The Blackbird Oracle - Deborah Harkness - E-Book

The Blackbird Oracle E-Book

Deborah Harkness

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Beschreibung

Dunkle Magie, gefährliche Abenteuer und eine verbotene Liebe – der Auftakt der neuen Saga von SPIEGEL-Bestsellerautorin Deborah Harkness.

Diana Bishop und Matthew Clairmont sind ein ungewöhnliches und verbotenes Liebespaar: In der Historikerin fließt das Blut eines uralten Hexengeschlechts, während ihr Mann nicht nur Naturwissenschaftler ist, sondern ein 1500 Jahre alter Vampir. Mit ihren siebenjährigen Zwillingen haben die beiden ein neues Leben in Connecticut begonnen, als Diana erfährt, dass sie ihre Kinder zu einem großen Ritual zum Stammsitz ihrer Familie bringen muss. Dort begreift Diana die höhere Magie, die durch ihre Adern fließt – und auch durch die ihrer Kinder – und muss sich ihrer lebenslangen Angst vor dunklerer Magie stellen und den verlockenden Kräften, die sie haben könnte ...

Lesen Sie in »Die Seelen der Nacht«, wie die unsterbliche Liebe der Hexe Diana und des Vampirs Matthew an der University of Oxford begann!

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Seitenzahl: 809

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Autorin

Deborah Harkness ist Professorin für europäische Geschichte an der University of Southern California in Los Angeles. Für ihre wissenschaftlichen Arbeiten erhielt sie bereits mehrfach Stipendien und Auszeichnungen. Ihre »All-Souls«-Reihe war ein großer internationaler Erfolg und wurde von den Fans auf der ganzen Welt gefeiert. Der erste Band »Die Seelen der Nacht« ist unter dem Titel »A Discovery of Witches« für Sky verfilmt worden, die deutsche Fassung wurde im Frühjahr 2019 ausgestrahlt. Der neue Roman der SPIEGEL-Bestsellerautorin trägt den Titel »The Blackbird Oracle« und erscheint nach langen Jahren des Wartens weltweit im Sommer 2024.

DEBORAH HARKNESS

Roman

Deutsch von Michaela Link

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Black Bird Oracle« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024 by Deborah Harkness

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Penhaligon, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon, nach einer Originalvorlage von Headline UK

Umschlagdesign: Patrick Insole

Umschlagmotive: Shutterstock.com (Milat_oo; Bachkova Natalia; Musa_Studio; Chikovnaya; KHIUS)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

LH · Herstellung: fe

ISBN 978-3-641-31889-5V002

www.penhaligon.de

Für Tonya und Tracy,die die Magie von Zwillingen verstehen

Reiherknochen, Eulenschwingen,

Der Geier stumm, die Raben singen.

Angst und Blut, Frust und Begehr,

Ein Hexenfund rief sie hierher.

Vier Tropfen Blut auf Opferstein

Kündeten davon vor deiner Zeit.

Drei Clans verbunden in Freud und Streit

Werden Zeugen des Rabenorakels sein:

Zwei Kinder hell wie Mond und Sonne

Vereinen Dunkel, Licht und Schatten.

TEIL 1

Kapitel 1

In jeder Seele gibt es einen Ort, der dem Schatten vorbehalten ist.

Meiner war gut versteckt an einem blinden Fleck in den Winkeln meiner Erinnerung, eine Leere unter einer Wunde, von der ich dachte, sie sei vor langer Zeit verheilt.

Dann kamen die Raben nach New Haven, mit einer Einladung, die weder der Schatten noch ich ausschlagen konnten.

Es war ein Freitag Ende Mai, als die Einladung eintraf.

»Hallo, Professor Bishop! Ich habe Ihnen gerade die letzte Post in den Briefkasten geworfen!«

Ich hatte auf dem vertrauten Heimweg von meinem Büro an der Yale Tagträumen nachgehangen, mit halber Aufmerksamkeit Beccas aufgeregtem Geplapper gelauscht und ansonsten meine Gedanken einfach schweifen lassen. Dass wir schon an dem kunstvoll verzierten, schmiedeeisernen Tor waren, das unser Haus an der Orange Street bewachte, und die Postbotin Brenda uns in diesem Augenblick von der Haustür aus entgegenkam, bemerkte ich erst, als sie mich ansprach.

»Danke, Brenda«, sagte ich mit einem müden Lächeln. Es herrschte sengende Hitze, wie eigentlich immer zu Ende des Sommersemesters in New Haven. Das hatte regelmäßig zur Folge, dass bei vielen die Nerven blank lagen, die zu manchen Gelegenheiten getragenen akademischen Monturen schnell schweißnass wurden und die Leute in den zahlreichen Cafés der Stadt für geeisten Caffè Latte Schlange standen.

»Du bist bestimmt schon ganz aufgeregt, wieder zurück nach England zu kommen, Becca«, sagte Brenda. Sie trug Shorts und Fischerhut der US-Post und war damit bestens gegen die höheren Temperaturen und die enorme Luftfeuchtigkeit New Havens gewappnet.

»Und ob.« Becca hüpfte von einem Fuß auf den anderen, um es zu beweisen. »Es ist Tamsys erste Reise, und ich kann ihr alles zeigen.«

Tamsy war der jüngste Zuwachs der Familie – eine der historischen Puppen, die bei Kindern bis dreizehn der letzte Schrei waren. Marcus und Phoebe, seine Gefährtin, hatten die Puppe aus der Kolonialzeit für Becca ausgesucht, die Marcus’ Haus in Hadley sehr mochte und immer so begeistert war, wenn er ihr von seiner Kindheit und Jugend dort in den Sechziger- und Siebzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts erzählte. Der Puppenmacher, dessen Werk Tamsy war, hatte der Puppe zwar einen anderen Namen gegeben, doch Becca hatte sie umgetauft, sobald sie deren grüne Augen und rotes Haar zum ersten Mal sah.

Als Puppenmutter war Beccas blühende Fantasie ganz und gar mit Tamsy und deren Welt beschäftigt. Zur Ausstattung der Puppe gehörte auch eine Vielzahl von Kleidungsstücken und sonstigem Zubehör, um Becca zu helfen, sie lebendig werden zu lassen, einschließlich eines Pferdes namens Penny. Tamsy war außerdem reichlich mit Möbeln für ihr Heim versorgt worden. Matthew hatte noch eine Miniaturnachbildung des Windsor-Stuhls in Marcus’ Haus ergänzt, der einst Grand-père Philippe gehört hatte, sowie eine zu Tamsys Größe passende bemalte Aussteuertruhe wie die, in der Phoebe ihre Bett- und Tischwäsche aufbewahrte. Die Truhe war mit einem winzigen Schloss versehen, und Becca hatte für die Reise nach England bereits Tamsys Kleider, ihre Schulbücher, ihren Federkiel, ihr Tintenfass und ihre Sammlung an Hüten hineingepackt.

Brenda winkte Tamsy zu, die von Beccas Hand herabhing. Dann wandte sie sich mir zu. »Auch Sie können es bestimmt kaum erwarten, zu Ihrer Forschungsarbeit zurückzukehren.«

Am Ende eines jeden Schuljahres flogen Matthew und ich mit den Kindern nach England, wo wir die Sommermonate in unserem Haus in Woodstock verbrachten. Es lag nur einige Meilen von Oxford entfernt, sodass ich von dort bequem die Bodleian Library erreichen konnte, während Matthew die Möglichkeit hatte, in Ruhe in seinem Labor an der Universität von Oxford zu arbeiten, ohne von Kollegen oder Doktoranden und Studenten in den höheren Semestern gestört zu werden. Becca und Pip, ihr Zwillingsbruder, konnten dort weitläufig Ländereien unsicher machen, Hunderte von Bäumen erklettern und ein Haus voller sonderbarer Schätze und Bücher erkunden, wenn die in England unausweichlichen sommerlichen Regenfluten außerhäusliche Aktivitäten erschweren sollten. Sie würden auch Reisen nach Frankreich unternehmen, um Ysabeau, Matthews Mutter, zu besuchen – das waren lange, faule Wochenenden –, und es bestand die Gelegenheit, sich wieder mit Marcus und Phoebe zu treffen, die ebenfalls einen Teil des Sommers in London verbringen würden.

Ich konnte es gar nicht erwarten, ins Flugzeug zu steigen und Yale, New Haven und das Sommersemester hinter mir zu lassen. Mich reizte die Aussicht auf ein neues Forschungsprojekt über die Ehefrauen und Schwestern früherer Mitglieder der Royal Society, und es juckte mich in den Fingern, bald wieder seltene Bücher und Manuskripte in die Hände zu bekommen.

»Sie haben bis morgen bestimmt noch viel zu erledigen«, bemerkte Brenda.

Sie hatte ja keine Ahnung. Wir hatten noch nicht gepackt, die Zimmerpflanzen standen immer noch drinnen und waren nicht feinsäuberlich auf der Terrasse hinterm Haus aufgereiht, damit die Nachbarn sie gießen konnten, und ich hatte mindestens drei Ladungen Wäsche, die auf mich warteten, bevor wir für den Sommer fortgehen konnten.

»Ich habe mich noch einmal vergewissert, dass Ihr Zustellungsstop und Postlagerungsauftrag für die Zeit Ihrer Abwesenheit richtig eingetragen sind. Was das Postamt von New Haven betrifft, sind Sie startklar«, erklärte Brenda, um unser Gespräch zu einem Abschluss zu bringen.

