The Brightest Colours - Kara Atkin - E-Book

The Brightest Colours E-Book

Kara Atkin

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Beschreibung

Alles zerbricht - aber wir sind unzerstörbar

Seit Make-up-Artist Mia Knight denken kann, ist sie ihrem Kindheitsfreund Roan nicht von der Seite gewichen. Nicht als er nach London zog, um seinen Traum zu leben. Nicht als er als Sänger von Parallel weltberühmt wurde. Immer für ihren besten Freund da zu sein, ist für Mia selbstverständlich. Genauso wie es selbstverständlich ist, dass das zwischen ihnen niemals mehr als Freundschaft sein wird, ganz egal was sie tatsächlich für Roan empfinden mag. Das, was sie haben, ist einzigartig. Unzerstörbar. Etwas, das niemand für die flüchtige Chance auf Liebe riskieren würde. Niemand außer Roan ...

Band 2 der neuen Reihe von Kara Atkin

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Seitenzahl: 505

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

Playlist

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Kara Atkin bei LYX

Impressum

KARA ATKIN

The Brightest Colours

Roman

ZU DIESEM BUCH

Seit Make-up-Artist Mia Knight denken kann, ist sie ihrem Kindheitsfreund Roan nicht von der Seite gewichen. Nicht als er nach London zog, um seinen Traum zu leben. Nicht als er als Sänger von Parallel weltberühmt wurde. Und schon gar nicht jetzt, wo er, Damian und Caleb ihr eigenes Musik-Label Two Lines gegründet haben und der Gerichtsprozess gegen ihr altes Label ansteht, der das Leben von ihnen allen für immer verändern könnte. Für ihren besten Freund da zu sein, ist für Mia selbstverständlich, gerade dann, wenn die Zukunft ungewiss ist und sich alles in der Schwebe befindet. Doch genau das wird ihr nun zum Verhängnis: Wie aus dem Nichts erscheinen in der Boulevardpresse beleidigende Artikel über Mia, die auch ihre Beziehung zu Roan infrage stellen. Dabei steht für Mia felsenfest, dass das zwischen ihnen niemals mehr als Freundschaft sein wird – auch wenn in letzter Zeit immer öfter dieses aufregende Knistern in der Luft liegt, wenn sie zusammen sind. Bis ein Kuss ihre Welt von einer Sekunde auf die andere ins Wanken bringt …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Kara und euer LYX-Verlag

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für alle, die »Ich liebe dich« so sagen:

»Schreib mir bitte, wenn du zu Hause bist«;

»Guck mal, dabei hab ich sofort an dich gedacht«;

»Ich bin immer für dich da«.

»If I had a flower for every time I thought of you … I could walk through my garden forever.«

Alfred Tennyson

PLAYLIST

DPR IAN – Welcome to the show

Jackson Wang – Champagne Cool

Brye – Diet Culture

Billie Eilish – you should see me in a crown

Justin Bieber, Halsey – The Feeling

New West – Those Eyes

Måneskin, Tom Morello – GOSSIP

blackbear, FRND – anxiety

Camila Cabello – Shameless

Måneskin – FOR YOUR LOVE

Sam Smith – Love Me More

TALK – A Little Bit Happy

Arctic Monkeys – I Wanna Be Yours

Jackson Wang – Dead

Mac Ayres – Easy

Dove Cameron, Khalid – We Go Down Together

AILEE – Nobody else

Jay Park – Yesterday

PROLOG

Roan

Neunzehn Jahre alt

Brixham, Torbay, Großbritannien

Ich schmeiße die letzte Tasche in den Kofferraum meines Ford Granada und werfe die Heckklappe zu. Er ächzt und scheppert, das Schreien der rostigen Scharniere ist so laut, dass ich fürchte, die ganze Nachbarschaft aufzuwecken, so sehr wie das Geräusch in der schmalen Straße mit den dicht bebauten Reihenhäusern widerhallt. Mein Blick schnellt hoch zu Mias Fenster im Erker, doch die Vorhänge bleiben zugezogen und dahinter ist es schwarz. Ungewohnt ruhig liegt es da, das grüne Reihenhaus mit dem dicht bewachsenen Vorgarten und dem kleinen, weißen Bistrotisch aus Metall mit den drumherum arrangierten Stühlen. Niemand regt sich in dem Haus, in dem ich meine halbe Kindheit verbracht habe. Die Erinnerungen an die andere Hälfte liegen direkt in meinem Rücken, mein Elternhaus, gehüllt in verwaschenes Kornblumenblau und Backsteingrau. Auch dort bleibt es still und dunkel, meine ganze Familie schläft tief und fest.

Alles ist so, wie es sein soll. Ganz genau so, wie es sein muss.

Denn es ist eine Sache, mich von meiner Familie zu verabschieden. Meine Brüder verstecken ihre Traurigkeit hinter Frotzeleien, meine Mutter jammert darüber, dass ich als Jüngster das Haus verlasse, während ihre anderen drei Kinder doch noch unter ihrem Dach wohnen, und mein Vater gibt mir gut gemeinte Ratschläge.

Eine völlig andere Sache ist es jedoch, mich von meiner besten Freundin Mia zu verabschieden. Was vermutlich genau der Grund ist, warum ich es nicht getan habe. Er ist seltsam, dieser Gedanke, ab sofort ohne sie zu sein, obwohl ich mein ganzes Leben mit diesem Mädchen von gegenüber verbracht habe, von dem mich bisher immer nur ein Lebensjahr und eine Straßenseite getrennt hat. Nächte, in denen ich die Rankhilfe vor ihrem Fenster hochklettere, wenn ich nicht schlafen kann, und ihre und meine Eltern so tun, als würden sie nichts mitbekommen, trotz des schrecklichen Lärms, den ich dabei stets fabriziere, werden ab jetzt nur noch Erinnerungen sein. Morgen, an denen sie mit Marmelade beschmiertem Toast und mit Kaffee bewaffnet in Erwartung meines allmorgendlichen Zuspätkommens am Zaun auf mich wartet, sind von nun an auch passé. Und Nachmittage, an denen wir uns vor Schularbeiten drücken und uns gemeinsam mit Damian Geschichten über die Yachten der Superreichen ausdenken, die im Hafen von Brixham hin und wieder auf ihrer Tour durch die Englische Riviera ankern, wird es auch nicht mehr geben.

Mia wird nicht länger Teil meines Alltags sein und ihn mit ihrem Lächeln in den hellsten Farben erstrahlen lassen. Stattdessen wird sie hierbleiben, in Brixham, bei ihrem festen Freund, ihrer Familie und ihrer Lehrstelle zur Einzelhandelskauffrau in der schicken Parfümerie in der Innenstadt, über die sie sich so gefreut hat.

Ihr Platz ist hier. Meinen hingegen, den suche ich noch. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich ihn finden soll, so ganz ohne Mia, die schon so lange Teil meines Lebens ist, dass ich mich nicht mehr an eine Zeit erinnern kann, in der es anders war. Aber wahrscheinlich hat es die eh niemals gegeben. Denn als mein Vater seinen Posten als Offizier in der britischen Armee aufgab und mit uns aus Deutschland, wo er zuvor stationiert war und meine Mutter kennenlernte, nach England zurückkehrte, um einen sicheren und steten Job ohne ständige Neustationierungen anzutreten, war ich gerade mal ein Jahr alt.

Seitdem war sie immer da, direkt an meiner Seite. Und allein der Gedanke, dass sie es nun nicht mehr sein wird, tut mehr weh, als ich mir jemals hätte vorstellen können.

Ich reibe mir über die Brust, in der Hoffnung, die Enge darin vertreiben zu können, und atme einmal tief durch. Ich weiß, dass es richtig ist, mich nicht von Mia zu verabschieden. Sie wird mich deshalb verfluchen und mich einen Feigling nennen, und vielleicht bin ich das auch. Aber der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich bloß daran denke, sie nicht mehr tagtäglich zu sehen, der ist einfach zu stark, und ich fürchte mich davor, was ich sagen würde, wenn sie jetzt vor mir stünde. Irgendetwas ist anders. Irgendetwas stimmt nicht. Und auf keinen Fall werde ich riskieren, diesem Etwas auch nur einen Millimeter Raum zu geben. Nachher überlege ich es mir noch anders. Oder schlimmer noch – ich bitte sie, alles hier aufzugeben und mit mir zu kommen. Als könnte ich das wirklich tun. Als könnte ich allen Ernstes mit mir vereinbaren, dass sie ihre Träume für mich aufgibt.

Zeit, zu verschwinden.

Erleichterung vermischt sich mit Reue, als ich den Autoschlüssel endlich aus meiner Hosentasche ziehe und mich auf den Fahrersitz gleiten lasse. Ich starte den Motor, der stotternd und mit einer laut knallenden Fehlzündung anspringt, und lasse ihn, wie von Dads Mechanikerkollegen empfohlen, erst einmal einen Moment laufen, damit er warm wird und ich überhaupt eine Chance habe, jemals in London anzukommen. Wenn das geschafft ist, verscherble ich die Rostlaube sofort. Ich lege die Kassette ein, die Damian für unseren Roadtrip aufgenommen hat, da diese Karre nicht mal einen CD-Player besitzt, und fische mein Handy aus der Hosentasche.

