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»Wenn wir nicht aufpassen, können wir uns am Ende noch leiden.«
»Sorry, Braveheart, aber in diesem Leben nicht mehr.«
Modedesignerin Veronica Edevane droht alles zu verlieren, als Rapper Damian Lewis ihre neue Kollektion in einem Interview als uninspiriert und konventionell beschreibt. Ein paar gemeinsam entworfene Designerstücke sollen Schadensbegrenzung betreiben, doch Roni hat wenig Lust, sich mit dem selbstverliebten Bad Boy und seiner großen Klappe herumzuschlagen. Damian wiederum weigert sich, für die Entwürfe einfach nur seinen Namen herzugeben, und so fliegen in Ronis Amsterdamer Atelier schon bald die Fetzen - und die Funken ...
»Mit der Geschichte von Veronica und Damian erzählt Kara Atkin authentisch und berührend von wahrer Freundschaft, dem Glauben an sich selbst und der Bedeutung aufrichtiger Liebe. THE FINISHING TOUCH zeigt, welche Herausforderungen die Modebranche (insbesondere für Frauen) mit sich bringt und wie schwierig es dabei sein kann, für sich selbst und die eigenen Werte einzustehen.« BUECHERUNDKAFFEE
Band 3 der THE PERFECT FIT-Reihe von Kara Atkin
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Seitenzahl: 471
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Kara Atkin bei LYX
Impressum
KARA ATKIN
The Finishing Touch
Roman
Modedesignerin Veronica Edevane droht alles zu verlieren, als Rapper Damian Lewis ihre neue Kollektion in einem Interview mit dem Modemagazin Vogue als uninspiriert und konventionell beschreibt. Um die Wogen zwischen Parallel und ihrem wichtigen Kooperationspartner Studio Five zu glätten, werden Veronica und Damian dazu verdonnert, eine gemeinsame Modelinie zu entwerfen. Eine Aufgabe, die Damian ernster nimmt, als Veronica gedacht hätte: Statt den Designerstücken einfach nur seinen Namen zu verleihen und Veronica die Arbeit zu überlassen, muss sie sich in ihrem Amsterdamer Atelier plötzlich jeden Tag mit dem selbstverliebten Bad Boy und seiner großen Klappe herumschlagen. Dass Damian und sie sich während der Zusammenarbeit auch noch eine gemeinsame Wohnung über dem Atelier teilen, macht die ganze Angelegenheit nicht leichter. Bei jeder Begegnung fliegen zwischen ihnen die Fetzen – aber irgendwie liegt da auch dieses unerklärliche Knistern in der Luft, wann immer sie aneinandergeraten –, bis sie der Anziehungskraft nicht länger widerstehen können …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX Verlag & Kara Atkin
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle, die aus den Scherben ihrer Existenz tagtäglich versuchen, Regenbögen zu bauen.
Be with me always – take any form – drive me mad. Only do not leave me in this abyss, where I cannot find you!
Emily Brontë, Wuthering Heights
Dove Cameron – Breakfast
Eminem – Without Me
Taylor Swift – Vigilante Shit
Emei– Irresponsible
The Heavy – Big Bad Wolf
UPSAHL – People I Don’t Like
Halsey – Walls Could Talk
Måneskin – BABY SAID
Arctic Monkeys – Do I Wanna Know?
DPR IAN – So I Danced
Måneskin – OWN MY MIND
Jackson Wang – Dopamine
Taylor Swift – I Did Something Bad
The Technicolors – Tonight You Are Mine
Au/Ra – White Knuckles
Summer Walker – Riot
Måneskin – TIMEZONE
Teddy Swims – Lose Control
DEAN – DIE 4 YOU
Ruelle – The Other Side
Emperor – King – Ring – Living Thing
London, acht Wochen zuvor
Damian Lewis ist ein Arsch.
So viel ist nach weniger als fünf Sekunden klar.
Eigentlich bin ich jemand, der keine voreiligen Schlüsse zieht und allen eine faire Chance gibt. Bei dem auf der Couch fläzenden Rüpel, der sich nicht mal dazu herablässt, zur Begrüßung neuer Gäste aufzustehen, bin ich allerdings gewillt, eine Ausnahme zu machen.
Alles an dem Rapper von Parallel schreit Gottkomplex.
Mit weit gespreizten Beinen hockt er auf dem Sofa, unterzieht mich und meinen Boss Vincent de Haan einer desinteressierten Musterung, bevor er sich demonstrativ noch tiefer in die Polster sinken lässt, nur um zu zeigen, dass er absolut keinen Bock hat, sich mit uns herumzuschlagen, sondern lieber seine Ruhe hätte.
Ein Gefühl, das ich durchaus teile, denn auch ich wäre lieber zu Hause in Amsterdam, um die abschließenden Vorbereitungen für die Mailänder Fashion Week zu treffen, anstatt hier in London einen übellaunigen Promi zu umgarnen. Aber mein Boss hat mir unmissverständlich klargemacht, dass Damian Lewis fürs Label zu gewinnen, genauso Bedingung meiner Beförderung zum Creative Director ist wie positive Kritiken zur neuen Frühjahrskollektion.
Eine Kollektion, an die ich gerade dringend Hand anlegen sollte. Stattdessen stehe ich mit einer großen Schachtel und diversen Tüten bewaffnet in der Garderobe des erfolgreichsten Musik-Duos meiner Zeit und gebe vor, die unzähligen Geschenke anderer Designer nicht zu bemerken, die mir vor Augen führen, wie austauschbar wir alle sind. Die Boxen und Taschen türmen sich an der Wand zu meiner Linken auf, und ich bemühe mich inständig, nicht zu sehr über die Symbolik nachzusinnen, als eine freundlich dreinblickende Assistentin mir unsere Geschenke abnimmt, die zwischen all den anderen innerhalb weniger Sekunden einfach verschwinden. Als wäre es nicht schon erniedrigend genug gewesen, an der Seite von meinem Boss wie seine Assistenz mit dem Arm voller Geschenke vor der Garderobe mit all den anderen vierzig Minuten darauf zu warten, endlich an der Reihe zu sein, und nicht mal eines Blickes gewürdigt zu werden, als das ungleiche Duo mit seinem Tross nach dem Konzert an uns vorbeigeschwebt ist. Aber so ist das wohl, wenn einem die ganze Welt aus der Hand frisst.
Denn Parallel hält heute Hof, und all diejenigen, die sich ihnen untertan gemacht haben, sind hier, um Geschenke darzubringen.
Ich sehe mich um, in der Hoffnung, einem Gespräch mit dem Rapper zu entgehen, doch Roan, mit dem ich zumindest telefonisch schon ums eine oder andere Mal Kontakt hatte, ist nirgends zu entdecken. Meine Hände fühlen sich schwitzig an, und nur so gerade widerstehe ich dem Drang, sie an den Beinen meiner Hose abzuwischen. Hässliche Flecken hat die hübsche Marlene-Hose aus Satin beim besten Willen nicht verdient. Ganz abgesehen davon, will ich vor dem unverschämten Rapper-Prinzchen auf keinen Fall Schwäche zeigen. Nicht nur, weil mein Stolz es mir verbietet, in Unruhe zu geraten. Nein, auch weil ich glaube, dass Damian Lewis auf keinen Fall so unbeteiligt ist, wie er sich gibt, und wenn ich eins in meinen Jahren im Haifischbecken der Fashion-Welt gelernt habe, dann, dass es eben die scheinbar Desinteressierten sind, vor denen man sich besonders in Acht nehmen muss. Ein Tropfen Blut im Wasser, ein Moment der Schwäche, und sie zerreißen dich mit ihren rasiermesserscharfen Zähnen in den Untiefen der schwarzen See, wo nicht einmal mehr dein Blut auszumachen ist.
Ich stolpere einen Schritt nach vorn und stoße mir das Schienbein am Couchtisch an, als mein Boss mich unsanft vorwärtsschiebt und dabei, wie schon so oft, seine Körperstärke unterschätzt.
»Sorry«, flüstert Vincent, und seine Augen zucken in Richtung meines Schienbeins, ehe sie zurück zum Rapper schnellen, der uns genaustens beobachtet und dem er ein charmantes Lächeln zuwirft, dass die Augen meines Vorgesetzten sowie alten Freundes aber nicht erreicht. Er ist offensichtlich noch immer übellaunig wegen der langen Wartezeit, mit der er scheinbar nicht gerechnet hat, während die Tatsache, dass die Mitarbeitenden von Prada uns vorgezogen wurden, wohl an seiner Berufsehre kratzt. »Aber worauf wartest du denn? Stell uns endlich vor, statt Löcher in die Luft zu starren.«
Ich gebe mein Bestes, keinen Anstoß an Vincents Verhalten zu nehmen, immerhin weiß ich, wie aufgeregt er während des Konzerts auf seinem Platz hin- und hergerutscht ist. Der einzige Grund, warum wir hier sind, ist, Kontakte für ihn zu knüpfen. Kontakte, die er über mich aufbauen will, und die er hoffnungslos überschätzt, wenn er meint, dass ich jeden im Team Parallel kenne. Denn auch wenn ich immer mal wieder Kontakt zu Ellie und Roan habe, ist Damian Lewis auch für mich absolutes Neuland, von dem ich beim besten Willen nicht weiß, ob ich es überhaupt betreten will.