»Danke«, antwortete ich, löste Tamsy aus Beccas Griff und schob sie mit den Beinen voraus oben in meine Einkaufstasche zu der Campus-Post.

»Ich wünsche dir und Pip viel Spaß, Becca, und wir sehen uns dann im August«, verabschiedete sich Brenda und rückte den breiten Riemen ihrer Posttasche zurecht.

»Tschüss!«, rief Becca und winkte der davonschreitenden Brenda nach.

Ich strich ihr über das glänzende Haar, blauschwarz und schimmernd wie ein Krähenflügel. Becca hatte eine ungeheuer starke Ähnlichkeit mit Matthew: helle Haut und buschige Brauen, lang und schlaksig mit starken Kontrasten von Kopf bis Fuß. Die beiden ähnelten sich auch in ihrem Temperament; sie zeigten normalerweise eine selbstgewisse Reserviertheit, die von einem Moment auf den anderen in starke Gefühlsausbrüche umschlagen konnte. Pip hingegen kam mehr nach mir. Zufrieden damit, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, und nah ans Wasser gebaut, hatte er meinen kräftigen Körperbau, das helle Haar, in dem kupferrote Strähnen schimmerten, und ein paar vereinzelte Sommersprossen auf der Nase.

»Wir haben wirklich noch viel vor uns, Nüsschen«, mahnte ich. »Zuerst kümmern wir uns um Ardwinna und Apollo und sortieren diese ganze Post hier.«

Danach kam das Haus an die Reihe. Es musste tipptopp in Ordnung gebracht werden – eine entmutigende Aufgabe. Mein kleines Haus in der Court Street war viel zu winzig gewesen, um einen Vampir, eine Hexe, zwei lichtgeborene Kinder, einen Greif und einen riesigen Hund zu beherbergen. Marcus, Matthews Sohn, hatte uns stattdessen sein schlossartiges Haus an der Orange Street angeboten. Er hatte es kurz vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg erworben, als er seinerzeit in Yale Medizin studiert hatte und Mahagoni und förmliche Feste groß in Mode gewesen waren. Jede Oberfläche im Haus war poliert oder mit Schnitzereien verziert oder auch beides zugleich. Es war ein Albtraum, das alles sauber zu halten, und die riesigen Räume füllten sich nur allzu schnell mit dem Krimskrams des modernen Lebens.

Trotz seiner gewaltigen Größe und seines ursprünglich auf Repräsentation ausgelegten Stils hatte sich das Haus als überraschend gut für ein Familienleben geeignet erwiesen, mit seinen ausladenden überdachten Veranden, die den Kindern bei Regenwetter einen Platz zum Spielen boten, und dem eigenen Garten hinterm Haus, wo sich Apollo, Philips Greif und Vertrauter, und Ardwinna, mein Schottischer Deerhound, an den Spielen der Zwillinge beteiligen konnten. Und darüber hinaus gab es allein im Erdgeschoss etliche Räume, die einst, je nach Geschlecht und Funktion, verschiedenen sonstigen Bewohnern zur Verfügung gestanden hatten. Zuerst war uns Marcus’ Haus für unsere kleine Familie von Vampiren und Hexen eine Spur zu groß und prächtig erschienen, aber Familien haben so ihre eigene Art, sich auszubreiten, um den ihnen zugewiesenen Platz zu füllen. Was wir zunächst nur für einen vorübergehenden Aufenthalt angesehen hatten, erwies sich nun nach Jahren als recht dauerhafte Lösung.

Becca, die meine Stimmungsumschwünge stets lebhaft wahrnahm, spürte meine wachsende Nervosität.

»Mach dir keine Sorgen, Mom. Ich helf dir.« Sie zog ein Kazoo im typischen Blau von Yale, das sie im Büro gefunden hatte, aus ihrer Hüfttasche und versuchte, meine erlahmenden Lebensgeister zu heben, indem sie uns während der letzten paar Schritte zu unserem Haus etwas damit vorquäkte. Das seltsame, plärrende Blöken des Kazoos störte die Vögel auf, die in den nahen Bäumen hockten. Sie erhoben sich mit verärgertem Geflatter in die Luft, dunkle Gestalten, die mit heiserem Geschrei zum Protest gegen diese Störung ihres üblichen Nachmittagsschlafs im Formationsflug davonzogen.

Ich beschirmte meine Augen und sah der sich über den Himmel ausdehnenden schwarzen Wolke von Vögeln nach, die sich mit den feuchtwarmen Luftströmungen hob und senkte. Becca war ebenfalls ganz hingerissen von dem Anblick, dem sie sich mit großen, staunenden Augen hingab.

Ein einzelner Vogel löste sich aus der Formation, und sein Schatten fiel über unsere verschränkten Hände. Die Konturen seines Kopfes und seines gebogenen Schnabels zeichneten sich auf dem Gehsteig ab und wiesen in Richtung der Vordertür.

Eine plötzliche Kühle senkte sich herab, und ich erschauderte. Ich wollte wissen, was den Temperaturabfall verursacht hatte, und schaute in der Erwartung auf, Wolken zu sehen, die sich vor die strahlende Sonne geschoben hatten.

Stattdessen hatte die Welt alle Farbe verloren. Der einladende Stuck des Hauses, das grüne Blätterdach der Bäume, die blauen Farbtupfer der hohen Blütenstände von Rittersporn und Schwertlilie in den Rabatten mit den mehrjährigen Blumen – von alledem waren nur Grautöne geblieben wie auf einem ausgebleichten Foto des nebligen London aus den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch meine Perspektive hatte sich verändert, das Haus wirkte allzu hoch und breit und die Bäume zu gedrungen. Die gewohnten Geräusche des Viertels – Verkehr, Vogelgezwitscher, das Brummen von Rasenmähern – waren alle zu laut, genauso wie das Hämmern meines Herzens, als nun eine Welle des Unheimlichen über mir zusammenschlug.

Starke Kräfte, kribbelnd und unheilverkündend, durchfluteten meine Adern in Reaktion auf die Woge magischer Energie, die uns in ihrem farblosen Schleier umfangen hielt. Ich zog Becca schützend an mich.

Der einzelne schwarze Vogel, der über uns hinweggeglitten war, klatschte vor uns zu Boden, die Flügel ausgestreckt und den Kopf in einem Winkel seitwärts gebogen, der mir verriet, dass ihm bei dem Aufprall das Genick gebrochen war. Angesichts seiner Größe, des dicken, großen Schnabels und des struppigen Kehlgefieders musste es sich um einen Raben handeln.

Das Rauschen von Vogelflügeln erfüllte meine Ohren, als sich die Gefährten des Raben nun auf den Ästen des nächsten Baums niederließen, dunkle Flecken in der geisterhaften Welt, die sich scharf konturiert vom Hintergrund abhoben wie eine Reihe von Schattenrissen aus schwarzem Papier. Es waren nicht nur ein paar wenige Raben, sondern Dutzende.

Alles, was ich über Raben wusste – ihre Bedeutung in Magie, Mythen und Alchemie –, schoss mir durch den Kopf. Als Boten zwischen den Toten und den Lebenden symbolisierten Raben häufig den ersten Schritt in der alchemistischen Transformation, die zum Stein des Weisen führte.

Es gab auch Traditionen, die Raben mit der Gabe der Prophezeiung in Verbindung brachten. Was es zu bedeuten hatte, wenn einem ein solches Tier tot vor die Füße fiel, konnte ich mir nicht ausmalen – doch ein gutes Omen konnte es kaum sein.

Eine Blutlache, hochrot und zähflüssig, breitete sich auf dem Asphalt unter dem toten Raben aus. Jetzt, wo den Vogel die Lebenskraft verlassen hatte, nahm unsere Umgebung allmählich wieder Farbe an. Beccas kurze Jeanshose war wieder blau. Die Blütenzweige auf meiner Bluse wandelten sich in rosiges Pink und strahlendes Gelb, und auch die Schwertlilien fanden ihr altvertrautes Indigoblau wieder.

»Der Vogel ist tot, nicht wahr?« Becca besah sich den toten Raben, der reglos und mit offenen, blicklosen Augen vor uns lag. Der Geruch des Rabenblutes ließ ihre Nasenflügel beben; ein hungriger Ausdruck glitt über ihre Züge und ließ sie ganz und gar wie einen typischen Vampir aussehen. Becca hatte es als Säugling nach Blut verlangt, und obwohl dieses Bedürfnis im Lauf der Zeit geschwunden war, wurde es doch durch den Anblick wiedererweckt.

»Ja.« Das ausströmende Blut bestätigte es, und es hatte keinen Sinn, der Wahrheit auszuweichen.

»Als der Vogel gestorben ist, warum sind da auch die Farben gestorben?« Beccas Augen waren so groß wie die des toten Vogels. In ihren Tiefen lauerte ein dunkler Funke, den ich noch nie bemerkt hatte.

»Wie meinst du das?«, fragte ich zurückhaltend, weil ich die Aussagekraft ihrer Antwort nicht durch meine eigene Reaktion auf die Ereignisse dieses Nachmittags abschwächen wollte.

»Alles ist grau geworden, wie die Asche im Kamin«, erklärte Becca. »Ist dir das denn nicht aufgefallen?«

Ich nickte, überrascht, dass es meiner Tochter ebenfalls nicht entgangen war. Beccas Beobachtungsgabe stand nur hinter der von Matthew zurück, aber im Gegensatz zu Pip war sie normalerweise nicht auf die magischen Kräfte um sie herum eingestimmt.

