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Band 2 der erfolgreichen Sci-Fi-Dystopie THE LOOP! Luka ist wieder im Gefängnis und diesmal ist es schlimmer als jemals zuvor. Im Block kann er die manipulierten Bilder in seinem Kopf nicht länger von der Realität unterscheiden. Dennoch gelingt ein riskanter Ausbruch und führt ihn und seine Freunde wieder zusammen. Versteckt im Herzen der zerstörten Stadt wird Luka allmählich das Ausmaß ihrer Mission klar: Um den Krieg zu gewinnen, müssen sie Happy besiegen, das alles beherrschende System. Und so ziehen die Jugendlichen mit ihrer stärksten und einzigen Waffe in den Kampf gegen die künstliche Intelligenz: ihrer Freundschaft. Packend, düster, brutal - für Fans von MAZE RUNNER und DIE TRIBUTE VON PANEM! Band 1: The Loop Band 2: The Block Band 3: The Arc (erscheint im September 2022)
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Luka ist wieder im Gefängnis und diesmal ist es schlimmer als jemals zuvor. Im Block kann er die manipulierten Bilder in seinem Kopf nicht länger von der Realität unterscheiden. Dennoch gelingt ein riskanter Ausbruch und führt ihn und seine Freunde wieder zusammen. Versteckt im Herzen der zerstörten Stadt wird Luka allmählich das Ausmaß ihrer Mission klar: Um den Krieg zu gewinnen, müssen sie Happy besiegen, das alles beherrschende System. Und so ziehen die Jugendlichen mit ihrer stärksten und einzigen Waffe in den Kampf gegen die künstliche Intelligenz: ihrer Freundschaft.
Buch lesen
Viten
Danksagung
Für Hollie. Bücher?
Wer hätte das gedacht? Du!
Warum empfinden wir kurz vor unserem Abgang die Welt als so unsagbar herrlich? Geht es dem Kaninchen genauso, während der Fuchs die Zähne in seinen Nacken versenkt? Ist es ein Zeichen von Gnade?
Das Jahr der Flut, MARGARET ATWOOD
Wir haben einen hohen Preis gezahlt für den Sieg über Happy.
Ich liege auf dem Bett, starre an die Decke unserer Wohnung im 177. Stock des Black Road Vertical und zermartere mir den Kopf, ob wir den richtigen Weg gegangen waren. Ob wir irgendetwas hätten anders machen sollen.
Pander hatte sich das Leben genommen, nachdem Happy sich in ihr hochgeladen hatte. Pod war von einem Modifizierten erstochen worden, der fanatisch an die Herrschaft der Künstlichen Intelligenz glaubte. Malachai war bei der Schlacht in City Level Two umgekommen, der riesigen, auf Stelzen gebauten Luxuswohnanlage. Und Igby hatten sie in seinem Flugauto abgeschossen, als er eine Schlüsselkarte für den unterirdischen Bunker auftreiben wollte, in dem Happys Server standen.
Doch das größte Opfer hatte Akimi gebracht: Sie war mit Plasma-Granaten in die Stromspeicheranlage gestürmt und hatte sich mitsamt Happys Energieversorgungssystem in die Luft gesprengt. Wir Übriggebliebenen hatten danach nur noch abwarten müssen, bis der Notstrom der KI aufgebraucht war.
»Worüber zerbrichst du dir den Kopf?« Kina kommt herein und legt sich neben mich.
Ihre bloße Gegenwart zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Doch sofort komme ich mir egoistisch vor. »Über … alles.«
»Meine Gedanken fahren auch Karussell.« Sie streicht mir mit der Hand durchs Haar.
»Fühlst du dich manchmal auch so schlecht?«, frage ich. »Weil wir überlebt haben, während alle anderen …«
»Ständig. Nachts träume ich sogar davon und schrecke aus dem Schlaf …« Sie verstummt und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
»Ich weiß nicht, was ich erwartet habe«, sage ich. »Ich hatte mir das Ende des Krieges als etwas Großartiges vorgestellt. Für mich war vollkommen klar, dass wir alle gemeinsam in ein neues Leben starten, ich hätte nie gedacht, dass auch nur einer von uns nicht mehr dabei ist.«
»Sie sind für das gestorben, woran wir geglaubt haben«, sagt Kina. »Sie haben füreinander gekämpft, für uns, für die ganze Menschheit. Wir alle waren bereit, für die Sache zu sterben. Ihr Tod war selbstlos und mutig. Sie sind Helden und werden es immer bleiben.«
»Das weiß ich. Trotzdem würde ich alles geben, sie bei uns zu haben.«
»Ich auch.« Kina küsst mich auf die Wange. »Komm, versuch jetzt, zu schlafen.«
Sie sucht sich eine bequeme Liegeposition, während ich weiter in die Dunkelheit starre.
Keine Ahnung, wie lange ich so daliege. Doch kurz bevor ich in einen unruhigen Schlaf falle, durchfährt mich ein Gedanke: Wann passiert es?
Als ich die Augen öffne, dämmert es bereits.
Leise, um Kina nicht zu wecken, stehe ich auf und gehe in die Küche.
Seit dem Abwurf der Brandbomben gibt es keinen Strom mehr. Und Wasser bekommen wir nur noch aus den Regenkollektoren. Allerdings müssen wir es streng rationieren, denn Happy hatte mit ihrem letzten Rest Energie, den Regen vergiftet – und dadurch das Wetter dauerhaft verändert. Jetzt herrscht meist brütende, trockene Hitze und nur alle drei, vier Tage geht mal ein heftiger Wolkenbruch nieder. Aber nie länger als fünf Minuten.
Während ich meine Flasche zur Hälfte mit Wasser fülle, lasse ich den Blick über die Stadt schweifen, eine einzige Ruinenlandschaft. Noch immer qualmen Gebäude oder stürzen ein. Die gleißende Sonne und der Regenmangel haben den Fluss in eine Schneise aus rissigem, hartgebackenem Schlamm verwandelt, die sich durch die Verwüstungen windet.
Ich schlüpfe in Jeans, ein schwarzes T-Shirt und meine Stiefel und verlasse auf Zehenspitzen die Wohnung.
Wie immer, wenn ich die hundertsechsundsiebzig Stockwerke hinunterlaufe, nehme ich mir spätestens auf halber Strecke vor, noch am selben Tag mit Kina in eine Wohnung im Erdgeschoss umzuziehen. Aber würde ich mit meinem alten Zuhause nicht auch das Andenken an meine Schwester und meine verstorbenen Eltern aufgeben? Dieser Gedanke würde mich verrückt machen, das weiß ich. Und deshalb würde ich in einer neuen Wohnung keine Ruhe finden.
