TG40 - Jörg Börner - E-Book

TG40 E-Book

Jörg Börner

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Beschreibung

Es könnte jederzeit passieren. Es ist Sommer im Ost-Allgäu. Eigentlich. Seit Monaten verwüsten Regen, Stürme in Orkanstärke, Schlammlawinen und Überschwemmungen die Landschaft. Sämtliche Infrastrukturen sind zusammengebrochen. Viele Menschen flüchten, einige bleiben und kämpfen um ihr Überleben. Vor diesem Szenario spielt sich die Geschichte um Annika und Alexander ab. Beide haben gerade ihr Abitur abgeschlossen, sind frisch verliebt und werden in den Wirren der dramatischen Ereignisse voneinander getrennt. Er flüchtet mit seinem Vater in ein altes Blockhaus und übersteht dort die ersten Wochen. Sie rettet sich mit ihren Eltern in eine kleine Wohnsiedlung am Rande der Kleinstadt Füssen. Dort hat sich unter der Führung der beiden Freunde Robert und Paul eine kleine Gemeinschaft zusammengefunden, die unter den Trümmern ihrer ehemaligen Wohnanlage in einer Tiefgarage ihr Überleben organisieren. Die Menschen werden vor harte Prüfungen gestellt. Je schwieriger die Situation wird, desto mehr rücken sie zusammen. Annika sehnt sich nach Alexander. Als sie es nicht mehr aushält, flüchtet sie heimlich aus der TG40, wie die Bewohner ihre neue Heimat getauft haben, und macht sich auf die Suche nach Alex. Dieser fasst nahezu zeitgleich denselben Entschluss. Zusammen mit seinem Vater verlässt er die sichere Blockhütte und macht sich auf einen Weg voller Abenteuer und Gefahren. Sein Ziel: Annika finden Das Buch beschreibt ein durchaus mögliches Szenario, ohne auf die genauen Hintergründe für die Naturkatastrophe einzugehen. Es beschreibt, wie sich Menschen verhalten, wenn sie aus ihrer gewohnten, gut organisierten und strukturierten Umgebung gerissen werden. Viele gehen daran zu Grunde, andere wiederum wachsen über sich hinaus. Menschlichkeit wird zur Mangelware, aber dort wo man sie noch finden kann, ist sie die Grundlage für das Überleben. Die Bewohner der TG40 können sich nur selbst helfen. Die Gemeinschaft wächst zusammen und trotzt den Ereignissen. Sie werden Verluste erleiden und weitermachen, für sich und ihre Kinder. Annika und Alexander müssen auf der Suche zueinander viele Dinge erleben, die sie prägen werden. Aus unbekümmerten Jugendlichen, werden innerhalb weniger Wochen gereifte Menschen. Ob sie am Ende dieser Geschichte tatsächlich wieder zueinander finden, sei an dieser Stelle offen gelassen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Allgäu, Anfang August

Erzgebirge, Anfang August

Allgäu

Erzgebirge, Ende Oktober

Allgäu, Ende Oktober

Epilog

Vorwort

Die im Buch vorkommenden Personen und Namen sind frei erfunden. Etwaige, zufällige Überschneidungen mit wirklichen Personen sind durch den Autor nicht beabsichtigt.

Die beschriebene Landschaft, insbesondere das Ostallgäu, Füssen, der Forggensee existieren tatsächlich. Hier hat sich der Autor die künstlerische Freiheit genommen, einige Änderungen und Anpassung zur Wirklichkeit vorzunehmen.

