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Eine dunkle Macht erhebt sich. Alte Feinde schärfen ihre Schwerter. Nach Jahrzehnten des Friedens steuert das Königreich Erland auf eine Katastrophe zu, als der Erbe des Königs ermordet wird. Die rebellischen Fürsten des Westens versammeln ihre Armeen, der Krieg scheint sicher. Unterdessen regt sich im Schatten des Eryispek – ein Berg, von dem es heißt, er habe keinen Gipfel – eine dunkle Macht. Orsian kämpft jeden Tag auf dem Übungsplatz. Als Sohn von Erlands größtem Krieger sehnt er sich danach, sich zu beweisen. Nun wird er zum ersten Mal mit der grausamen Realität der Schlacht konfrontiert. Seine Schwester Pherri wird von ganz anderen Träumen heimgesucht – von dunklen Gestalten auf dem Berg, von Blut im Schnee. Nur sie kann der dunklen Magie entgegentreten, die an den Hängen auf sie wartet ... Der Auftakt eines epischen Fantasyabenteuers! Die englischen Leserinnen und Leser lieben ›The Fury of Kings‹: »Hervorragende epische Fantasy. Fesselnd bis zum Schluss, geschickt ineinandergreifende Handlungsstränge. Konnte es nicht aus der Hand legen und kann Buch 2 kaum erwarten ... Das beste Buch, das ich seit Langem gelesen habe!« Goodreads »Ich hatte das Gefühl, das Buch in einem Wimpernschlag durchgelesen zu haben. Brillante Charaktere, die mir am Ende richtig ans Herz gewachsen sind. Ich will unbedingt wissen, wie es weitergeht.« Goodreads »Ein beeindruckender Autor und eine beeindruckende neue Serie. So ein cooles Setting!« NetGalley »Dies ist die Art von Buch, die Fans von Robert Jordans ›Rad der Zeit‹ lieben werden. R.S. Moule besitzt alle Fähigkeiten der Top-Fantasy-Autoren.« Goodreads
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Seitenzahl: 888
Veröffentlichungsjahr: 2024
Nach Jahrzehnten des Friedens steuert das Königreich Erland auf eine Katastrophe zu, als der Erbe des Königs ermordet wird. Die rebellischen Fürsten des Westens versammeln ihre Armeen, der Krieg scheint sicher. Unterdessen regt sich im Schatten des Eryispek – ein Berg, von dem es heißt, er habe keinen Gipfel – eine dunkle Macht.
Orsian kämpft jeden Tag auf dem Übungsplatz. Als Sohn von Erlands größtem Krieger sehnt er sich danach, sich zu beweisen. Nun wird er zum ersten Mal mit der grausamen Realität der Schlacht konfrontiert. Seine Schwester Pherri hingegen wird vor eine ebenso große Herausforderung gestellt, denn die Botschaft ihrer Albträume ist deutlich: Nur sie kann der dunklen Magie entgegentreten, die an den Hängen des Eryispek auf sie wartet …
R.S. Moule
Die Erland-Saga 1
Aus dem Englischen von Michaela Link
Für Eloise, die mich dazu gebracht hat,
dieses Buch zu Ende zu schreiben
OST-ERLAND
König Hessian Sangreal, residiert in Pfeiferswehr
Seine verstorbene Frau, Elyana Sangreal †
Sein Sohn, Prinz Jarhik Sangreal
Seine erste Tochter, Prinzessin Tarvana Sangreal, Ehefrau von Lord Ulric Balyard
Seine zweite Tochter, Prinzessin Helana Sangreal
Sein Halbbruder und Balhymeri, Lord Andrik Fassbrecher
Andriks Frau, Lady Viratia Fassbrecher
Andriks erster Sohn, Errian Andrikson
Andriks zweiter Sohn, Orsian Andrikson