Ich laufe weiter, Stufe für Stufe, bis ich endlich vor dem Ausgang stehe. Ich drücke die Tür auf und trete hinaus ins gleißende, brütend heiße Sonnenlicht.
Vorsichtig bewege ich mich zwischen den verkohlten Trümmern hindurch, an Brocken geschmolzenen Metalls vorbei, die wohl einmal Fahrzeuge waren. Schließlich erreiche ich das Lagerhaus in der Nähe des Fabrikviertels.
Ich muss jetzt höllisch aufpassen, denn ich bin nicht der einzige Plünderer. Es gibt viele Kriegsüberlebende: Modifizierte, die immer noch auf Befehle ihrer künstlichen Anführerin warten, ebenso wie Reguläre, die nur deshalb überlebt haben, weil sie zum richtigen Zeitpunkt auf Droge waren, vollgepumpt mit Ebb. Selbst Grinser sieht man gelegentlich – Leute, denen der biologische Kampfstoff, der über das Beregnungssystem auf der Erde verteilt wurde, den Verstand geraubt hat. Aber die meisten Grinser sind inzwischen tot. Und weil wir Überlebenden noch keinen Weg gefunden haben, miteinander zu kommunizieren, meiden wir einander. Jeder Fremde kann eine Bedrohung darstellen.
Ich betrete das Lagerhaus durch das Loch, das in den letzten Kriegstagen in die Außenwand gerissen wurde. Das Gebäude ist bereits mehrfach durchsucht und geplündert worden, die Regale sind fast leer. Doch ein bisschen vakuumverpacktes Obst und ein paar Reissäcke liegen dort noch.
Nachdem ich einige Grundnahrungsmittel in meinem Rucksack verstaut habe, klettere ich die Uferböschung hinab. Hier ist einer der letzten Flussabschnitte, die noch Wasser führen. Ich überprüfe meine Fischfallen. Nichts. Leer.
Vorsichtig mache ich mich auf den Rückweg zum Black Road Vertical. Ich husche von Gebäude zu Gebäude, gehe immer wieder in Deckung, lausche auf Geräusche und scanne die Gegend nach Bewegung ab. Ohne irgendwelche Zwischenfälle erreiche ich schließlich den kilometerhohen Wohnturm und mache mich an den Aufstieg. Das Gewicht der Lebensmittel auf meinem Rücken zwingt mich immer wieder zu Pausen. Als ich die 177. Etage endlich erreiche, stelle ich den Rucksack vor unserer Wohnungstür ab und steige weiter die Dachtreppe hinauf.
Es ist merkwürdig, wieder hier oben zu stehen – genau an der Stelle, wo meine Schwester und ich in Schockstarre mitansehen mussten, wie Jayden Roth in den Tod stürzte. Molly hatte ihn geschubst. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, denn der Typ hatte sie mit der Pistole bedroht. Allerdings hätte sie vor Gericht nicht auf Notwehr plädieren können, denn wir hatten den Jungen zuvor ausgeraubt. Deshalb hatte ich, um Molly zu schützen, die Schuld auf mich genommen. Ich hatte mich des Mordes an Jayden Roth schuldig bekannt und war dafür zum Tode verurteilt worden.
Damit hat alles begonnen, denke ich und starre auf die Stelle, wo der Junge über die Dachkante gekippt war. Ich wurde ins Loop gesperrt, wurde dort zum Versuchskaninchen für den Grinser-Impfstoff und überlebte so den giftigen Regen und den Krieg. Immunisiert.
Mein Blick schweift zum anderen Ende des Daches. Dorthin, wo mein mit dem Grinser-Wahnsinn infizierter Vater mit letzter Kraft einen von Happys Gastkörpern über die Kante gestoßen hatte. Um mir das Leben zu retten.
Wir haben einen hohen Preis gezahlt für den Sieg über Happy.
Ich spüre, wie meine Gefühle mich zu überwältigen drohen, und wende mich schnell unserem kleinen Garten zu.
Es hat mich zwei volle Tage gekostet, die Erde und das Holz für das Beet heraufzuschleppen. Ich habe Möhren, Kartoffeln, Tomaten und grüne Bohnen gepflanzt. Es zeigt sich sogar schon erstes Grün: zarte Keimlinge in der Tomatenecke und winzige Blättchen bei den Karotten.
Mit dem Eimer schöpfe ich gerade so viel Wasser aus dem Regenkollektor, wie wir entbehren können, und gieße das Gemüse.
Wann passiert es?, frage ich mich erneut, während mein Blick über die Stadt schweift und ich die heiße Luft atme.
Ich muss an den Block denken, den grausamsten, qualvollsten Ort, an dem ich je war. Und an meine Flucht. War das tatsächlich erst zwanzig Tage her? Zwanzig Tage seit der Explosion, der Schießerei und dem ganzen Geschrei? Pod und Igby hatten das komplette Gebäude bombardiert. Sie hatten die Sprengstoffmenge so exakt berechnet, dass nur die Rückwand hochging – ohne die Insassen zu gefährden. Dann hatten sie, gemeinsam mit Pander, Akimi und meiner Schwester, das Gebäude gestürmt, die Wachen getötet und uns von unseren Fixierungspritschen befreit.
Zwanzig Tage. Seitdem war so viel passiert. Und trotzdem fühlt es sich an, als hätte sich nichts verändert.
Mein Blick wandert zu der Flussbiegung, an der meine Schwester, meine Eltern und ich bei schönem Wetter so gerne saßen. Und weiter zum Horizont, wo die brennende Morgensonne immer höher steigt.
Wann passiert es?, frage ich mich wieder.
Alles ist so sinnlos – die verwüstete Stadt, der ganze ausgebrannte Planet. Wie soll sich die Menschheit je aus diesen Trümmern erheben? Aber da das Ganze nicht echt ist, spielt es auch keine Rolle, oder?
Nichts um mich herum ist echt.
Ich hole tief Luft und spüre die warme Luft in meiner Lunge. Dann trete ich den Rückweg an, durch den engen Gang und die hölzerne Treppe hinunter, bis ich wieder im obersten Stock unseres Wohnturms stehe.
Ich steige hinunter bis zur 177. Etage und gehe zurück in meine Wohnung, mein altes Zuhause, den Ort meiner Kindheit. Kina sitzt im Wohnzimmer und schreibt Tagebuch. Als ich eintrete, blickt sie auf.
»Hey«, begrüßt sie mich.