Gerade als ich ihm eine SMS schreiben will, um ihn wissen zu lassen, dass ich in fünf Minuten da bin und er seinen Hintern schon mal zur Haustür schwingen und an den Hunden vorbei den Hügel vor dem Anwesen seines Vaters heruntersprinten soll, wird plötzlich die hintere Beifahrertür aufgerissen und ein großer Wanderrucksack fliegt über die Rückbank hinweg in den Kofferraum.

»Was zur Hölle?«

Mia sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, bevor ich überhaupt begreifen kann, was gerade passiert. Der Schmerz, der in meinem Arm explodiert, als sie heftig dagegenboxt, nimmt mir den letzten Rest meiner Auffassungsgabe, weshalb ich keine Ahnung habe, was sie von mir will, als sie mich mit ihren großen grünbraunen Augen erwartungsvoll ansieht. Deshalb sage ich einfach das Erste, was mir in den Sinn kommt.

»Aua.«

»Aua? Das ist alles, was dir einfällt?« Wieder boxt sie mich, treffsicher auf genau die gleiche Stelle. »Du bist so ein Arsch, Roan Webb!«

Ich blinzle, mehr als nur ein bisschen perplex, denn Mia haut mich nie, und Beleidigungen spart sie sich eigentlich für Damian oder meinen nächstälteren Bruder Reik auf, mit dem sie mit Abstand am häufigsten aneinandergerät.

»Du glaubst doch wohl nicht allen Ernstes, dass du einfach allein abhauen kannst, oder? Noch dazu, ohne dich zu verabschieden.« Sie schnallt sich an, kickt ihre ausgelatschten Turnschuhe von den Füßen und legt sie samt bunter Einhornsocken aufs Armaturenbrett.

Mein Hirn scheint noch immer nicht ganz online zu sein, doch mein Herz macht etwas ganz Gefährliches, als ich dabei zusehe, wie Mia sich tiefer in den Sitz und ihren dünnen Pulli kuschelt und die Augen schließt. »Was tust du da?«

»Mitkommen. Wonach sieht es denn sonst aus?« Sie macht sich nicht einmal die Mühe, die Augen wieder zu öffnen, doch ihre Beine in den engen Röhrenjeans flattern ein wenig. »Du und ich, Roan. Schon vergessen?«

»Natürlich nicht.« Das Versprechen, das wir einander als Kinder an einem verregneten Novembertag hinten im Schuppen meiner Eltern gegeben haben, könnte ich niemals vergessen. Doch ich zwinge mich dazu, mich daran zu erinnern, warum ich überhaupt erst den Entschluss gefasst habe, mich morgens um drei in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Richtung London aus dem Staub zu machen. »Aber du kannst nicht einfach mitkommen, Mia. Was ist mit deiner Lehrstelle?«

Sie zuckt die Achseln, als wäre es lediglich eine Lappalie. »Hab ich hingeschmissen.«

Ich klammere mich an den nächsten Strohhalm, weil ich weiß, dass ihre Entscheidung zu hinterfragen niemanden von uns weiterbringen wird. »Und dein Freund?«

»Er heißt immer noch Adam. Und wir haben uns getrennt.«

Wieder macht mein Herz etwas ganz Dämliches, aber ich ignoriere es. »Was ist mit deinen Eltern? Du kannst nicht einfach nachts mit mir verduften. David und Isobelle bekommen einen Herzinfarkt, wenn dein Bett morgen leer ist.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass Mom und Dad davon ausgehen, dass ich ohne dich hierbleibe, oder?« Sie öffnet die Augen gerade weit genug, um mir einen Blick zuzuwerfen, der mir deutlich sagt, was sie von meinen Argumenten hält, ehe sie sie wieder schließt. »Als ich ihnen mitgeteilt habe, dass ich mit dir nach London gehe, wirkten sie sogar irgendwie erleichtert. Mom meinte, ich bin zu jung, um in Brixham zu versauern, und Dad weiß ohnehin, dass er mich nicht aufhalten kann, also versucht er es erst gar nicht. Da du keinen Ton von dir gegeben hast, wusste ich zwar nicht genau, wann, aber nachdem du gestern so todesoffensichtlich rumgedruckst hast, als ich gefragt habe, was wir morgen nach deiner Schicht machen wollen, konnte ich sie zumindest noch vorwarnen, bevor ich alles gepackt habe.« Sie schüttelt den Kopf. »Du bist wirklich so ein phänomenal schlechter Lügner, Roan. Das ist unfassbar.«

»Was, wenn ich gar nicht nach London gehe?«

»Dann gehe ich, wohin auch immer du gehst.« Sie sagt es, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, mit einer Finalität, die keinen Raum für Zweifel lässt. »Mir ist es gleich, solange wir zusammen sind. Aber«, nachdenklich zieht sie die Nase kraus, »für ein Flugticket hab ich gerade nicht genug Geld. Dann müsste ich erst Mom und Dad anhauen. Geht es denn wirklich nicht nach London?«

»Doch schon, aber –«

»Gott sei Dank. Kurz hatte ich Sorge, ihr beiden Experten hättet all unsere Pläne von früher über den Haufen geworfen und wollt es möglicherweise tatsächlich in Los Angeles oder so versuchen. Ich meine, Amerika ist ja schön und gut, aber Englisch sprechen die da nicht wirklich.«

Langsam gehen mir wirklich die Argumente aus. »Aber –«

»Willst du lieber ohne mich gehen?« Wieder öffnet sie ihre grünbraunen Augen, doch diesmal ist der Ausdruck darin entwaffnend ernst. »Ganz ehrlich, Roan? Denn wenn du lieber ohne mich gehen willst, dann öffne ich diese Tür und –«

Ich habe keine Ahnung, wann genau ich mich über die Mittelkonsole gelehnt und ihre Finger vom Türgriff entfernt habe. Die Wärme ihrer Hand spüre ich jedoch überdeutlich, als ich sie ganz fest in meiner halte und leise sage: »Nein.«

Sie lächelt und gibt mir eine kleine Kopfnuss. »Und, war das jetzt so schwer?«

Ich sage nichts, sondern ziehe mich zurück und lege mechanisch den ersten Gang ein, lasse den Wagen anrollen und fahre los, ehe ich am Ende der Straße abbiege, in Richtung der großen Villen entlang der Berry Head Road. Silbrig glänzt der Mond auf der Wasseroberfläche der Bucht, und ich umfasse das Lenkrad fester, als Mia leise den Song mitsingt, der gerade läuft. Wir haben die Fenster heruntergekurbelt, um etwas von der kühlen Nachtluft in diesem schwülwarmen Sommer hineinzulassen, ihr langes, mahagonibraunes Haar tanzt im Wind, umspielt ihre Wangen und ihr Kinn.

»Tut mir leid«, sage ich mit belegter Stimme.

Mia greift über die Mittelkonsole und verflicht unsere Finger miteinander. Sie drückt sanft zu, ihre Stimme ist kaum hörbar, als sie ganz leise entgegnet: »Schon okay.«

Ich antworte nicht, in meinem Kopf schwirrt nur ein einziger Satz herum, während ich mit Mia an meiner Seite in ein neues Leben aufbreche, in dem sich jetzt schon eine fundamentale Sache grundlegend verändert hat.

Tut mir leid, aber ich glaube, ich bin in dich verliebt.

1. KAPITEL

Roan

Einunddreißig Jahre alt

»Wie fühlst du dich?«

Über Ellies Kopf hinweg, die sich die größte Mühe gibt, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie die Spitze an meinen Ärmelaufschlägen zum fünfzehnten Mal richtet, weil sie sich damit zu beruhigen versucht und nicht, weil irgendetwas damit nicht stimmt, blicke ich zu der Flut an Reportern. Sie alle sind schwer mit Kameras, Diktiergeräten und Notizblöcken bewaffnet, während sie sich gegen die kunstvoll geschnitzte Absperrung drängen, was die Sicherheitsbeamten mit sorgenvollen Mienen beobachten. Ich weiß, was sie sehen. Sie sehen Roan von Parallel, den europäischen Megastar mit dem schulterlangen, rabenschwarzen Haar, den eisblauen Augen, dem Nasenring und den unzähligen Tattoos, der auf die Bühnen dieser Welt und nicht in den Gerichtssaal gehört, und der das alles auch nach eineinhalb Jahren mit überraschender Gelassenheit nimmt.

Wonach sie sich aber in Wahrheit die Finger lecken und worauf sie warten, ist ein vernichtender Zusammenbruch.