»War es Magie?«, überlegte Becca. »Es hat sich nicht so angefühlt wie deine Magie, Mommy.«

»Ja, Liebes, ich glaube, es war tatsächlich Magie«, ließ ich sie wissen.

Welche Form von Magie da auch immer unserem Viertel in New Haven einen Besuch abgestattet hatte, sie hatte sich inzwischen wieder zurückgezogen. Trotzdem wollte ich sicher im Haus sein, weg von dem toten Vogel und dem dunklen Schatten, den er über meine Tochter und mich geworfen hatte.

Bevor ich Becca in diese Richtung ziehen konnte, stimmte der in den Bäumen hockende Rabenschwarm einen klagenden Gesang an. Ihr Lied setzte sich aus Schmerzgeschrei, gurgelndem Krächzen, kehligem Glucken und heiseren Rufen zusammen. Ein besonders stattlicher Rabe erhob sich in die Lüfte, und die langsame, träge Bewegung seiner Schwingen ließ die anderen Vögel verstummen. Der Rabe öffnete den Schnabel, und heraus drang das Läuten von Glocken, hoch und hell, das die vorherigen Rufe von Kummer und Verzweiflung verdrängte.

Der übergroße Rabe landete unbeschadet vor uns auf dem Asphalt, elegant und souverän. Die Federn des Vogels schimmerten tiefschwarz, mit einem Hauch von dunkelstem Blau darin, das mich an Beccas Haar erinnerte, und seine Kehlfedern hatte er so aufgeplustert, dass sie fast wie eine schwarze Halskrause wirkten. Mit einem Schnappen seines eindrucksvollen Schnabels legte der Rabe den Kopf schräg.

Becca erwiderte die Geste und näherte sich behutsam dem Vogel.

»Vorsicht«, murmelte ich, wusste ich doch nicht, was der Rabe im Schilde führte.

Die Raben in den Bäumen stimmten ein lautes Kra-kra an, als seien sie entrüstet, dass irgendjemand annehmen konnte, sie wollten einem Kind etwas antun.

Becca hockte sich neben den toten Vogel. Dessen lebender Gefährte näherte sich ihr mit mehreren Hüpfern und stolzierte dann vor ihr auf und ab. Dabei gab er einen sprudelnden Strom von Geplapper von sich. Schließlich zog der Vogel etwas aus dem Schnabel des toten Raben und ließ es vor Becca fallen.

Der Gegenstand klirrte nicht wie Metall, aber seine runde Form legte die Vermutung nahe, dass es sich um einen Ring handelte – wenn auch um einen, der nur auf einen sehr schlanken Finger passen würde.

»Fass ihn nicht an!«, rief ich. Meine Tante Sarah Bishop hatte mir einst eingeschärft, unter keinen Umständen einen unbekannten magischen Gegenstand zu berühren, und zumeist hatte ich ihre Regeln befolgt.

Meine Tochter war da aus einem anderen Holz geschnitzt und viel unabhängiger.

»Danke«, sagte Becca zu dem Raben und ließ den Ring über ihre Knöchel gleiten. Als er an ihrem Finger hinabrutschte, hinterließ er Schlieren vom Blut des Vogels.

Der Rabe zwitscherte eine Antwort, und Becca lauschte aufmerksam und nickte, als verstehe sie, was das Tier sagte. Tamsy starrte den Raben von ihrem Platz in meiner Einkaufstasche aus an und blinzelte gelegentlich langsam, als wolle sie sich den Schlaf aus den Augen vertreiben.

Während Becca und der Rabe sich unterhielten, verrieten mir ein Kribbeln in meinem linken Daumen und die tiefe Falte zwischen meinen Brauen, dass sich die seltsame Magie keineswegs verflüchtigt hatte. Sie hatte sich lediglich auf etwas anderes verlagert, das genauso unvertraut war. Ich versuchte, die Natur der Magie zu erkunden, und sandte wissbegierige Fühler aus, in der Hoffnung, Genaueres herauszufinden. Aber alles war rauchig und nebelhaft, ich konnte keine klaren Absichten oder irgendeine erkennbare zu entknotende Struktur ausmachen. Auch war die Magie mit einem seltsamen Geruch verbunden: nach Meersalz, Kiefern, Berberitzen und Schwefel in einem einzigen Gemisch.

»Es tut mir leid, dass deine Freundin gestorben ist«, sagte Becca, als der Rabe endlich verstummt war. »Du musst traurig sein.«

Der Kopf des Raben hob und senkte sich im Rhythmus des kehligen Zwitscherns, das seine Halsfedern sich weiter spreizen ließ als die Stacheln eines Stachelschweins.

»Wir werden sie im Garten begraben.« Becca legte sich die Hand aufs Herz, genau wie Matthew es ihr beigebracht hatte. »Das verspreche ich.«

Angesichts des Zaubers, der sich um uns herum entfaltete, war Beccas feierlicher Schwur eine große Verpflichtung für einen so jungen Menschen. Die Raben waren nicht durch Zufall in die Orange Street gekommen.

Jemand hatte sie hergeschickt, und sie waren mit einem Geschenk für meine Tochter erschienen. Ich hatte die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass magische Geschenke immer an Bedingungen geknüpft waren.

»Komm, gehen wir ins Haus und geben den Vögeln einen Moment allein mit ihrer Freundin«, schlug ich behutsam vor. Ich wollte immer noch lieber im Haus sein als draußen und schutzlos irgendeinem vertrackten Zauber ausgesetzt, der hier am Werk war. Ich streckte die Hand aus, und Becca griff danach.

»Aber das geht nicht! Wir müssen bleiben, bis ihre Freunde sie auf ihren letzten Flug gesungen haben, Mommy«, erklärte Becca und stand auf.

Wie aufs Stichwort stimmten die Raben auf den Ästen eine melancholische Totenklage an, ein Klappern wie von Knochen auf Holz, voller Trauer und wehmütiger Sehnsucht. Es war ein besonderes Privileg, lauschen zu dürfen, wie diese prächtigen Vögel ihre Gefühle preisgaben. Wallungen der Rührung schnürten mir die Kehle zu, als nun auch ich ihren bitteren Verlust spürte.

Becca umfasste meine Hand fester, während die Vögel sangen, und dicke Tränen rannen ihre Wangen hinab. Sie versuchte zwar, ihrer Herr zu werden, aber sie tropften herab und vermischten sich mit dem Blut des toten Raben und bildeten klare, salzige Pfützen in dem immer dunkler werdenden Fleck um den Vogel herum.

Die Raben erhoben sich in die Lüfte, und ihr Gesang der Trauer verwandelte sich in ein Lied der Hoffnung, als nun erneut Glockengeläut die Luft erfüllte. Die Vögel schwebten über ihrer am Boden liegende Schwester auf und ab, und ihre Federn schimmerten in einem übernatürlichen Glanz.

»Danke, dass du ihre Nachricht überbracht hast«, wandte sich Becca an den einzelnen Raben, der zurückgeblieben war. »Das werde ich nicht vergessen.«

Mit einigen kraftvollen Flügelschlägen schloss der Rabe zum Rest seines Schwarms auf. Gemeinsam schwebten die Vögel höher und immer höher empor, bis sie nicht mehr waren als kleine schwarze Punkte am Himmel.

»Was für eine Nachricht hat dir der Vogel denn überbracht, Becca?«, fragte ich und beäugte besorgt den toten Raben.

»Er hat mir gesagt, es sei an der Zeit, nach Hause zu kommen, und er hat mir das hier gegeben.« Becca streckte den Zeigefinger aus.

Ich untersuchte den Ring, so genau das momentan ging, denn schließlich war er blutverschmiert, und es klebte Erde daran. Der Ring war an manchen Stellen vom Alter geschwärzt, an anderen aber so hell und weiß wie Knochen. Seine Oberfläche war mehrfach durchlöchert, und raue dunkle Fasern waren durch die kleinen Öffnungen gewoben.

»Aber wir sind ja schon zu Hause. Es ist schrecklich traurig, dass seine Freundin beim Überbringen einer Botschaft gestorben ist, die wir gar nicht gebraucht haben.« Becca schaute zu mir auf, und ihre Tränen begannen wieder zu fließen. »Ist es meine Schuld, dass sie gestorben ist?«

»Natürlich nicht, Liebes.« Ich zog sie an mich. »Sie hat einfach die Entfernung zum Boden falsch eingeschätzt.«

Becca schniefte.

»Komm jetzt«, sagte ich entschieden. »Wir gehen rein.«

»Aber der Vogel …«, protestierte Becca und setzte ihr ganzes Gewicht ein, um mir Widerstand zu leisten.

»Dein Vater wird sich um den Raben kümmern«, versicherte ich ihr.

Zwar mochten die Farben in die Welt zurückgekehrt sein, und anstelle der seltsamen harzigen Duftmischung, die die Raben begleitet hatte, füllten nun die Gerüche des sommerlichen New Haven meine Nase, aber trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass heute auf der Orange Street etwas Besonderes geschehen war. Etwas Magisches, das zugleich unheimlich und nicht vertraut war.

Sobald wir in den kühlen Eingangsflur des Hauses mit seinem Marmorboden und den hohen Decken getreten waren, stieß ich einen leisen Seufzer aus und lehnte mich an die geschlossene Mahagonitür. Die überquellende Einkaufstasche rutschte mir von der Schulter und gesellte sich zu meinen Füßen zur Post, die durch den messingbeschlagenen Briefschlitz der Haustür eingeworfen worden war. Tamsy purzelte aus der Tasche, und Becca beeilte sich, die Puppe an sich zu nehmen.