Seine haselnussbraunen Augen, die uns noch immer über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg mustern, sind plötzlich auf mich fixiert. Erschöpfung hat Linien um sie gezeichnet, und er wirkt blasser als auf den Fotos, die ich mir von ihm angesehen habe, doch ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ich deshalb weniger auf der Hut sein muss. Es hat gewiss einen Grund, warum sein Team der Couch, auf der er thront, zum Großteil fernbleibt. Nur ein junger Mann ist noch in seiner Nähe und serviert ihm gerade einen Tee mit einer Zitronenscheibe, ehe er sich auf die Armlehne des Sofas setzt und Damian prüfend anschaut. Eine tiefe Falte erscheint zwischen seinen Brauen, und er greift zwischen die Polster. Er fördert eine Flasche Sauerstoff hervor, hält allerdings sofort in der Bewegung inne, als Damian ihm einen warnenden Seitenblick zuwirft, den selbst ich bis ins Mark spüre, und lässt sie wieder sinken. In einem Magazin habe ich gelesen, das Künstler:innen gerade zum Auftakt einer Tour nach Konzerten manchmal wegen der Anstrengung und akuter Kurzatmigkeit Sauerstoff benötigen. Es ist ganz normal. Menschliche Limitierungen scheinen Damian jedoch gar nicht zu schmecken.
Krampfhaft bemühe ich mich um eine Begrüßungsfloskel, die mir zum Glück erspart bleibt, denn noch bevor ich Vincent oder mich vorstellen kann, ist der Raum erfüllt von Sonnenschein.
»Roni!«
»Ellie.« Erleichterung durchflutet mich, als mich meine alte Studienfreundin stürmisch in ihre Arme schließt, der ich die drei Aufträge für Roans Stage-Outfits sowie die Einladung zu diesem Eröffnungskonzert der restlos ausverkauften Welttournee von Parallel zu verdanken habe. Unaufgefordert hatte ich auch für Damian passende Entwürfe angefertigt, dazu aber nie etwas gehört. Keine Antwort ist bekanntermaßen auch eine Antwort. Dunkle Schatten liegen unter ihren Augen, und doch sieht sie glücklich und zufrieden aus. Schnell stelle ich ihr Vincent vor, und die beiden tauschen kurz etwas professionelles Geplänkel aus, ehe meine Freundin sich erwartungsvoll wieder mir zuwendet. Das wird Vincent überhaupt nicht gefallen. Ich ringe mir ein Lächeln ab und nehme die Konversation so locker wie möglich wieder auf. »Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«
»Gestresst, aber happy.« Sie drückt mich fest an sich, bevor sie mich wieder freigibt. »Die Outfits sahen unterm Licht genauso aus, wie ich mir das vorgestellt habe, und niemand war wegen eines Garderobenunfalls plötzlich nackt. Ein Erfolg auf ganzer Linie, würde ich sagen.« Sie kichert, der Laut ist irgendwo zwischen hysterisch erschöpft und ekstatisch erleichtert zu verorten. Vincent stimmt ein, es klingt allerdings recht hölzern. »Jetzt muss es nur noch den Rest der Tour so laufen, und alles ist fein.«
»Es sei denn, du wirfst in einem Anflug kreativen Wahnsinns plötzlich doch noch alles über den Haufen, kleiner Wirbelwind.« Caleb Lee, CEO von Two Lines Entertainment, Manager von Parallel und Partner von Ellie taucht neben uns auf und begrüßt mich mit einem üblich formellen Handschlag, der fest daherkommt und den ich ehrlich zu schätzen weiß, in einer Welt, in der man mich oft entweder ignoriert oder meine Finger so behutsam drückt, als wäre ich aus Glas. Vincent ist erst nach mir an der Reihe, und ich kann förmlich spüren, wie es in ihm brodelt. »Guten Abend, Miss Edevane und Mr de Haan. Es freut mich sehr, dass Sie unserer Einladung nachkommen konnten, obwohl Sie beide gewiss schwer beschäftigt sind.«
Zum Glück beiße ich mir rechtzeitig auf die Zunge, um nicht herauszuposaunen, dass ich nicht wirklich eine andere Wahl hatte. Als der schlicht schwarze Umschlag mit den Tickets ins Atelier flatterte und Vincent Wind davon bekam, waren Flüge und Hotel gebucht, bevor ich den beigelegten Brief zu Ende gelesen hatte. Und der bestand aus lediglich fünf Zeilen.
»Natürlich. Außerdem haben wir für die Einladung zu danken, Mr Lee. Wir wollten genauso sehen, ob unsere Arbeit sich ausgezahlt hat«, sagt Vincent, und obwohl wir alles als Team angehen, stört es mich, dass er hier von einem Uns spricht, da ich allein es gewesen bin, die sich ein Konzept überlegt und diesen Auftrag ausgeführt hat, für den er, wegen seiner eigenen Ambitionen, zu beschäftigt war.
»Das hat sie, wie ich finde.« Der muskulöse Hüne in dem maßgeschneiderten Anzug verzieht entschuldigend das Gesicht, als er in meine Richtung blickt. »Roan ist, glaube ich, gerade noch in einer Besprechung. Er war mit den Einstellungen seines Mikros nicht zu einhundert Prozent zufrieden. Aber Damian ist da. Ihr kennt euch noch nicht, oder?«
»Bisher hatten wir noch nicht das Vergnügen.« Faszinierend. Ich habe Damians Stimme die letzten Tage immer wieder gehört, während ich mich mit Interviews und Videoausschnitten auf diesen Termin vorbereitet habe. Sie ist auf angenehme Art und Weise rau und höher, als man von seinem draufgängerischen Äußeren erwarten würde. Alles in mir verspannt sich, und Damians leisem Lachen nach zu urteilen, ist ihm das bewusst. Er erhebt sich nicht, hält nur faul die Hand hin und erwartet mit dem Selbstverständnis eines privilegierten weißen Mannes, dass die Welt sich seinem Willen beugt. Vincent ignoriert er komplett, seine haselnussbraunen Augen sind ausschließlich auf mich gerichtet, und das Zucken um seine Mundwinkel lässt erahnen, dass er genau weiß, wie viel Ärger er mir damit einhandelt. »Damian Lewis. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Seine mangelnden Umgangsformen sollten mich nicht mehr überraschen, ich komme aber nicht umhin, mich dagegen zu sträuben. Denk dran, stößt du ihn vor den Kopf, kannst du deine Beförderung vergessen.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu und ergreife seine Hand mit einem Lächeln, das mir ernsthafte Schmerzen verursacht, so viel Anstrengung kostet es mich. Seine Haut ist warm, geradezu erhitzt, und mir stockt der Atem. Ein Schauer durchfährt mich von Kopf bis Fuß. Schnell ringe ich ihn nieder, auch wenn mein ganzer Arm prickelt, ausgehend von der Stelle, an der wir uns berühren. »Veronica Edevane, und das ist mein Boss, Vincent de Haan. Die Freude ist ganz auf unserer Seite.«
Vincent tritt vor, um sich selbst vorzustellen, doch Damian würdigt ihn keines Blickes, sondern hält einfach weiter meine Hand.