Sie lechzen auf einen Riss in dem sorgfältig konstruierten Bild, das wir ihnen bieten. Versuchen, hinter das dunkle, samtige Rot meines Anzugs und das unschuldige Weiß meines Hemdes zu blicken, an dem sie doch genauso sehr abprallen wie an Damians vor seinem Körper gefalteten Händen, an denen heute so viele Ringe funkeln wie an meinen eigenen. Das Blitzlichtgewitter macht mich, auch ohne Sonnenbrille, längst nicht mehr blind, so sehr habe ich mich an den ganzen Mist gewöhnt. Doch die gemurmelten Worte, die sie tauschen, während der eine oder andere sich doch dazu hinreißen lässt, hier im Gerichtssaal Damians oder meinen Namen zu rufen, in der Hoffnung, dass wir hinsehen und sie den perfekten Schnappschuss für ihre Käseblätter abstauben können, ist etwas gänzlich anderes. Es war leichter, sie auszublenden, als ich noch genau wusste, welche Version ich ihnen präsentieren soll. Jetzt aber, wo die Ketten gesprengt wurden und ich mehr und mehr ich selbst sein kann, weiß ich gar nicht, wer ich sein will. Wer ich sein soll. Dieser rote Anzug zum Beispiel, ich hab keine Ahnung, ob er zu viel ist. Instinktiv gewählt habe ich ihn trotzdem. Ellies Worte waren die einzige Bestätigung, die ich bekommen habe, während sie aufgeregt noch per Hand die Spitze angenäht hat, die dem dunklen Rot seine Aggression nimmt und es durch etwas Weicheres, Zarteres ersetzt.

Diese Freiheit, sie ist ungewohnt, unbehaglich. Sie ist neu und fremd und anders, etwas, wonach ich mich gesehnt habe und in meiner Musik in vollen Zügen genieße. In der Öffentlichkeit aber ist sie etwas, vor dem ich mich fürchte. Denn die Regeln, an die ich mich so gewöhnt und in deren klaustrophobisch engem Rahmen ich mich bewegt habe, mit dem immer gleichen Lächeln und dem festen Image – die sind nun fort. Und in Momenten wie diesen fühle ich mich allein in dieser unendlichen Weite, in der ich nicht weiß, was ich tun soll. In meinem Kopf wird das Murmeln der Reporter zu einem immer lauter werdenden Surren, das sich mit dem Rauschen meines Blutes mischt, bis ich kaum noch meine eigenen Gedanken hören kann.

Tja, wie fühle ich mich?

Beschissen? So als hätte mir jemand in den Magen geboxt? Obwohl, es fühlt sich doch eher so an, als wäre ich vor ein Erschießungskommando geführt worden, wo alle immer wieder abdrücken, ganz egal wie oft sie schon getroffen haben.

Eine Milliarde Antworten auf diese schlichte Frage liegen mir direkt auf der Zungenspitze. Aussprechen tue ich keine einzige davon. Stattdessen lächele ich und das Klick-Klick-Klick der Kameras zementiert sich auf meinen Lippen fest, bis meine Mundwinkel schmerzen. »Es geht mir gut.«

»Sicher?« Eine Hand, schwer wie ein Amboss, aber warm und sicher wie eine Umarmung, landet auf meiner Schulter. Die langen Finger drücken zu, genau fest genug, um Trost zu spenden. Caleb, mein Manager und einer meiner besten Freunde, blickt wenig überzeugt drein. Die Müdigkeit ist ihm deutlich anzusehen an den dunklen Ringen unter seinen rauchblauen Augen. Die schlaflosen Nächte, unzählige Sorgen und das atemlose Bangen sind wohl an keinem von uns spurlos vorübergegangen, auch wenn Caleb mit den glatt rasierten Wangen und dem maßgeschneiderten Anzug aussieht wie der Bilderbuchmanager in Person. »Du siehst nämlich eher so aus, als würdest du gleich aus den Latschen kippen.«

»Das bildest du dir nur ein. Der sieht doch immer aus, als würde er jede Sekunde ins Gras beißen.« Damian zwinkert mir zu, das Grinsen auf seinen Lippen wie immer schalkhaft und lässig, aber das für ihn typische Funkeln in seinen Augen fehlt, worüber die Sonnenbrille mit den roten Gläsern auch nicht hinwegtäuschen kann, die tief auf seiner Nasenspitze sitzt. Er versucht dennoch, den Coolen zu mimen, so als hätten wir nicht gestern gemeinsam mit Tränen in den Augen auf der Couch gehockt und darüber gesprochen, was passiert, wenn wir diesen Rechtsstreit nicht gewinnen. Wenn wir nicht zurückbekommen, was rechtmäßig unser ist. Wenn wir wirklich alles verlieren.

Lange haben wir dort gesessen und geredet. Über damals. Über heute. Und über eine hypothetische Zukunft, von der ich hoffe, dass Damian sie im Rausch des Bourbons vergessen hat. Genauso wie das mir abgerungene Versprechen, welches in meinem Kopf nur zwischen geflüsterten Wahrheiten und fortgewischten Tränen existiert, vernebelt vom Qualm gerauchter Zigaretten und ertränkt in den melancholischen Tönen des Basses, die Saiten von meinen Fingern träge angeschlagen im Morgenrot, während vielleicht unser letzter Tag als Parallel begann.

Damian, der meine Gedanken zum Glück nicht erahnen kann, nimmt die Uhr ins Visier. Seltsam deplatziert sieht sie aus, dort oben über dem gigantischen Gemälde irgendeiner Schlacht, die gewiss weder so glorreich noch so schön anzusehen war, wie sie für die Ewigkeit festgehalten wurde. »Sag mal, ist der Richter auf dem Weg hierher an Altersschwäche verreckt oder warum dauert das so verdammt lange?«

Damian hat recht. Die Urteilsverkündung hätte vor fünf Minuten beginnen sollen, doch bisher ist niemand vom Gericht anwesend. Ich schiebe Ellies Hände beiseite, die ihre Lippen aufeinanderpresst, aber sofort aufhört an mir herumzuzupfen, und ziehe an dem hohen Kragen meines Hemdes. Geht es nur mir so, oder ist Atmen mit einem Mal ein ganzes Stückchen schwerer geworden? Vielleicht ist es die Nervosität. Vielleicht ist es die Armada an Anwälten unseres ehemaligen Labels, die uns von ihrem langen Tisch zu unserer Rechten mit arroganter Selbstsicherheit beäugen. Vielleicht ist es Tobias, der mitten unter ihnen sitzt und mir spöttisch zuwinkt, als unsere Blicke sich begegnen, so als hätte er nichts zu verlieren mit einem Multimillionen-Pfund-Konzern im Rücken, für den bloß Einnahmen und nicht das ganze Lebenswerk, die gesamte Existenz, auf dem Spiel steht. Vielleicht sind es auch die langen Monate der Gewinne und Verluste nebst der vom Recht aufgezwungenen Regungslosigkeit der letzten eineinhalb Jahre, die mir die Luft abschnüren. Oder vielleicht ist es auch einfach nur die dunkle Holzvertäfelung des Gerichtssaals, die immer näher zu kommen scheint, je länger ich hier stehe, direkt unter diesem opulenten Kristallkronleuchter, der von der Decke baumelt, und von dem ich fürchte, er könnte uns jeden Moment unter sich begraben.

»Du kannst von Glück reden, dass er noch nicht hier ist und das gehört hat.« Caleb reibt sich die Schläfen in gespielter Entrüstung, doch das Zucken um seine Mundwinkel verrät ihn, auch wenn ich sehen kann, wie sehr er dagegen anzukämpfen versucht. »Mit deinem Schandmaul bringst du mich irgendwann noch viel zu früh ins Grab. Wie zum Geier halte ich das mit euch beiden Dumpfbacken eigentlich schon seit über einem Jahrzehnt aus?«

Damian zuckt die Achseln. »Mit Liebe und Geduld?«

»Wohl eher mit Kaffee und Bluthochdruck.«

Weil mein bester Freund und Bandkollege es wie immer nicht lassen kann, setzt er nach. Der Schalk in seinen Augen funkelt zwar nur ganz leicht, aber immerhin ist er zurück. Mein Kragen hingegen scheint noch immer viel zu eng zu sein. »Also für deine Wehwehchen kann ich ja wohl wirklich nichts, alter Mann.«

»Nicht?« Der Ton unseres Managers, und neuerdings auch CEOs, wird schärfer, als er sich in die Nasenwurzel kneift. Ellie schmunzelt, sie greift nach seiner Hand und streicht beruhigend über seine Fingerknöchel. Schwer vorstellbar, dass sie erst vor eineinhalb Jahren zu uns gestoßen ist, denn sie neben Caleb zu sehen, ist längst ein gewohnter Anblick. Fast fühlt es sich so an, als wäre sie schon vor zehn Jahren an seiner Seite gewesen und hätte Optimismus und Sonnenschein verbreitet. Und Chaos. Eine ganze Menge Chaos. Immerhin ist die Fake-Dating-Nummer der beiden, mit der sie uns allen den Arsch retten wollten und die uns dann in Mailand bei der Fashion Week um die Ohren geflogen ist, der Grund, warum wir heute hier stehen. Wir alle warten darauf, zu erfahren, ob unsere Vertragsauflösung mit dem Label rechtskräftig ist und ob wir die Rechte an unseren Songs und auch an unserem Namen zurückbekommen, damit wir endlich wieder das tun können, was wir am meisten lieben. Nämlich Musik für uns und unsere Fans zu machen.