Becca sah mir mit durchdringendem Blick in die Augen, während ich mich ganz meiner Erleichterung überließ. Sie war ein wachsames Kind, und nur wenig entging ihrer Aufmerksamkeit, sei es eine Maus, die draußen im Garten nach Nahrung stöberte, oder die Gefühlsumschwünge der Lebewesen um sie herum.

»Brauchst du eine Tasse Tee?«, fragte Becca.

Alle Familienangehörigen wussten, dass man mich am besten beruhigen konnte, indem man mir ein Buch in die eine Hand drückte und eine Tasse Tee in die andere.

»Und ob ich die brauche!« Ich lachte. »Und du siehst so aus, als könntest du eine Kleinigkeit zu essen vertragen. Erdnussbutter und Apfelscheiben?«

Es war Beccas Lieblingsleckerei – die knackigen Apfelhalbmonde bildeten das ideale Material zum Dippen der salzig-cremigen Masse.

»Ja bitte«, sagte Becca mit ernster Stimme. Der Tod des Raben drückte noch immer ihre Stimmung.

Ich klaubte die Post und die Einkaufstasche auf, dann gingen wir schnurstracks in die Küche. Dieser sonnige Raum im rückwärtigen Teil des Hauses war mein Lieblingsplatz in Marcus’ überall tapeziertem und reichlich mit Polstermöbeln ausgestattetem Heim. Da es eher der Zweck einer Vampirküche war, für Komfort zu sorgen, statt der Zubereitung und dem Verzehr von Nahrung zu dienen, waren solche Küchen oft mehr nach ästhetischen Erwägungen eingerichtet, statt den praktischen Bedürfnissen des Kochens Rechnung zu tragen. Infolgedessen hatten Vampirküchen mehr die Anmutung von Wohnräumen, mit großzügigen Sitzgelegenheiten und einer warmen, einladenden Beleuchtung. Die Schränke waren in einem heiteren, zarten Grünblau gestrichen und hatten noch die ursprünglichen Oberschränke mit Glastüren, hinter denen stapelweise Geschirr stand und Weingläser im Licht funkelten.

Ardwinna, meine hagere Schottische Hirschhündin, und Apollo, Pips Greif und Vertrauten, hatte ich in das ehemalige Nähzimmer direkt neben der Küche gesperrt. Apollo war mit einem Tarnzauber belegt, den ich eigens für ihn entworfen hatte und der ihn aussehen ließ wie einen großen gelben Labrador Retriever.

Sie begrüßten uns mit ihrem eigenen Chor von Bellen und Gurren.

»Lässt du die Tiere in den Garten?«, schlug ich Becca vor, die mich immer noch wie ein Habicht beobachtete. Meine Hände zitterten, als ich die Post und meine Tasche auf den Küchentisch fallen ließ. Jetzt, wo der unheimliche Augenblick mit den Raben hinter uns lag und das Adrenalin aus meinem Körper wich, wurde mir erst richtig die Anspannung bewusst, unter der ich die ganze Zeit gestanden hatte.

»Okay, Mommy.« Becca öffnete die Tür und führte Ardwinna und Apollo in den Garten, damit sie sich die Beine vertreten und aufschnappen konnten, was immer die Tiere aus der Nachbarschaft an Botschaften hinterlassen haben mochten.

Während ich selbst über das Geschenk des Raben und seine seltsame Botschaft über das Nach-Hause-Kommen nachgrübelte, brachte ich den Kessel zur Spüle. Ich war so sehr mit dem Versuch beschäftigt, mich an jede Einzelheit der verschatteten Magie zu erinnern, die sich da um uns gelegt hatte, dass ich das Wasser aufdrehte, ohne den Deckel abzunehmen. Bevor ich reagieren konnte, hatten ich, die Küchentheke und das Fenster ihren guten Teil Wasser abbekommen. Ich wischte alles auf, befüllte den Kessel nun ordentlich und stellte ihn auf den Herd. Dann holte ich ein kleines Schälchen für Beccas Nascherei aus dem Schrank und nahm ein Messer aus der Schublade. Immer noch abgelenkt, gelang es mir nur mit knapper Not, den Apfel statt meine Finger in Scheiben zu schneiden.

Bis der Hund und der Greif endlich jede Pflanze und jeden Baum im Garten beschnuppert hatten, war es mir gelungen, den Apfel unbeschadet zu schnippeln, etwas Erdnussbutter in das Schälchen zu geben und mir selbst eine stärkende Tasse Tee zuzubereiten.

»Wasch dir die Hände, bevor du dich setzt«, wies ich Becca an, als sie hereinkam. Ich wollte nicht, dass das Blut und der Schmutz dieses Nachmittags in den empfindlichen Blutkreislauf meiner Tochter gelangten.

Zu fünft setzten wir uns um das verschrammte, aber stattliche Möbelstück, das beim Bau des Hauses als Hackklotz gedient hatte und jetzt der Ort war, an dem wir uns am liebsten zu unseren Familienmahlzeiten versammelten. Tamsy saß in ihrem Hochstuhl und hing mit verwirrter Miene und einem von ihrem Fuß baumelnden Schnallenschuh zur Seite. Ardwinna rollte sich so dicht wie nur möglich neben Becca zusammen, für den Fall, dass ein mit Erdnussbutter verschmierter Finger oder ein halbes Stückchen Apfel den Weg zu ihr fand, während Apollo sich in gespannter Erwartung von Pips Rückkehr so ausgerichtet hatte, dass eines seiner braunen Augen auf den Flur gerichtet war.

Mein Sohn und sein Vertrauter, der Greif, waren eng verbunden durch das mysteriöse Band, dass sich zwischen Webern – Hexen wie Pip und mir, die die Fähigkeit besaßen, neue Zauberformeln zu schaffen – und den magischen Gefährten entwickelte, die sie auf ihrer magischen Reise begleiteten. Meine Vertraute war eine Feuerdrachin gewesen, und mich schmerzte noch immer der Verlust, wenn ich an Corra dachte, die ich ihrer Dienste entbunden hatte, nachdem sie mir geholfen hatte, Matthew das Leben zu retten.

Becca hatte kein solches Geschöpf an ihrer Seite. Wir wussten nicht, wann – und ob überhaupt – eines erscheinen würde. Die Magie unserer Tochter entwickelte sich nicht so sprunghaft wie die von Pip, und das war Matthew und mir nur recht. Beccas Vampirinstinkte waren scharf ausgeprägt und ihre Jagdtalente hervorragend. Trotzdem würde ich in diesem Sommer Beccas Entwicklung als Hexe eine größere Beachtung schenken müssen. Ich war in den letzten paar Jahren so sehr mit meinen Verpflichtungen in Yale ausgelastet, dass ich kaum noch gezaubert hatte.

Während sie so dasaß, maß Becca die Temperatur meines emotionalen Fiebers und schien festzustellen, dass sie gesunken war, da sie sich ihre kleine Mahlzeit einverleibte, ohne Yale, Brenda oder den Raben auf dem Gehsteig vorm Haus zu erwähnen. Ich blätterte die in die Orange Street zugestellte Post durch. Es handelte sich vorwiegend um Rechnungen, die noch bezahlt werden mussten, ehe wir aufbrachen.

Mein Blick schweifte aber immer wieder zu dem Ring an Beccas Finger ab. Jetzt, von Schmutz und Blut befreit, wurden seine kunstvoll gearbeiteten Gravuren erkennbar. Er war aus Knochen gefertigt, aber ich hätte nicht sagen können, von welchem Lebewesen. Der schwarze Faden, der durch die kleinen Löcher geschlungen war, verlieh dem Ring sowohl Struktur als auch Farbe, außerdem hob er das grazile Filigranmuster stärker hervor. Darüber hinaus war er aber auch von Magie durchwoben, und es drängte mich, das Ding genauer in Augenschein zu nehmen.

»Darf ich deinen Ring mal sehen?«, erkundigte ich mich.

»Klar.« Becca zog daran, doch der Ring rührte sich nicht vom Fleck. Sie steckte den Finger in den Mund und saugte daran, bevor ich sie daran hindern konnte, dann zog sie erneut an dem Ring. »Er sitzt fest.«

»Lass es mich mal versuchen«, bat ich und winkte sie heran. Sie hielt mir den Finger hin. Seine Kuppe funkelte und glitzerte.

»Sieh nur, Mommy!« Becca hüpfte vor Aufregung auf und ab. »Mein Finger steht in Flammen, genau wie deiner, wenn du zauberst!«

»Das sehe ich«, antwortete ich betont ruhig, wiewohl mein Herz dazu übergegangen war, einen unheilverkündenden Trommelwirbel zu schlagen.

Ich berührte den Ring in der Hoffnung, so seine Geheimnisse in Erfahrung zu bringen, und das Licht an Beccas Fingerspitze erlosch. Die Magie saß in dem Ring gefangen, so wie der Ring an Beccas Finger festsaß.

»Kann ich in der Bibliothek auf Daddy und Pip warten?«, fragte Becca. Mein Gefummel hatte sie ungeduldig werden lassen.

Das bunte Papier, die Behälter mit Textmarkern und Bleistiften und all der Krimskrams, den sie für ihre Bastelprojekte brauchte, wurden dort aufbewahrt, und sie wollte viel lieber damit spielen, als bei mir in der Küche zu bleiben.