»Hi.«
»Ich schreibe schon wieder.« Fast entschuldigend tippt sie auf das Heft. »Aber ich glaube, das ist wichtig. Die nächsten Generationen müssen wissen, was passiert ist, oder?«
»Ja, absolut.«
Sie lächelt mich an. »Luka, ich will keine schlimmen Erinnerungen wecken, aber ich möchte alles ganz genau und richtig aufschreiben. Weißt du noch, wo …?«
»Stopp! Nicht, Kina«, unterbreche ich sie. »Bitte. Nicht.«
»Was ist?« Sie blickt mich stirnrunzelnd an.
»Bitte frag nicht.«
»Wie meinst du das?«, sagt sie halb ernst, halb belustigt, als könnte ich mich nicht klar ausdrücken.
»Kina, wenn du mir diese Frage stellst, löst sich all das hier in Luft auf.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst. Ehrlich, du machst mir ein bisschen Angst.«
»Du weißt ganz genau, wovon ich spreche. Du bist nämlich gar nicht Kina, jedenfalls nicht die echte. Wir sind nicht wirklich in meiner alten Wohnung. Der Krieg ist nicht vorbei und ich liege immer noch im Block.«
»Was redest du da für wirres Zeug, Luka! Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?«
»Das ist keine Frage des Glaubens«, antworte ich. »Das ist eine Tatsache. Du bist es diesmal gründlich angegangen, hast alles bis ins letzte Detail ausgeschmückt. Und tatsächlich gabs Momente, da wäre ich dir fast auf den Leim gegangen. Hätte es beinahe für echt gehalten. Aber es ist nichts weiter als eine Täuschung, von vorne bis hinten. Eine Illusion. Ein billiger Trick, um mir die Infos zu entlocken, auf die du so scharf bist. Warum stellst du mir deine Fragen nicht einfach direkt? Na los, mach schon, schieß los!«
Kinas besorgter Blick wird leer, doch tief in ihren Augen lodert Wut. »In Ordnung. Wo haben sich Pander, Pod, Igby und Akimi am Tag der Schlacht im Midway Park versteckt?«
Ich seufze und blicke mich ein letztes Mal in meinem alten Zuhause um. Dann schüttele ich den Kopf. »Verrate ich dir nicht, vergiss es.«
Im selben Moment endet die zwanzigtägige Simulation. Die Sonnenhitze ist wie weggeblasen, die falsche Umgebung verblasst und wird ersetzt durch das Nichts rund um die Fixierungspritsche in meiner Block-Zelle.
Ich bin wieder zurück, unfähig mich zu rühren. Während Wut und Schmerz in mir ringen und mich eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit überkommt, starre ich mit leerem Blick auf einen winzigen Punkt an der weißen Wand.
Wenn die Energieernte beginnt, ist Angst das Einzige, was noch existiert. Nackte Angst.
Es fühlt sich an, als würde es nie enden. Als würde die Nanotechnik sich für immer im Panikzentrum meines Gehirns einnisten. Doch irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, entkrampfen sich meine Muskeln schließlich doch und mein Puls beruhigt sich.
Im Loop, dem Gefängnis, in dem ich vor der Zerstörung der Welt eingesessen hatte, dauerte die Energieernte nur sechs Stunden. Und wenn sie überstanden war, ließ man uns in unseren schalldichten Zellen in Ruhe. Damals kam mir das grauenhaft vor, aber verglichen mit dem Block war es das reinste Paradies.
Die Plexiglasröhre, in der die Energieernte vorgenommen wird, bleibt über mich gestülpt, denn jetzt kommt noch das Wasser. Es prasselt von oben auf mich herab, nach ätzenden Chemikalien und Bleichmittel stinkend.
Die Röhre füllt sich, bis ich komplett unter Wasser bin. Zehn, zwölf Sekunden vergehen, dann läuft das Wasser wieder ab – und ich sacke japsend zu Boden.
Es folgt die Föhnluft. Sie ist so heiß, dass sich meine Haut anfühlt, als würde sie Blasen schlagen. Sobald ich trocken bin, fährt die Röhre hoch.
Die Energieernte ist vorbei – aber was danach kommt, ist nicht weniger grauenvoll.
Ich liege nackt auf dem Boden und warte. Die magnetischen Kobalt-Schlingen unter meiner Haut halten meine Arme hinter dem Rücken zusammen.
Happy, die allmächtige Künstliche Intelligenz, die unsere Welt erst regierte und dann zerstörte, versucht seit sechzehn Tagen, mir das Versteck meiner untergetauchten Freunde zu entlocken. Irgendwie gelingt es der KI immer wieder, in mein Gehirn einzudringen und mir verschiedene Szenarien vorzugaukeln. Eine erste Simulation sollte mir weismachen, Pander, Malachai und Kina hätten mich aus dem Block befreit. Doch ich bin nicht darauf hereingefallen. Ich hab gemerkt, dass die Situation – obwohl täuschend echt nachgebildet – nicht real war. Also habe ich die Simulation wie einen Film genossen: Statt Pander, Malachai und Kina zum Versteck unserer gemeinsamen Freunde zu führen, habe ich sie ans Flussufer gebracht, wo ich in Erinnerungen an frühere Familienausflüge geschwelgt habe: Dad, Mum, meine Schwester und ich, wie wir an Sommertagen dort gespielt, geredet und gebadet haben. Eine ganz normale Familie.
Happy hat genau vier Minuten gebraucht, um mein Täuschungsmanöver zu durchschauen. Seitdem hat die KI jeden einzelnen Tag versucht, mir Informationen zu entlocken, mit unterschiedlichen Methoden – Einschüchtern, Drohen, Feilschen, Desorientieren. Dann wieder eine Simulation: Kina und ich als Paar, wie wir uns nach dem Krieg gemeinsam durchschlagen. Ganze zwanzig Tage hat der innere Film gedauert. Aber ich werde mein Wissen nicht preisgeben. Ich halte dicht!
Die Simulationstechnologie, die Happy verwendet, ist dieselbe, die mich im Block in die Chill-Zone versetzt – einen fiktiven Zufluchtsort, den mein benebelter Geist durchstreifen darf, damit ich in der Monotonie meines Daseins nicht durchdrehe.
Ich liege immer noch keuchend auf dem Boden, als sich die Luke in meiner Zellentür öffnet.
Sofort versuche ich, möglichst flach und leise weiterzuatmen.
Heute hat Jacob Dienst. Zum Glück, denn in den letzten Tagen ist es mir gelungen, ein Stück weit zu ihm durchzudringen. Er hat mir zugehört und sogar kurz gezögert, bevor er die Energieernte gestartet hat, mit echtem Bedauern im Blick – und fast so etwas wie Scham.