Die letzten Monate hat genau das brach gelegen, eingefroren in den langsam mahlenden Mühlen eines Rechtssystems, was mich gelehrt hat, dass es eine Sache ist, recht zu haben, aber eine völlig andere, recht zu bekommen. Zwar haben wir versucht, uns abzulenken, indem wir gemeinsam mit unserem Team und Caleb Two Lines Entertainment gegründet und aufgebaut haben. Auch ein neues, noch unveröffentlichtes Album haben wir produziert und uns kopfüber in die etwas übermütige und sehr optimistische Planung einer Welttournee gestürzt, um die verlorene Zeit mit unseren Fans, aus denen Damian und ich sonst Kraft für diesen ganzen Medienzirkus ziehen, so schnell wie möglich aufholen zu können.

Aber wenn wir heute nicht gewinnen, dann war auch das alles umsonst. Das heute ist, nach unzähligen Verhandlungen, Berufungen und Einsprüchen, unsere letzte Chance, unser Lebenswerk zurückzuerlangen.

Wir haben vor unzähligen Gerichten gestritten. Mal haben wir recht bekommen, mal die Gegenseite. Jetzt haben wir offiziell die letzte Instanz erreicht, deren Urteil alles entscheiden wird, was wohl auch der Grund ist, warum der Gerichtssaal heute vor Reportern nur so wimmelt, die in diesem ganzen Streit nicht im Mindesten nachempfinden können, was für Damian, Caleb und mich auf dem Spiel steht, sondern sich nur auf ihr Narrativ von David gegen Goliath konzentrieren, dem sie schon folgen, seitdem dieser ganze Rechtsstreit begonnen hat.

»Letzte Woche hast du beim Kaffeeholen noch gesagt, diese ganze Gerichtsverhandlung wäre eine Farce.«

Es ist Damians Nonchalance, die wohl das Fass zum Überlaufen bringt, denn in Calebs Gesicht zeichnen sich rote Wutflecken ab, als Damian ganz lässig zu ihm sagt: »Habe ich denn wirklich gelogen?«

»Was, wenn dich jemand gehört und es dann der Presse gesteckt hätte, mh? So was kannst du meinetwegen denken, aber doch nicht in aller Öffentlichkeit laut sagen!«

»Warum nicht?«

»Willst du mich verar-« Caleb bricht ab und starrt Damian an, der ihn nur über den schwarzen Rand seiner Brille hinweg belustigt mustert. Der Moment, in dem Caleb klar wird, warum Damian ihm hier gerade wirklich auf den Wecker geht, sorgt dafür, dass ich die Kameras vor uns fast für einen Augenblick vergesse. Aber eben nur fast. »Oh, du gewiefter Mistkerl.«

»Na, das hat diesmal aber lange gedauert.« Bei Damians Worten klopft Ellie Caleb mitleidig auf die Schulter, während die schuldige Nervensäge selbstzufrieden die Hände in die Taschen seines wild bedruckten Anzugs gleiten lässt, der an Zeitungsausschnitte erinnert und den er mit einem Grinsen heute früh von seiner Stylistin Olivia entgegengenommen hat. Mitzukommen lehnte sie ab, und verübeln kann ich es ihr nicht. Ich wäre gerne auch lieber meilenweit entfernt von hier, aber die Tatsache, dass ich nun mal Roan bin, fesselt mich an diesen Ort, dem ich nicht entkommen kann. »Fühlst du dich jetzt etwas besser?«

»Tatsächlich schon, du manipulative Nervensäge.«

»Immer zu Diensten.«

Gern würde ich mich von der aufgelockerten Atmosphäre anstecken lassen, aber ich kann nicht. Ich bin nicht wie Damian, der gelassen die Dinge auf sich zukommen lässt. Ich bin auch nicht wie Caleb, der kontrolliert die Situation beobachtet und seine Ruhe aus seinem Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten schöpft. Stattdessen fühle ich mich gerade wie auf den Beifahrersitz eines Sportwagens geschnallt, während ich mit zweihundert Sachen über die Autobahn brettere, ohne die Kontrolle über das Fahrzeug zu haben, das jede Sekunde von der Fahrbahn abkommen könnte.

Ich lasse die Hand von meinem Kragen sinken und stütze mich, hoffentlich äußerlich sehr lässig, auf den Tisch, an dem wir mit unseren Anwälten sitzen, die die Köpfe zusammengesteckt haben und leise über irgendetwas beraten, von dem ich keine Ahnung habe. Das Lächeln wird immer schwerer, genauso wie das Atmen.

Tick-Tick-Tick macht die Uhr. Klick-Klick-Klick die Kameras.

Und ich? Ich will einfach nur aus vollen Lungen schreien.

Das Rauschen in meinen Ohren wird schlimmer, die Ränder meines Sichtfelds breiter und dunkler. Einatmen. Ich muss einatmen. Meine Lunge aber fühlt sich an wie zerquetscht, und ich klammere mich an die Tischkante, in dem verzweifelten Versuch, mich aufrecht zu halten. Mir ist heiß und kalt zugleich. Mir ist schwindelig und schlecht. Ich will hier raus. Will nicht länger auf dem Beifahrersitz sitzen und auf den Unfall warten. Will nicht länger lächeln und auch nicht länger bangen. Wir wissen, wie schlecht unsere Chancen stehen. Wir wissen, dass wir möglicherweise alles verlieren werden. Ich sehe nur noch verschwommen. Hören kann ich kaum noch etwas. Ich will, dass es vorbei ist. Ich will weg. Weit, weit weg.

»Bitte sag mir, dass ich nicht allen Ernstes verpasst habe, wie Damian Cal auf die Nerven geht.«

Klar wie Gletscherwasser. Vertraut. Eine Stimme, die ich kenne wie meine eigene. Die mich vor unzähligen Abgründen bewahrt hat. Meine Lungenflügel hören zu flattern auf und lassen Luft hinein, wenn auch zögerlich. Meine Worte sind mehr ein Flüstern, aber ich weiß, dass sie sie hört. Weil sie mich immer hört. Auch dann, wenn es sonst niemand tut. Das hat sie schon, als wir beide noch Kinder waren. »Ich fürchte schon.«

»Mist. Ich wusste, ich hätte nicht zum Auto zurückgehen sollen, um diesen dusseligen Eyeliner zu holen.« Ich spüre ihre Knöchel die meine streifen. Eine flüchtige Berührung. Ein Zufall, und doch so überhaupt nicht zufällig. Gefährlich. Leichtsinnig. Bitter nötig. »Sag mir, was ich versäumt habe.«

Ich erzähle es ihr. Ich wiederhole jedes Wort, das gefallen ist, und die Welt wird klarer. Die Kameras tauchen wieder auf. Das Funkeln des Kronleuchters verrät mir, wo oben und unten ist. Die Tischkante schneidet nicht länger in meine Haut, als meine Hand sich entkrampft. Das Rauschen in meinen Ohren wird wieder zum Murmeln der Menschen um mich herum, aus dem ich jetzt sogar wieder vereinzelte Rufe ausmachen kann.

»Roan! Damian! Brandon für die Daily Post. Wie fühlen Sie sich heute, wo Sie doch alles verlieren könnten?«

»Roan, haben Sie Angst davor, was passiert, wenn Sie heute nicht gewinnen?«

»Damian, wie ist es so, heute vielleicht Geschichte zu schreiben?«

Ich blende sie alle aus.

Und dann ist sie da. Direkt vor mir. Eine Heimat aus Mahagoni, Moosgrün und Dunkelrot.

Ich konzentriere mich auf jedes Detail. Die Strähnen ihres mahagonibraunen Haares, das sie heute in langen offenen Locken trägt, ihrem herzförmigen Gesicht schmeichelt und von dem ich mir als kleiner Junge zwei Hände voll gegriffen habe, um auf die harte Tour zu lernen, wie sehr ich es hasse, wenn sie weint. Das Grübchen direkt neben ihrem dunkelrot geschminkten Schmollmund, für das meine Brüder sie früher aufgezogen haben, weil es sie niedlich aussehen lässt und man nicht niedlich genannt werden will, wenn man gerade versucht, vier älteren Jungs die Meinung zu geigen. Der moosgrüne Kreis am Rande ihrer sonst grünbraunen Iris, als unsere Blicke sich endlich treffen und sie lächelt, so wie schon damals mit zwölf, nachdem ich zum ersten Mal aus dem Schleier meiner Angst zu ihr in die Realität zurückgekehrt bin, an diesem verregneten Novembertag, an dem ich zum ersten Mal begriffen habe, dass alles Glück dieser Welt immer nur geborgt ist.