»Da bin ich mir sicher.« Sein Sarkasmus erstickt jeden aufkeimenden Gedanken, Damian mit seinem schalkhaften Grinsen, dem honigblonden Haar und der Sonnenbrille mit den grünen Gläsern etwas Attraktives anzudichten. »Aufstrebende Designerin?«
Etwas schwingt in seinem Ton mit, das mir gar nicht gefällt. Der Schauer wandelt sich von erhitzt und kribblig zu kalt und schneidend. Ich packe fester zu, was Damian nur mit einer gehobenen Augenbraue quittiert. »Angehende Creative Director bei Studio Five, wenn du es ganz genau wissen willst.«
»Creative Director. Soso.« Sein Haifisch-Grinsen wird breiter. »Und ich hab mich schon gefragt, warum eine Freundin von Ellie sich in die Reihen der katzbuckelnden Schleimer einfügt.«
Mir bleibt der Mund offenstehen. »Wie bitte?«
»Nichts.« Damian lässt meine Hand los und sackt tiefer in die Polster der Couch. Er linst zum Sauerstoff, greift aber nicht danach, sondern richtet seine volle Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Ich erwarte Großes von dir, Veronica. Nach deinen Entwürfen für mich ist da definitiv noch Luft nach oben.« Er legt die Füße auf dem Couchtisch vor sich ab. Sein Grinsen bleibt, aber es erreicht seine Augen nicht, und instinktiv weiß ich, dass die Erwartungen von Damian Lewis nicht leicht zu erfüllen sein werden. Nachlässig nickt er in Vincents Richtung, als Caleb sich geräuschvoll räuspert, straft meinen Boss aber sonst weiterhin mit Ignoranz. »Ich bin sehr gespannt, womit Studio Five für die nächste Frühjahrskollektion aufwarten wird.«
Ein eisiger Klumpen beklemmender Vorahnung überkommt mich. Meine Atmung wird flach. Ich will etwas Cleveres erwidern, doch dann nähern sich Schritte, und Damians intensiver Blick reißt sich von mir los, hin zu jemandem, für den das Haifisch-Grinsen etwas Weicherem und Wärmerem weicht.
»Alles geklärt, Bruder?«
»Ja, alles geklärt.« Roan Webb wendet sich mir zu, die Haare noch feucht vom Schweiß, und ein Frotteetuch um die Schultern gelegt, als er mir die Hand reicht. »Veronica? Es freut mich, dich endlich persönlich kennenzulernen.«
Ich brauche einen Moment, doch es ist Damians gehässiges Kichern, das mich zurück ins Hier und Jetzt holt. »Das kann ich nur zurückgeben, Roan. Glückwunsch zu einer gelungenen Show. Kennst du schon den CEO von Studio Five Vincent de Haan?«
Zehn Minuten und diverse schmeichelhaft belanglose Konversationen später sind Vincent und ich zurück auf dem Flur, und ich schaue unauffällig über die Schulter, in der Hoffnung, Ellie zum Abschied noch einmal zuwinken zu können. Stattdessen aber trifft mich hinter grünen Gläsern kaum verschleierte Gehässigkeit, als der Rapper die Stirn hat, mir mit seinem Tee zuzuprosten. Und als die Tür hinter uns zufällt und den nächsten Höfling verschlingt, wird mir klar, dass ich Damian Lewis absolut nicht ausstehen kann.
happiness – sappiness
Lissabon, heute
Perfektion bedeutet für jeden etwas anderes.
Meine Definition davon lässt Schweiß über meinen Rücken rinnen, Champagner aus meinen Haaren tropfen und meine Ohren dröhnen. Diese Form von Perfektion ist nicht raffiniert oder elegant, sondern laut und ungelenk, durchzogen von einer Klangfolge gerufener Glückwünsche, Atem raubenden Umarmungen und einer Unzahl von Küssen, die meine Wangen mit Lippenstift besudeln. Mein Blut summt, als ich die Flasche Champagner an meinen Mund hebe, meine Finger genauso klebrig wie die Süße des Erfolgs, den ich so klar auf meiner Zunge schmecken kann wie das überteuerte Blubberwasser, das ich mit großen Schlucken trinke.
»Mach mal langsam, Mann.« Calebs Lachen ist so laut, dass es das Rauschen in meinen Ohren übertönt, als er mir die Flasche abnimmt, nur um selbst einen großen Schluck daraus hinunterzustürzen. Wie er es in diesem stickigen Raum in seinem nassen Anzug aushält, weiß ich beim besten Willen nicht, auch wenn Caleb mit seiner gelockerten Krawatte und den drei offen stehenden Knöpfen seines Hemdes für seine Verhältnisse leger gekleidet ist. »Ich trag dich diesmal nicht ins Bett, wenn dir diese Blubberbrause wieder zu Kopf steigt.«
»Mitgefangen, mitgehangen, Bruder.« Fahrig wische ich mir mit dem Handrücken über den Mund und zeige meinem Manager und Freund den Mittelfinger, obwohl ich den Arm kaum noch heben kann, jetzt wo das Adrenalin langsam nachlässt. Jeder andere CEO wäre gewiss vor Empörung an seiner eigenen Spucke erstickt. In Calebs rauchblauen Augen jedoch liegt nur der Funke der Schadenfreude, welcher mich wissen lässt, dass er ganz besonders boshafte Methoden auffahren wird, wenn er morgen in mein Zimmer stürmt, um mich für unseren Rückflug nach London zu wecken. »Du weißt, dass ich das Zeug nicht vertrage, und kaufst es trotzdem jedes Mal wieder.«
»Schon klar, dass du das alles lieber mit Whisky begießen würdest«, sagt mein bester Freund und Bandkollege Roan begleitet von seinem typischen Glucksen. Sein schwarzes Haar fällt ihm über die Schultern und klebt strähnig an Wange und Kinn. Das aufwendige Bühnen-Make-up hat sich durch die Hitze und die Anstrengung der zweistündigen Show in Wohlgefallen aufgelöst. Dennoch sieht er rundum zufrieden aus, mit diesem breiten Grinsen im Gesicht, das sicherlich zu fünfzig Prozent von der ersten erfolgreich abgeschlossenen Etappe unserer Welttournee herrührt, und zur anderen Hälfte an seiner Freundin Mia liegt, um die er einen seiner tätowierten Arme geschlungen hat. Sie schmiegt sich eng an seine Seite und nimmt von Caleb die Flasche entgegen, die wir offensichtlich jetzt einfach alle teilen, weil man Grenzen in unserem Team eh vergeblich sucht. So ist das halt, wenn man mit seinen besten Freunden – mit seiner Familie – zusammenarbeitet.
Ein glückliches Funkeln liegt in Mias grünbraunen Augen, und anstatt als seine Make-up-Artist über ihre ruinierte Arbeit zu meckern, stößt sie lächelnd mit Ellie an, die meinen Kiefer nach einem weiteren geräuschvollen Schmatzer auf die Wange loslässt und ihre eigene Flasche so schwungvoll gegen die ihrer besten Freundin knallt, dass ich fürchte, gleich mitten in einem Scherbenmeer zu stehen. Mit Ellie sind solche Katastrophen regelrecht vorprogrammiert.
»Wäre doch mal eine Idee.« Die Garderobe ist zu klein fürs gesamte Team von Two Lines Entertainment, und doch drängen wir uns alle dicht aneinander, als wäre das hier das Ende der Welttournee und nicht nur das Ende der zweiundzwanzigsten Show, die das Schlusslicht unserer europäischen Tourstopps bildet. Wir geben schon ein amüsantes Bild ab. Ein Haufen schweißklebriger, völlig erschöpfter Erwachsener, eng zusammengepfercht wie Pinguine am Südpol, obwohl die Klimaanlage der Garderobe der Julihitze in Lissabon sowie der Körperwärme von über zwanzig Personen nichts entgegenzusetzen hat. Noch dazu ist jeder Einzelne von uns patschnass. Im Chaos direkt nach der Show habe ich den Überblick darüber verloren, aus wie vielen Flaschen es Champagner geregnet hat, aber so wie wir alle aussehen, würden wir auf dem Siegerehrungspodium der Formel Eins nicht weiter auffallen. Euphorie liegt in der Luft, was entweder daran liegt, dass bisher alle aufkommenden Probleme im Keim erstickt werden konnten, oder aber daran, dass wir alle jetzt erst mal zwei Wochen Urlaub haben, bevor es für uns weiter in die USA geht. Ein Luxus, den wir uns nur erlauben können, weil Caleb sich weigert, uns zu verheizen, und auch weil wir so beschissen viel Equipment brauchen, dass der Transport zwischen den vier Zonen der Tour – Europa, Nord- und Südamerika, Ozeanien und Asien – mehr Zeit und Sorgfalt erfordert als sonst schon immer, und niemand riskieren will, einen Fehler zu machen, jetzt wo wir als Two Lines Entertainment solo fliegen. »Wäre auf jeden Fall deutlich weniger klebrig.«
»Wo er recht hat.« Ellie wirft Caleb eine Kusshand zu, als er sie wegen ihres Zuspruchs missbilligend anblickt. An das Funkeln des obszön großen Klunkers, den Caleb ihr nach unserem Konzert in Mailand neulich an den Ringfinger gesteckt hat, werde ich mich wohl nie gewöhnen. »Ich meine, Kopfschmerzen haben wir ja eh alle am nächsten Tag. Und wer weiß, vielleicht bringt es ja Glück, mit der Tradition zu brechen.«
»Wenigstens eine, die mich hier zwischen all diesen Langweilern versteht.« Ich stupse Ellie mit der Schulter an, die nur noch mehr kichert, als ihr Verlobter übertrieben mit den Augen rollt, stets bemüht, den strengen Kerl zu mimen, der doch immer beim ersten Wimpernklimpern seiner zukünftigen Frau einknickt. »Genau deshalb bist du meine Lieblingsschwägerin.«
Mia grinst, ihre Grübchen sind deutlich zu sehen, welche die Kameras des Social-Media-Teams mit einem Klicken einfangen. »Das sagst du nur, weil sie dir andauernd recht gibt.«
»Das sage ich, weil sie die Einzige von euch beiden ist, die meine Brillanz zu schätzen weiß.«
»Wird noch jemandem schwindlig von diesem grenzenlosen Maß der Selbstüberschätzung, oder geht es nur mir so?« So glücklich ich auch bin, dass Roan, nach allem, was, besonders in den Monaten vor der Welttournee, wegen dieser falschen Schlange von Reporterin Julie Presley, vorgefallen ist, langsam wieder ganz der Alte wird, seine spitze Zunge habe ich nur bedingt vermisst.