Allgäu, Anfang August

Die Konturen der regungslos unter einem kleinen Mauervorsprung sitzenden Gestalt waren nur aus kurzer Entfernung zu erkennen. Die Dunkelheit, die Trümmerlandschaft und der massenhaft zu Boden stürzende Regen, der noch dazu von wilden Sturmböen peitschenartig durcheinandergewirbelt wurde, sorgten für eine perfekte Tarnung. Robert, so hieß der Mann, hatte bereits knapp zwei Stunden Wache überstanden und sehnte seine Ablösung herbei. Er musste an seinen Freund Paul denken, der zur gleichen Zeit den anderen Posten besetzt hatte. Dort war es aber weitaus ungemütlicher als hier. Er hatte hier immerhin die Möglichkeit, sich unter diesem Mauervorsprung ein wenig vor dem Regen zu schützen. Trotzdem kroch die Nässe und Kälte unaufhaltsam in seinen Körper. Immer wenn er hier draußen einsam seinen Dienst versah, kam augenblicklich die Erinnerung über die letzten gnadenlosen Wochen in ihm hoch. Irgendwann im Frühsommer hatte es angefangen. Zunächst ganz unscheinbar. Länger anhaltender Regen ist im Allgäu am Nordrand der Alpen nichts Ungewöhnliches. Aber dieser Regen war anders. Er steigerte sich in der Intensität nahezu täglich, die kurzen Unterbrechungen wurden immer weniger bis er zu einem endlosen Dauerschwall zugenommen hatte, der sich lediglich in der Regenmenge ständig neu definierte. In der dritten Woche kamen dazu Winde auf, wie sie die Gegend noch nie gesehen hatte. Ein Sturmwind nach dem anderen, ein Orkan nach dem anderen zogen mit verheerender Wirkung über das Land. Die Windstärken bewegten sich nach einigen weiteren Tagen durchgehend an der oberen Messskala. Bäume, ja ganze Wälder wurden binnen kurzer Zeit entwurzelt. Von den Steilhängen ergossen sich immer größer werdende Schlammlawinen in die Täler und verschütteten Straßen und Bahnlinien. In der vierten Woche brach die komplette Infrastruktur zusammen. Mit Entsetzen mussten die Menschen feststellen, dass es sich bei dieser Sintflut nicht um ein lokales Ereignis handelte. Aus ganz Deutschland, Europa und weiten Teilen der Welt wurden die gleichen Geschehnisse gemeldet. Die Meteorologen und Klimaforscher übertrafen sich zwar in Erklärungsversuchen und Prognosen über die Ursache, waren aber ebenso überrascht und konnten dem Treiben der Natur im Grunde auch nur hilflos zusehen. Es entstanden überall kleinere Inseln und Zufluchtsorte, in die sich viele Menschen zunächst retten konnten. Einige Zeit funktionierten noch Fernsehen und Radio. Das Telefon- und Handynetz stand nur noch in wenigen Gegenden in einem kleineren Umkreis zu Verfügung. Die Behörden verloren binnen kurzer Zeit jegliche Kommunikationsmöglichkeiten. Hilfe konnte niemand mehr organisieren, da weder zivile Rettungsdienste noch Armee in der Lage waren, Hilfe aus der Luft, zu Lande oder über Wasser zu bringen. Die verheerenden Umstände verhinderten jegliche Fortbewegung, mit welchem Hilfsmittel auch immer. Innerhalb kürzester Zeit sahen sich die Menschen auf sich alleine gestellt. Anfangs stand man sich noch durch nachbarschaftliche Hilfe gegenseitig bei. In ihrer zunehmenden Angst wurden die Menschen jedoch gnadenlos untereinander. Im Kampf um das nackte Überleben wurden erstaunlich schnell die primitivsten Regeln des Zusammenlebens über Bord geworfen. Mit Entsetzen dachte Robert an diese schlimmen Tage zurück. Er erkannte einige seiner Mitmenschen nicht mehr. Und doch gab es einen Ort, an dem durch das beherzte Eingreifen eines Mannes das Gegenteil geschah. Dieser Mann war sein Freund Paul. Er trommelte im entscheidenden Moment die Menschen in seiner Nachbarschaft zusammen und organisierte eine kleine Gemeinschaft von fest Entschlossenen, die in dieser Hölle begannen, ihr Überleben selbst zu organisieren. Das war der Beginn der Mission „TG40“ gewesen. Sie hatten einen entscheidenden Vorteil. Ihre kleine Wohnsiedlung lag etwas außerhalb des Ortes, war erst vor ein paar Jahren im Rahmen eines Förderprogramms der Stadt entstanden und befand sich auf einer kleinen Anhöhe, umringt von weiteren kleinen Hügeln und einem Wäldchen. Einige Familien wollten ihre gerade erst errichteten Häuser nicht verlassen und waren in Gegensatz zu den meisten Anwohnern hiergeblieben. Seitdem hatten die 40 Familien und Gruppen gemeinsam dafür gearbeitet, die zweigeschossige Tiefgarage unter ihren Reihenhäusern notdürftig bewohnbar zu machen, denn ihre Häuser waren es zum großen Teil nicht mehr. Zuerst hatte der Sturm sämtliche Dächer abgedeckt, danach hatten Wind und Regen dafür gesorgt, dass das Innere in kurzer Zeit unbewohnbar wurde. So mussten sich die Einwohner in ihre Keller zurückziehen. Paul war es zu verdanken, dass die Menschen zusammenhielten und mit vereinten Kräften ihr Zuhause völlig neu einrichteten. Die meisten Familien hatten Kinder. Es waren aber auch ein paar ältere Rentnerpaare dabei, die ihren Ruhestand hier hatten genießen wollen. Einige wenige Personen hatten die Umstände der letzten Wochen hier stranden lassen. Sie hatten Aufnahme in der Notgemeinschaft gefunden.

Robert und Paul waren ehemalige Nachbarn. Robert hatte seine Frau während der ersten Chaostage verloren. Sie wollte unbedingt noch einiges in der bereits überschwemmten Stadt besorgen und war nicht wieder zurückgekommen. Robert hatte tagelang verzweifelt nach ihr gesucht. Er musste seine Suche aber irgendwann aufgeben, da der Aufenthalt in der Stadt nicht mehr möglich war. Einerseits war der Zugang nur noch Mittels Boot möglich, andererseits machten die reißenden Fluten, die sich aus dem Gebirge heraus in die Stadt ergossen und Unmengen an Holz, Geröll und Gegenständen mitbrachten ein Durchkommen unmöglich und extrem gefährlich. Aus den verlassenen Häusern in der ehemaligen Innenstadt war kein Lebenszeichen mehr zu entdecken. Robert konnte die Gedanken an seine verloren gegangene Frau kaum ertragen. Die meiste Zeit konnte er sie durch die Schufterei beim Ausbau der Tiefgarage verdrängen. Nur in Stunden wie dieser, bei der Wache, wenn er allein war, überfiel ihn die Traurigkeit wieder. Er dachte an Erkan, den türkischen Familienvater, der spontan und ohne viele Worte vom Gelände seines ehemaligen Arbeitgebers einen Bulldozer organisiert hatte und tagelang, bis der Diesel ausging, um die Häuserruinen und die Tiefgarage herum einen Wall aus übereinander gestapelten Autos errichtete und diesen mit Erde zuschüttete. Das war nur in der Anfangszeit noch möglich, später war das sie umgebende Chaos zu groß gewesen. Immerhin hatten sie es so geschafft, ihre Siedlung nach Außen gut zu tarnen. Die vorbeiziehenden Flüchtlingsströme vermuteten auf diesem abseits gelegenen Hügel keine Häuser mehr, da die Reste der Reihenhäuser nicht zu sehen waren. Auch marodierende Gruppen schenkten diesem Hügel keine Aufmerksamkeit. Die Bewohner der „TG40“, so hatten sie ihr neues Zuhause zunächst spöttisch genannt, waren auf der Hut und hatten ständig Beobachtungsposten im Einsatz. Man hatte sich notdürftig mit provisorischen Waffen, in der Regel Messer oder Knüppel, ausgerüstet. Zum Glück mussten sie diese bisher nicht einsetzen. Paul war auch so weitsichtig gewesen, ein paar Trupps loszuschicken und Vorräte aller Art zusammenzutragen, bevor sie sich aus ihrer Deckung nicht mehr heraustrauten. Im unteren Abschnitt der zweigeschossigen Tiefgarage stapelten sich nun Kisten, Fässer, Werkzeug, Holz und andere Vorräte. Es gab noch keinen Überblick über diese Reserven. Man war bisher ausschließlich damit beschäftigt gewesen, die Unterkunft einigermaßen bewohnbar zu machen und dafür zu sorgen, dass kein Wasser eindrang. Robert hörte ein Rascheln im Hintergrund. Seine Ablösung nahte. Er freute sich auf trockene Kleidung, seine provisorische Liege und einen heißen Tee. Danach würde er todmüde in einen tiefen Schlaf sinken.