»Insasse 9–70–981, ich informiere dich darüber, dass ich eine geladene Waffe trage und sie benutzen werde, falls du meinen Anweisungen nicht folgst. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Mein Kopf ist in Richtung Zellentür gedreht, sodass ich Jacob sehen kann. Jung, dünn, Surfer-Frisur. Über den Lauf seines Ultraschall-Gewehrs hinweg starrt er mich an. Ich bewege mich nicht, blinzele nicht einmal, zeige nicht die geringste Reaktion auf seine Waffe.
»Insasse 9–70–981. Bitte leg dich auf die Pritsche, damit ich die Lähmung in die Wege leiten kann. Insasse 9–70–981 … Luka, alles in Ordnung mit dir?«
Ich rühre mich immer noch nicht. Ich liege auf dem Zellenboden und versuche so unmerklich zu atmen, dass Jakob denkt, ich würde gar nicht mehr atmen.
»Luka?« Er klingt verunsichert, sogar etwas ängstlich. »Oh, Scheiße!«
Ich höre, wie das Drehschloss rattert, dann öffnet sich die Tür. Der junge Wärter stürzt herein, fällt neben mir auf die Knie und rollt mich auf den Rücken.
»Luka! Luka!«, schreit er, während er mir ins Gesicht schlägt, um mich wach zu bekommen.
Am liebsten hätte ich mir seine Ultraschall-Waffe geschnappt und wäre damit rausgestürmt, aber noch bin ich zu erschöpft. Das kann ich erst, wenn mich die Turbo-Heiltechnologie, die sie mir eingepflanzt haben, einigermaßen wiederhergestellt hat. Egal, wichtig ist erst mal, dass ich einen Wärter überhaupt dazu gebracht habe, meine Zelle zu betreten.
Völlig unvermittelt schnappe ich nach Luft, so als wäre ich gerade erst zu mir gekommen.
»Was ist … passiert?«, stammele ich.
»Keine Ahnung.« Jacobs Stimme zittert. »Ich glaube, du hast aufgehört zu atmen.«
»Gott«, krächze ich. »Wär ich doch bloß gestorben!«
»Hey, bitte sag so was nicht!«
»Wieso nicht? Ich wäre tausendmal lieber tot, als in diesem Loch vor mich hin zu vegetieren.« Das Gespräch ist reine Zeitschinderei, ich warte fieberhaft darauf, dass meine Kräfte zurückkehren.
»Bitte, sag so was nicht«, wiederholt er. »Soll ich eine Medizindrohne rufen, um zu checken, ob es dir wirklich gut geht?«
Mit einer schnellen Augenbewegung von links nach rechts aktiviert er das entsprechende Auswahlmenü auf seiner Kontaktlinse.
»Nicht nötig.« Ich setze mich auf. »Mir gehts gut, Jacob, wirklich. Ich glaube, ich bin nur kurz ohnmächtig geworden.«
»Sicher?«
»Ja, absolut.«
»Eigentlich müsste ich in so einem Fall eine Medizindrohne rufen.«
»Jacob, mir gehts gut, echt!«
Er seufzt. »Okay, wenn du meinst, Insasse 9–70–981.«
»Oh, jetzt bin ich wieder Nummer 9–70–981?«, lache ich. »Was ist mit Luka?«
»Ich war in Panik«, erklärt er. »Ich hätte deinen echten Namen nicht benutzen dürfen.«
Ich spüre, wie meine Kräfte langsam zurückkehren, wie die Erschöpfung weicht.
»Okay, wenns dir wieder gut geht, leg dich bitte auf deine Pritsche. Ich muss mich an den Zeitplan halten. Wenn ich mich verspäte, krieg ich Ärger.«
»Klar, verstehe ich.«
Ich rappele mich hoch, was mich enorme Anstrengung kostet. Aber ich spüre, wie ich von Sekunde zu Sekunde stärker werde, wie sich mein Körper selbst heilt, wie sich die gerissenen Muskelfasern verbinden, die gezerrten Sehnen straffen. Es ist das neu implantierte Heil-Feature, das für die unnatürlich schnelle Erholung sorgt. Ein Stück Modifizierten-Hightech, das seit Kurzem in allen Loop- und Block-Insassen steckt. Dank dieser Technologie können sie unsere Energie uneingeschränkt anzapfen und nutzen. Denn wir sind ihre aufladbaren Batterien. Wir treiben die Maschinen und Computer an, die das Ende der Menschlichkeit einleiten. Die Heil-Tech hält unsere Körper in Schuss und die virtuellen Ausflüge in die Chill-Zone verhindern, dass wir verrückt werden.
Ich stehe jetzt neben der Pritsche und wende mich wieder Jacob zu. Dass ich immer noch nackt bin, stört mich nicht. Auf so was achte ich gar nicht mehr. Reglos stehe ich da und starre den Wärter an.
»Du musst dich hinlegen, Luka«, wiederholt er.
»Damit ich wieder gelähmt werde?«
»Ähm … ja … ja.«
»Kannst du dir vorstellen, wie das ist? Erst qualvolle Schmerzen, dann Todesangst, dann unerträgliche Einsamkeit? Ein Daueralbtraum. Tag für Tag, immer wieder von vorn?«
»Jeder muss Opfer bringen für das Wohl der Menschheit …«
»Das Wohl der Menschheit?«, falle ich ihm ins Wort. »Ist es das, was sie euch erzählen? Was für eine miese Lüge!«
»Oberwächter Galen Rye garantiert den Überlebenden eine sichere Zukunft und ich muss …«
»Galen Rye hat seine Seele verkauft, um seinen Hintern zu retten«, unterbreche ich ihn.
»Bitte, Luka, ich versuch doch nur, mir und meiner Familie einen Platz in der Arche zu verschaffen. Ich bin kein Offizier 1. Ranges, ich muss mir meinen Platz verdienen. Mir gefällt das alles auch nicht, aber ich habe keine Wahl. Was soll ich denn machen? Dich laufen lassen? Dann bringen sie uns beide um.«
Ich seufze und blicke dem jungen Typen direkt in die Augen. »Du machst das alles nur, um zu überleben, ich weiß. Aber sie werden dich nicht leben lassen, Jacob. Sie betrachten die Menschheit als eine Art Virus. Sie planen, uns auszulöschen. Jeden Einzelnen.«
»Was redest du da? Die Welt wird irgendwann untergehen, und in Vorbereitung darauf hat die Weltregierung ein paar echt harte Entscheidungen treffen mü…«
»Überleg doch mal: Warum haben sie die Regulären dann nicht einfach umgebracht? Warum haben sie sie stattdessen in grinsende Monster verwandelt?« Ich schreie jetzt fast. »Weil ihre Programmierung nichts anderes zugelassen hat! Die Weltregierung ist nämlich gar nicht die Weltregierung, verstehst du? In Wahrheit werden wir regiert von …« Seufzend schüttele ich den Kopf. Es ist zwecklos, er wird mir sowieso nicht glauben. Und hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich selbst nicht glauben, dass die Weltregierung von Künstlicher Intelligenz gekapert wurde.