»Natürlich darfst du in die Bibliothek«, antwortete ich und ließ ihren Finger los. »Willst du Daddy und Pip ein Bild davon malen, was du in Yale gesehen hast?«

Becca nahm Tamsy von deren Sitz und schüttelte den Kopf. »Ich möchte ein Bild von der Rabenfrau zeichnen – damit ich sie und ihre Botschaft nicht vergesse.« Becca war ein außerordentlich robustes Kind, aber der Tod des Raben hatte bei ihr einen tiefen Eindruck hinterlassen.

»In Ordnung, Liebes.« Ich zwang mich zu einem unbeschwerten Tonfall. »Ich komme gleich nach.«

Becca hüpfte zur Bibliothek, während ich an meinem Tee nippte und in die Flüssigkeit starrte, als könne sie mir verraten, was ich von dem Rabenschwarm und seinem seltsamen Benehmen zu halten hatte sowie von Beccas noch merkwürdigerer Reaktion darauf und von dem Ring, der sich nicht von der Stelle bewegen ließ.

War Beccas Magie nun endlich im Begriff zu erwachen? Würde ich in einigen Jahren zwei Weber im Teenageralter im Haus haben und nicht nur einen? Matthew würde sicher ähnliche Fragen haben, wenn er den toten Vogel draußen entdeckte. Bis auf Weiteres hatte ich keine Antworten für ihn – oder für mich selbst.

Ich kehrte mit einem Seufzen zu der Post zurück. Rechnungen. Werbeprospekte. Noch mehr Rechnungen. Ich warf den unnötigen Kram schnell auf einen freien Stuhl, um ihn später ins Altpapier zu geben, erstarrte aber, als ich einen dicken cremefarbenen Umschlag mit italienischen Briefmarken darauf berührte.

Das hier war keine Reklamepost. Es war ein Brief von der Kongregation, dem regierenden Rat, der in einer häufig feindseligen menschlichen Welt die Angelegenheiten der nichtmenschlichen Kreaturen überwachte.

Als ich den dicken Umschlag in den Fingern hielt, fühlte ich mich an mein Büro in Venedig erinnert und an die Arbeit, die ich dort geleistet hatte, um Dämonen, Hexen und Vampire in der Kongregation unter einen Hut zu bringen und die Führung aufzuteilen, statt den Status quo zu wahren, demzufolge immer ein Mitglied von Matthews weit verzweigter Familie das Sagen hatte. Heute führte meine Freundin Agatha Wilson den aus neun Mitgliedern bestehenden Rat an – eine Dämonin, die sich für die immerwährenden Probleme der Kongregation viele kreative Lösungen ausgedacht hatte. Und der Vampir Fernando Gonçalves, der Gefährte des hochverehrten und lange verstorbenen Hugh de Clermont, hatte den Sitz der de Clermonts inne, nicht Matthew oder dessen älterer Bruder Baldwin.

Ich drehte den Umschlag um und erwartete, einen Wirbel aus schwarzem, silbernem und orangefarbenem Wachs mit dem offiziellen Siegel der Kongregation vorzufinden, ein flammendes Dreieck mit einer Sonne, einem Stern und dem Mond darin. Das Siegel hier bestand jedoch ganz aus Silber und hatte ein Auge in der Mitte.

Das silberne Wachs verriet mir, dass der Brief von einer der drei Hexen der Kongregation stammte. Was das Symbol betraf, so erkannte ich es sofort. Das Alles-sehende-Auge war das persönliche Emblem von Sidonie von Borcke. Schon bevor man mich zur Vertreterin der de Clermonts in der Kongregation ernannt hatte, war sie der Fluch meines Lebens gewesen. Sobald ich in das Hauptquartier des Rats auf Isola della Stella in Venedig eingelassen worden war, hatte Sidonie es sich zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht, mir auf Schritt und Tritt Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Auf schlechte Nachrichten gefasst, brach ich das Wachssiegel auf und öffnete den Umschlag. Ein leiser Hauch von Rose und Zedernholz drang aus dem aufgebrochenen Siegel. Ich zog ein unverwechselbares Blatt Papier aus dem Umschlag, von einem maestro marmorizzatore in einer Werkstatt gefertigt, wo die Kongregation seit den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts ihr Briefpapier kaufte, und las:

Liebe Frau Professor Bishop, lieber Herr Professor Clairmont,

wie Sie wissen, prüfen wir die Begabungen und Fähigkeiten aller Kinder, deren Familien über ein Erbe höherer Magie verfügen. Da beide Elternteile von Professor Bishop eine solche Abstammung aufweisen, sind wir der Ansicht, dass eine gewissen Dringlichkeit besteht, die Beurteilung Ihrer Kinder sobald wie möglich vorzunehmen.

Ich runzelte die Stirn. Rebecca, meine Mutter, hatte sich in ihren Zwanzigern für eine Weile in höherer dunklerer Magie versucht. Anlässlich irgendeiner Veranstaltung der Kongregation für Studenten der höheren Magie war sie meiner Erzfeindin und ihrem Rivalen Peter Knox begegnet. Mein Vater jedoch, Stephen Proctor, war für seine reichlich glanzlosen magischen Begabungen bekannt gewesen. Er war wie ich ein Weber gewesen, was seine Unfähigkeit erklärte, die Zaubersprüche anderer Hexen zu verwenden, und ihm einen schlechten Ruf in der Hexengemeinschaft eingebracht hatte. Und was seine Abstammung betraf, so hatte Sarah mir erzählt, dass keiner der Proctors je ein großes Talent für die Zauberkunst an den Tag gelegt habe, erst recht nicht für ihre höheren Fertigkeiten.

Wir werden uns im August mit Ihnen in Verbindung setzen, um die nötigen Vorkehrungen für eine Untersuchung im Frühherbst zu treffen, bevor Rebecca Bishop-Clairmont und Philip Bishop-Clairmont im November sieben werden.

Mit freundlichen Grüßen

Sidonie von Borcke

Mich überlief trotz der Hitze ein kalter Schauder. Die Erinnerung an meine Untersuchung durch Peter Knox hatte noch immer die Macht, mich aus dem Gleis zu werfen. Er war nach Cambridge gekommen, als ich sieben war, und hätte meine Fähigkeit, neue Zauber zu schaffen, gewiss bemerkt, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass meine Eltern – die zweifellos ebenfalls einen Brief wie den erhalten hatten, den ich jetzt in der Hand hielt – mich vor seiner Ankunft mit einem Zauber belegt hatten. Meine Eltern hatten meine Magie regelrecht verknotet und meine Erinnerungen daran, auf Kinderart zu zaubern, gelöscht, um mich vor der Einmischung der Kongregation zu schützen. Erst als ich das Buch des Lebens fand und Matthew kennenlernte, löste sich der Zauberbann meiner Eltern, und meine Erinnerungen an jene dunklen Tage stellten sich allmählich wieder ein, zusammen mit meinen magischen Fähigkeiten.

Aber trotz der verzweifelten Maßnahmen meiner Eltern musste Knox’ Neugier geweckt worden sein, und er hatte die Kongregation wahrscheinlich darauf aufmerksam gemacht, dass in unserem Haushalt Seltsames vor sich ging, denn einige Wochen später flogen meine Mom und mein Dad nach Nigeria, um Forschungen zu ritueller Magie anzustellen und so alles verbliebene Interesse von mir abzulenken. Und dort waren sie beide unter mysteriösen Umständen gestorben, die ich noch immer nicht verstand. Ich hatte die Ausmaße meiner eigenen Fähigkeiten ohne ihre Unterstützung oder Leitung ausloten müssen.

»Nein«, sagte ich entschieden. »Auf keinen Fall.«

Die Kongregation würde nicht das magische Potenzial der Zwillinge durchleuchten, um sie dann für ihre eigenen Zwecke nutzen zu können, wie es Peter Knox bei mir vergeblich versucht hatte. Die Hexen in Venedig würden keinen Zugang zu Kenntnissen über die möglichen Fähigkeiten meiner Kinder erlangen. Ich würde mich selbst zur Kongregation begeben und die Sache mit Sidonie und den anderen Hexen persönlich ausfechten.

Ich leerte meine Einkaufstasche aus und kippte mein Portemonnaie und alles andere, was ich aus dem Büro mitgenommen hatte, auf den Küchentisch, sodass die bereits sorgfältig sortierte Post an unsere Hausadresse durcheinanderflog und all meine vorangegangenen Anstrengungen zunichtegemacht wurden. Wie üblich hatte sich mein Handy seinen Weg bis ganz nach unten in der Tasche gebahnt. Jetzt lag es oben auf dem kleinen Berg von Universitätspost, die ich noch durchsehen musste.

Matthews Nummer belegte bei mir die erste Kurzwahltaste. Energischer als nötig presste ich meinen Finger auf das Display, um eine Verbindung zu ihm herzustellen.

»Hallo!« Matthews Stimme war warm und freundlich, und ich fühlte mich sofort in meiner Entschlossenheit bestärkt, Becca und Pip vor Sidonie und ihren Spießgesellen aus der Kongregation zu beschützen. »Seid ihr zwei zu Hause?«

»Ja. Und du musst auch nach Hause kommen«, erklärte ich. »Sie sind hinter den Kindern her.«

»Wer?«, fragte Matthew, und sein Ton klang plötzlich scharf wie ein Rasiermesser.

»Die Kongregation. Wir haben einen Brief bekommen«, antwortete ich. »Sie wollen die magischen Fähigkeiten der Kinder prüfen. Du musst Becca und Pip in die Old Lodge bringen, und ich fliege nach Venedig, um diese Sache persönlich zu klären.«

»Jetzt mach mal langsam, Diana.« Matthew versuchte mich zu beschwichtigen, aber die Dringlichkeit der Situation hatte mich voll im Griff, und was er sagte, konnte da wenig ausrichten.