Andriks Tochter, Pherri Andrikduhter, Lehrling des Magus Theodric
Theodric, Magus und Berater von Hessian
Naeem, Andriks stellvertretender Befehlshaber
WEST-ERLAND
Lord Rymund Prindian
Seine Mutter, Breta Prindian
Sein älterer Bruder, Lord Ranulf Prindian †, starb vor siebzehn Jahren in den Kerkern von Pfeiferswehr
Sein Waffenmeister und Gefährte, Adfric
Strovac Sigac, Krieger der Wilden Brigade
DAS ULVATIANISCHE IMPERIUM
Kvarm Murino, Kaufmann
Sein versklavter Magus, Hrogo
Sein Bruder, Kzar Bovarch Murino, Herrscher des Ulvatianischen Imperiums
WAISEN VON CLIFFARK
Tansa, eine Diebin
Ihr Bruder, Tam
Ihrer beider Freund, Cag
Die Morgenluft war so schneidend kalt, dass Gelik den Frost fast auf der Zunge schmecken konnte. Das war der einzige Teil seines Körpers, der sich nicht taub anfühlte. Seit drei Tagen stapfte er nun schon durch den knietiefen Schnee, und jeden Morgen wachte er mit einer frischen weißen Decke auf seinen Fellen auf. Er bezweifelte, dass seit Generationen ein Lutum je so hoch oben auf dem Berg gewesen war. Die meisten seiner Stammesangehörigen überschritten in ihrem Leben nur zweimal die Grenze zum Weiß: einmal, um ins Erwachsenenalter einzutreten, und ein zweites Mal, um zu sterben. So war es Brauch bei seinem Volk. Die jungen Männer stellten sich allein dem Berg, um sich zu beweisen, und kehrten erst wieder zurück, wenn alle Kraft sie verlassen hatte.
Die Tradition der Lutum verlangte es, dass ein Knabe am Ende seines fünfzehnten Lebensjahres dem Weiß trotzen, im Blut seines ersten erlegten Tieres baden und bei seiner Rückkehr als Mann dessen Fell tragen musste, vom Geist des Tieres gestählt und mit geschärfter Wahrnehmung. Die meisten kamen mit dem Fell eines Kaninchens oder einer Ziege um die Schultern nach Hause. Wer mit dem Fell eines Hirsches zurückkehrte und dessen gehäuteten Kadaver hinter sich herschleifte, wurde bejubelt; wer die Überreste eines Nagetiers umklammerte, verspottet. Sechs Jahre lang hatte Gelik sich auf diese Reise vorbereitet und beschlossen, sich, wenn die Zeit gekommen war, mit nichts Geringerem zufriedenzugeben als mit einem Hirsch, einem Bären oder, sollten die Norhai ihm gewogen sein, einem Löwen. In seinen Adern floss das Blut von Königen, und wenn er eines Tages die streitlustigen Volksstämme anführen wollte, die unter der Herrschaft seines Vaters lebten, würde er sich als seiner Ahnen würdig erweisen müssen. Er hatte bemerkt, wie sein Onkel Carhag ihn beobachtete, die Jahre zählte und sich fragte, ob Gelik zu einem Krieger oder einem Schwächling heranwachsen würde. Carhag war der letzte Mann gewesen, der vor zehn Jahren bei seiner Rückkehr nach Rotfort einen Hirsch hinter sich hergezogen hatte, mit Fleisch und Knochen und allem Drum und Dran. Sie hatten sich einen Monat lang an Wildbret satt essen können.
Gelik lief unermüdlich weiter, immer höher hinauf, getrieben vom pfeifenden Wind, der den Berg hinunterfegte, ihm in den Augen brannte und die Sonne hinter einer wirbelnden Schneewand zu einem grauen Schattenkranz verblassen ließ. Die Flocken schmolzen auf seiner Haut, sickerten in seinen kastanienbraunen Bart und gefroren wieder.