Ich frage mich, ob ich genug Zeit geschunden habe, um mich ausreichend zu erholen.
»Von wem werden wir regiert?«, greift Jacob meinen letzten Satz auf.
»Nicht von wem, sondern wovon.«
»Okay, dann also wovon?«
»Ach, egal.« Ich blicke ihm immer noch in die Augen. »Tut mir leid, Jacob.«
Und dann stürze ich mich auf ihn.
Er reagiert sofort. Wirbelt herum, rennt aus der Zelle und versucht, die dicke Metalltür zuzuknallen. Aber ich bin schneller. Ich strecke eine Hand aus und schiebe sie in den Spalt. Knackend brechen meine Fingerknochen, als sich Jacob gegen die Tür stemmt. Der Schmerz ist unbeschreiblich. Aber ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu schreien.
Mit geschlossenen Augen atme ich den Schmerz weg, während ich mich gegen die Tür werfe. Das Stechen in meiner gequetschten Hand ist unerträglich, die Finger sind völlig verdreht, unter der Haut sammelt sich Blut. Das wird ein riesiger blauer Fleck, dunkel wie eine Gewitterwolke.
»Warte!«, schreit Jacob, als ich ihn mit meiner unverletzten Hand am Kragen packe und zurück in die Zelle zerre.
»Code 14 in Zelle 3–19!«, brüllt er.
Ich schleudere ihn auf meine Pritsche, greife mir seine Ultraschall-Pistole und richte sie auf ihn.
»Deine Linse!«, befehle ich und strecke meine Hand danach aus.
»Wa… was?«
Ich drücke ihm den Lauf der Waffe gegen die Stirn. »Gib mir deine Linse!«
Mit zitternder Hand greift er sich ins Auge und fischt die durchsichtige Kontaktlinse heraus. Ich nehme sie ihm ab und setze sie mir selbst ein. Sofort füllt sich mein Sichtfeld mit einem 3-D-Head-up-Display, das sich per Augenbewegung steuern lässt. Ich finde einen Menüpunkt namens »Paralysieren« und aktiviere die Pritsche. Die Betäubungsnadel bohrt sich in Jacobs Haut, der sofort erstarrt.
Ich schaue auf ihn herab.
»Sorry, Jacob«, murmele ich, bevor ich zur offenen Tür renne.
Meine nackten Fußsohlen machen ein patschendes Geräusch auf dem Metallgitterboden. Blitzschnell scanne ich die Umgebung.
Dritter Stock, würfelförmiges Gebäude, Laufgänge in jeder Etage, ungefähr 200 Zellen pro Stockwerk.
Plötzlich erstarre ich vor Schreck: Alle Zellentüren auf meiner Etage stehen offen – alle bis auf die vier neben meiner!
»Was zum Teufel haben sie mit den Insassen gemacht?«, murmele ich.
Immer noch nicht ganz im Vollbesitz meiner Kräfte, schleppe ich mich zur Nachbarzelle. Seit dreißig Tagen, seit ich im Block einsitze, frage ich mich verzweifelt, ob Kina und Malachai noch leben. Da sie nicht auf Happys Liste der überlebenden Loop-Flüchtigen standen, müssen sie entweder tot oder gefasst sein.
Ich rüttele am Drehgriff der Zellentür, aber er bewegt sich nicht. Nicht einen Millimeter. Das Display neben der Tür verlangt nach einem Iris-Scan. Ich lege Jacobs Waffe auf den Boden und inspiziere das Display genauer. Vielleicht gibt es ja noch eine andere Möglichkeit, die Tür zu öffnen?
»Hey!«, höre ich plötzlich eine Stimme von links.
Ich fahre herum und sehe eine Frau um die fünfzig auf mich zukommen. Ihre Hand wandert zu der Ultraschall-Pistole an ihrem Gürtel.
Ich laufe auf sie zu, die Zähne aufeinandergepresst, so sehr schmerzen meine Muskeln. Als sie mit schreckgeweiteten Augen ihre Waffe aus dem Holster gefummelt hat, bin ich bereits bei ihr. Ich drehe ihr den Arm auf den Rücken, entreiße ihr die Pistole und drücke den Lauf gegen ihre Wirbelsäule. In meinen Fingern knirscht es: Die gebrochenen Knochenteile schieben sich an ihren Platz zurück. Das schmerzt so dermaßen, dass ich die erbeutete Waffe beinahe fallen lasse.
»Wenn Sie den Alarm auslösen oder irgendein Notsignal senden oder wenn weitere Wachen kommen, erschieße ich Sie, ist das klar?«
»Glaubst du ernsthaft, du kommst lebend hier raus?«, knurrt die Frau.
»Wäre nicht mein erster Gefängnisausbruch.«
»Galen Rye wird …«
»Klappe! Wo ist Kina Campbell?«
»Von mir erfährst du gar ni…!«
Ich richte die Waffe auf ihren Fuß und spanne den Abzug. Sie öffnet den Mund zu einem Schrei, bringt jedoch keinen Laut heraus. Ihr schreckverzerrtes Gesicht wirkt fast komisch. Und dann kreischt sie plötzlich los.
»Zum letzten Mal!«, zische ich. »Wo ist Kina Campbell?«
Die Wärterin taumelt einen Schritt vor, dann deutet sie auf die übernächste Zelle. Unendliche Erleichterung durchströmt mich. Kina lebt!
»Wen haben Sie sonst noch?«, frage ich. »Malachai?«
Die Frau beißt sich auf die Lippe und blickt mich trotzig an.
Ich richte die Waffe auf ihren anderen Fuß.
»Wren Salter«, keucht sie und streckt die Hand aus, um mich vom Schießen abzuhalten. »In der Zelle neben deiner. Malachai sitzt in der neben Kina und Woods Rafka dahinter.«
»Warum sind die anderen Zellen leer? Wo haben Sie die Insassen hingebracht?«
»Nirgends. Sie sind tot.«
»Was?!«
»Sie sind gestorben. Alle. Nur ihr paar aus dem Loop seid noch da.«
Meine Gedanken überschlagen sich. Uns allen ist die Heil-Tech injiziert worden. Warum sind sie tot und wir nicht?