»Da habe ich ja ganz schön was verpasst, was?«

Ich weiß, ich sollte in ganzen Sätzen antworten. Mein Hirn hingegen formt gerade vor Erleichterung nur ein einziges Wort. »Mia.«

Ihr Lächeln verrutscht nicht. Tut es eigentlich nie. Die Sorge in ihren großen Augen, die sie heute mit hellen und bunten Farben betont hat, erkenne ich trotzdem, als sie mir sanft und nur für wenige Sekunden den Arm tätschelt. Es sagt: Keine Sorge, ich bin hier,auch wenn ihre Stimmbänder stattdessen etwas ganz anderes laut aussprechen. Ihre Worte sind nicht an mich, sondern in die Runde gerichtet, um von mir abzulenken, wofür ich ihr gerade unendlich dankbar bin. »Ist der Richter immer noch nicht da?«

Als würde das Universum und nicht nur alle Mitglieder meiner Familie sich ihrem Willen beugen, öffnen sich die Türen und die Gerichtsdiener marschieren herein. Es sind drei, zwei Männer und eine Frau, ihre Arme sind schwer beladen mit den Gerichtsakten dieses Falls, die sie routiniert auf dem Richterpult ablegen. Es gibt unzählige Mappen in verschiedensten Farben. Alle davon Zeugnisse eines Rechtsstreits, der mir noch immer absurd vorkommt, immerhin haben Damian und ich all diese Songs selbst geschrieben. Wie können sie da nicht uns gehören? Unsere Anwälte haben es mir tausendmal erklärt. Irgendetwas von Beteiligungsrechten, Investitionsrückgewinnung und Teilhabe. Verstanden habe ich allerdings nichts davon.

Mit offenem Mund starrt Damian Mia an. »Ich wusste schon immer, dass du eine Hexe bist.«

Ihr leises Lachen löst den Kloß in meinem Hals. »Glaub mir, wenn ich eine wäre, hätte ich dich schon vor Jahren in eine Kröte verwandelt, du Großmaul.«

»Aber ich bin dein Lieblingsgroßmaul, oder nicht?«

»Natürlich.« Mia kneift Damian in die Wange, der es wie jeher einfach über sich ergehen lässt. Meinem ältesten Bruder Bran hat er, als er das damals bei einer von Mamas berüchtigten Grillpartys versucht hat, fast den Arm ausgekugelt. Dabei ist Bran elf Jahre älter und satte zehn Zentimeter größer als Damian. »Wenn dich das besser schlafen lässt, dann halte dich gerne an diesem Irrglauben fest, Dee.«

Die kleine Neckerei meiner Kindheitsfreunde, die Ellie und Caleb mit einem Lächeln beobachten, bringt mich vollständig zurück in die Realität. Mein Herzschlag wird langsamer. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich, und mit einem Mal ist Atmen wieder ein ganzes Stück leichter.

Sollen sie mir doch nehmen, was sie wollen. Sollen sie doch die ganze Kohle einheimsen und daran ersticken. Sollen sie diesen Namen doch behalten, der Damians und mein Leben seit über einem Jahrzehnt prägt.

Solange wir fünf zusammen sind, kriegen wir alles irgendwie hin.

Einer der Sicherheitsbeamten stellt sich vor dem Richterpult auf und erhebt die Stimme, mit der er es so gerade schafft, sich gegen die Reporter durchzusetzen. »Bitte nehmen Sie für die Urteilsverkündung Ihre Plätze ein.«

Über die Schulter hinweg sieht Mia mich an und nickt mir zu, in ihren Augen die gleiche warme Unverwüstlichkeit wie immer, die sagt: Ich bin hier, wenn du mich brauchst, komme, was wolle. Dann zieht sie sich mit Ellie hinter die Absperrung zurück.

Gemeinsam mit Damian und Caleb wende ich mich dem Richterpult zu und drücke die Schultern durch, als der Richter mit seinen zwei Assistenten und flatternder Robe hineineilt. Seine Miene ist unergründlich, aber der leichte Schweißfilm auf seinen Wangen macht mich unruhig. Panik droht mich erneut zu übermannen, aber ich spüre Mias Anwesenheit bis tief in mein Innerstes. Sie ist an meiner Seite, ganz gleich, wo sie auch sein mag. Egal was hier passiert, auf sie kann ich mich immer verlassen.

Denn sie ist meine beste Freundin. Mein Anker und mein Sicherheitsnetz. Wir sind immer füreinander da. Nichts kann daran etwas ändern.

Nicht die Öffentlichkeit. Nicht die Zeit. Nicht all die Dinge, die ich für sie fühle, aber nicht zu sagen wage.

»Setzen Sie sich. Das Gericht verkündet nun sein Urteil.«

2. KAPITEL

Mia

»Setzen Sie sich. Das Gericht verkündet nun sein Urteil.«

»Gott, ich glaube, ich muss kotzen.« Ellie hält meine Hand fest umklammert und zerrt mich auf den unbequemen und viel zu harten Holzstuhl neben sich. Schmerzhaft drückt die Rückenlehne sich gegen meine Wirbelsäule, und ich versuche, nicht das Gesicht zu verziehen, als sie mir jeden einzelnen Finger mit ihrem Klammergriff zu brechen droht. Der Richter, der eh schon zu spät war, lässt sich allerdings Zeit dabei, seine Akten in aller Seelenruhe zu sortieren. Seine Wangen sind puterrot, als er uns alle in der scheinbaren Endlosigkeit dieses spannungsgeladenen Moments verharren lässt. Richter Waldegrave ist ein undurchsichtiger Mann, seine Miene stets neutral und unbeeindruckt, ganz gleich, wie hitzig es auch bei den Verhandlungen zugegangen ist. Nicht ein Mal hat er sich in die Karten gucken lassen, weshalb seine Tendenz in diesem Fall nicht zu erahnen ist, trotz all der Versuche beider Seiten, ihn mit Argumenten und Beweisen zu überzeugen.

»Tief durchatmen«, flüstere ich, um die Stille im Gerichtssaal nicht zu stören, in der selbst das endlose Klicken der Kameras zu einem Hintergrundgeräusch wird. »Alles wird gut.«

»Meinst du?« Der sonst immer positive Sonnenschein unserer Truppe sieht mich unsicher aus großen karamellbraunen Augen an. Sonst ist sie für den ungebrochenen Optimismus zuständig, der uns von einer Gerichtsverhandlung in die nächste getragen und das Wechselbad aus haltloser Euphorie bei einem Sieg und vernichtender Niedergeschlagenheit bei einem Verlust abgefangen hat. Heute aber ist davon nichts zu spüren, und da ich weiß, wie schuldig Roans Stylistin sich wegen Mailand fühlt, kann ich ihr nicht verdenken, dass sie heute eher dreinblickt wie sieben Tage Regenwetter.

»Ja. Ich bin mir sicher.« Bin ich zwar nicht, aber ich werde den Teufel tun, mir das anmerken zu lassen. Die bisherigen Gerichtsurteile zeichnen ein ziemlich ernüchterndes Fünfzig-Fünfzig-Bild, und dass ausgerechnet ein Urgestein von einem Richter, die in diesem Land bisher tendenziell immer eher auf der Seite des Geldes als auf der Seite des Rechts gestanden haben, dieses Urteil fällen soll, beunruhigt mich zusätzlich. Mein Blick wandert zu Roan, der mit durchgedrücktem Rücken auf seinem Stuhl hockt, Damian zu seiner Linken und Caleb zu seiner Rechten. Ich würde gerade alles geben, um da vorn neben ihm zu sitzen und seine Hand zu halten, aber das ist unmöglich. In diesen Hallen bin ich nur sein Make-up-Artist. Dem Hohen Gericht ist es gleich, dass ich Roans Namen vor meinem eigenen sagen konnte und wir, seitdem ich laufen kann, unzertrennlich sind. Vor Gericht zählt nur, was auf dem Papier steht, und ich hoffe, dass diese doch sehr begrenzte Weltanschauung heute nicht endgültig unser aller Schicksal besiegeln wird. »Es muss alles gut werden.«

Richter Waldegrave räuspert sich, und Ellie drückt meine Hand so fest, dass ich die Knöchel knacken höre. Caleb legt Roan die Hand auf die Schulter, Damian krallt sich in seinen Unterarm, und ich versuche, einfach weiter zu atmen.

»Oh Gott.« Ellie kneift die Augen zusammen und senkt den Kopf. »Bitte, bitte, bitte, bitte.«

Die Stimme des Richters erklingt, aber ich höre ihm kaum zu, während er in eine Rede verfällt, welche an die fünfzehn Minuten andauert und für alle Anwesenden die bisherigen Geschehnisse in diesem Fall wiederholt. An wie vielen Gerichten wir gewonnen haben. An wie vielen wir gescheitert sind. Die Umstände der Vertragsauflösung. Die vorgelegten Beweise von beiden Seiten bezüglich Urheberrechts, Sachenrechts und Arbeitsrechts.

Ich habe diese Zusammenfassung unzählige Male gehört.

Ich war ein Teil von ihr, habe keine Urteilsverkündung ausgelassen, und zeitgleich versucht, unser neues Label finanziell mit unzähligen Jobs für Magazine, Modenschauen und Veranstaltungen über Wasser zu halten, so wie alle anderen auch, die Caleb gefolgt sind und jeden Penny und jede Minute damit zugebracht haben Two Lines Entertainment an den Start zu bringen. Wir alle haben Blut, Schweiß und Tränen investiert. Haben Entbehrungen in Kauf und Verluste hingenommen. Alles für diesen einen Traum, der uns verbindet. Jetzt zu erfahren, ob die durchgelaufenen Schuhe, die zerbrochenen Make-up-Paletten und die schlaflosen Nächte der letzten eineinhalb Jahre für die Katz waren, dafür bin ich nicht bereit.

Aber wenn ich eins gelernt habe, dann, dass das Leben niemals darauf wartet, ob man bereit dafür ist. Es beginnt genauso plötzlich wie es endet.