»Wenn wir Sidonie die Kinder einer Untersuchung unterziehen lassen, wird das den Hexen der Kongregation bestätigen, dass Pip ein Weber ist«, rief ich. »Und sie können es vielleicht auch spüren, wenn die Zwillinge den Blutrausch in sich tragen.«

Blutrausch war die Geißel der Vampire, eine genetische Veranlagung, die zutage trat, wenn sich das Blut von Dämonen, Menschen und Vampiren vermischte. Blutrausch führte zu unkontrollierbarer Wut, zu Gewalt und Blutgier. Matthew litt darunter, wie auch sein Urenkel Jack. Matthew hatte sich geweigert, genetische Tests an den Kindern durchzuführen, um festzustellen, ob auch sie diese genetische Mutation geerbt hatten.

»Ich kann Becca und Pip nicht mit einem Zauberbann belegen«, sagte ich. Es zerriss mir das Herz, und meine Stimme versagte. »Ich kann es nicht, Matthew. Ich habe geglaubt, ich könnte es falls nötig tun, aber jetzt …«

»Ich bin gleich da«, sagte Matthew. Ich hörte seine Schlüssel klimpern, während er seine Sachen im Labor zusammenpackte.

Die Verbindung war abgebrochen.

In der Stille, die dem Telefonat folgte, wurde ich mir des Raumes zwischen mir und Becca im Haus bewusst. Ich wollte näher bei ihr sein, und so raffte ich den Inhalt meiner Einkaufstasche mit beiden Armen zusammen. Ich konnte das Ganze genauso gut in der Bibliothek sortieren wie in der Küche.

Marcus’ beeindruckende holzvertäfelte Bibliothek diente uns als Wohnzimmer, ein stiller, privater Raum im hinteren Teil des Hauses, weit weg von der Straße. Sie verfügte über Fenster, durch die man einen Blick auf den Garten hatte. An den Wänden reihten sich Bücherregale, dazu gab es einen behaglichen Kamin und einen langen Tisch wie diejenigen, die mir aus der Sterling Library vertraut war.

Becca schaute von ihrem Bild auf und legte schützend die Hände über ihre Arbeit. »Nicht hinschauen, Mom. Ich bin noch nicht fertig.«

»Mach ich nicht«, versprach ich und lud meine Habseligkeiten am anderen Ende des Tisches ab. »Großes Ehrenwort.«

Obwohl ich versucht war, einen verstohlenen Blick auf Beccas Schöpfung zu werfen, stürzte ich mich stattdessen auf meinen ungeordneten Papierhaufen und suchte nach meinem Terminkalender, damit ich meine Reise nach Venedig organisieren konnte. Matthew hatte mich zwar gebeten, zu warten und langsam zu machen, trotzdem konnte es nicht schaden, wenn ich mir Daten und Termine ansah und Überlegungen anstellte, wie wir unsere Pläne für den Sommer entsprechend anpassen konnten.

Ich spürte den schmalen Terminplaner auf und zog ihn aus dem Haufen heraus. Darunter lugte ein Brief hervor, der an meine Adresse am historischen Seminar von Yale gerichtet war. Der Name des Absenders war in marineblauen Buchstaben auf der Ecke links oben eingeprägt: Professor G. E. Proctor, Ravenswood, Ipswich, Massachusetts.

Ich starrte auf die Absenderadresse und konnte nicht glauben, was ich da sah. Professor? Proctor? Ravenswood? Ipswich? Sarah hatte mir versichert, dass all meine Verwandten aus der Familie Proctor tot seien. Aber der Poststempel verriet, dass der Brief erst vor drei Tagen abgeschickt worden war.

Meines Wissens hatten Geister keinen Zugang zur Post der Vereinigten Staaten.

Ich schob den Zeigefinger unter die Lasche und riss den oberen Rand glatt auf. Mir stieg der Duft von Petroleum und Schwefel, den ich draußen bei den Raben schon wahrgenommen hatte, entgegen. Die dicke Karte darin trug eine förmliche Aufschrift: Vom Schreibtisch G. E. Proctors. Darunter drei Zeilen in einer schräg laufenden Handschrift, wie sie an amerikanischen Schulen längst nicht mehr unterrichtet wurde.

Es ist an der Zeit, dass du nach Hause kommst, Diana.Deine GroßtanteGwyneth Proctor

Es war fast die gleiche Nachricht, die der Rabe Becca überbracht hatte.

Es konnte kein Zufall sein, dass zwei identische Nachrichten aus zwei verschiedenen Quellen am selben Tag eingetroffen waren, an dem ich den unheilverkündenden Brief der Kongregation erhalten hatte. Hatte diese mysteriöse Großtante die Raben für den Fall geschickt, dass ihre Einladung in der Post verloren ging? Konnte die Einladung nach Ipswich etwas mit der Kongregation zu tun haben?

»Professor Gwyneth Proctor.« Ich strich mit dem Zeigefinger über den Namen. Ich wusste nichts über die Familie meines Vaters und war überrascht zu erfahren, dass es unter den Proctors Akademikerinnen gab.

Ich schaute nach, ob sonst noch etwas in dem Umschlag war. Als ich ihn umdrehte, rutschte eine Spielkarte heraus. Jemand hatte einen Sechspass gezeichnet, das beliebteste Zeichen zur Abwehr von Unheil, dazu verwendet, Menschen vor Hexen und Zauberei zu beschützen. Es ähnelte einer einfachen Blüte mit sechs Blütenblättern. Das winzige Loch, in dem die Spitze eines Zirkels gesteckt hatte, war noch immer sichtbar.

Ich nahm die Karte vom Tisch, und sofort erwachten die Weberschnüre auf meiner Linken leuchtend zum Leben. Normalerweise haben Weber ein Bündel farbiger Schnüre, die sie als Hilfe benutzen, um neue Zauber mit den ihrer Farbe entsprechenden Mächten im Gewebe des Universums zu verknüpfen. Mein Bündel von Schnüren war ganz von mir absorbiert worden, genauso wie das geheimnisvolle Buch des Lebens; beide waren jetzt wie meine Magie zu einem Teil meines Leibes geworden. Und die Schnüre hatten sich jetzt jahrelang nicht mehr gerührt, aber diese Karte hatte sie nun wieder zum Leben erweckt.

Als ich sie umdrehte, sah ich auf der Rückseite die Abbildung eines Holzschnittes. Er zeigte einen Mann in dunkler Kleidung und stabilen Schnallenschuhen, der über einen dunklen Weg mit niedrig wachsendem Gras zu beiden Seiten ging. Wolken ballten sich über seinem Kopf, und die eine Hand war ausgestreckt, als weise er eine Richtung. Das Bild war aus einer Broschüre oder einem Buch ausgeschnitten und auf die Karte geklebt worden.

Nach Hause, wisperte mein sechster Hexensinn, während ich die ausgestreckte Hand des Mannes anstarrte.

Ein weiteres Blatt Papier rutschte aus dem Umschlag und flatterte auf meinen Schoß. Es war klein und dünn wie Seidenpapier, in der Mitte sorgfältig gefaltet. Die Faltstelle im Papier war weich und brüchig, als sei das Blatt viele Male auseinander- und wieder zusammengefaltet worden.

Darauf zu sehen war eine Bleistiftzeichnung von zwei ineinandergelegten Händen, über die der Schatten eines Raben fiel. Die eine Hand gehörte einem Kind, die andere einem Erwachsenen. Sie trug einen kunstvoll gefertigten Ring.

Meinen Ring. Er war ein Geschenk von Philippe de Clermont an Matthews Mutter Ysabeau gewesen. Sie hatte ihn dann ihrerseits mir geschenkt, und seither trug ich ihn. Ich schaute auf meine linke Hand hinunter und verglich den seltenen Edelstein mit der Bleistiftzeichnung. Die Ähnlichkeit war unverkennbar; die emaillierten Hände hielten ein Herz mit einem darin eingelassenen Diamanten umfangen. Ich drehte die Zeichnung um, auf der Suche nach weiteren Hinweisen darauf, wer sie angefertigt hatte und wann das gewesen war. Rebecca und Diana stand auf der Rückseite geschrieben, daneben die Initialen MFP und das Datum 1972.

Es war unmöglich, dass eine Zeichnung, die vor Jahrzehnten angefertigt worden war, noch vor meiner Geburt, etwas abbilden konnte, das erst heute Nachmittag stattgefunden hatte. Die Wände der Bibliothek schienen auf mich einzustürzen, aber ich durfte vor Becca keinen Nervenzusammenbruch bekommen und schob die Panik von mir.

Die Schnüre auf meiner linken Hand verdunkelten sich, zeichneten sich erhaben auf meiner Haut ab und zogen sich in Strängen von Weiß, Gold, Silber und Schwarz von den Fingerspitzen über die Handfläche bis zum Handgelenk. Es waren die Farben der dunklen höheren Magie. Auf meiner Rechten, wo normalerweise die Farben der gewöhnlichen Hexenkunst – Braun, Gelb, Blau, Rot und Grün – erschienen, war nichts zu sehen.

Keine Spur. Nur die Stränge der höheren Magie waren von der Karte und der Abbildung aus Gwyneth Proctors Brief angeregt worden.

Ich zog Sidonies zerknitterten Brief aus der Tasche und hielt ihn neben Gwyneth Proctors schlichtes Schreiben. In der einen Hand hielt ich die Aussicht auf Gefahr und eine Bedrohung für meine Familie. In der anderen spürte ich eine dünne Rettungsleine der Hoffnung und neuer Möglichkeiten.