Egal, zum Grübeln ist jetzt keine Zeit. Ich stoße die Wärterin vorwärts.
»Los, Sie öffnen jetzt die Zellen! Zuerst Kinas.«
Die Frau hält ihr Gesicht vor den Iris-Scanner.
Das Schloss klickt, ich packe den Griff und reiße die Tür auf. Der Anblick lässt mir das Herz stocken.
Natürlich war mir klar gewesen, dass es Kina nicht besser ergangen war als mir. Aber sie so reglos auf der Pritsche liegen zu sehen, das Gesicht völlig ausdruckslos und leichenstarr, zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg.
»Geben Sie mir Ihre Linse!«, befehle ich der Wärterin.
»Wozu? Was hast du vor?«
Ich drücke ihr den Pistolenlauf gegen die Stirn. »Ich sags nicht noch einmal.«
Mit Daumen und Zeigefinger greift sie sich ins Auge und nimmt die Kontaktlinse heraus. Ihr Mund verzieht sich zu einem Grinsen. »Bin gespannt, was Galen Rye mit dir anstellt, wenn sie dich schnappen.«
Als sie mir die Linse in die Handfläche legt, renkt sich ein weiterer Finger wieder ein.
Ich zerquetsche die Linse zwischen zwei Fingern, zerstöre sie, damit die Frau hier nicht mehr rauskommt.
Dann aktiviere ich mit Jacobs Linse den Menüpunkt »Energieernte«, scrolle mit einer Pupillenbewegung zu »Zelle 137« und wähle »Start«. Ein Lichtkreis erscheint auf dem Boden.
»Stellen Sie sich da rein«, weise ich die Frau an.
Ihr Grinsen verschwindet wie schmelzender Schnee. Ihre Augen quellen vor Entsetzen hervor. »Ich helfe euch hier raus«, haspelt sie.
»Ab in den Kreis!« Ich deute mit dem Waffenlauf in den Ring aus Licht.
»Aber ohne mich kannst du die restlichen Zellen gar nicht öffnen. Und du willst doch bestimmt deine Freunde befreien?«
»Dafür habe ich Jacob. Und jetzt stellen Sie sich endlich da rein!«
Mit zitternden Beinen wankt sie in den Lichtkegel. »Du musst das nicht tun …«, sagt sie und blickt mich an.
Ich starre zurück. Das Head-up-Display der Linse rahmt mein Sichtfeld ein. »Ich tus aber«, erwidere ich und starte die Energieernte.
Die Plexiglasröhre fährt von der Decke herab und stülpt sich über die Wärterin. Noch im selben Moment beginnt sie zu schreien.
Ich stürze zu Kina und befreie sie aus ihrer Lähmung.
Mit einem Keuchen kommt sie zu sich. Ihr Blick tastet die Umgebung ab. Als sie mich entdeckt, laufen ihr Tränen über die Wangen. Sie setzt sich auf. »O mein Gott, Luka. Bist du wirklich hier? Ist das echt? Oder sind wir in der Chill-Zone?«
Eine ganze Weile starre ich sie nur an, ihre fast schwarzen Augen, ihre dunkle Haut, ihre unglaubliche Schönheit, ihre ganze starke Persönlichkeit.
»Es ist echt«, versichere ich.
»Ich … ich …«
Ihr Stammeln geht in haltloses Schluchzen über. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt. Das Batterie-Projekt ist so grausam, so unerträglich, dass ich mir jeden Tag aufs Neue gewünscht habe, ich wäre tot. Ich habe darum gebettelt, den Verstand zu verlieren, und zwar komplett, sodass ich den Albtraum um mich herum nicht mehr mitbekomme. Was Qualen bedeuten, richtige Qualen, das weiß man erst, wenn man an nichts anderes mehr denken kann als den Tod.
»Kannst du dich bewegen?« Ich hebe Kinas Kinn an, bis sich unsere Blicke begegnen. Ihr schwarzes Haar ist gewachsen, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Ein paar Strähnen fallen ihr in die Stirn.
Sie nickt und zieht sich zwei lange Nadeln aus dem Bauch, eine dünne Kanüle aus dem Nacken und eine aus dem Handgelenk.
»Wir müssen die anderen befreien«, sage ich und wieder nickt sie.
Als ich sie von der Pritsche ziehe, taumelt sie. Ihr Gehirn muss die Kontrolle über den Körper erst zurückgewinnen.
»Gehts?«, frage ich.
»Warte«, sagt sie und küsst mich ohne jede Vorwarnung.
Ich fühle mich, als würden eine Million Sterne in mir aufleuchten. Wie sie ihre Hände um mein Gesicht legt und ihre Lippen auf meine presst … Wenn ich jetzt sterbe, dann wäre es diesen ganzen Horror wert gewesen. Ich würde sogar alles noch einmal durchmachen, tausendmal, wenn es sein muss, nur um diesen Moment noch einmal zu erleben.
Schließlich löst sich Kina von mir und lächelt.
»Lass uns gehen.«
Sie wendet sich zur Tür, aber ich bin wie vom Donner gerührt, starre auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hat.
»Hey, wir brechen mal wieder aus einem Knast aus. Du weißt doch noch, wie das funktioniert, oder?«
Ich blinzele meine Benommenheit weg. »Natürlich.«
Hastig treten wir in den Gang. Ich hebe Jacobs Ultraschall-Waffe vom Boden auf und reiche sie Kina.
»Wen von uns haben sie noch?« Ihr Blick schweift zu den Türen.
Ich zeige auf die Zelle neben meiner. »Da ist Wren drin.« Dann deute ich auf die beiden Zellen links von Kinas Tür. »Und dort Malachai und Woods.«
»Was ist der Plan?«, fragt sie.
»Mein Plan beschränkte sich erst mal darauf, aus der Zelle zu kommen. Ich hab gehofft, der Rest ergibt sich von selbst …«
»Okay, wird sich schon finden.« Kina rüttelt an Wrens Tür. »Hm, verriegelt.«
»Wir brauchen jemanden für die Iris-Erkennung. Komm mit.«
Ich laufe zurück zu meiner Zelle, Kina folgt mir. Als sie Jacob auf meiner Pritsche sieht, prustet sie los. »Wie zum Teufel hast du das geschafft?«
»Er hatte zu viel Mitgefühl. Richte die Waffe auf ihn, ich deaktiviere seine Lähmung.«
Kina nickt, drückt den Gewehrschaft an die Schulter, presst ihre Wange dagegen und blickt am Lauf entlang auf Jacob.