Der Wind war so stark und das Schneetreiben so dicht, dass sie zusammen den Himmel auslöschten. Gelik hatte keine Ahnung, wie weit nach oben er es inzwischen geschafft hatte – war die Höhe überhaupt von Bedeutung, wenn es keinen Gipfel gab? –, und er wusste nicht einmal mehr, auf welcher Seite des Berges er sich befand. Anfangs war er geradewegs den Osthang hinaufgestiegen, aber nachdem er sich tagelang auf seinen Speer gestützt durch den Schnee gekämpft und kaum einen Meter weit hatte sehen können, war es gut möglich, dass er auf der falschen Seite gelandet war. Der westliche Berghang war die Heimat der Adrari, eines rückschrittlichen Fischervolks, dessen Männer ihre Schwestern heirateten oder sie bei den Wassermännern aus Eryispol gegen Fische eintauschten, nicht dass Gelik wirklich an Wassermänner glaubte. Die Adrari waren die Erzfeinde der Lutum, und das schon seit Jahrhunderten, noch bevor die beiden Stämme vom Königreich Erland erobert und unterworfen worden waren. Gelik glaubte nicht, dass sie so hoch oben auf dem Berg lebten, aber wenn er einer Gruppe von Adrari begegnete, würde sein Speer ihm nur wenig Schutz bieten.
Am Abend hatte sich der Sturm gelegt, und der früh aufgehende Mond färbte den Schnee silbern. Die Wolken, die am Himmel dahinglitten, warfen schwarze und graue Schatten über das Land. Trotz der Windstille spürte Gelik die beißende Kälte mehr denn je. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Die Muskeln in seinen Beinen zitterten vor Anstrengung. Jeder Atemzug in der eisigen Luft stach ihm in die Lunge. Nichts rührte sich in der weißen Einöde.
Vor lauter Erschöpfung stolperte Gelik, als er sich mit dem Fuß an einer versteckten Baumwurzel verfing. Sein Speer blieb im Boden stecken und wurde ihm aus der Hand gerissen, sodass er ungeschickt in den Schnee fiel.
Er rollte sich auf den Rücken und atmete tief durch. Die Kälte brannte wie ein Bett aus Nesseln. Es gibt gute Gründe, warum niemand so hoch hinaufklettert, dachte er verbittert.
Die Ausweglosigkeit seiner Lage traf ihn wie ein Donnerschlag. Diese eisige Kälte war im Grunde ein Todesurteil. Ich werde auf diesem Berg sterben. Er war zu weit hinaufgeklettert, verblendet von törichten Visionen von Grandiosität, die zu nichts geführt hatten. Wäre es wirklich so beschämend gewesen, einen Tag ins Weiß zu gehen und mit einem Kaninchenfell über den Schultern zurückzukehren? Mit geschlossenen Augen lag er im Schnee und ließ die Kälte in seine Knochen kriechen.
Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, aber als er erwachte, stand der Mond hoch und hell am Himmel, und seine Glieder fühlten sich so schwer an wie Blei. Er öffnete die Augen und erschrak. Keine zwanzig Schritte den Hang hinauf stand ein riesiger Bär, der in die Luft schnupperte und ihn hungrig beäugte.
Die Angst trieb Gelik auf die Beine, er umklammerte seinen Speer und starrte das Tier mit aufgerissenen Augen an. Der schlammbraune Bär taxierte ihn gierig, bereit zum Sprung.
Der Berg hatte ihn erhört. Seit Menschengedenken war kein Lutum mehr mit einem Bärenfell über den Schultern heimgekehrt. Gelik packte seinen Speer mit beiden Händen und trat langsam einen Schritt auf das Tier zu.
Der Bär starrte ihn nur an. Dampf strömte aus seinen Nasenlöchern, und an seinen Hinterbeinen spannten sich dicke Muskeln an. Gelik fand sein Gleichgewicht, dann trat er langsam einige weitere Schritte vor. Er war jetzt nah genug, um seinen Speer zu werfen. Er hätte ihn dem Bären direkt ins Maul schleudern können, aber wenn er sein Ziel verfehlte, wäre er wehrlos. Der Zweifel nagte an ihm. Selbst mit einem Speer in der Schulter konnte der Bär ihm das Fleisch von den Rippen reißen und seine Knochen als Zahnstocher benutzen. Gelik trat noch einen Schritt vor.