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Am anderen Wachposten der Tiefgarage ging es Paul ähnlich. Er dachte allerdings an die morgigen Aufgaben. Die Leute vertrauten ihm, seit er die Dinge in die Hand genommen hatte. Aber es war an der Zeit, ein paar Sachen grundsätzlich zu klären.

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Doktor Claudia Weber saß am Rand ihrer Liege in ihrem Keller des ehemaligen Reihenhauses und betrachtete nachdenklich ihre beiden schlafenden Kinder. Chiara, die Kleine, war gerade mal 6 Jahre alt und wäre im September in die Schule gekommen. Nicolas, der Achtjährige, hätte bereits die dritte Klasse beginnen müssen. Gab es für die beiden eine Zukunft? Und wenn ja, auf was mussten sie vorbereitet werden? Die Ereignisse waren so plötzlich über sie hereingebrochen, dass zum Nachdenken bisher keine Zeit geblieben war. Liebevoll zog sie die Decke über den Kindern zurecht, die eng umschlungen in einen tiefen Schlaf versunken waren und sich noch gar keinen Gedanken über die Umstände machten. Für sie war das alles bisher ein großes Abenteuer. So hatten es Frank, ihr Mann, und sie den Kindern bisher erzählt. Irgendwann würden die Kinder merken, dass es wohl kein Zurück zur alten Geborgenheit geben würde. Claudia hatte die letzten Jahre im städtischen Krankenhaus als Oberärztin gearbeitet und nebenher noch eine kleine Privatpraxis betrieben. Zusammen mit dem alten Chefarzt hatte sie lange im Krankenhaus die Stellung gehalten und versucht, jedem zu helfen, der es nötig hatte. Doch es wurden täglich mehr und das Personal war nach und nach verschwunden. In dieser Situation konnte man es keinem verdenken, wenn sie ab einem gewissen Zeitpunkt an sich und ihre Familien dachten. Verbissen hatten die beiden zusammen mit einer Handvoll Krankenschwestern Hilfe geleistet, so lange es ging. Dann kam der Zeitpunkt, wo selbst die Patienten ausblieben. Die Stadt war nahezu menschenleer geworden. Ihr alter Chef stand müde und ausgepumpt vor ihr und drückte ihr einen Karton mit Medikamenten und Utensilien in die Arme. „Hier Kollegin, das werden sie noch brauchen können. Mehr ist nicht übriggeblieben. Gehen sie zu ihrer Familie und kümmern sie sich um ihre Kinder. Ich wünsche ihnen alles Glück dieser Welt.

Für uns ist hier mit dem heutigen Tag Schluss.“ Traurig umarmte er sie, wandte sich ab und machte sich daran, den Raum zu verlassen. „Und was machen sie?“ stammelte sie ihm hinterher. Doch er drehte sich nicht mehr um, winkte nur kurz mit der Hand und verschwand ohne ein weiteres Wort um die Ecke. Sie zog ihren schon lange nicht mehr weißen Arztkittel aus, packte ihn oben auf den Karton und machte sich auf den beschwerlichen Weg nach Hause. Sie musste bereits sehr viele und mühevolle Umwege machen, um die unpassierbaren Straßen und Wege zu umgehen. Unterwegs traf sie nur noch sehr wenige Menschen. Meist waren es eher dunkle Gestalten, die ihr hinterher blickten und zu überlegen schienen, ob sich ein Überfall lohnen würde. Immerhin musste sie etwas Nützliches im Karton bei sich tragen. Ihr war überhaupt nicht wohl und sie beschleunigte ihre Schritte, sich immer wieder umblickend.

