder nachhelfen musste.
Kunz schaute sich nach dem Intermezzo das Mordopfer genauer an. Als Erstes fiel ihm dessen Kleidung auf, die ihn an einen orthodoxen Juden erinnerte. Irgendetwas passte aber nicht ins Bild und er hatte das Gefühl, dass der Tote nur als Jude verkleidet war. Beim genaueren Betrachten fiel ihm am rechten Unterarm eine Tätowierung auf, die halb vom Ärmel des Hemdes verdeckt war. Orthodoxe Juden haben keine Tätowierungen, die Unversehrtheit der Haut ist ihnen wichtig. Auch die Schläfenlocken fehlten. Der Gedanke, dass es sich um einen Betrüger handeln musste, liess ihn nicht mehr los. Kunz hatte Angst, dass der Mord, sollte es sich beim Toten tatsächlich um einen orthodoxen Juden handeln, ein weltweites Medienecho auslösen würde. Ein Mord war keine Schlagzeile, welche man im Steuerparadies Zug mit seinen vielen internationalen Firmen in der Weltpresse lesen wollte. Sein Unbehagen übertünchte er mit einem seine aktuelle Ratlosigkeit widerspiegelnden Spruch: „Ich habe schon Tote gesehen, die gesünder aussahen.“
Sein versuchter Witz erntete ein paar verhaltene Lacher bei den Spurensicherern.
Das Schweigen nach seiner Bemerkung wurde durch Lara Zwyssig unterbrochen, welche Kunz aufgesucht hatte, um ihn zu informieren. „Wir haben nun alles für die Befragungen vorbereitet. Wenn Sie nichts dagegen haben, dann machen Martig und ich die Interviews, assistiert von je einem Polizeischüler, welcher das Protokoll führt.“
Kunz hatte keine Einwände. „Genauso machen wir es, Wachtmeister Zwyssig. Die Ermittlungen hier sind eine gute Gelegenheit für Sie und auch den Gefreiten Martig, Erfahrungen zu sammeln. By the way, gibt es im Hotel eine Videoüberwachung, und wenn ja, gibt es einen Zuständigen?“
„Unser Mann von der Videoauswertung ist in der Lobby, er hat Hilfe von Paul, dem Nachtwächter. Der trägt einen weissen Overall mit dem alten Emblem vom Swisshotel. Er war es auch, der den Toten gefunden und uns alarmiert hat.“
„Bei meiner Ankunft habe ich eine Person in einem weissen Strampler gesehen. Das wird Paul, der Nachtwächter, gewesen sein. Haben Sie den Mann schon befragt? Auch wenn er hier für Ordnung sorgt, heisst das noch lange nicht, dass er ausserhalb jedes Verdachts steht. Ausserdem müssen wir seine Aussage mit den Ergebnissen der Spurensicherung abgleichen.“
Lara Zwyssig wurde rot im Gesicht, was sie Kunz noch sympathischer machte. Offensichtlich hatte sie nicht daran gedacht, den Nachtwächter zu interviewen.
Unten in der Lobby angekommen, begrüsste er Paul in Anwesen-heit von Zwyssig: „Guten Abend, Sie sind die Person, die meine nächtliche Ruhe gestört hat.“
Paul schaute ihn fragend an. „Ich verstehe nicht.“
„Sie haben den Notruf gewählt oder nicht?“
„Ja, das war ich.“
„Demzufolge sind Sie Paul, der Nachtwächter.“
„Ja.“
Kunz schüttelte ihm zur Begrüssung die Hand. „Freut mich, mein Name ist Kunz. Ich bin der für Mordfälle zuständige Polizeioffizier. Können Sie mir bitte in wenigen Sätzen erzählen, was vorgefallen ist?“
„Gerne. Ich war in meinem Zimmer, als ich im zweiten Stock laute Stimmen hörte. Dann wurde eine Zimmertüre aufgerissen und gegen die rückwärtige Wand geknallt. Danach hörte ich einen dumpfen Knall und einen Schrei, gefolgt von einem zweiten Knall. Danach war es ruhig.“
„Demzufolge war der zweite Schuss tödlich. Wie war Ihr weiteres Vorgehen?“
„Ich habe meine schwere Stabtaschenlampe, welche ich im Notfall als Schlagwaffe gebrauchen kann, in die Hand genommen und bin über das Treppenhaus in den zweiten Stock gestiegen und den Korridor entlang gelaufen. Ich sah, dass die Türe eines Zimmers offen war, und schaute hinein. Ich fragte, ob jemand da ist. Nachdem ich auf meine Frage keine Antwort erhalten hatte, bin ich weiter den Korridor entlang gelaufen und habe die Leiche gefunden. Als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, habe ich den Notruf gewählt.“
„Und mich in meiner Freizeit gestört“, bemerkte Kunz ironisch.