Der Bär schnaubte, stieß sich plötzlich mit den Hinterbeinen ab und stürzte auf ihn zu. Seine gewaltigen Vordertatzen wirbelten den Schnee in einer Wolke weißen Grauens auf.
Geliks steife Glieder und eingefrorene Sinne ließen ihm keine Zeit zu reagieren. Der Bär krachte in ihn hinein, und beide stürzten den Berg hinunter. Durch die schiere Masse des Tieres und ihren gemeinsamen Schwung wurde Gelik an ihn gepresst. Mit einer Hand umklammerte er seinen Speer, seine einzige Hoffnung auf Überleben, während er sich mit der anderen verzweifelt am Fell des Bären festkrallte.
Es mochten Sekunden oder Stunden gewesen sein, aber schließlich landeten sie auf einem Plateau, wo ihr Aufprall von einer Schneeverwehung abgefedert wurde. Zu seiner Überraschung war Gelik irgendwie von dem Bären weggerollt. Er lag auf dem Rücken und hielt noch immer den Speer in der Hand. Er hätte zerquetscht werden können. Der Bär war nur wenige Schritte von ihm entfernt und sah sich schnaufend und verwirrt um.
Eine bessere Gelegenheit als diese würde Gelik nicht bekommen. Er zögerte nicht und sprang auf die Füße. Im Laufschritt rammte er dem Bären seinen Speer in die Brust.
Die Bestie brüllte vor Zorn und richtete sich auf den Hinterbeinen auf, und Gelik musste den Speer loslassen, um nicht in die Luft gehoben zu werden. Sie schlug ihm eine Tatze ins Gesicht, riss ihm mit den Klauen das Fleisch von den Knochen und hob ihn von den Füßen, sodass er über den Rand des Plateaus stürzte. Wieder fiel er, suchte Halt und fand keinen. Etwa dreißig Schritte weiter unten prallte er mit dem Rücken gegen einen Baum, und es verschlug ihm den Atem. Er schrie auf, als er spürte, wie irgendetwas in ihm brach. Dann saß er da, stöhnte unter den Schmerzen in seinem Rücken und seinen Rippen und versuchte, wieder Luft in die Lungen zu bekommen. Jeder Atemzug stach ihn wie ein Speer in die Brust. Wenigstens machte ihm die Kälte nicht länger zu schaffen. Er lachte bitter, und sein Gelächter wurde zu einem Schrei, als eine gebrochene Rippe an seiner Lunge kratzte.
Es vergingen mehrere Minuten, bis er wieder das Gefühl hatte, atmen zu können. Er presste sich eine Hand auf den Oberkörper und versuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht, auf die Beine zu kommen.
Gelik konnte sich glücklich schätzen, dass er dem Bären lebend entkommen war, aber das Tier würde mit Geliks Speer in seiner Brust nicht mehr lange durchhalten. Wenn es ihm gelang, den Pfad zurückzuverfolgen, den er beim Herunterrollen vom Plateau im Schnee genommen hatte, konnte er sich dem Bären von dort aus an die Fersen heften. Hoffnungsvoll schaute er den Hang hinauf.
»Kümmere dich nicht um den Bären. Schau hinter dich.«
Die Stimme hallte in Geliks Kopf wider, in einer misstönenden Melodie, die ihn dazu trieb, sich taumelnd aufzurappeln. Er wirbelte herum und hielt Ausschau nach der Quelle der Stimme. Doch da war niemand. Niemand außer einer weißen Hirschkuh, die ruhig an einem kleinen Teich hinter ihm trank.