Wenn ihr jemand entgegenkam, drückte sie sich schnell in eine Hausecke und wartete, bis die Person vorbeigegangen war. Unterwegs kam sie an ihrer ehemaligen Praxis vorbei. Hier stand schon alles meterhoch unter Wasser und es stank fürchterlich nach Fäkalien. Ihre Sachen hatte sie bereits vor zwei Wochen gerettet und in die Wohnung, beziehungsweise das, was davon noch übriggeblieben war, gebracht. Nun saß sie hier in der Tiefgarage und überdachte die Lage. Sie hatten sich hier unten notdürftig eingerichtet. Zwei nebeneinanderstehende Liegen für sich und ihren Mann, das Etagenbett der Kinder, Küchentisch und Stühle, ein großer Schrank und ein paar Regale waren ihr ganzes Inventar. Ihr Heiligtum war ein durch einen bis zum Boden herab reichenden Vorhang am hinteren Ende des Raumes abgeteiltes Lager. Hier hatte sie alle geretteten Medikamente, Verbandszeug und medizinischen Instrumente gelagert. Die beiden Kinder hatten es sich angewöhnt, im unteren Bett zusammen zu schlafen. Das war ganz praktisch, so konnten sie auch den oberen Teil des Doppelstockbettes als Stauraum nutzen. Vorn, gleich neben dem Eingang, eigentlich der Ausgang zur Tiefgarage, hatten sie auf einer kleinen Kommode die Kochgelegenheit, bestehend aus einem kleinen Campingkocher aufgebaut. Auf dem Tisch stand eine kleine, rußende Öllampe, im Moment die einzige Lichtquelle. Ab und an zündeten sie noch ein paar Kerzen zusätzlich an. Der Kellerraum war ungefähr 50 Quadratmeter groß und hatte kein wirkliches Fenster. Den kleinen Lichtschacht hatten sie komplett zugeschüttet und abgedichtet. So war es hier wenigsten zuverlässig trocken. Aber die dauerhafte Finsternis würde schon bald ganz schön auf das Gemüt gehen. Immerhin hatten sie noch einen kleinen Vorraum, die ehemalige Schleuse in die Tiefgarage. Nur ein paar Schritte und sie befanden sich im oberen Teil der Garage, wo sie sich mit den Nachbarn und Gleichgesinnten trafen. Hier dämmerte zumindest an zwei Stellen ein wenig Licht durch die wie durch ein Wunder noch intakten Oberlichter. Man hatte die robusten Fenster mit Metallgittern verstärkt, die dafür sorgen sollten, dass kein umherfliegender Gegenstand die Lichtdurchlässe zerstören konnte. So spielte sich das Tagesgeschäft der Menschen zumeist in der oberen Etage der Tiefgarage ab, bevor man sich abends in seine eigenen Keller zurückzog. Die Tür ging leicht quietschend auf, ihr Mann Frank kam herein. Claudia schenkte ihm ein müdes Lächeln. Er nickte nur kurz und ließ sich erschöpft auf seine Liege fallen. Eine Weile schwiegen beide, dann meinte Frank „Draußen hängt ein Zettel am Aushang. Paul hat für morgen Vormittag eine Versammlung einberufen. Es sollen möglichst alle kommen, auch die Kinder. Er will das weitere Vorgehen mit uns besprechen.“ Claudia nickte. „Gut“. Dann schwiegen beide wieder vor sich hin. „Kennst du den Paul eigentlich näher? Ich weiß gar nicht so recht, was er vor der Katastrophe so gemacht hat. Er wohnte zwar nicht so weit von uns weg, aber ich habe eigentlich nie so richtigen Kontakt zu ihm gehabt.“ Frank antwortete „Ich weiß nur, dass er irgendwo in der Stadtverwaltung gearbeitet hat. Auf alle Fälle Hut ab, dass er hier alles in die Hand genommen hat. Wir haben ihm viel zu verdanken.“ „Sehe ich auch so“ pflichtete ihm Claudia bei und legte ihre Hand auf seine. Eine Weile saßen sie so in Gedanken versunken da. Dann drehten sie den Docht der Öllampe herunter und legten sich hin. Schlafen konnten sie noch lange nicht.

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Fünfzig Meter entfernt drückte ein junges Mädchen ihr Gesicht in ein Kissen und weinte bitterlich. Die siebzehnjährige Annika war in ihrer Unterkunft alleine, ihre Eltern waren zur Nachtwache eingeteilt. Seit Tagen lag sie auf ihrem Bett und war für niemanden anzusprechen. Immer, wenn ihre Eltern versucht hatten, genau das zu tun, hatte sie sich nur stumm auf die andere Seite gedreht. Annika hatte innerhalb kurzer Zeit ihre gesamten Träume begraben müssen. Sie hatte gerade das Abitur ganz passabel geschafft und sich in den heißesten Typen ihrer Klasse verliebt. Alexander war extrem gut gebaut, ein Sportlertyp, etwas zurückhaltend, blond und blaue Augen. Die Mädchen der Schule schielten zu ihm, aber er hatte für keine ein Auge, obwohl er sich wohl nicht viel hätte bemühen müssen. Irgendwie hatte sie es dann doch irgendwann geschafft, Alex für sich zu interessieren. Sie hatte so allerlei Tricks anwenden müssen, wie es nur Mädchen in ihrem Alter draufhaben.