Der triumphale Fist-Bump, den er und Caleb teilen, setzt dem Ganzen echt die Krone auf. »Das Einzige, worin du brillant bist, ist, eine Nervensäge zu sein.«
»Auch das ist ein Talent, mein Freund.« Ich zucke die Achseln und lehne mit einem Kopfschütteln dankend ab, als Mia mir den Champagner erneut hinhält. Das letzte Mal, als ich es mit diesem blubbernden Teufelszeug übertrieben habe, hat Caleb mich wie einen Sack Kartoffeln über seine Schulter geworfen und aufs Zimmer getragen. Eine Erfahrung, die ich so schnell nicht wiederholen will. »Außerdem könnte Ellie recht haben. Mit Traditionen zu brechen hat uns immer schon Glück gebracht. Warum es nicht mit dieser auch noch probieren? Gott weiß, wir können es gebrauchen.«
Caleb wirft Ellie bei meinen Worten einen Blick zu, und wenn es nicht so niedlich wäre, wäre ich allen Ernstes versucht, ihm vor die Füße zu kotzen. Aber er hat diesen Moment der Rührseligkeit wohl verdient, wenn man bedenkt, was er mit der Gründung des Labels und mit dem Über-Bord-Werfen all seiner Regeln gewonnen hat. »Für Rio denk ich drüber nach.«
Ich überschlage grob die Tage bis zu unserer letzten Show in Südamerika und verziehe prompt das Gesicht. »Das ist erst Ende September.«
Mein Manager murrt lediglich ob meines herausragend vorgetragenen Protests. »Nimm, was du kriegen kannst, Giftzwerg.«
»Pass auf, wie du mit einem deiner zukünftigen Trauzeugen sprichst«, drohe ich, und Roan nickt bekräftigend.
Wenn ich Caleb nicht so gut kennen würde, würde ich ihm den gelangweilten Blick auf seine Uhr vielleicht abnehmen. Eine Uhr, die wir ihm vor über einem Jahrzehnt geschenkt haben und die er immer noch trägt. »Wer sagt, dass ich euch zwei zu meinen Trauzeugen mache, du Traumtänzer?«
»Weil wir wissen, dass du außer uns keine Freunde hast«, schießt Roan prompt zurück, und jetzt ist es an mir, ihm einen triumphalen Fist-Bump zu geben. Okay, vielleicht habe ich seine spitze Zunge doch ein bisschen vermisst.
»Was natürlich auf keinen Fall daran liegt, dass ich wegen euch beiden Experten eh keine Zeit für ein normales Leben habe.«
»Absolut nicht.« Ich tätschle Caleb die Wange, und er schnaubt wie ein Drache, der kurz davor ist, zu explodieren. Bingo. »Das liegt einzig und allein an deiner überaus reizenden Persönlichkeit.«
Mia und Ellie brechen in schallendes Gelächter aus, und Roans Schultern beben, während Caleb mich ansieht, als wolle er mich auf der Stelle ermorden, ohne etwas auf all die Zeugen um uns herum zu geben. »Du kannst es einfach nicht lassen, mir auf den Sack zu gehen, oder?«
»Absolut nicht. Es gehört zu meinen größten Hobbys.« Adrenalin oder Leichtsinn bringen mich dazu, wie Ellie mit den Wimpern zu klimpern und diesen nervtötend ahnungslosen Ton anzuschlagen, den Caleb so gern mag. »Fühlst du dich denn gar nicht geehrt?«
»Geehrt fühle ich mich erst, wenn ich am Ende deiner Memoiren als dein Mörder aufgelistet werde.«
»Wenn man dich erwischt, hast du aber einen lausigen Job gemacht.«
»Du bist wirklich so ein selbstgefälliges kleines Ar-«
»Na, na, na!« Nur um den Bogen wirklich zu überspannen, wackle ich oberlehrerhaft mit dem Zeigefinger und sehe genüsslich dabei zu, wie Caleb vor Wut rot anläuft. »Ich war die letzten Monate so ein braver Junge. Da willst du mir doch jetzt nicht Beleidigungen an den Kopf werfen, oder?«
»Sich sechs Monate lang wie ein vernünftiger Erwachsener zu benehmen, anstatt wie ein Schulhof-Rowdy ständig in Schwierigkeiten zu geraten, würde ich nun nicht als bahnbrechende Errungenschaft einstufen.« Ein hinterhältiges Glimmen tritt in Calebs rauchblaue Augen, und ich schaffe es leider nicht schnell genug, aus dem Weg zu springen, und finde mich den Bruchteil einer Sekunde später in Calebs Schwitzkasten wieder, was der Erfahrung, mit einer Boa Constrictor auf Tuchfühlung zu gehen, verdammt nahkommt. »Außerdem machen sechs Monate gutes Benehmen beim besten Willen nicht über ein Jahrzehnt stechender Kopfschmerzen wett.«
Obwohl ich weiß, was für ein sinnloses Unterfangen es ist, weil Caleb ungefähr zwanzig Kilo schwerer und ziemlich genau achtzehn Zentimeter größer ist als ich, gebe ich dennoch mein Bestes, mich aus meiner sehr misslichen Lage zu befreien. »Deine Wehwehchen sind nicht mein Problem, alter Mann.«
»Alter Mann?« Sein Griff wird noch fester. Überrascht schnappe ich nach Luft, was mir nur ein hämisches Lachen einbringt, für das ich mich bei nächster Gelegenheit revanchieren werde. »Ich bin nur zwei Jahre älter als du.«
»Dann hat die Faltencreme, die ich dir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt habe, wirklich nichts gebracht.«
»An deiner Stelle würde ich nicht so eine dicke Lippe riskieren.«
Roans schwarz lackierte Nägel schieben sich in mein Sichtfeld, als er unserem besten Freund auf den Unterarm tippt. »Du weißt doch, dass sein Schandmaul alles ist, was er hat, Cal. Also lass ihn los, bevor er noch ohnmächtig wird.«
»Wieso? Die fünf Minuten Funkstille wären doch ganz nett«, frotzelt Caleb, lässt mich aber los. »Ich sollte dir echt einen Personal Trainer besorgen. Obwohl, besser nicht. Sonst wirst du nur noch schwerer zu händeln.«
»Hey, du musst zugeben, dass ich ruhiger geworden bin.«
»Wofür ich dankbar bin. Aber Ruhe heißt von dir meist nichts Gutes.«
»Ich hab dich auch gern, du gewalttätiger Primitivling.« Als Dank für seine Rettungsaktion klopfe ich Roan auf die Schulter, der belustigt die Augen rollt, ehe ich mich ans Social-Media-Team wende und rufe: »Ich hoffe, ihr habt das alles gefilmt, damit unsere Liners sehen, auf wen sie online eine Hetzjagd machen müssen.«
Dafür ernte ich lediglich ein Schmunzeln von Laurent, dem neusten Mitglied unseres Labels, der schon Tausende dieser kleinen Raufereien und Schlagabtausche dokumentiert hat. »Sicher, sicher. Ich lade es bei TikTok hoch und lege den Theme Song von Street Fighter drüber.«
Dass ich dabei nicht sonderlich gut wegkommen würde, weiß ich, gebe Laurent aber trotzdem einen Daumen hoch, weil es mich absolut nicht juckt, dass ich nicht dem toxischen Stereotyp des hochgewachsenen, muskelbepackten Mannes entspreche, das mir sowieso am Arsch vorbeigeht. »Danke, Mann.«
Caleb holt tief Luft, sicher, um mir wieder einen seiner langen Vorträge über Außenwirkung zu halten, von denen er meist eh nur zwanzig Prozent ernst meint, so sehr, wie er immer betont, dass es für ihn wichtig ist, dass Roan und ich unter Two Lines wir selbst sein können, aber Pheobe, eine der Assistentinnen im Team, rettet mir netterweise den Arsch. »Mister C? Da ist was für Sie per Kurier eingetroffen.«
»Vielen Dank, Pheobe. Ich komme sofort.« Er funkelt mich mit dem üblichen »Wir sind hier noch nicht fertig«-Blickan, den er immer draufhat, wenn er großer, böser Manager spielen will, ehe er mit Pheobe verschwindet, um seine Lieferung entgegenzunehmen.