»Ja, die Hirschkuh. Töte sie. Bade in ihrem Blut.«
Gelik betrachtete das Tier. Er traute der Stimme nicht. Vielleicht hatte die Kälte ihm den Verstand geraubt. Er schauderte. Das Fell der Hirschkuh schimmerte silbern im Mondlicht vor dem schwarzen Wasser.
Gelik hatte noch nie etwas so Schönes gesehen.
»Eine ansehnliche Beute, du könntest den Bären ohnehin nicht nach Hause schaffen. Töte die Hirschkuh, sonst wirst du auf diesem Berg sterben.«
Die Stimme hallte durch Geliks Schädel und bestätigte, was er bereits wusste. Er zog sein Messer und schlich sich lang-sam näher heran. Das Tier hatte aufgehört, aus dem Teich zu trinken, und sah ihn mit blauen, wachsamen Augen an. Alten Augen. Menschlichen Augen. Sie lockten ihn näher, lösten ihren Blick nicht von seinem, auch nicht, als Gelik die Klinge über den Hals des Tieres zog und sich das warme rote Blut über ihm ergoss.
Der hellblaue Himmel war wolkenlos, so idyllisch, wie nur ein Sommerhimmel es sein konnte. Rund um die wohlbehüteten Sandsteinmauern der Veilchenburg leuchteten die violetten Blumen, nach denen die Burg benannt war, im Sonnenlicht. Hoch oben zog ein einsamer Habicht gemächlich seine Kreise, während im hohen Gras die Grillen zirpten.
So stellte sich Pherri einen vollkommenen Tag vor. Sie saß im Obstgarten im Schatten eines Apfelbaumes, den Rücken an seinen Stamm gelehnt. Da’ri, ihr Lehrer, hatte auf der anderen Seite des Baumes Platz genommen, und sie las ihm laut aus den Chroniken des Imperiums vor: »… gestaltete den Regierungsrat des Imperiums in einen Senat mit zweihundertfünfzig Mitgliedern um, von denen nur die Hälfte Magier sein durften. An der Spitze des Senats sollte der Kzar stehen …«
»Wirst du dessen denn niemals müde?«, bemerkte Da’ri. Seine Stimme war warm, und es schwang wohlwollender Spott darin mit.
»Nicht, solange noch Atem in mir ist«, erwiderte Pherri, entrüstet über die Unterbrechung.
Da’ri gluckste. »Daran zweifle ich nicht, du würdest die ganze Nacht lesen, wenn deine Mutter dir eine Kerze erlauben würde.«
Dass sie keine Kerze haben durfte, war ein wunder Punkt für Pherri. Sie war jetzt elf Jahre alt und durchaus imstande, verantwortungsbewusst mit einer Kerze umzugehen, ohne ihr Schlafgemach in Brand zu setzen. Leider war ihre Mutter anderer Meinung, also verwahrte Pherri einen ganzen Vorrat davon unter einem Dielenbrett. In der vergangenen Nacht hatte sie eine gebraucht, als sie von einem schrecklichen Albtraum mit wilden Tieren, Blut und wirbelndem Schnee geweckt worden war. Danach hatte sie bis tief in die Nacht gelesen, bis die Erschöpfung sie einholte.
»Das Imperium erscheint mir ganz anders als Erland«, sagte Pherri. »Dort könnte ich Senatorin werden oder sogar der Kzar.« In Erland war es Frauen in der Regel nicht gestattet zu herrschen, es sei denn mit der ausdrücklichen Erlaubnis ihres Ehemannes. Pherris Vater war der zweitmächtigste Mann im Königreich, doch die Macht ihrer Mutter endete an den Grenzen ihrer Ländereien, wenn sie auch über die Veilchenburg wie über ihr eigenes Reich herrschte.