Und alles, was man tun kann, ist, zu leben.

»In Anbetracht all der vorgebrachten Beweise und unter Berücksichtigung der in diesem Fall bisher gefällten Urteile, kommt dieses hohe Gericht zu dem Schluss, dass die Forderungen von Jonathan Quill, vertreten durch Quill Music Publishing, gegenüber Damian Lewis und Roan Webb, vertreten durch Two Lines Entertainment, unrechtmäßig sind. Die Gutachten der Gegenseite, die belegen, dass die Arbeitsverträge von Mr Lewis und Mr Webb in einigen Punkten rechtswidrig gewesen sind, zusammen mit dem Umstand, dass die vertraglich festgelegte Strafsumme bei Auflösung des Arbeitsvertrags bereits in voller Höhe entrichtet wurde, bekräftigt dieses Gericht in seiner Entscheidung, weitere Forderungen von Mr Quill als nichtig einzustufen. Das hohe Gericht fordert Mr Quill mit sofortiger Wirkung dazu auf, die Konten der Gegenseite frei- und alle umfassenden Rechte an Mr Lewis und Mr Webb zurückzugeben. Die bisher nicht gezahlten Gewinne sind in voller Höhe an Mr Lewis und Mr Webb auszuschütten. Die Gerichtskosten werden von Mr Quill getragen. Die Gerichtsverhandlung wird mit dieser Urteilsverkündung geschlossen.«

Stille folgt den nüchtern vorgetragenen Worten. Das Klicken der Kameras verebbt wie ein Rinnsal, bevor es ganz verstummt.

Und dann bricht das reinste Chaos aus.

Laute, empörte Rufe von der Gegenseite erklingen. Reporter versuchen, sich aneinander vorbei nach vorne zu drängeln. Das Gericht weist alle mit drohender Stimme an, wieder zur Ruhe zu kommen, leider absolut erfolglos.

Doch alles, was ich höre, ist die dröhnende Stille meiner besten Freunde, die noch immer auf ihren Plätzen sitzen.

Eingefroren. Regungslos. Stumm.

Achtzehn Monate. Achtzehn Monate haben wir gekämpft, gebangt und gehofft.

Und jetzt? Jetzt ist es endlich vorbei.

Ellie neben mir stößt einen Laut irgendwo zwischen freudigem Quietschen und überwältigtem Schluchzen aus, und auch in mir tobt ein Sturm, den ich kaum zu bändigen weiß.

Caleb ist der Erste, der sich rührt. Seine Hand auf Roans Schulter krampft sich so fest zusammen, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Damian sackt nach vorn, die Stirn auf Roans Unterarm gelegt, der noch immer stocksteif dasitzt. Sorge macht sich in mir breit, meine Beine kribbeln, wollen mich sofort zu ihm tragen, damit ich mich versichern kann, dass es ihm gut geht. Doch dann endlich kehrt Leben in seinen Körper zurück, und sein Kopf fällt in den Nacken, die langen Strähnen gleichen einem Wasserfall aus nachtschwarzer Dunkelheit, und ich glaube, unter den Lampen im Gerichtssaal ein kristallenes Glitzern in seinen eisblauen Augen zu erkennen.

Wir haben es geschafft. Wir haben es tatsächlich geschafft.

Die letzte Schlacht. Wir haben sie geschlagen und gewonnen.

Wir sind endlich frei.

Es ist dieser Gedanke, der meine Welt dazu bringt, sich wieder zu drehen. Die Gerichtshelfer drängen die Reporter zurück, und einige werden des Raumes verwiesen, während der Richter ein letztes Mal das Urteil zu Protokoll gibt. Ich höre ihm gebannt zu, um nicht den Moment zu verpassen, in dem wirklich alles rechtskräftig wird. Bevor Richter Waldegrave den Saal verlässt, werden wir dazu aufgefordert, uns zu erheben. Mit angehaltenem Atem verharre ich, Ellies Nägel tief in meinem Unterarm, als wir darauf warten, dass die Tür hinter ihm endlich ins Schloss fällt.

Diesmal sind die Gerichtshelfer auf das Chaos vorbereitet, das folgt, und bilden eine unbeugsame Linie aus Körpern, die niemand zu durchbrechen vermag. Alles in mir fleht mich an, es zu probieren, mich trotzdem durch die Flut an Reportern hindurchzuschlängeln, um irgendwie zu den drei Männern zu gelangen, die mir die Welt bedeuten. Aber ich weiß, dass es besser und vor allem sicherer ist, zu warten, bis die Traube sich aufgelöst hat. So wie dort vorne geschubst und gezerrt wird, würden Ellie und ich bestenfalls blaue Flecken und im schlimmsten Fall ernsthafte Verletzungen davontragen, wenn wir es auf einen Versuch ankommen lassen würden. Und das kann und will ich nicht riskieren. Nicht jetzt, wo wir endlich wieder unser Leben zurückbekommen haben und gewiss unzählige Termine auf uns warten, denen ich jetzt schon entgegenfiebere.

Roan und Damian können endlich wieder Parallel sein. Diesmal sogar genauso, wie sie es sich immer gewünscht haben. Davon will ich nicht einen einzigen Augenblick verpassen.

Meine Smartwatch vibriert, und ich werfe einen Blick darauf. Die Vorschau auf dem kleinen Bildschirm ist winzig, es reicht jedoch, um die Emoticons darauf zu erkennen, und ich spähe in Roans Richtung. Wie er es geschafft hat, bei all der Aufregung um ihn diese Nachricht zu schreiben, ist mir schleierhaft, dankbar bin ich ihm aber trotzdem.

 : 20  5

Damit Ellie auch Bescheid weiß, halte ich ihr meine Uhr mit der Emoji-Abfolge unter die Nase, doch sie runzelt verständnislos die Stirn. »Uhm … okay?«

»Eine Nachricht von Roan. Pressekonferenz in zwanzig Minuten. Treffen uns in fünf Minuten an den Toiletten für eventuelle Touch-ups«, übersetze ich, was für mich nach jahrelanger Übung glasklar ist. Es ist wie ein Code, den nur wir beide verstehen, und allein das macht es zu meiner liebsten Form der Kommunikation zwischen uns, auch wenn die selten getauschten und meist mit verschlafener Stimme geflüsterten Sprachnachrichten, die wir nur ganz selten hin und her senden, ganz dicht dahinter kommen. »Lass uns verschwinden.«

Ich gebe Ellie keine Gelegenheit, noch großartig nach Caleb zu rufen, sondern schnappe mir ihre Hand und sehe zu, dass wir uns unbemerkt davonmachen. Je weniger Leute von uns Notiz nehmen, desto besser.

Der Korridor vor dem Gerichtssaal, in dem noch immer helle Aufregung herrscht, ist gespenstisch leer, und Ellies Turnschuhe machen dieses grässlich quietschende Geräusch, als ich sie über den hellen Marmor in Richtung der letzten Toiletten auf dem langen Flur ziehe. Caleb wird gewiss nicht so dumm sein, Damian und Roan dorthin zu manövrieren, wo es vor Reportern nur so wimmeln wird. An meinem Ziel angekommen lasse ich Ellie los, stoße beherzt die Türen zum Herren-WC auf und spähe hinein.

Keine Menschenseele zu sehen. Perfekt.

»Ich winke die Jungs ran und stehe Schmiere.« Ellie klingt so ernst wie Alistair, der nervenstarke Schotte, den Caleb letztes Jahr als Sicherheitschef eingestellt hat, und der jetzt gerade mit seinem Team in der Vorhalle des Gerichts auf uns wartet. »Ihre Outfits kann ich auch auf dem Weg nach unten richten.«

»Danke, Ellie.«

»Kein Problem.«

Kurz zögere ich, bitte sie aber dann doch um einen weiteren Gefallen. »Kannst du sie mir nacheinander reinschicken? Erst Damian, dann Roan?«

»Natürlich.« Das liebe ich so an Ellie. Sie stellt keine unnötigen Fragen. Stattdessen vertraut sie mir einfach, und allein das macht es mir so leicht, mit ihr befreundet zu sein. Das und die Tatsache, dass Ellie nun mal einfach Ellie ist.

Ich husche in die Herrentoilette hinein und ignoriere den beißend-chemischen Geruch von Reinigungsmitteln, der mich in der Nase kitzelt. Die in die Jahre gekommenen roten Fliesen sind zwar nicht optimal, weil sie das Licht im Raum völlig verzerren, aber ich habe schon unter deutlich schlechteren Bedingungen Touch-ups gemacht, weshalb ich unbeeindruckt ein Desinfektionstuch hervorziehe und damit den Waschtisch säubere, bevor ich aus meinen Manteltaschen mein begrenztes Arsenal an Schminkutensilien zutage fördere. Der Mann vom Sicherheitsdienst hat reichlich sparsam geguckt, als ich in der Vorhalle meine Taschen geleert habe, um durch den Körperscanner zu gehen.

Ich verteile alles auf der Oberfläche des Waschtisches und kontrolliere die wichtigsten Utensilien meiner kleinen Auswahl, bevor Damian und Roan ankommen.