»Ich würde dir ja dazu raten, ihm nicht so sehr auf den Wecker zu gehen, aber leider ist es zu unterhaltsam, dabei zuzusehen.« Mia kneift mir gurrend in die Wange und trinkt noch einen Schluck Champagner, der ihren Teint so langsam, aber sicher rosig werden lässt. Sie ist die Einzige im Team, die dieses Zeug noch schlechter verträgt als ich, aber den leichten Schwips und das glückliche Grinsen gönne ich ihr von Herzen, nach allem, was Roan und sie letztes Jahr durchgemacht haben. »Gut gemacht, kleiner Dämon.«
»Stets zu Diensten. Du weißt, Schabernack ist mein Spezialgebiet.« Meinen imaginären Hut ziehend mache ich eine übertriebene Verbeugung, was Ellie erneut ein Kichern entlockt, die sich, seitdem sie vor zwei Jahren in unser aller Leben getreten ist, als Komplizin meines Unfugs herausgetan hat. »Irgendjemand muss diesen Langweiler ja auflockern, nicht wahr, Ellie?«
»Ich glaube, das schafft Ellie auch ganz gut allein.« Roan küsst Mia flüchtig auf die Lippen, die sie schürzt, als er ihr die Champagnerflasche abnimmt und außer Reichweite auf einem gewiss superklebrigen Tisch abstellt. »Wenn wir wieder zu Hause sind, sollten wir noch mal über das Riff in Too Little sprechen. Ich fürchte, das müssen wir für die Tour anpassen. Ich hab mich heute schon wieder fast verspielt.«
»Aber halt nur fast.« Roans Blick sagt mir eindeutig, dass er meinen Scherz gerade nicht zu schätzen weiß, also nicke ich und schiebe die Hände in meine Hosentaschen, während ich an den Track denke, der stark vom Funk inspiriert ist und dessen Bass-Riff selbst im Studio schon die Hölle war. Aber bisher hat Roan es trotzdem noch kein einziges Mal verhauen, und ich weiß, dass sein Ehrgeiz und sein Perfektionismus das Problem für mich lösen werden, noch bevor wir in London gelandet sind. »Kein Ding. Das kriegen wir sicher hin.«
Bei dem Gedanken an unser Loft entschlüpft mir ein sehnsüchtiges Seufzen. So gern ich auch auf Tour bin, auf Nächte in unpersönlichen Hotelzimmern und engen Tourbussen könnte ich gut und gern verzichten, zumal ich jetzt, da Roan und Caleb beide Partnerinnen haben, eh die meiste Zeit allein bin.
»Denkst du an zu Hause?«
Ich zucke zusammen und sehe Roan entgeistert an. »Alter, raus aus meinem Kopf.«
Mein bester Freund seit Kindertagen lacht lediglich. »Volltreffer, hm? Aber mir geht’s genauso. So sehr ich die Shows auch liebe, ich verkläre echt nach jeder Tour, wie sehr ich das pausenlose Reisen hasse.« Er hebt die Arme und streckt sich. »Fuck, freu ich mich auf mein eigenes Bett.«
Seine Wirbelsäule knackt bestätigend, und natürlich kann ich mir einen dummen Spruch dazu nicht verkneifen. »Also jetzt hört man wirklich, dass du der Älteste von uns bist.«
»Du meinst so, wie man ständig hört, dass du der mit dem größten Schandmaul bist?« Er zuckt die Achseln und lässt die Arme fallen. »An den Tatsachen kommt man nicht vorbei.«
Es ist beschlossene Sache: Den schlagfertigeren Roan mag ich nicht. Der ist deutlich schwerer auf die Palme zu bringen. »Das ist üble Nachrede. Ich bin die letzten Monate ein anderer Mensch geworden. Ich würde niemals –«
Die Tür zur Garderobe fliegt auf, und Caleb rauscht wutschnaubend und mit einem Magazin in der Hand herein, mit dem er zornig vor meiner Nase herumfuchtelt. Er sieht aus, als würde er gleich Schaum vor dem Mund bekommen, und auch wenn ich gern darüber lachen würde, bleibt es mir doch im Hals stecken.
Stille legt sich über den Raum, so allumfassend, dass ich hören kann, wie Caleb ganz tief Luft holt, ehe er laut brüllt: »Sag mal, willst du mich eigentlich verarschen?!«
Roan flucht leise neben mir. »Fuck, Dee. Was hast du jetzt schon wieder angestellt?«
Ich blinzle und beiße mir auf die Unterlippe, als ich das Magazin als die VOGUE erkenne, die morgen früh in den Läden liegen wird. Genau die VOGUE, für die ich letzten Monat allein ein Interview gegeben habe, weil Caleb diesen Tag der Fashion Week mit Roan in der Notaufnahme verbracht hat. Diagnose: beginnende Kehlkopfentzündung. Mit der Show in Wien nur sieben Tage später hätte uns das fast die gesamte Tour kosten können, hätten die Ärzte in Italien sich nicht überschlagen, um Roan wieder aufzupäppeln. Aber durch das strikte Sprechverbot musste Roan die gesamte Fashion Week teeschlürfend und wütende Nachrichten schreibend aussetzen, weshalb ich stattdessen allein von Termin zu Termin gehetzt bin, getrieben von Sorge, und mit nichts weiter als Kaffee und Schlaflosigkeit im Gepäck. Das Interview mit der VOGUE ist kaum mehr als eine verschwommene Erinnerung, durchzogen von lähmender Angst und blank liegenden Nerven, aber mich überkommt eine leise Vorahnung, und jetzt liegt es an mir, zu fluchen.
»Du solltest vielleicht lieber in Deckung gehen, Bruder.«
fight – flight
Reflexe sind eine schöne Sache. Besonders dann, wenn sie einen dazu veranlassen, sich zu ducken, während ein zweihundert Seiten starkes Hochglanzmagazin auf einen zufliegt. So klatscht es gegen die sandfarbene Wand und landet auf dem hübschen Parkettboden, anstatt mich zu treffen. Weniger demütigend ist es aber nicht, dort unten zu hocken und in Damians dämliches Gesicht zu schauen, das mich vom Cover der VOGUE aus anglotzt. Von Kopf bis Fuß in die neuste Kollektion von Prada gehüllt, balanciert er auf einem Sims über den Dächern von Mailand, seine haselnussbraunen Augen sind durch die mintfarbenen Gläser seiner Sonnenbrille auf die Kamera gerichtet, die er von oben herab anblickt, und genauso jenseitig aussieht wie die schwarze Kreatur auf seinem grauen Hemd. Das ganze Cover hat etwas Hypnotisierendes an sich, mit dem Sonnenuntergang und den Dächern Mailands im Hintergrund, aber ich reiße mich von dem Foto los, um erneut die Schlagzeile zu lesen, bei der sich mir der Magen zusammenkrampft.
Damian Lewis malt die Welt, wie sie ihm gefällt.
»Für mich gibt es nichts Schlimmeres als uninspirierten Einheitsbrei. Wer nie wagt, der gewinnt auch nicht.«
Im ersten Moment kommt einem der Spruch sehr weise vor. Früher hätte ich ihn wahrscheinlich ausgeschnitten und auf mein Vision-Board gepinnt. Aber als ich das Magazin aufgeschlagen habe, in dem sich alles um die Mailänder Fashion Week und die im letzten Juni gezeigten Kollektionen dreht, wollte ich das Zitat am liebsten rausreißen und es Damian Lewis höchstpersönlich auf seine selbstgefällige Visage tackern. Ohne Schmerzmittel und mit verrosteten Tackernadeln, damit er danach qualvoll an einer Blutvergiftung verreckt.