Ich beuge mich über ihn. »Ich werde die Lähmung jetzt deaktivieren«, imitiere ich den typischen Wärter-Sprech. »Keine Spielchen, sonst wird meine Freundin dich erschießen, ist das klar?«
Er kann weder nicken noch antworten, aber ich weiß, dass er mich verstanden hat. Ich bewege mich durch das Auswahlmenü meiner Linse und beende den Lähmungsmodus. Kaum ist die Nadel vollständig aus seinem Körper herausgezogen, setzt er sich keuchend auf und beginnt, in meinen Armen zu schluchzen.
»Reiß dich zusammen«, sage ich und ziehe ihn von der Pritsche.
»Das war … das war …«
»Spars dir, wir wissen genau, wie es war«, herrscht Kina Jacob an, die Waffe immer noch auf ihn gerichtet.
»Hier lang.« Ich schiebe ihn auf den Gang hinaus. Die Luft ist erfüllt von den gellenden Schreien der Wärterin, die gerade die Energieernte durchmacht.
»O Gott, o Gott, o mein Gott«, murmelt Jacob immer wieder, während er zu den Zellen unserer Freunde taumelt.
»Stopp!«, sage ich, als wir Wrens Zelle erreichen. »Öffnen!«
Jacob beugt sich vor den Iris-Scanner, hält jedoch inne, als die Lichter plötzlich ausgehen und die Notbeleuchtung anspringt.
»Was ist da los?« Kina stürmt zu Jacob und drückt ihm die Waffe gegen den Kopf.
»Das war ich nicht.« Er richtet sich auf, die Augen schreckgeweitet. »Ehrlich, ich hab nichts gemacht.«
Auf allen Etagen des Blocks blinken jetzt rote Lämpchen und eine Sirene heult auf, gefolgt von Happys Stimme. »Flüchtige in Etage drei. Kompletten Lockdown einleiten.« Die Monitore neben den Zellentüren leuchten rot, gleichzeitig knallen Kinas und meine Türen zu.
Kina blickt mich an. In ihren Augen liegt weit mehr als nackte Angst. Wir denken beide das Gleiche: Der Tod ist eine herrliche Aussicht, verglichen mit dem, was der Block aus unserem Leben gemacht hat. Ich nicke und sie richtet die Waffe auf mich.
»Wa… was macht ihr da?«, stottert Jacob.
Kina senkt das Gewehr und tritt vor mich. Sie küsst mich ein letztes Mal und lächelt mich an. »Danke, dass du es versucht hast, Luka.«
»Kein Ding.« Ich zucke die Achseln und wir müssen beide lachen, als sie mir die Waffe erneut an den Kopf hält.
»Wir sehen uns bald wieder – hoffentlich«, sagt sie, und dann drückt sie ab.
Doch nichts passiert.
»Unsere Waffen unterliegen bestimmten Beschränkungen«, erklärt Jacob. »Sie lösen nicht aus, wenn sie auf Stromerzeuger gerichtet sind. Also auf euch Batterien. Damit wir nicht versehentlich unsere größten Investitionen auslöschen.«
»Investitionen?«, wiederholt Kina, richtet die Waffe auf Jacob und geht drohend auf ihn zu. »Batterien?«
»So nennen wir euch. Investitionen. Batterien. Also, na ja, das sind ihre Worte, nicht meine«, wiegelt er ab.
Doch Kina geht ungerührt weiter, bis sie direkt vor ihm steht und ihm den Pistolenlauf an die Schläfe drückt. »Aber du bist einer von ihnen.«
»Tut mir leid. Tut mir echt leid.« Er ringt nach Luft. »Kein einziges Gerät hier im Block wird euch umbringen«, presst er schließlich heraus. »Ihr seid viel zu wertvoll für die Regierung.«
»Die Regierung?«, höhnt Kina. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die Regierung hinter dem hier steckt?«
Plötzlich poltern Schritte auf den Metalltreppen.
»Okay, vielleicht töten die Waffen nicht uns – aber dich schon, oder?« Mit diesen Worten packt Kina Jacob und dreht ihn in Richtung der herbeieilenden Soldaten.
»Scheiße, nein, bitte nicht …!«, winselt Jacob und bestätigt damit Kinas Vermutung.
Die ersten zwei Gestalten, die auf der Treppe erscheinen, sind Gastkörper. Ihre Augen glühen weiß. Sie sind eindeutig Modifizierte, beide weiblich, groß und sportlich. Es ist nicht zu übersehen, dass sie von den pränatalen Eingriffen profitiert haben, die jedem Modifizierten zustehen. Und garantiert ist nicht nur ihr Äußeres optimiert. Ihre Lungen wurden vermutlich durch ein mechanisches Sauerstoffnachfüllsystem ersetzt, denn obwohl sie gerade die Treppen hochgestürmt sind, sind sie kein bisschen außer Atem. Jede Wette, dass sie auch einen Power-Cardio-Modulator statt eines Herzens haben.
»Insassen 9–70–981 und 9–72–104! Stellt sofort eure Aktivität ein und kehrt in eure Zellen zurück!«, bellt die Kleinere der beiden. Ihre Augenfarbe wechselt kurz zu Orange und, zack, springen unsere Zellentüren wieder auf.
»Ich erschieße ihn!«, brüllt Kina und presst die Waffe gegen Jacobs Kopf. »Ich bring ihn um!«
»Das wird nichts an eurer Lage ändern.« Die Größere tritt einen Schritt vor. »Ob du ihn tötest oder nicht – ihr werdet in jedem Fall wieder in euren Zellen landen.«
Ich blicke über das Geländer in die Tiefe. Ein Sturz über vier Etagen wird mich wahrscheinlich nicht umbringen – nicht mit der Heil-Tech in mir. Außerdem sind in den einzelnen Stockwerken Sicherheitsnetze gespannt.
»Wir gehen nicht zurück in unsere Zellen!«, sagt Kina, aber ihre Stimme zittert.
Wieder hallen schwere Schritte durchs Treppenhaus, dann erscheinen drei weitere Bewaffnete im Gang. Es muss sich um Soldaten 2. oder 3. Ranges handeln: Soldaten, die die Regierung (oder das, was sie für die Regierung halten) unterstützen, um sich einen Platz in der Arche zu sichern – und damit eine Überlebenschance, wenn die Welt endgültig untergeht.