Ich betrachtete das Bild, das 1972 von der Hand meiner Tochter in meiner eigenen gezeichnet worden war, mit dem Schatten der Flügel eines Raben, der wie eine Segnung über die Stelle fiel, an der wir beide uns berührten. Intensives Verlangen nach etwas, das ich nicht benennen konnte, durchzuckte mich wie ein Stich, und meine Fantasie flog davon, an einen Ort, an dem ich noch nie gewesen war und wo eine Großtante namens Gwyneth auf mich wartete.

An meinem linken Handgelenk erschien ein ringfömiges Gebilde, das aus Strängen höherer Magie bestand. Es war ein Ouroboros, die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss, das Emblem der Familie de Clermont.

Es war außerdem ein Symbol für den zehnten Knoten, den trügerisch einfachen Weberknoten ohne Anfang und ohne Ende, den zu knüpfen nur die wenigstens Weber die Macht besaßen. Ich krümmte und streckte die Finger, sodass die Schlange sich zu bewegen und unter meiner Haut dahinzugleiten schien, während die schimmernden Farben der höheren Magie mich immer heller umstrahlten.

Ich würde nicht nach England oder Venedig reisen. Noch nicht. Zuerst würde ich nach Hause gehen. Nach Ravenswood.

Kapitel 2

Ich setzte mich auf einen der niedrigen Sessel am Feuer, legte meine Füße auf das Messinggitter um den Kamin herum und sah mir noch einmal die Bleistiftzeichnung an, die präzise bis ins letzte Detail die unheimlichen Ereignisse dieses Nachmittags abbildete. Die alte Spielkarte, die Mitteilung von Gwyneth und das offizielle Schreiben der Kongregation lagen in einem Häufchen auf meinem Schoß.

»Wer hat das gemalt?« Becca war zu mir gekommen und schaute mir über die Schulter, lautlos wie ein Panther und neugierig wie eine Katze.

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß und machte Platz für sie auf meinem Schoß. Becca kletterte hinauf und kuschelte sich in meine Armbeuge. »Ich glaube, es könnte ein Verwandter von Grandpa Stephen gewesen sein.«

Becca streckte die Hand nach der Zeichnung aus, und ich gab sie ihr, damit sie sie sich genauer anschauen konnte. Sie fasste sie ganz vorsichtig, nur an den Rändern. Phoebe hatte den Zwillingen beigebracht, kostbare Dinge mit Respekt zu behandeln, und auch wenn Pip immer noch gefährlich temperamentvoll mit einem Porzellangegenstand umgehen konnte, hatte sich Becca als eine hervorragende Schülerin erwiesen.

»Das ist dein Ring«, stellte Becca fest. »Der, den dir Grandma Ysabeau geschenkt hat.«

Ich nickte und ließ meine Wange über Beccas glattes Haar streichen.

»Und ich zeichne das Nächste, was dann passiert ist«, verkündete Becca, hüpfte von meinem Schoß und kehrte an den Tisch und zu ihren Malutensilien zurück.

Ich wandte mich wieder der Spielkarte zu. Sie war alt, nach dem dicken, rauen Karton zu urteilen, der einst weiß gewesen war, jetzt aber einen weichen Elfenbeinton mit einer Beimischung von Bernstein angenommen hatte. Die Kleidung des Spaziergängers stammte aus der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, und die hoch aufragende Feder auf seinem Hut deutete darauf hin, dass das Bild während der Herrschaft von Charles dem Ersten oder Charles dem Zweiten entstanden sein musste. Das Gleiche galt auch für Kragen und Manschetten, die spitzenbesetzt waren. Der Leim, der das Bild an der Karte festhielt, war brüchig und vergilbt. Alles in allem machte sie eindeutig den Eindruck, als sei sie zu Hause selbst hergestellt worden, Resultat eines Bastelprojekts, das jemand zwischen 1630 und 1765 mit einer Schere, einem Leimtopf und einem Haufen alter Spielkarten und Drucken unternommen hatte.

Was die Bedeutung der Karte selbst anging, war ich mir unsicher. War das hier ein Unikat, etwas, das in einer Dokumentenschachtel oder zwischen den Seiten eines Buches hatte aufbewahrt werden sollen und das aus Gründen der besseren Haltbarkeit auf Karton geklebt worden war? Bedeutete der Sechspass, dass die seltsame Karte einen magischen Talisman irgendeiner Art darstellte? Oder stand der Mann einfach für eine der Farben aus einem traditionellen Kartenspiel?

Ich ertappte mich bei dem Wunsch, dem einsamen Spaziergänger zu seinem unbekannten Ziel zu folgen, als seien die Antworten auf meine Fragen am Ende des Weges zu finden. Obwohl seine Route nicht beschildert war, wäre ich gern in die Fußstapfen getreten, die er mit seinen schweren Sohlen hinterlassen hatte, und Schritt für Schritt mit ihm gegangen.

Komm nach Hause, schien der Spaziergänger zu sagen. Dort findest du Antworten.

Ich studierte die Karte, als sei sie eines meiner alchemistischen Manuskripte, auf der Suche nach irgendetwas, das ich vielleicht übersehen hatte, und entdeckte schließlich einen verblichenen Buchstaben und dann noch einen weiteren. Da war auch eine verblasste Zahl, am oberen Rand. Ich griff nach meinem Handy, machte ein Foto und hantierte mit den Einstellungen, bis auf dem kleinen Display eine Negativabbildung der Karte erschien. Ein Kniff, den ich in den Archiven gelernt hatte und der mich oft davor bewahrte, mir die Zeit für eine Bestrahlung mit ultraviolettem Licht nehmen zu müssen, um verblichene oder getilgte Schrift auf diese Weise wieder sichtbar zu machen.

Glücklicherweise funktionierte der Trick. Mithilfe einer Vergrößerung und einigen weiteren Korrekturen gelang es mir, die alte Beschriftung der Karte lesbar zu machen. Da standen – in einer Handschrift aus der Zeit um 1700 – die Worte Der dunkle Weg und die Zahl 44.

Verwirrt lehnte ich mich in die dicken weichen Kissen zurück. Kartendecks hatten zweiundfünfzig Karten, aber keine Karte mit dem Namen Der dunkle Weg – auch wurden sie normalerweise nicht nummeriert. Tarotdecks hatten achtundsiebzig nummerierte Karten, doch nur die zweiundzwanzig Karten der großen Arkana waren durchgehend nummeriert. Da ich hier aber Nummer 44 vor mir hatte, konnte die Karte auch nicht aus einem Tarotdeck stammen.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klingelte es an der Tür. Kurz darauf flog mit einem Knall die Tür auf.

Pip war zu Hause. Ob das Haus leer oder voller Leute war, ob er mit jemandem zusammen kam, der einen Schlüssel hatte, oder nicht, Pip konnte nie der Versuchung widerstehen, die Drehkurbel von Marcus’ Türklingel zu betätigen und damit ein blechernes Getöse durchs Haus schrillen zu lassen, das Tote wecken konnte. Leises Stimmengewirr folgte, dann ertönte Ardwinnas durchdringendes Bellen und Apollos gurrende Antwort, als die Tiere losrannten, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

»Hi, Mom!«, brüllte Pip. »Wir sind zu Hause!«

»Daddy!« Beccas Stimme war laut und schrill, als sie vom Tisch aufstand und dem Hund und dem Greif hinterherstürmte. »Hast du den toten Raben gesehen?«

»Ja, mein kleiner Mondstrahl. Wo ist deine Mutter?«, antwortete Matthew von irgendwo mitten im Haus.

»Sie ist in der Bibliothek.« Jetzt war es an Becca zu schreien. »Mom! Daddy ist zu Hause. Pip auch. Und Onkel Chris und Tante Miriam!«

»Hallo, Diana!«, rief Chris. »Ich würde diesen Hexen von der Kongregation gern etwas wirklich Beängstigendes geben, worüber sie sich beunruhigen können – einen stinksauren Patenonkel!«

»Wo ist der Schrieb?«, fragte Matthew von der Türschwelle der Bibliothek aus. Sein Haar, genau wie Beccas dunkel wie ein Rabenflügel, stand ihm in Büscheln vom Kopf ab, und seine Brauen waren gefährlich tief über seinen graugrünen Augen zusammengezogen.

Ich nahm den Brief der Kongregation vom Tisch und hielt ihn Matthew hin.

Er kniete sich neben meinen Sessel und sah mir forschend ins Gesicht, auf der Suche nach Anzeichen von Kummer und Bedrängnis.

»Wir werden das schon hinbekommen, mon cœur«, beteuerte er, führte meine Hand an seine Lippen und drückte sie in seine kühle Haut. »Du wirst die Kinder nicht mit einem Bann belegen müssen. Wenn nötig, können wir nach Sept Tours fliegen statt zur Old Lodge. Dort wird uns niemand belästigen, und Baldwin und Fernando werden der Kongregation ein Wörtchen zu sagen haben, wenn es um das Schicksal unserer Kinder geht. Es wird uns schon nichts passieren.«

Meine Eltern hatten gedacht, ich wäre in Madison bei Sarah in Sicherheit und mir könne dort nichts passieren, und dem war auch so gewesen – für eine Weile.

Aber für Becca und Pip wollte ich mehr als nur vorübergehende Sicherheit.

»Was ist mit diesem Raben passiert?«, erkundigte sich Chris, der einige Schritte hinter Matthew den Raum betreten hatte.