Ich nehme das Magazin, dessen Cover für diese Ausgabe in allen europäischen Ländern das gleiche ist, in die Hand und rolle es zusammen, während ich aufstehe, weil ich es nicht länger ertrage, es anzusehen. Obwohl ich mir das sparen könnte, die Ausgaben stapeln sich nämlich auf Vincents weißem Schreibtisch, eine aus jedem europäischen Land, um sich ein Bild davon zu machen, wie unsere Kollektion auf dem europäischen Markt angekommen ist. »Vincent, ich glaube nicht, dass –«
»Wir fragen Damian, der heute ohne Roan unterwegs ist, was er neben der neuen Kollektion von Prada sonst noch von den gezeigten Stücken auf der Mailänder Fashion Week hält. Der rappende Modezar zuckt lediglich mit den Achseln und lehnt sich auf dem Sessel der Dachterrasse lässig zurück. Damian: »Ich muss sagen, in diesem Jahr bin ich leider wenig überrascht worden. Die Designer, von denen ich mir viel erhofft hätte, haben mich genauso bestätigt, wie die, die ich für hoffnungslose Fälle halte«, liest Vincent vor, die Finger so fest um das Magazin geschlossen, dass seine Knöchel weiß hervortreten. »Mit der Ausnahme von Studio Five. In Anbetracht ihres Rufs als innovatives und kreatives Start-up fand ich die Kollektion, die sie dieses Jahr gezeigt haben, uninspiriert und konventionell.« Mein Boss ist ganz rot im Gesicht, und er spricht so schnell und harsch, dass sein niederländischer Akzent deutlich zu hören ist und mir seine Spucke entgegenfliegt. »Sie haben im Prinzip ihre Kollektion vom Vorjahr kopiert, ein paar Farben geändert, von denen sie wissen, dass sie trendy sein werden, und haben dann so getan, als wären das alles bahnbrechende neue Ideen. Dabei ist es offensichtlich, dass sie damit nichts weiter erreichen wollen als gute Verkaufszahlen. Da war keine Innovation, keine Vision, keine Leidenschaft. Da war nur Angst vor der eigenen Courage. Für mich gibt es nichts Schlimmeres als uninspirierten Einheitsbrei. Wer nie wagt, der gewinnt auch nicht. Und Studio Five hat für mich in diesem Jahr auf ganzer Linie versagt.« Er knallt das Magazin auf den Schreibtisch, und ich zucke zusammen, als ahornfarbene Bilderrahmen gegen kleine weiße Pflanzenkübel scheppern und seine blassgrauen Augen mich festsetzen. »Ich habe dir gesagt, wie wichtig diese Kollektion für das Label und für mich ist. Ich habe dir gesagt, dass, wenn ich dich offiziell zum Creative Director machen soll, diese Kollektion ein Erfolg werden muss.«
Seine Enttäuschung schmerzt mehr als Damians vernichtender Kommentar zu meiner Kollektion, und ich klammere mich an einen letzten Strohhalm, um das zu retten, wofür ich mich so lange abgerackert habe. Angst vor einem weiteren Wutausbruch habe ich nicht. Dafür kenne ich Vincent schon zu lange und habe mich längst an seine Tobsuchtsanfälle gewöhnt, für die er zu Uni-Zeiten schon berühmt-berüchtigt war und deretwegen ich schon mehrfach meine Kündigung getippt habe, nur um sie doch jedes Mal wieder zu löschen. Studio Five ist auch mein Baby. Selbst ohne Papiere oder CEO-Titel. Und Vincent ist mein Freund. Trotz geworfener Magazine. Trotz Schubsern. Trotz cholerischer Anfälle. Denn er entschuldigt sich jedes Mal und tut sein Bestes, es wieder gutzumachen. So ist das immer schon zwischen uns gewesen. Und Vincent und ich, wir sind ein Team. Komme, was wolle. »Die Kollektion kann immer noch ein Erfolg werden. Kritiker haben sie gelobt, und wenn wir sie entsprechend bewerben, könnte sie gute Umsätze bringen.«
»Wenn du das ernsthaft annimmst, dann war es ein Fehler, dich überhaupt als meine Nachfolgerin in Betracht zu ziehen.« Vincents große, dürre Gestalt ist auch ohne den Zorn in seiner Stimme schon einschüchternd, selbst dann, wenn er sich wie jetzt mit einem schweren Seufzen auf den großen ledernen Ohrensessel hinter seinem Schreibtisch sinken lässt. »Das könnte uns zerstören, Veronica. Und das weißt du genauso gut wie ich.« Er zieht sich die Brille mit dem dünnen, schwarzen Drahtgestell von der Nase und wirft sie zu den Dokumenten und Magazinen auf den Tisch. »Damian und Roan sind, durch ihre Position als Brand Ambassador von Prada, einflussreiche Stimmen in unserer Welt. Was sie mögen, wird zum Trend. Was sie tragen, ist sofort ausverkauft. Was sie ablehnen, lässt sich nicht länger an den Mann bringen. Was glaubst du, bedeutet das für unsere Sommerkollektion, mh?«
Es ist eine rhetorische Frage, weshalb ich mir eine Antwort verkneife und stattdessen das Magazin fester umfasse, damit ich wenigstens irgendetwas habe, an das ich mich noch klammern kann, während mir all meine Träume und meine jahrelange Schufterei durch die Finger rinnen. Aber genau so wie ich gelernt habe, mit Vincents Tobsuchtsanfällen umzugehen, weiß ich auch, wann es besser ist, den Mund zu halten. So wie jetzt.
»Genau. Wir werden zum Großteil darauf sitzen bleiben, Veronica. Und was heißt das im Umkehrschluss? Verdienstausfälle und Verluste, die wir uns mit dem Unternehmenskredit für die Gründung von Studio Seven absolut nicht leisten können.« Seine Stimme zittert angesichts seines eigenen bröckelnden Traums eines Haute-Couture- und Damen-Labels, das nur ihm allein gehört, jetzt, wo er genug Geld hat, um sich von seinem Vater und dessen Einfluss zu lösen, der Studio Five nur finanziell unterstützt, solange sein Sohn ausschließlich Herrenmode entwirft und vertreibt. Es war eine Investition in Millionenhöhe. Eine, bei der er mich nicht zu Rate gezogen hat, und das, obwohl wir Studio Five einst gemeinsam gegründet haben. »Das sind Millionen, die wir da verlieren. Millionen, die wir brauchen. Ich habe dir nicht nur aufgetragen, Damian für unser Label zu gewinnen, weil Parallel klasse Werbeobjekte sind, sondern auch, weil mir die Konsequenzen durchaus bewusst sind, wenn wir bei ihnen in Ungnade fallen. Etwas, das dir auch hätte klar sein sollen, angesichts der Tatsache, dass du die Geschicke von Studio Five leiten willst.«
Mein Blick bleibt an den Skizzen atemberaubender Abendkleider hängen, die hinter Vincents Schreibtisch auf dem großen Whiteboard mit schwarzen Magneten befestigt sind, und mein Herz bekommt einen Riss, durch den all die Scham und die Enttäuschung hineinfliegen, die ich, seitdem ich das Magazin beim Frühstück in meiner Wohnung aufgeschlagen habe, auf Abstand halte.
»Es tut mir leid, Vinny. Ich …«, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, breche ich ab und lasse alle Luft aus meinen Lungen entweichen, die sich eh flattrig und zu eng anfühlen. Aber jetzt ist nicht die Zeit, um Trübsal zu blasen. Ich muss retten, was noch zu retten ist, und Vincent beweisen, dass ich der Rolle als Creative Director gewachsen bin. »Ich werde mein Bestes geben, um die Verluste so gering wie möglich zu halten. Ich werde eine Krisensitzung mit der Buchhaltung und dem Verkauf einberufen und sehen, wo wir Kosten sparen und Gewinne maximieren können.«
»Um Gewinne einzufahren, braucht man einen Absatzmarkt, Veronica. Und mit diesem Interview ist davon ein Großteil effektiv weggebrochen.« Er tippt auf der Tastatur seines silbernen Mac herum und dreht den Bildschirm in meine Richtung, auf dem er Instagram geöffnet hat. Zögerlich trete ich näher, als er mich mit einer schlichten Geste dazu auffordert, und was ich auf dem Display sehe, raubt mir den Atem.
Die VOUGE ist noch keine drei Stunden im Verkauf, doch mit Damian auf dem Cover hat sie sich bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. Unzählige Posts, in denen seine Fangemeinde sein Interview abfotografiert hat, fluten den Feed unter dem Hashtag #OurSavageKing. Sie machen sich lustig über das, was gesagt wurde, feiern ihn für seine Rücksichtslosigkeit, die sie als Ehrlichkeit tarnen. Hier und da tauchen Stimmen auf, die Zweifel anmelden und zu bedenken geben, dass Roan trotz seines harschen Urteils regelmäßig in unseren Designs zu sehen ist und sie sogar auf der Tour trägt, doch sie gehen in der Masse der belustigten Schmähkommentare unter, die das Ende von StudioFive vorhersagen, bevor wir es überhaupt richtig geschafft haben. Wieder tippt Vincent und wechselt von #OurSavageKing zu #StudioFive und die Posts verändern sich, werden von Beiträgen der Fans zu Artikeln kleinerer und größerer Fashion-Magazine, die unseren Untergang als eingeläutet betrachten und unsere Marke ab sofort als unverkäuflich einstufen.
Das ist deutlich ernster, als ich angenommen hatte.