Die kleinere der beiden Gastkörper-Frauen dreht sich zu dem Soldaten um, der als Erstes herbeistürmt – ein gut aussehender blonder Mann. »Soldat Ramirez, exekutieren Sie den Soldaten Smith!«
Ohne zu zögern, richtet der Modifizierte seine Waffe auf Jacob.
»Nein!«, keucht dieser, doch da trifft ihn die Ultraschallwelle bereits in die Brust und er erschlafft in Kinas Armen.
»Wie … Wieso konnten Sie den Schießbefehl geben? Das … das ist doch gar nicht möglich!« Fassungslos starre ich die Frau mit den weiß glühenden Augen an, während Kina Jacobs Körper zu Boden gleiten lässt. Galen Rye höchstpersönlich hatte mir erklärt, dass der Kerncode der Künstlichen Intelligenz es ihr nicht erlaube, einem Menschen zu schaden, ihn zu töten oder auch nur Befehle zu erteilen, die zum Tod eines Menschen führen. Aus genau diesem Grund hatte Happy, um die Regulären auszumerzen, den Umweg über das Virus wählen müssen: Sie hatte die Menschen mit einem Virus infiziert, das sie dazu brachte, sich gegenseitig umzubringen. Mit diesem Schachzug hatte sie sich über die Programmierung hinweggesetzt.
»Tja, Insasse 9–70–981, die Dinge haben sich geändert.«
Es gab einen Trick, auf den ich im Loop immer zurückgegriffen hatte, wenn mich Einsamkeit und Langeweile an den Rand des Wahnsinns trieben. (Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung, was Isolation wirklich bedeutet.) Es war eine Art Rückzug, eine Flucht der Psyche. Ich habe mir in meinem Kopf eine eigene Welt erschaffen. Eine Welt, in der ich frei und glücklich war. Diese Welt – oder besser: diese Geschichte – reichte etliche Jahre in die Vergangenheit zurück. Sie war in einer Zeit angesiedelt, lange vor meiner Geburt, die ich nur aus Erzählungen meines Vaters kannte. In dieser inneren Welt streifte ich unbeschwert durch die Stadt, traf Freunde, die keine Vorurteile hatten, und Nachbarn, die nicht in Armut lebten. Ich verbrachte ganze Nachmittage lesend in der Sonne und lachte und redete abendelang mit Dad und meiner Schwester.
Diese Fluchtmöglichkeit habe ich im Block verloren. Ich finde den Weg in die innere Welt nicht mehr. Mir bleibt nur noch die Chill-Zone, um dem Albtraum zu entfliehen.
Minuten nachdem man mich wieder paralysiert hat, drifte ich in den weißen Raum.
Die Chill-Zone existiert nur aus einem einzigen Grund: um Happys Batterien am Laufen zu halten. Die Künstliche Intelligenz bezieht ihren Strom aus der Energieernte – und die Energie wird aus unserer Angst gewonnen. Würden wir unseren Verstand verlieren, hätten wir keine Angst mehr und die Energieernte würde nichts einbringen. Damit uns die Einsamkeit nicht fertigmacht und wir keinen Koller kriegen, gestattet uns Happy sechs Stunden Chill-Zone pro Tag.
Sie ist für mich wie eine Droge. Natürlich weiß ich, dass all die Erlebnisse dort nicht echt sind. Sie werden mir vorgegaukelt, um mich zu beruhigen und zu zerstreuen, aber egal: Ich brauche sie.
Zu Beginn der Chill-Zone ist alles weiß. Weiß, wohin man sieht, bis ins Unendliche. Unwillkürlich entfährt mir ein Seufzer, als ich mich endlich wieder bewegen kann. Es ist ein komisches Gefühl, zu wissen, dass ich immer noch gelähmt auf meiner Zellenpritsche liege, während ich gleichzeitig in diese künstliche Realität abdrifte.
Alle Szenarien, die ich innerhalb der Chill-Zone durchlebe, beginnen mit einer Erinnerung. Diese Erinnerung kann ein Ort sein, ein bestimmter Tag oder ein Ereignis. Von dort aus kann ich mich treiben lassen, wohin auch immer ich will. Ich weiß nicht, wie es funktioniert – ob es Nanobots sind, die in mein Gehirn kriechen, gelenkte Halluzinogene in Verbindung mit Augmented Reality oder eine völlig andere Technologie, für die mir jede Vorstellung fehlt. Auf jeden Fall funktioniert es.
Nach einer Weile verändert sich der weiße Raum. Erst verwandelt er sich in ein schwaches Grau, dann taucht grellbuntes Gekritzel auf. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich das Erdgeschoss des Black Road Vertical erkenne, den kilometerhohen Wohnturm, in dem ich aufgewachsen bin.
Ehrfürchtig starre ich auf die neonfarbenen Graffiti an den Betonwänden: Gang-Symbole und Logos von Skate-Teams, Tags und Drohungen.
»Es wimmelt nur so von ihnen. Es sind Hunderte!«, hallt es aus dem Betonschacht des Treppenhauses und sofort schwappt die Erinnerung wie eine Welle über mich.
Ich muss zehn oder zwölf gewesen sein. Molly war acht oder neun. Das Treppenhaus war unser Spielplatz. Wir haben uns vorgestellt, es sei ein Raumschiff, von dem aus wir Aliens bekämpfen, die die Menschen auslöschen und auf der Erde ein wertvolles, noch unentdecktes Mineral abbauen wollen.
Ich drehe mich zu Molly um, die beide Hände in die Höhe reckt, als würde sie ein Lenkrad umklammern. Beim Anblick meiner Schwester schießen mir die Tränen in die Augen. So sah sie aus, bevor Happy den Planeten verwüstet hat. Bevor ich inhaftiert wurde. Bevor unsere Eltern starben. Bevor, bevor, bevor …
Im echten Leben hat sich Molly in einen Klon verwandelt: einen Ebb-Junkie. Bei unserer letzten Begegnung war sie so abgemagert gewesen und so zugedröhnt mit der Droge, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Aber hier, in der Vergangenheit, in meiner wiedererwachten Erinnerung, ist sie ein ganz normales Mädchen. Meine engste Vertraute, meine liebste Spielkameradin.
Ihr dichtes, schwarz gelocktes Haar hüpft bei jeder Bewegung unseres Fantasieraumschiffs auf und ab. Sie trägt ein altes T-Shirt von mir, es reicht ihr bis zu den Knien.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, wiederholt sie und dreht den Kopf hektisch in meine Richtung. »Es wimmelt nur so von Aliens. Was machen wir jetzt?«