Leider verstand Paul seinen Witz wieder nicht. „Sie meinen, ich hätte mit dem Anruf bis zum nächsten Morgen warten sollen?“
Kunz schaute kurz zu Zwyssig und verdrehte genervt die Augen. Wieder zu Paul gewandt sagte er: „Nein, nein! Sie haben richtig gehandelt! Den Mörder haben Sie nicht gesehen?“
„Nein.“
„Waren ausser Ihnen noch andere Personen ausserhalb der Zimmer im Hotel unterwegs?“
„Nein, ich habe niemanden gesehen.“
„Sie haben auch nicht gehört, dass nach dem zweiten Knall eine Zimmertüre geschlossen wurde?“
„Nein.“
„Demzufolge war es nach dem zweiten Knall ruhig?“
„Ich habe nichts mehr gehört. Der dicke Teppich im Korridor wirkt schalldämmend, deshalb hört man nur sehr laute Geräusche.“
„Benutzen Sie eine Hörhilfe?“
„Nein, ich höre sehr gut.“
„Danke. Wachtmeister Zwyssig wird Ihre Aussage später zu Protokoll nehmen.“
Dann fiel ihm der saubere, weisse Overall auf. „Wann haben Sie Ihren Anzug das letzte Mal gewechselt?“
„Ich bin nicht sicher, ich denke, Anfang der Woche.“
„Wie viele weisse Overalls haben sie?“
„Vier.“
„Wer wäscht diese?“
„Meine Frau.“
„Wo bewahren Sie die Overalls auf?“
„In meinem Zimmer.“
Zu Zwyssig gewandt sagte er: „Alles überprüfen.“
Kunz wollte schon weitergehen, als ihm noch eine Frage an Paul einfiel. „Kannten Sie den Toten?“
Diese Frage hätte er eigentlich viel früher stellen sollen.
„Nein, er ist mir nur auf der Meldeliste aufgefallen.“
„Warum?“
„Er hat sich mit dem Namen Rabbi Mendel Friedmann eingecheckt.“
„Was ist an dem Namen aussergewöhnlich?“
„Wir sind kein koscheres Hotel.“
Kunz nickte zustimmend. „Haben wir eine Kopie der Gästeliste?“
Zwyssig und der Nachtwächter fühlten sich angesprochen, aber Zwyssig antwortete als Erste: „Erledigt, Chef, einmal als PDF auf Ihre und meine E-Mail-Adresse gesandt und einmal auf Papier gedruckt.“
„Gut gemacht, Wachtmeister Zwyssig. Was würde ich ohne Sie machen?“
Lara Zwyssig war über das Lob vom Chef sichtlich erfreut und errötete leicht. Es war nicht das dunkle Rot, welches ihr bei einem Fehler das Gesicht färbte, es war eher ein Rosarot. Er musste zugeben, er fand es herzig, dass eine taffe Polizistin wie Zwyssig solche Emotionen zeigte.
In diesem Augenblick wurde die Eingangstüre von aussen aufgestossen und der Polizist, welcher vor dem Eingang Wache schob, trat ein. „Hauptmann Kunz, vor der Absperrung ist eine Journalistin, welche Fragen an mich stellt, die ich nicht beantworten darf und kann.“
Kunz fluchte: „Diese verdammten Pressegeier. Woher weiss die von unserem Einsatz? Ich komme in ein paar Minuten. Halten Sie die Dame so lange auf Distanz und verbieten Sie ihr, Fotos zu machen!“
Wieder zu Zwyssig gewandt: „Wachtmeister Zwyssig, beginnen Sie mit dem Gefreiten Martig mit den Befragungen. Gehen Sie von Zimmer zu Zimmer, und wenn mehr als eine Person im Raum anwesend ist, befragen Sie diese Leute einzeln. Leere Zimmer haben wir genug. Stellen Sie mithilfe der anwesenden Polizisten sicher, dass kein Gast sein Zimmer verlässt, bevor wir hier fertig sind. Nehmen Sie zur Sicherheit jeweils noch einen zusätzlichen Polizisten, den Hundeführer mit Hund und einen grossen Bolzenschneider mit, mit dem Sie notfalls die Türsicherungskette durchtrennen können. Manchmal muss man sich schnell Zutritt verschaffen können. Nach der Befragung wird jedes Zimmer gründlich durchsucht. Verwenden Sie für die Durchsuchung zusätzlich einen Metalldetektor. Vielleicht finden wir die Mordwaffe. Wir haben genug Personal hier, welches Sie unterstützen kann.“
Kurz bevor Kunz die Eingangstüre erreichte, schaute er zurück und sagte leise: „Nachtwächter Paul, mir ist noch eine Frage eingefallen.“
Dieser antwortete prompt: „Was möchten Sie wissen?“
Kunz war überrascht, dass Paul ihn gehört hatte. „Nichts, ich wollte nur Ihr Gehör testen.“