Aber es war ihr gelungen. Für sie hatte gerade die schönste Zeit ihres Lebens begonnen. Abitur in der Tasche, einen heißen Typen an der Angel, Abi-Fahrt vor sich und ein Jahr lang Zeit zu überlegen, was sie nach der Schule studieren wollte. Davor möglichst noch eine Auszeit um die Welt anzuschauen, natürlich zusammen mit Alex. Auch wenn dieser davon noch nicht so überzeugt gewesen war, sie hätte ihn schon noch überredet. Jedenfalls hatte sie es genossen, wenn sie und Alex Hand in Hand über den Schulhof schlenderten oder auf Partys als Pärchen auftauchten. Sie hatte sich unsäglich wohl in seiner Nähe gefühlt, seine etwas zaghaften Küsse genossen und sich gewünscht, er würde doch ein klein wenig mehr zur Sache kommen. Aber da hätte sie ihm sicher noch auf die Sprünge geholfen. Und nun das. Die Katastrophe hatte alle Pläne und Träume gnadenlos zu Nichte gemacht. Jetzt saß sie hier in diesem Kellerloch fest. Zusammen mit ihren Erzeugern in einem Raum eingesperrt. Und das Schlimmste, Alex war weit weg oder vielleicht schon nicht mehr am Leben. Sie hatten es verpasst, im entscheidenden Moment zusammenzukommen. Jeder war in den hektischen Tagen in seiner Familie eingebunden. Und dann war er auf einmal weg und sie konnte ihn nicht mehr erreichen. Wo auch immer er hin war, er hatte keine Nachricht hinterlassen oder hinterlassen können. Vielleicht war er auch schon tot. Sie hatte in den letzten Wochen so viele Tote sehen müssen. Ihre heile Welt war komplett in sich zusammengebrochen. Sie wollte nicht mehr weiterleben, wozu auch. Wenn ihre Zukunft darin bestehen sollte, in diesem Loch täglich um das Überleben zu kämpfen, wollte sie lieber gleich sterben. Sie entdeckte die in einer Ecke an ihrem Netz arbeitende Spinne. Vermutlich gab es hier noch viel mehr Ungeziefer. Sie hasste das alles. Ein neuerlicher Weinkrampf durchzuckte ihren jungen Körper.

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Am nächsten Morgen versammelten sich die Bewohner der Tiefgarage nach und nach auf dem kleinen Platz, den man in der Mitte bewusst freigelassen hatte. Viele provisorische Unterstände und Lager waren entlang der Wände im Karree entstanden. Alles auf die Schnelle und ziemlich planlos. Zumindest hatte jeder erst mal ein Dach über dem Kopf und einen trockenen Platz zum Schlafen. Paul hatte sich zwei Kisten übereinandergestapelt und wartete geduldig. Er sah in die Gesichter der Menschen, die ihm offenbar vertrauten. Da vorn stand Martin mit seiner Familie. Daneben der Italiener Luigi, seine Frau und die drei Kinder. Er entdeckte Dr. Claudia Weber mit ihrem Mann und den beiden Kindern Nicolas und Chiara. Im Hintergrund, wie üblich zurückhaltend, sah er Erkan. Dessen Tochter Fatma drückte sich eng an ihren Papa. Auch sein Freund Robert war bereits anwesend. Mehrere Männer, die in den letzten Tagen zusammen schwer geschuftet hatten, um die Tiefgarage abzudichten und das Wasser fern zu halten, standen in einer Ecke zusammen und unterhielten sich leise. Die meisten Kinder waren noch müde und ruhig. Paul suchte den Blickkontakt zu seinem Freund Robert. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Als Paul das Gefühl hatte, dass alle Mitbewohner versammelt waren stieg er beherzt auf das provisorische Podest, schwieg einen kurzen Moment, bis sich das Gemurmel der Anwesenden gelegt hatte und begann mit zunächst etwas unsicherer Stimme zu sprechen. „Liebe Mitbewohner, liebe Nachbarn. Wie ihr alle wisst, befinden wir uns in einer beschissenen Situation. Keiner von uns kann sagen, ob wir jemals aus dieser Misere herauskommen werden. Wie die letzten Wochen gezeigt haben, ist keine Hilfe von außen zu erwarten. Ja, wir wissen nicht einmal, ob da draußen noch irgendwo vernünftige Strukturen vorhanden sind oder ob es weitere Eingeschlossene wie uns gibt. Wir haben in den letzten Wochen geschuftet und so dafür gesorgt, dass wir zumindest diese erste Phase überstehen konnten. Vielen von unseren Bekannten, Verwandten und Freunden war das leider nicht vergönnt. Dass wir hier noch in relativer Sicherheit zusammenfinden können ist unserem gemeinsamen Handeln zu verdanken. Wir haben genügend Beispiele erlebt, was passiert, wenn jeder nur noch für sich selbst kämpfen muss. Deshalb finde ich, hat unser Zusammenhalt einen extrem hohen Stellenwert und ist genau genommen auch unsere einzige Chance, die nächste Zeit weiter zu überstehen. Ich habe versucht, die zunächst wesentlichen Dinge ein wenig zu organisieren und bin euch dankbar, dass ihr mir beigestanden habt.“ Er macht eine kurze Pause und blickte in die Gesichter der Menschen. Diese schwiegen zunächst. Aber dann rief eine Stimme aus dem Hintergrund „He, Paul, sei nicht so bescheiden. Du hast uns zusammengeführt und fürs erste gerettet.