Vincent erhebt sich aus seinem Stuhl und geht zum Fenster, das den Blick auf die Prinsengracht freigibt. Doch für die schöne Aussicht auf den Kanal hat Vincent offensichtlich keine Augen. Mit seinen großen Händen fährt er sich durch das braune Haar, welches sich um Ohren und Nacken kringelt und, trotz seines jungen Alters, von feinen grauen Strähnen durchzogen ist. Ein Nebeneffekt des ganzen Stresses, hat er mal lachend gemeint. Aber ich glaube, da ist mehr dran, als er je bereit ist zuzugeben.
»Roni, es tut mir leid, dass ich mit dem Magazin nach dir geworfen habe. Das hätte nicht passieren dürfen.« Vincents Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, als er mich zum ersten Mal in dieser Unterhaltung mit meinem Spitznamen anspricht. »Ich weiß, du hast für Studio Five genau so viel geopfert und riskiert wie ich. Du warst von Stunde null an an meiner Seite, als ich nichts weiter war als ein unbedarfter Student mit einer durchgeknallten Idee und Daddys Geld. Du hast mich nie verlassen, auch dann nicht, als ich alles hinschmeißen wollte. Deshalb habe ich überhaupt erst in Erwägung gezogen, dir das Label anzuvertrauen. Aber wenn wir das hier nicht wieder geradebiegen, dann gibt es kein Label mehr, das du übernehmen kannst. Dann sind wir geliefert. Wir alle.«
Dreißig Mitarbeitende zählen derzeitig zu Studio Five, und wenn ich mir ausmale, was ein Verdienstausfall wie dieser für sie alle bedeuten würde, wird mir schlecht. Merle, eine unserer Näherinnen, ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, von denen das jüngste vier Jahre alt ist. Joris aus dem Marketing hat gerade erst ein Haus mit seiner Verlobten gekauft, und Benedikt aus der Buchhaltung hat nur noch zwei Jahre bis zur Rente. Der Untergang von Studio Five würde schon allein für diese drei verheerende Konsequenzen haben, und mir werden die Hände schwitzig, als ich realisiere, dass das meine Schuld ist.
Ich habe es beim Konzert in London nicht geschafft, Damian auf unsere Seite zu ziehen. Ich habe mich von meinem Stolz verleiten lassen und mich darauf verlassen, dass meine Arbeit genug für mich sprechen wird. Ich habe die Kollektion zusammengestellt und freigegeben.
Etwas in mir tritt entrüstet auf die Bremse. Das alles ist nicht meine Schuld. Es ist Damian Lewis mit seinem unüberlegten und rüpelhaften Mundwerk, der uns in diese Lage gebracht hat. Wenn er sein Hirn eingeschaltet und fünf Sekunden lang darüber nachgedacht hätte, was so eine Äußerung für ein kleines Label wie unseres bedeuten könnte, dann wären wir nicht in dieser Situation. Es steht ihm frei, meine Designs uninspiriert und konventionell zu finden. Aber etwas nicht zu mögen und es öffentlich an den Pranger zu stellen, das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Und jemand von seinem Bekanntheitsgrad sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein.
»Hast du schon Kontakt zu Mr Lee aufgenommen?«, frage ich und trete neben Vincent in den Erker. »Er ist ein rationaler und vernünftiger Mann. Er wird wissen, dass Damians Worte nicht nur uns, sondern auch Parallel schaden, denn so wie er einen etablierten Partner von Roan dermaßen öffentlich angeht, vergrault er potenzielle Werbepartner. Vielleicht kann er Damian dazu überreden, sein Statement zu revidieren, und dann könnten wir –«
»Ich habe schon mit ihm telefoniert.« Vincents Ton nimmt eine mir von ihm sehr bekannte Härte an. »Er und Damian sind bereits auf dem Weg hierher.«
Mir bleibt die Spucke weg. »Er und wer?«
»Er und Damian.« Mein Boss drückt die Schultern entschlossen durch. »Wir haben uns auf eine Lösung geeinigt, die für beide Parteien von Vorteil ist, und ich erwarte von dir, dass du dich kooperativ zeigst, und zum Erfolg dieser Lösung beitragen wirst.«
All meine Alarmglocken springen an. Unbehaglich winde ich mich, während ich zu Vincent aufsehe, der noch immer mit auf dem Rücken gefalteten Händen hinaus aufs Wasser starrt. Die Julisonne lässt die Oberfläche funkeln, als wäre sie mit Diamanten übersät. »Um was für eine Lösung handelt es sich denn da? Und wie genau soll dieses rüpelhafte Prinzchen für uns von Vorteil sein, das uns diese ganze Suppe überhaupt erst eingebrockt hat?«
»Weil wir die Kaufkraft seiner Fangemeinde brauchen. Jene Fans, die eine Menge Teile unserer letzten Kollektion erworben haben, was du wüsstest, wenn du dich fünf Sekunden lang mit der Zielgruppen- und Marktanalyse beschäftigen würdest, anstatt dich hinter deinem Titel als Designerin zu verstecken und in deinem Atelier zu verkriechen.« Jetzt sieht mein Boss und guter Freund mich endlich an, doch bei der Unnachgiebigkeit in seinen blassgrauen Augen wünschte ich mir, er würde es sofort wieder lassen. »Du wirst gemeinsam mit Damian Lewis eine Celebrity Capsule Collection erarbeiten. Wenn die ein Erfolg wird, bin ich bereit, noch einmal über deine Ernennung zum Creative Director nachzudenken.«
Ich kann spüren, wie groß meine Augen bei Vincents Worten werden, mit denen er mich dazu verdammt, für meine Beförderung eine Kollektion von wenigen Stücken in Kollaboration mit Damian zu entwickeln, die durch ihre wenigen Designs und ihre kleine Verkaufsmenge dazu genutzt werden soll, einen Hype zu kreieren. Eine Beförderung, die er mir schon in Aussicht gestellt hat, als wir gemeinsam dieses Label gründeten. Kollaborationen wie diese hat es schon mehrfach gegeben, so wie die Zusammenarbeit von Moncler und Pharrell Williams, Balmain und Beyoncé oder CalvinKlein und K-Pop-Star Jennie Kim. Die strenge Limitierung der Stückzahl in Zusammenwirkung mit den großen Fangemeinden, die Stars wie diese mit sich bringen, hat stets eine enorme Durchschlags- und Kaufkraft und endet meist in enormen Geld- und Popularitätsgewinnen für beide Seiten. Ich kann also verstehen, warum Mr Lee und Vincent sich auf diese Lösung verständigt haben. Ich verstehe es wirklich. Doch alles in mir sträubt sich dagegen, auch nur fünf Sekunden in einem Raum mit diesem unverschämten Rapper mit Gottkomplex zu verbringen, dem ich lieber das Genick brechen würde, anstatt ihn auch nur in die Nähe meines Ateliers, meines Heiligtums, zu lassen.
Meinen aufkeimenden Protest erstickt Vincent jedoch mit einem einzigen strengen Blick in meine Richtung, der mich daran erinnert, dass wir in diesem Moment keine Freunde, sondern Chef und Angestellte sind. »Bis die Kollektion beendet ist, bist du in diesen Hallen wieder nichts weiter als ein Senior Designer, genauso wie du es dir offensichtlich gewünscht hast.«
»Vincent, ich kann nicht mit ihm zusammenarbeiten.«
»Dann erwarte ich deine Kündigung bis morgen früh auf meinem Schreibtisch.«
Galle steigt mir die Kehle rauf, und fassungslos starre ich den Mann an, an dessen Seite ich meine ganze Karriere lang gearbeitet habe. Wankelmut bin ich von ihm gewöhnt. Wütende Schreianfälle auch. Aber das hier? Das ist eine Seite von Vincent, die ich noch nicht kenne, und die mir, gelinde gesagt, Angst einjagt. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch.« Er seufzt leise, und ich frage mich, was die Fassade ist: der knallharte Kerl, der ohne mit der Wimper zu zucken meine Kündigung einfordert, den er mir jetzt präsentiert, oder das weiche, kreative Genie, das ich seit fünf Jahren in- und auswendig kenne und seit vier meinen Boss nenne. »Es tut mir leid, Roni, aber ich habe keine andere Wahl.«
Bevor ich meine Beherrschung verlieren und ihn darauf hinweisen kann, was für ein gequirlter Haufen Scheiße das eigentlich ist, klopft es an der Tür und Arne, Vincents Assistent, steckt seinen dunkelhaarigen Schopf zur Tür herein. »Vincent, Mr Lee hat angerufen. Er und Mr Lewis sind gelandet und schon auf dem Weg hierher. Sie werden in Kürze eintreffen.«
»Alles klar. Vielen Dank, Arne. Wir kommen runter, um die beiden zu empfangen.«
Der Mann mittleren Alters nickt und schließt die Tür hinter sich mit einem leisen Klicken.