Cushion Foundation und Concealer in beiden Hauttönen? Check. Farbloser Lippenpflegestift für Damian und der leicht getönte für Roan? Check. Blotting Paper für Damian? Check. Eyeliner für Roan und Wattestäbchen, weil meine Hände heute garantiert etwas flatteriger sind als sonst? Check.

Ich schäle mich aus meinem dunkelgrünen Mantel und hänge ihn über eine der Kabinentüren. Dann kremple ich die Ärmel meines zweifarbigen, kurzen Cardigans hoch, damit ich mein neues Lieblingsteil nicht versaue, desinfiziere mir die Hände und warte.

Die Ruhe vor dem Sturm genieße ich, denn auch wenn ich es kaum erwarten kann, meinen beiden engsten Freunden zu diesem Sieg zu gratulieren, weiß ich auch, wie wenig Zeit mir bleibt, um ihr Make-up aufzufrischen. Es wäre bedeutend leichter, wenn wir schon jetzt einen neuen Make-up-Artist für Damian hätten, aber die fängt erst nächste Woche an. Seit Brian uns alle letztes Jahr in Mailand verraten und ans Messer geliefert hat und unsere finanziellen Mittel seitdem sehr begrenzt waren, war das eine Ausgabe, auf die wir bisher verzichtet haben. Zum Glück habe ich, in einem Anflug ungerechtfertigten Optimismus, für den ich Ellie und den ganzen Rotwein, mit dem sie regelmäßig vor meine Tür aufkreuzt, verantwortlich mache, Caleb davon überzeugen können, schon vor dem endgültigen Urteil jemand Neuen einzustellen. Denn so sehr ich Damian auch liebe, für beide gleichzeitig kann ich nicht zuständig sein. Nicht mit der Fülle an Terminen, die gewiss auf uns wartet. Und Roan zu vernachlässigen oder ihn gar zu verlassen, ist keine Option.

Weder jetzt noch sonst irgendwann.

Ich schließe die Augen und atme noch ein paarmal tief ein und aus, um mich zu erden. Bereit bin ich trotzdem nicht, als die Tür zur Herrentoilette auffliegt und Damian mit ausgebreiteten Armen arrogant federnden Schrittes hineinstürzt. Seine Augen sind rot gerändert, aber seine Wangen sind trocken. Er legt ein kleines Schultertänzchen hin.

»Gott, Mia, hast du das Gesicht von diesen Lackaffen gesehen, als der Richter das Urteil verkündet hat?« Damian kommt auf mich zu, legt mir die Hände an die Wangen und drückt mir einen fetten Schmatzer auf die Stirn, was mir ein Lachen entlockt.

»Natürlich nicht, du Schlauberger.« Ich umfasse sein Kinn und wende sein Gesicht dem spärlichen Deckenlicht zu, um zu prüfen, wo ich nacharbeiten muss. Keine Tränenspuren, nur ein bisschen verlaufener Mascara an den Augenwinkeln und wie immer zu dieser Jahreszeit trockene Lippen. »Die saßen mit dem Rücken zu mir.«

»Schade. Ich schwöre dir, das war fast noch besser als das eigentliche Urteil.« Ohne zu mucken lässt Damian sich von mir zum Waschtisch manövrieren, wo ich ihm sofort mit dem Blotting Paper zu Leibe rücke, weil seine T-Zone schon wieder so sehr glänzt. Vielleicht sollte ich seine Gesichtspflege doch noch mal genauer unter die Lupe nehmen. Offensichtlich ist da etwas durch den ganzen Stress der letzten Monate deutlich aus dem Gleichgewicht geraten, auch wenn die T-Zone schon immer Damians Schwachstelle war. »Besonders Tobias. Diese schmierige Schlange ist leichenblass geworden. Sieht so aus, als würde da jemandem endlich mal der Arsch auf Grundeis gehen.«

»Er wird sich aus dieser Nummer genauso rauswinden wie aus allem anderen auch.« Der überschüssige Talg auf Damians Gesicht verschwindet unter der dünnen Schicht Puder aus dem Blotting Paper innerhalb von wenigen Sekunden, und ich drücke Damian den Lippenpflegestift in die Hand, den er großzügig aufträgt, während ich die verlaufene Mascara mit einem Wattestäbchen beseitige. »Aber was mit ihm passiert, kann uns ganz gleich sein. Wir müssen ihn niemals wiedersehen.«

Damian nickt, den Mundwinkel zu einem süffisanten Grinsen verzogen. »Das ist auch besser für ihn.«

»Mach mal halblang, Rambo. Unsere Anwälte haben sich wirklich eine Pause verdient und können sich nicht schon wieder mit einer außergerichtlichen Einigung zwischen euch beiden befassen.«

»Ich weiß, ich weiß. Himmel, manchmal bist du genauso eine Spaßbremse wie Roan.« Damian gibt mir den Pflegestift zurück, als ich den letzten Rest verirrter Wimperntusche entfernt habe, und wendet sich dem Spiegel zu, sobald ich es ihm mit einem bestätigenden Nicken erlaube. Vorsichtig fahren seine Finger durch sein honigblondes Haar, das er hat wachsen lassen. Es ist nicht annähernd so lang wie Roans, aber lang genug, dass es sich um seine Ohren ein wenig kräuselt. Sein Blick trifft meinen in der Reflexion des Spiegels, und in ihm liegt dieses Funkeln, das jeden im Umkreis von zehn Fuß wissen lässt, dass er es faustdick hinter den Ohren hat. »Es war zwar zum Kotzen, ihm Geld in den Rachen schieben zu müssen, aber der Kinnhaken in Mailand war es mir allemal wert.«

»Und mir erst.« Familiär klopfe ich dem Mann auf die Schulter, der schon seit dem Sandkasten wie ein kleiner Bruder für mich ist. »Ihr habt es wirklich geschafft, Dee.« Verräterisch glänzt es in seinen haselnussbraunen Augen, und als er sie diesmal niederschlägt, lasse ich ihn. Momente großer Emotionen waren ihm schon immer unangenehm, und egal wie oft ich auch versucht habe, ihm zu vermitteln, dass es auch als Mann vollkommen okay ist, Gefühle zu zeigen, ist das ein Kampf gegen die Übermacht der Worte seines Vaters, den weder Roan noch Cal oder ich je gewinnen konnten. »Bereit, dich den Wölfen zu stellen?«

Damian braucht einen Augenblick für seine Antwort, aber dann hebt er endlich den Kopf. »Aber sicher. Soll ich dir Roan reinschicken?«

»Sehr gern.« Kurz überlege ich, Damian einmal fest zu umarmen, doch seine noch immer feucht glänzenden Augen halten mich davon ab. »Bis gleich, Dee.«

Er geht, die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt. An der Tür nickt er mir noch mal zu und tritt dann raus auf den Flur. Erneut desinfiziere ich mir die Hände, die jetzt tatsächlich ein wenig zittern, mein Blick ist starr auf die Tür gerichtet.

Diesmal fliegt sie nicht auf. Sie wird sanft geöffnet. Langsam und bedächtig. Und noch bevor ich den ersten Hauch von Mitternachtsschwarz entdecken kann, setzen meine Beine sich ganz von selbst in Bewegung. Meine Sicht verschwimmt, und den Bruchteil einer Sekunde später finde ich mich in einer innigen und sicheren Umarmung wieder. Ich lasse den Tränen jetzt freien Lauf, hatte nicht mal registriert, dass ich sie die ganze Zeit zurückgehalten habe. Schluchzend schlinge ich die Arme um Roans Schultern, sein Geruch nach Meersalz und Holz empfangen mich wie eine willkommene Erinnerung an den Ort, den wir beide Heimat nennen. Er vergräbt sein Gesicht an meinem Hals, und ich fahre mit einer Hand in seine seidigen, schulterlangen, schwarzen Strähnen, die ich über die Jahre schon so oft zwischen meinen Fingern gespürt habe. Er hält mich ganz fest, seine muskulösen Arme sind eng um meine weiche Mitte geschlungen. Tränen tropfen auf mein Schlüsselbein, und ich wiege uns sanft hin und her, um uns beide damit zu beruhigen und zu erden, in diesem Augenblick, in dem unsere Gefühle uns gänzlich zu überwältigen drohen.

»Ihr habt es geschafft. Ihr habt es tatsächlich endlich geschafft, Roan.«

»Nein.« Roans Hand klammert sich in meinen Cardigan. »Wir haben es geschafft, Mia. Wir.«

»Ja, das haben wir wohl«, presse ich, an dem großen Kloß in meinem Hals vorbei, hervor. Ich weiß, was die letzten Monate ihm abverlangt haben. Weiß, wie hart es für ihn war, nur Roan und nicht Roan von Parallel zu sein. Wie die aufgezwungene räumliche Trennung von seinen Fans ihn beinahe in die Dunkelheit seiner eigenen Gedanken getrieben hat. Wie die Ungewissheit an ihm genagt hat. Aber er hat durchgehalten, bis zu diesem Tag, und mein Herz quillt beinahe über, als ich an den kleinen verängstigten Jungen von damals denken muss, der zusammengekauert in der Gartenhütte seiner Eltern gehockt hat, wann immer ihm das Leben zu viel wurde. Dieser Junge ist nur noch eine Erinnerung, ein Schatten des Mannes, den ich jetzt gerade im Arm halte, und der, trotz all seiner eigenen Sorgen, dennoch gesehen hat, was auch ich für diesen Traum, für unseren Traum, geopfert habe. »Ich bin so unfassbar stolz auf dich.«

Sein Atem stockt. Wie das Flattern eines Schmetterlings fühle ich es auf meiner Haut, als er zittrig ein- und wieder ausatmet. Seine Stimme ist noch rauer als sonst, als er flüsternd antwortet: »Danke. Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet.«

Doch, das weiß ich. Weil ich Roan kenne. Weil ich ihn besser kenne als mich selbst. Aber davon sage ich kein Wort, lasse meine Tränen einfach weiterkullern, bis ein lautes Klopfen an der Tür uns beide aus diesem Moment herausreißt.