Pip schoss an ihm vorbei, um mir einen Kuss zu geben. Becca folgte ihrem Bruder direkt auf den Fersen und steuerte geradewegs den Bibliothekstisch an.

»Der Rabe hat mir eine Nachricht gebracht, Onkel Chris, und dann ist er aufs Pflaster geklatscht. Schau!« Becca wedelte mit der Bleistiftzeichnung von Gwyneth Proctor und ihrer eigenen Zeichnung eines wie plattgedrückt daliegenden Raben umgeben von leuchtendem Rot. »Mommy meinte, es sei ein Unfall gewesen. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich hätte den Freund des Raben fragen sollen.«

»Moment mal.« Chris stutzte auf eine regelrecht oscarreife Weise. »Du hast eine Nachricht von einem Vogel bekommen? Haben sie dich an einer Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen?«

»Dort war das eine Eule, Onkel Chris«, berichtigte Becca. »Diese Nachricht hat ein Rabe gebracht.«

Aber die Raben waren nicht nur mit einer Nachricht nach New Haven gekommen. Sie hatten Becca auch einen Ring mitgebracht. Es überraschte mich zu sehen, dass er nicht mehr an ihrem Finger steckte.

»Hast du eine Botschaft von den Toten erwartet, Diana?«, fragte Miriam, die wie üblich ganz gemächlich den Raum trat. Sie war eine uralte Vampirin und konnte sehr schnell sein, aber jegliche Eile widerstrebte ihrem Temperament. »Das ist es nämlich, was Raben normalerweise bringen.«

»Nein«, raunte ich mit gedämpfter Stimme, »aber ich habe trotzdem eine bekommen.«

Die leisen Worte zogen die ungeteilte Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf sich.

»Wir haben heute mehrere Nachrichten erhalten«, erklärte ich. »Eine aus Venedig, eine von den Raben und eine von den Proctors.«

»Von den Proctors?« Matthews Züge nahmen einen leeren Ausdruck an, während er diese Enthüllung zu verarbeiten versuchte. »Ich dachte, sie seien alle tot?«

»Das dachte ich auch.« Sarah hatte es mir versichert, und zwar wiederholt.

»Drei Nachrichten«, sagte Miriam nachdenklich. »Alle drei magischer Natur. Das kann kein Zufall sein.«

»Meine Tante Hortense war der festen Überzeugung, dass schlimme Dinge immer im Trio kommen«, verkündete Chris mit unheildrohender Stimme.

»Das ist bei den Newton’schen Gesetzen auch nicht anders«, bemerkte ich in der Absicht, dieses abergläubische Gerede so schnell wie möglich im Keim zu ersticken.

»Schweine kommen auch immer zu dritt«, warf Pip ein und unterbreitete Belegmaterial aus seinem eigenen Fachgebiet. »Und Bären. Und französische Hühner.«

»Und Musketiere«, ergänzte Becca, ein Blatt Papier in jeder Hand. Dann stürzte sie sich auf ihren Vater.

»Vorsicht, Becca!«, rief ich in der Befürchtung, sie könnte die empfindliche Zeichnung beschädigen, und stand auf. Die alte Spielkarte flatterte zusammen mit Gwyneths Brief zu Boden.

Matthews Blick fixierte die herabgefallenen Gegenstände. »Was ist das?«

»Die Botschaft von den Proctors. Ich soll nach Hause kommen.« Meine Stimme war ruhig und gleichmäßig, als ich diese überraschende Ankündigung machte.

Matthew sah mir in die Augen, sein Blick sturmdunkel und funkelnd. Ich hob die Papiere auf und reichte sie meinem Mann.

»Nach Hause?«, fragte Chris. »Du bist zu Hause.«

»Damit ist das Zuhause von Gwyneth Proctor gemeint. In Ipswich«, erklärte ich, ohne den Blick von Matthew abzuwenden, der stumm die Botschaft meiner Großtante las, während mir bei dem Wort Zuhause die Stimme versagte. »In einem Ort namens Ravenswood.«

»Was ist mit der Kongregation?«, erkundigte sich Chris stirnrunzelnd. »Solltest du nicht nach Venedig reisen?«

»Was ist mit England?«, rief Pip, entsetzt über die Aussicht auf diese späte Änderung seiner sorgfältig zusammengestellten Pläne für den Sommer.

»Was ist mit mir?«, begehrte Becca auf. »Die Raben haben gesagt, ich müsse ebenfalls nach Hause kommen.«

»Noch ist nichts entschieden«, erwiderte ich leichthin, obschon ich felsenfest entschlossen war, nach Massachusetts zu reisen. »Kommt, unterhalten wir uns nach dem Abendessen darüber. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe Hunger. Wer braucht jetzt ein Glas Wein?«

Die Zwillinge, von der Aussicht auf eine warme Mahlzeit abgelenkt, übernahmen das Kommando über Tamsy und die Tiere und gingen voraus in die Küche. Chris und Miriam blieben in der Bibliothek zurück, Matthew ebenfalls.

»Ipswich?« Matthew zog die Brauen hoch. »Du willst dich aufgrund einer Nachricht von zehn Wörtern von einer Großtante, die du nie kennengelernt hast, auf den Weg in die Vororte Bostons machen?«

Aber es war mehr als nur das, und er wusste es.

»Nach dem Abendessen«, versprach ich. »Wir können nach dem Abendessen darüber reden.«

Sobald wir in die Küche marschiert waren, übernahm jeder Einzelne seine gewohnten Aufgaben für das freitägliche Abendessen. Es war bei uns Tradition, uns am Ende der Woche zu versammeln und als Familie zusammen zu speisen. Während Matthew das Essen zubereitete, fütterten wir Übrigen die Tiere, räumten den Tisch ab, schalteten die Lautsprecherboxen an, um eine von Chris’ Playlists abzuspielen, und deckten den Tisch für sechs Personen, mit allem, was es an Tellern, Besteck, Servietten und Gläsern brauchte, um eine hungrige Horde satt zu bekommen. Becca ließ Tamsy in ihren Hochstuhl plumpsen, und die Puppe überblickte den Reigen der Aktivitäten um sie herum mit der überlegenen Haltung einer Aristokratin, die ihrem Gesinde bei der Arbeit zusieht.

Um den Hals der Puppe hing an den Korallenperlen, mit denen sie zu uns gekommen war, der verschwundene Knochenring. Ich hoffte inständig, dass niemand Fragen hinsichtlich dieser neusten Erweiterung von Tamsys umfangreicher Garderobe stellen würde, goss jedem der Erwachsenen einen ordentlichen Schluck Wein ein und nippte dann an meinem eigenen Glas, um meine Nerven zu beruhigen.

Schon bald erfüllte der köstliche Duft von Cassoulet die Küche. Matthew hatte das ganze Semester hindurch töpfeweise herzhafte französische Gerichte zubereitet und die Kinder und mich Kelle für Kelle damit gefüttert. Ratatouille, Potée auvergnate, in Wein geschmortes Rind und Huhn – jede einzelne dieser Speisen war ebenso wohlschmeckend wie einzigartig. Chris hatte angefangen, Matthew Julia zu nennen und war zu einem unserer Freitagabendessen mit einer Rüschenschürze und einem großen Stück Butter erschienen statt mit seinem üblichen Mitbringsel von Wein und Blumen.

Wir schlangen Matthews gelungene Küchenkreation – die Pip nicht unzutreffend Pupseintopf nannte – förmlich hinunter und leerten zwei Flaschen Burgunder ohne Zwischenfälle, von einigen belanglosen Abschweifungen über Portionsgrößen, die Menge an französischem Senf, die Pip auf sein Essen gelöffelt sehen wollte, Beccas Frage nach einem Schluck Blut, das sie zu speziellen Gelegenheiten immer noch gern trank, und einer sehr lautstarken Gasentladung aus der Richtung der Zwillinge einmal abgesehen. Becca und Pip sorgten für einen endlosen Strom fröhlichen Geplappers und wussten uns allerlei wichtige Nachrichten aus der Nachbarschaft aufzutischen, wie etwa, dass in dem Haus an der Ecke Katzenbabys geboren worden waren – wir Erwachsenen brauchten nichts anderes zu tun, als ihrem Beispiel zu folgen. Matthew trank allein eine ganze Flasche von dem Burgunder.

Als es Zeit für den Nachtisch war, und ich Eis und Espresso servierte, warf mir mein Mann einen eindringlichen Blick zu. Seine Geduld war mittlerweile offensichtlich erschöpft. Sobald die Schalen und die winzigen Tassen leer waren, versuchte ich, die Kinder nach oben ins Bett zu scheuchen, damit wir uns nicht vor ihnen streiten mussten. Irgendetwas sagte mir, dass Matthew den Plan, den ich während des Abendessens geschmiedet hatte, nicht sonderlich gutheißen würde.

»Ich kann jetzt noch nicht ins Bett gehen, Mommy«, protestierte Becca, als sie ihre leere Schüssel zur Spülmaschine trug. »Ich muss mich zuerst um den Raben kümmern.«

»Das übernimmt dein Vater«, entgegnete ich und vergewisserte mich, dass Ardwinna frisches Wasser hatte und dass eines der tiefen Waschbecken ein Stück weit gefüllt war, damit Apollo sein allabendliches Bad nehmen konnte.

»Nein!« Der gerade im Übermaß genossene Zucker gab Beccas resolutem Ausruf zusätzlich Nahrung. »Das muss ich tun, Mom. Ich habe dem Freund der Rabenfrau versprochen, dass ich sie begraben würde.«