»Wir?«, frage ich in die Stille hinein, die sich über Vincents Büro legt, in dem ich schon unzählige Male gesessen habe, das mir aber in diesem Augenblick erschreckend fremd vorkommt, so wie der Mann, dem es gehört.
Vincent nickt brüsk. »Ja, wir. Es sei denn, du willst kündigen.« Er geht voraus und wirft nicht einmal einen Blick zurück, so als wäre es ihm ganz gleich, ob ich folge oder nicht. Doch als ich im Flur zu ihm aufschließe, wenige Sekunden, nachdem ich meinen Stolz für meine Träume endgültig begraben habe, sehe ich die Andeutung eines Lächelns, als er leise sagt: »Ich wusste, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe, Roni.«
frustration – fixation – Veronica – vexation
»Wisch dir endlich diese missmutige Miene aus dem Gesicht. Du kannst niemanden außer dich selbst dafür verantwortlich machen.«
Stunden der Dauerbeschallung und Calebs Schelte nerven mich noch genauso sehr wie gestern Abend, als der ganze Zirkus hier angefangen hat. Objektiv betrachtet weiß ich, dass er recht hat. Aber diese ständige Wiederholung erinnert mich an eine Zeit, in der ich nichts anderes tun konnte, als tagtäglich hasserfüllte Worte und herabsausende Fäuste einfach hinzunehmen. Obwohl wir in einem schicken, gemieteten E-Auto sitzen, steigt mir der Phantomgeruch von Bodenpolitur in die Nase, und auf meiner Zunge schmecke ich Kupfer, das ich sofort mit einem großen Schluck Kaffee zu vertreiben versuche. Unzählige Sitzungen bei meinem Psychiater Dr. Kwame Larasi, und trotzdem kommt mein Trauma immer noch in den unnötigsten Momenten ungefragt zu Besuch. Ich könnte es mittlerweile genauso gut als meine Schwiegermutter statt mein Trauma bezeichnen.
Ich klappe mein Notizbuch zu, in dem ich all die Worte und dazu passende Reimwörter aufschreibe, die mir in den Sinn kommen, und stopfe es in meine hintere Hosentasche. »Das ist jetzt mein Gesicht. Gewöhn dich dran.«
»Einen Scheiß werde ich. Du wirst dich verdammt noch mal wie der professionelle Musiker benehmen, von dem ich weiß, dass er unter dieser dicken Schicht schnodderiger Gleichgültigkeit versteckt liegt.« Caleb ist eigentlich nicht der aufbrausende Typ, was mir klar und deutlich zeigt, dass ich den Bogen diesmal wohl gehörig überspannt habe. »Ich erwarte von dir, dich den Konsequenzen deines eigenen Handelns zu stellen. Auf dem Flug habe ich dir genug Zeit zum Beleidigtsein gelassen, aber damit ist Schluss, sobald wir die Räume von Studio Five betreten. Kapiert?«
Die Autorität in seiner Stimme duldet keinen Widerspruch, und ich balle die Hand zur Faust, die nicht um den hauchdünnen Pappbecher geschlungen ist. »Ich bin kein kleiner, trotziger Junge, den du maßregeln kannst, wie es dir passt.«
»Bist du nicht? Dann benimm dich verdammt noch mal auch nicht wie einer.« Caleb sitzt auf der geräumigen Rückbank zwar so weit von mir entfernt, wie der SUV es zulässt, und trotzdem habe ich das Gefühl, seinen Atem auf der Haut zu spüren. »Was zur Hölle hast du dir nur dabei gedacht, Dee? Ich weiß, dass du ein Hirn hast. Warum zum Geier hast du es also nicht mal fünf Sekunden lang eingeschaltet? Ich habe mich darauf verlassen, dass du das Interview mit der VOGUE schon allein bewerkstelligen kannst. Ich habe darauf vertraut, weil ich dir vertraue. Also, was in drei Teufelsnamen hat dich da geritten, mh?«
Ibrahim, der am Steuer sitzt, ist schon, seitdem wir das Hotel in Lissabon in aller Herrgottsfrühe verlassen haben, auffällig still, doch bei Calebs Frage riskiert er einen besorgten Blick in den Rückspiegel, den ich nicht lange sehen, definitiv aber bis in mein Innerstes fühlen kann.
Es ist das erste Mal, dass Caleb mir die Chance gibt, mich zu erklären. Nach dem Frühstück war er zu sehr mit Schadensbegrenzung und Rumbrüllen beschäftigt, und dann hat er die meiste Zeit am Handy gehangen oder sein Bestes gegeben, in der Business Class auf dem Flug von Lissabon nach Amsterdam zu lächeln, anstatt mir in aller Öffentlichkeit den Hals umzudrehen. »Du weißt, dass ich mit meiner Meinung nicht hinterm Berg halte.«
»Oh, das ist mir allzu bewusst, Dee. Immerhin kenne ich dich seit über zehn Jahren. Weshalb ich auch weiß, dass du eigentlich nicht so dumm bist, einen der größten Kooperationspartner während unserer ersten Welttournee als neues Label öffentlich derartig anzugehen.« Er fährt sich mit beiden Händen durch das glatt rasierte Gesicht, wie immer der perfekt gekleidete und kontrollierte Manager, dessen Fassade er nur in der Sicherheit des Wagens und hinter den getönten Scheiben fallen lässt. »Also was war los, Dee?«
Ich öffne den Mund, um zu antworten, doch Calebs stechender Seitenblick bringt mich zum Schweigen.
»Ganz ehrlich und ohne den ganzen flapsigen Bullshit, mit dem du sonst so gern um dich wirfst.«
Ehrlichkeit ist nur dann meine Stärke, wenn sie mit Gefühlen nichts zu tun hat, und so schnüren mir Scham und Schuld die Kehle zu. Die lähmende Sorge, die ich an jenem Tag in Mailand empfunden habe, drängt sich zurück in mein Bewusstsein, zusammen mit der Erinnerung an meine zitternden Finger, mit denen ich mein Smartphone umklammert hielt und auf Nachrichten von einem der beiden gewartet habe. Doch ich reiße mich davon los und starre aus dem Fenster, in der Hoffnung, mich so erden zu können. Amsterdam gleitet an uns vorbei mit seinen dicht bebauten Häusern und Brücken, die sich über die unzähligen Kanäle wölben. Der Anblick der schönen Großstadt, die nichts von meinem Dilemma ahnt, sorgt dafür, dass der Knoten in meinem Hals sich auflöst und in die mir vertraute zornige Flamme der Wut verwandelt, mit der ich so viel besser umgehen kann als mit all den anderen Gefühlen, mit denen ich außerhalb meiner Musik nichts anzufangen weiß.
»Ich hab nicht nachgedacht, okay?«, fauche ich, und ein kleiner Teil von mir registriert, dass ich mich hier gerade massiv im Ton vergreife, aber diesem kleinen Bruchteil schenke ich selten Gehör, zerquetsche ihn lieber unter meiner Schuhsohle, egal wie sehr er mich anfleht, es einfach mal ernst zu nehmen. Wut ist leichter. Sie ist vertrauter. Ein toxischer, alter Freund, dem ich mich zwar nicht zuwenden will und es doch immer wieder tue, anstatt tief in meinem Inneren nach neuen, gesünderen Freunden zu suchen. Dr. Larasi wäre stolz auf mich. Nicht. »Sollte dir vertraut sein, so oft wie es bei dir selbst vorkommt.«
»Weißt du, Dee, manchmal möchte ich dich wirklich einfach nur packen und schütteln.« Caleb sieht mich an, die Resignation ist deutlich sichtbar in jeder Linie und Kante seines mir so vertrauten Gesichts. »Aber wahrscheinlich würde auch das nichts bringen, du zorniger, alter Starrkopf.«
Schmerz explodiert in meiner Brust, doch mein Mund will keine Worte formen, wofür ich wohl dankbar sein sollte. So kann er wenigstens auch keine gemeinen Gehässigkeiten mehr von sich geben.
Caleb überschlägt elegant seine muskulösen, langen Beine und zieht sein Tablet aus dem Seitenfach seiner Tür, schaltet es ein und öffnet seinen Kalender, dessen unzählige farbige Einträge mir allein aus dem Augenwinkel schon Kopfschmerzen bereiten. »Ich habe alle deine Termine für die nächsten zwei Wochen gecancelt und dir am neunten August einen Nachtflug von Amsterdam nach Toronto gebucht. In diesen zwei Wochen hast du auch keine Videomeetings oder Ähnliches. Die Capsule Collection hat gerade die höchste Priorität.«
»Höher als die verdammte Tour? Ich sollte nicht hier sein, sondern in London, um zu proben.«