Das vergessen wir dir nie!“ „Ja stimmt genau“ pflichtete eine Frau in der ersten Reihe bei. Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten. Dann fing irgendjemand zu klatschen an. Nach und nach fielen die anderen Mitbewohner ein und der rhythmische Beifall wurde immer lauter. Paul senkte verlegen den Kopf und hob beschwichtigend die Hände. Aber umso lauter wurden das Klatschen und die zustimmenden Rufe. Schließlich konnte er weitersprechen. Mit leicht angekratzter Stimme, aber fest entschlossen. „Danke, danke. Aber vergesst nicht, alles was wir bisher geschafft haben, war nur durch unser gemeinschaftliches Handeln möglich. Alle haben ihren Anteil daran. Bisher habe ich versucht, unsere Gruppe ein wenig zu organisieren. Ich denke aber, dass es an der Zeit ist, für die anstehenden Aufgaben eine gewisse Struktur in unsere Gemeinschaft zu bringen. Es gibt sehr viele Dinge, die wir dringend anpacken müssen. Dafür sollten wir unsere Kräfte gut einteilen und festlegen, was alles und in welcher Reihenfolge zu tun ist. Ich allein kann nicht an alles denken und will auch nicht die Verantwortung für unser weiteres Zusammenleben alleine übernehmen. Deshalb schlage ich zwei Dinge vor: Erstens, wir wählen einen Rat, Vorstand, Regierung, Verwaltung oder wie auch immer ihr es nennen wollt. Und zweitens, erstellen wir einen Plan mit den dringlichsten und den weiteren Aufgaben, die unbedingt zu erledigen sind. Ich bitte um eure Meinung dazu.“ Die Umstehenden begannen zu diskutieren, zunächst mit dem jeweiligen Nachbarn, danach in kleinen Grüppchen. Bis ein lauter, schriller Pfiff den Lärmpegel abrupt unterbrach. Eine resolute Frau verschaffte sich Gehör. „Hallo Leute, so wird das nix. Einer nach dem anderen. Jeder kann seine Meinung äußern. Bitte schön die Hand heben, wer sprechen möchte. Haben wir doch alle schon mal in der Schule gelernt.“ „Und du bist die Oberlehrerin!“ kam unvermittelt eine spöttische Stimme aus der Männergruppe. Ein lautes Lachen folgte. Die Stimmung wurde etwas gelöster. Einer nach dem anderen meldete sich und machte Vorschläge.

Nach einiger Zeit hatte man sich darauf verständigt, die Gemeinschaft wie einen Verein zu führen. Am Nachmittag würde man sich wieder treffen, und Vorschläge machen. Im Anschluss sollte eine offene Wahl stattfinden.

In weiterer Folge sollte der Vorstand die nächsten Aktionen und Arbeiten besprechen. Nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte, nutzten die Kinder die Gelegenheit, endlich ihrem Bewegungsdrang nachzugeben und herumzutoben. Die Erwachsenen gingen mit einem guten Gefühl in ihre Verschläge oder Kellerräume und diskutierten über die Versammlung. Irgendwie war allen ein wenig leichter zumute.

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Am Abend des gleichen Tages saß eine Gruppe von drei Männern und zwei Frauen um den Klapptisch in Pauls Kellerwohnung. Links neben Paul hatte Dr. Claudia Weber auf einem Hocker Platz genommen. Sie war von den Bewohnern als medizinische Verantwortliche bestimmt worden. Daneben machte es sich Richard in einem alten Rohrsessel gemütlich. Der etwas wuchtige Mann mit einem Ringernacken und kahlen Schädel hatte die Aufgabe eines Quartiermeisters übertragen bekommen. Zur Runde gehörte noch Sonja, eine gelernte Köchin, zuletzt als Küchenleiterin im städtischen Kindergarten tätig und ein langer, schlaksig wirkender Typ mit einer randlosen Brille. Er hatte vorher im Management eines mittleren Industriebetriebes am Rande der Stadt gearbeitet. Die Aufgabenliste, die vor ihnen im Schein einer Campinglampe lag, war auf der Grundlage vieler Vorschläge der Mitbewohner zusammengetragen worden.

Sie versuchten zunächst die Aufgaben zusammenzufassen und nach Prioritäten zu ordnen. Dazu benötigten sie schon mal eine geraume Zeit und atmeten tief durch, als endlich nach mehreren Stunden eine geordnete Reihung auf einem weiteren Blatt Papier stand. Die Fünf gönnten sich eine Pause und verließen die kleine Kellerwohnung, die eigentlich nur aus zwei Räumen bestand, und betraten durch die schwere Brandschutztür die Tiefgarage. Es war schon spät am Abend. Die Kinder waren bereits zur Ruhe gebracht worden. An der einen oder anderen Ecke saßen noch ein paar Eltern beisammen und unterhielten sich leise. Die Tiefgarage war nur sehr spärlich mit wenigen Kerzen, meist in kleinen Laternen mit Glasabdeckung beleuchtet. Schon in den ersten Tagen hatte es einen Vorfall gegeben, der für die Notgemeinschaft hätte böse ausgehen können. Eine offene Kerze wurde aus Versehen umgestoßen und sofort hatte ein Vorhang Feuer gefangen. Das beherzte Eingreifen mehrerer Männer hatte den Brand sofort gelöscht. Seitdem gab es aber die Regel, Kerzen nur in einem Behälter, zumeist aus Glas oder eben einer richtigen massiven Laterne anzuzünden. „Wir sollten auch noch eine Brandwache einführen“ meinte Richard nachdenklich. „Stimmt“ pflichtete ihm Paul bei. „Aber nicht nur Feuer ist für uns gefährlich. Auch eindringendes Wasser kann unser Zuhause ganz schnell zerstören.

Wir haben keine Ausweichmöglichkeit und müssen dringend unsere Sicherheitsvorkehrungen erhöhen.“ Und so wurde beschlossen, ab der nächsten Nacht neben den beiden Außenwachen auch eine Innenwache zu organisieren. Die kleine Gruppe machte einen Spaziergang. Sie benötigten nicht allzu lange, um die kleine Runde einmal abzulaufen. Dabei stolperten sie ab und an über eine Kiste oder einen Karton, der achtlos abgestellt worden war. In einer Ecke roch es ziemlich übel nach Fäkalien. Wäscheleinen waren kreuz und quer durch den Raum gespannt. Es gab einiges zu tun. Aber das würde man nach und nach in den Griff bekommen.