»Noch fünf Minuten«, lässt Caleb uns wissen, und ich löse mich gerade genug von Roan, um ihm in seine eisblauen Augen zu sehen. Sein Eyeliner ist verschmiert. Seine Tränen haben dünne Rinnsale in seiner Foundation hinterlassen. Fünf Minuten werden eine Herausforderung, aber keine, der ich nicht gewachsen bin.

Widerwillig lässt Roan mich los, seine Fingerspitzen fahren zögerlich den Rand meines Cardigans entlang. Doch dann tritt er einen Schritt zurück und geht zum Waschtisch, schiebt mein Arsenal darauf ein bisschen zusammen. Er setzt sich auf die freie Fläche, die langen Beine locker gespreizt, die in der dunkelroten Anzughose endlos aussehen, und zwischen die ich trete, um mit meiner Arbeit loszulegen, die damit beginnt, den verlaufenen Eyeliner zu entfernen.

»Fünf Minuten sind nicht viel«, murmelt er leise, während ich mit der Cushion Foundation und dem Concealer die Tränenspuren verschwinden lasse.

»Das stimmt«, antworte ich genauso leise in den geringen Raum zwischen uns, in dem es sicher, vertraut und komfortabel ist. Ich verweile einen Moment zu lange dort, denn Roans Gesicht ist auch nach Jahren noch unfassbar faszinierend für mich. Es ist eine Komposition aus harschen Linien und weichen Rundungen. Seine Wangenknochen und sein Kiefer stechen messerscharf hervor, seine Lippen und der Schwung seiner Nase hingegen weichen die Härte auf. Seine Augen sind ein Mix aus beidem – ihre Farbe und die inneren Ecken wirken kühl in ihrer Unnahbarkeit, doch die langen Wimpern und die runderen Außenkanten einladend. »Aber wir haben schon ganz andere Sachen zusammen hinbekommen, oder?«

Welche Erinnerung auch immer meine Worte heraufbeschwören, sie bringt Roan zum Lächeln, und ich kann nicht anders, als es direkt zu spiegeln, ein Automatismus, geboren aus all meinen Jahren an seiner Seite, in denen sein Glück, seine Euphorie und seine Träume auch die meinen waren.

»Was?«, frage ich schmunzelnd und wechsle von der Foundation zum Eyeliner, ich bin heilfroh, dass ich ihn doch noch geholt habe.

»Weißt du noch, damals im Lion Pub?«

»Den, den es nicht mehr gibt? Wo jetzt dieses vegane Restaurant drin ist, bei dem wir vor drei Wochen was bestellt haben?«

Roan nickt und schließt die Augen, mit einem Mal völlig regungslos, während er mit leiser Stimme Erinnerungen zurück an die Oberfläche holt. »So ein Typ hat mir in der U-Bahn die Gitarre geklaut, und wir haben ihm nachgesetzt, bis wir sie wiederhatten. Du musstest dann innerhalb von wenigen Minuten einen Look aus dem Hut zaubern.«

»Ich hab dir damals ja gesagt, dass du dein Auto nicht verkaufen sollst, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.« Ich lache ob der Erinnerung, die heute amüsant, aber damals einer echten Krise glich. »Es war einer meiner besten Looks. Dabei habe ich bei der Verfolgungsjagd über die Hälfte meiner Sachen verloren, weil mein Rucksack einen Riss hatte, von dem keiner was wusste.«

»Ich weiß noch, wie du das Ding damals wütend in den nächstbesten Mülleimer gefeuert hast, sobald der Gig vorbei war.«

»Und ich weiß noch, wie du mir kurz darauf von der Gage des Abends mein erstes professionelles Case gekauft hast.« Ich ziehe den letzten Strich des Eyeliners mit sicherer Hand, die nicht länger überwältigt zittert. Ein bisschen mit dem Wattestäbchen nacharbeiten muss ich trotzdem.

»Es war jeden Penny wert.« Roan öffnet die Augen, genauestens gewöhnt an die Zeit, die der Eyeliner braucht, um zu trocknen. Er sieht nach oben, als ich nach der Wimperntusche greife. »Den hast du auch echt lange benutzt, oder?«

»Ja. Fast fünf Jahre.« Und er steht noch immer bei mir zu Hause, abgeranzt und unbrauchbar, aber für mich ein wichtiges Erinnerungsstück, das ich nicht aufzugeben gewillt bin, obwohl mein Zimmer in der WG aus allen Nähten platzt. Schon eine Weile will ich mir etwas Eigenes suchen, aber in den letzten anderthalb Jahren blieb dafür einfach keine Zeit. »Es war der beste, den ich je hatte.«

Er räuspert sich und nimmt von mir den Lippenpflegestift entgegen, mit dem er routiniert die Farbe auffrischt. »Fertig?«

»Fertig«, bestätige ich und trete einen großen Schritt zurück, damit Roan vom Waschtisch hüpfen und sich im Spiegel betrachten kann, während ich alles zusammenpacke. Roan reicht mir meinen Mantel, in den ich sogleich schlüpfe und mein Touch-up-Arsenal nachlässig in die Seitentaschen zurückstopfe. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass Roan an der Tür auf mich wartet. Er starrt das dunkle Holz an, als wäre es sein schlimmster Feind. »Bereit?«

Roan schüttelt mit ernster Miene den Kopf. »Nein.« Von der Seite her sieht er mich an und hält mir seine Hand hin, die ich, ohne zu zögern, ergreife, um sie ein letztes Mal zu drücken. »Lass mich nicht allein, okay?«

»Niemals.«

3. KAPITEL

Roan

»Google mal bitte, wie man die Definition des Wortes tanzen im Lexikon ändern lassen kann. Ich bin mir nämlich nicht so sicher, ob die noch aktuell ist, wenn ich mir das so anschaue.«

Damian recht zu geben, kommt außerhalb unseres Tonstudios ziemlich selten vor, einfach weil er so ein Vollpfosten ist. Diesmal aber muss ich ihm zustimmen, während meine Augen im Halbdunkel des Clubs auf unser Team gerichtet sind, das die Tanzfläche des schicken Szene-Clubs unsicher macht. Von der Galerie aus, in dem der VIP-Bereich liegt, der durch eine Treppe und von Mitgliedern unseres Sicherheitsteams abgeschirmt wird, ist es leicht, unser Team von Two Lines Entertainment unter all den anderen Tanzwütigen auszumachen. Aber selbst wenn ich mich mitten in diesem Gedränge befinden würde, wäre es unmöglich, die Gruppe nicht zu bemerken. Denn sie folgt nicht dem Takt der Musik, sondern stattdessen dem von Ellie, die sich wie immer kopfüber ins Chaos gestürzt hat und wild mit dem Armen rudernd zu irgendeinem Pop-Song tanzt. Mia ist direkt neben ihr, längst gewöhnt an die Eigenarten der Frau, die Caleb liebevoll kleiner Wirbelwind nennt. Sie weicht den unkontrolliert umherfliegenden Extremitäten elegant aus, auf ihren vollen, roten Lippen liegt ein Lächeln, von dem ich weiß, dass es ihr Grübchen auf den Plan ruft, auch wenn ich es von hier aus nicht sehen kann. Ihren Mantel und den Cardigan hat sie ausgezogen, bewegt sich nur noch in einer am Bein ausgestellten, schwarzen Hose mit Bügelfalte und einem weißen Top, das sich eng an ihre Kurven schmiegt, zur Musik.

Als würde sie meinen Blick spüren, sieht Mia sich plötzlich suchend um. Sofort lehne ich meine Unterarme auf das Geländer und zeige mich im Scheinwerferlicht, damit sie mich sehen kann.

Unsere Blicke begegnen sich, und ich proste ihr mit meinem Whiskyglas zu, in dem kaum noch ein Tropfen der braunen Flüssigkeit übrig ist, der Alkohol längst von den Eiswürfeln verwässert, die so gut wie geschmolzen sind. Überschwänglich winkt sie mir zu, und ich kann nicht anders, als grinsend zurückzuwinken. Diesmal entdecke ich das Grübchen, als der Scheinwerfer sie trifft und in gleißendes Licht taucht. So als bräuchte sie ernsthaft Hilfe dabei, zu strahlen. So als wäre sie nicht selbst personifiziertes Licht und Wärme, die sich auch in mir ausbreitet, je länger ich sie betrachte.