Viel mehr Sorgen machten ihnen die Themen Lebensmittel, Waschgelegenheiten und Toiletten. Erstaunlicherweise funktionierte die Wasserversorgung noch bis in die ehemaligen Waschkeller der Reihenhäuser. Vermutlich lag das daran, dass das Wasserreservoir der Stadt im benachbarten, höher liegenden Hügel, nur wenige hundert Meter entfernt lag. Sie hatten keine Ahnung, wie groß diese Wasserreserven waren und wie lange der Druck ausreichen würde, sie weiter zu versorgen. So hatten sie zu mindestens in dieser Angelegenheit Glück und konnten diesen „Luxus“ genießen. Aber sie mussten sich auch auf die Situation vorbereiten, wenn dieser Wasserstrahl versiegte. Ein grundsätzliches Wasserproblem hatten sie zwar nicht. Wasser gab es draußen in Hülle und Fülle. Aber das musste man dann erst aufbereiten. Morgen würde eine Gruppe daran gehen, den Keller eines verlassenen Reihenhauses in eine zentrale Wasserversorgungsstelle mit Wasch- und zwei Duschgelegenheiten umzubauen. Damit sollten auch die Mitbewohner einen vernünftigen Zugang zum Wasser erhalten, die keinen eigenen Keller mit Wasseranschluss unter ihren Reihenhäusern hatten, oder deren Keller bereits zerstört war. Inzwischen waren auch einige Leute freiwillig in das Innere der Tiefgarage übersiedelt, weil sie es allein in ihrem Keller nicht mehr aushielten. Dazu kamen einige „Dazukömmlinge“, die die Umstände hierher verschlagen hatten und hier Aufnahme gefunden hatten. Die Fünf brüteten wieder über ihrem Aufgabenzettel. Richard würde ab morgen versuchen, etwas mehr Ordnung in die wilde Siedlung innerhalb der Tiefgarage zu bringen. Dr. Claudia Weber war logischer Weise als Verantwortliche für den Aufbau einer medizinischen Versorgung bestimmt worden. Der lange schlaksige Kerl, Anton, sollte sich darum kümmern, einen Überblick über die vorhandenen Vorräte zu verschaffen. Diese Aufgabe war nicht ganz leicht, da er zum einen das wilde Durcheinander im unteren Teil der Tiefgarage ordnen musste, aber auch die Vorräte der einzelnen Familien auflisten sollte. Denn alle Bewohner hatten gestern nach längerer Diskussion beschlossen, ihre persönlichen Vorräte, Material und Werkzeuge der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Sonja würde sich um den Aufbau einer zentralen Verpflegung bemühen. Bisher kochte jede Familie auf den unterschiedlichen, ihnen zur Verfügung stehende Kochmöglichkeiten. Das musste dringend effektiver geschehen. Damit mit den Ressourcen möglichst sparsam umgegangen wurde. Es war mittlerweile schon fast früher Morgen geworden, als sich der neue Vorstand verabschiedete, sie sich müde in ihre Kellerwohnungen zurückzogen und schlafen legten.

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Etwa sechs Kilometer südwestlich der Stadt, auf dem schmalen Höhenzug, der sich von der Stadt in Richtung Nachbargemeinde erstreckte, befand sich in einer Senke, von drei Seiten durch Hügel geschützt ein kleines Blockhaus. Hierher hatten sich Alexander und sein Vater Peter geflüchtet, nachdem der Aufenthalt in der Stadt unmöglich geworden war und sie ihre Wohnung aufgegeben hatten. Dieses Blockhaus war in den letzten Wochen zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden. Sehr solide gebaut, aus dicken Stämmen und einem Blechdach, das bereits Alexanders Urgroßvater in seiner üblichen Art doppelt und dreifach gegen Sturm gesichert hatte, konnten sie hier in einfachen Verhältnissen besser zurechtkommen als in der Stadt. Genügend Vorräte waren vorhanden, der kleine Holzofen funktionierte und Wasser hatten sie ausreichend über die Tonne zur Verfügung, die gleich neben der Tür stand und das Regenwasser vom Dach auffing. Bereits im Frühjahr hatten sie wie üblich ihre Brennholzvorräte aufgefüllt.

Diese stapelten sich nun an einer Außenwand und auch im Innenraum gab es an der Stirnseite, an der sich die Tür befand, eine Doppelreihe Holz bis unter die niedrige Decke gestapelt. Sie waren bisher sehr sparsam damit umgegangen, hatten nur einmal am Tag den Ofen angezündet um Wasser abzukochen und eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Rings um die Hütte war der Großteil der Bäume umgeknickt oder entwurzelt. Die kreuz und quer liegenden Bäume bildeten einen fast unüberwindlichen Wall. Die glitschigen, ineinander verkeilten Bäume waren zu einem echten Hindernis geworden. Eine falsche Bewegung beim darüber klettern konnte ein Verrutschen auslösen. Alex hatte es einmal versucht und wäre beinahe von einem meterlangen Fichtenstamm zerquetscht worden. Seitdem waren sie sehr vorsichtig geworden und hatten auf weitere Versuche verzichtet. Die räumliche Nähe der letzten Wochen hatte dazu geführt, dass sich Vater und Sohn auch zwischenmenschlich nähergekommen waren. Alexander hatte bereits vor vier Jahren seine Mutter verloren. Der Brustkrebs war zu spät von den Ärzten entdeckt worden. Wenige Wochen nach der schockierenden Diagnose verstarb sie im Beisein ihrer Familie. Der gemeinsame, schmerzliche Verlust ließ die beiden unwillkürlich näher zusammenrücken. Der Vater ließ Alex mehr Freiheiten, als es für dessen Alter üblich war. Dieser lebte sein Leben bereits viel bewusster als seine Freunde. Er hatte ein klares Ziel vor Augen. Er wollte nach dem Abitur unbedingt Sportmanagement studieren. Darauf bereitete er sich akribisch vor. Bei den oftmals über die Stränge schlagenden Unternehmungen seiner Freunde war er zwar das eine oder andere Mal dabei, hatte aber ein gutes Gespür dafür entwickelt, wenn es besser war, sich zurückzuhalten. Außerdem war ein Umstand eingetreten, den er bis dahin in seinen Plänen überhaupt nicht einkalkuliert hatte. Annika. Das schwarzhaarige Mädchen mit dem Pferdeschwanz, großen Augen und einer sehr ansehnlichen Figur kannte er natürlich schon lange. Sehr lange sogar. Aber vor einigen Wochen hatte es bei den beiden gefunkt. Nach einer langen Party in der ersten lauen Sommernacht des Jahres waren sich beide nähergekommen. Zugegebenermaßen hatte sie die Initiative ergriffen, aber er war ihr unendlich dankbar dafür. Er mochte ihre lockere, fröhliche Art und genoss die zunächst heimlichen Küsse, die schon bald auch öffentlich wurden. Er durchlebte für kurze Zeit eine Welle von Glücksgefühlen, wie er es noch niemals zuvor erfahren hatte. Seine Zukunftspläne gerieten erstmals in den Hintergrund. Dieser Zustand hielt jedoch nicht lange an, denn dann kam der Regen. Dieser brachte alles durcheinander und urplötzlich war die schönste Zeit seines bisherigen Lebens vorbei. Alexander kämpfte mit seinem Vater wie alle anderen in der Stadt um das Überleben. Als das Wasser ihre Erdgeschosswohnung zu überschwemmen drohte und Raubüberfälle wegen einfachster Dinge des täglichen Bedarfs inzwischen an der Tagesordnung waren, entschied der Vater, die restlichen Vorräte einzupacken und sich in ihre Blockhütte in der Nähe des Bergsees zurückzuziehen. Mit Mühe und Not hatten sie sich durch Regen und Sturm gekämpft und die Hütte des Großvaters erreicht. Nun saßen sie dort fest. Ein Weg zurück war derzeit undenkbar. Eingehüllt in Decken saßen beide tagelang gegenüber am rustikalen Tisch und hatten begonnen, sich Dinge aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen. Ab und an schweifte Alexanders Vater auch in seine Jugendzeit ab und Alexander lauschte diesen Erinnerungen. Interessant fand er die Tatsache, dass sich die grundsätzlichen Ideen und Verhaltensweisen der beiden Generationen gar nicht so viel voneinander unterschieden. „Wie lange können wir hier alleine Durchhalten, was meinst du?“ fragte Alex. „Schwer zu sagen. Schätzungsweise drei, vier Wochen noch, dann geht unser Proviant aus. Alles andere haben wir genügend da, um noch Monate hier zu bleiben“. Peter strich sich nachdenklich durch die Haare. „Irgendwann muss der Regen ja mal wieder aufhören. Ist mir schleierhaft, wo das ganze Wasser herkommt, das sich da wochenlang über uns ergießt. Normalerweise gleicht die Natur alles wieder aus.“ „Dann erwartet uns als bald eine Trockenperiode, ich kann es kaum erwarten“ meinte Alex sarkastisch. „Aber im Ernst, was tun wir, wenn der Regen auch in drei Wochen noch nicht aufgehört hat?“ Sein Vater blickte mit starren Augen aus dem Fenster und blieb ihm eine Antwort schuldig. Im Grunde war beiden klar, dass sie irgendwann eine Entscheidung treffen mussten, das Risiko eines Ausbrechens aus ihrer geschützten Umgebung jedoch immens hoch war, ein Hierbleiben aber den Hungertod bedeutete. Und so schwiegen beide und dachten doch jeder für sich an den Tag, der unweigerlich kommen würde.

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Wenige Tage nach der Versammlung und der Wahl des Vorstandes herrschte in der Tiefgarage reger Betrieb. Es hatte sich bereits einiges geändert. Überall wurde gehämmert, geschraubt und umgeräumt. Die provisorischen Behausungen von den Bewohnern, die keine eigenen Kellerräume unter ihrem ehemaligen Reihenhaus zur Verfügung hatten, waren zu einigermaßen soliden Räumlichkeiten umgebaut worden. Jede Familie hatte nun an Stelle der Stoffplanen Holzwände mit einer richtigen Tür zur Garagenmitte um sich herum. Die Größe der Behausungen war nach der Personenzahl der Familie bestimmt gebaut worden. Zumindest konnte sich jede Familie nun wieder in eine kleine, eigene Privatsphäre zurückziehen. Gleichzeitig hatte man im Zentrum der TG40 eine Art Plazza errichtet. Hier standen Tische und Bänke. Man traf sich an dieser Stelle gemeinsam zu den Mahlzeiten, die in der Küche von Sonja zweimal täglich bereitet wurden. Sonja hatte sich noch drei weitere Helferinnen gesucht und organisierte die Küche, sorgte für abwechslungsreiche Mahlzeiten, soweit dies möglich war. Sie hatte sich ihr kleines Reich in einer Ecke eingerichtet. Immerhin standen verschiedene Kochmöglichkeiten zur Verfügung, vom Gaskocher über verschiedene kleine Campingkocher und einer kleinen Feuerstelle, die aber noch ausgebaut werden musste. Ein großes Problem stellte der Abzug des Rauches dar. Daran arbeiteten zwei Handwerker noch, musste man doch den Rauch nach draußen ableiten ohne dass gleichzeitig der Regen eindringen konnte. Die Bauarbeiten dazu waren im strömenden Regen nicht einfach. Ein weiterer Trupp werkelte in einem Kellerraum, um dort zentrale sanitäre Anlagen zu errichten.