»Oder eine Sklavin. Oder einer der Magier, die nur wenige Jahrhunderte später aus Ulvatia vertrieben wurden.«
Pherri biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid.« Sie hatte gesprochen, ohne nachzudenken. Da’ri stammte aus Thrumb, einem kleinen Land in den Hügeln westlich von Erland, wo die Menschen hoch oben in den Bäumen lebten und namenlose Waldgötter anbeteten. Sie war zwar ein Mädchen, aber es war töricht, sich über ihre hohe Stellung als Nichte des Königs zu beschweren, während der Sohn des Königs gerade in Da’ris Heimat einfiel. Prinz Jarhik mochte ihr Cousin sein, aber sie betrachtete ihn kaum als solchen.
»Seid Ihr jemals einem Magier begegnet?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
Da’ri lachte. »Ich nehme an, ich bin weniger Magiern begegnet als du. Theodric, der Berater des Königs, ist ein Magier.«
»Ich habe ihn nie kennengelernt.« Pherri war es nicht gestattet, die Veilchenburg ohne eine Eskorte zu verlassen. Sie war noch nie weiter von zu Hause weg gewesen als in der Stadt Hochferren, die einen halben Tagesritt entfernt gerade noch auf dem Gebiet ihres Vaters lag.
»Bist du mit dem Lesen fertig?«, fragte Da’ri. »Dann könnten wir zu Mathematik oder Gartenbau übergehen.«
Pherri dachte einen Moment lang nach. Der Übungsplatz war nicht weit entfernt, und Orsian, ihr zweitältester Bruder, würde dort sein. Sie konnte das Klirren stumpfer Schwerter hören und die begeisterten Rufe der Krieger. Orsian war jetzt vierzehn und damit alt genug, dass man ihm Stahl anvertraute. »Können wir auf den Wehrmauern spazieren gehen?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Der Tag erscheint mir zu schön, um ihn mit Lesen zu vergeuden.« Das Imperium konnte sie nicht mehr fesseln.
»Ist die Verlockung, deinen Bruder mit Stöcken auf andere Leute einschlagen zu sehen, so groß, dass du dafür sogar aufs Lesen verzichtest? Dein Bruder ist eigentlich zu klug für so etwas.«
»Gerade weil er so klug ist, ist er ein guter Schwertkämpfer«, sagte Pherri zu seiner Verteidigung. Ihr ältester Bruder Errian hatte sie immer ignoriert, aber Orsian liebte sie über alles, und er war auf seine spezielle, ruhige Art gewitzt. Ihre Mutter sagte immer, er sei der Einzige gewesen, der Pherri als Baby habe zum Lachen bringen können, und ihr erstes Wort sei sein Name gewesen. Schon immer hatten sie sich sehr nahegestanden. Pherri klemmte sich ihr Buch unter den Arm und erhob sich, Da’ri schloss sich ihr an.
Während sie über die Wehrmauern spazierten und das fruchtbare Ackerland bewunderten, das sich bis zum Horizont erstreckte, bemerkte sie die finsteren Blicke der Wachen ihres Vaters, die Da’ri galten. Der Einmarsch des schneidigen Prinzen Jarhik in Thrumb als Antwort auf den Überfall der westlichen Grenzgebiete Erlands war das Gesprächsthema im Königreich, und sie wusste, dass viele Menschen Da’ris Anwesenheit hier als Provokation auffassten. Da’ri versuchte nicht, sich zu verstecken. Er trug sein ergrautes Haar immer noch zu sechs Zöpfen geflochten, wie bei seinen Landsleuten üblich, und im Gegensatz zu den Männern aus Erland stutzte er seinen Bart, bis nur noch ein Schnurrbart übrig blieb. Als ihr Lehrer stand er unter dem Schutz ihres Vaters, und kein Mann legte sich mit Lord Andrik Fassbrecher an.
Sie blieben oberhalb des Übungsplatzes stehen, und Pherri entdeckte Orsian sofort, der mit einem größeren und wahrscheinlich älteren Gegner die Schwerter kreuzte. Pherri wusste, dass Orsian und sie nicht im Mindesten wie Geschwister aussahen. Er hatte einen dunklen Hautton, war untersetzt und hatte dunkles, wild gelocktes Haar wie das ihres Vaters, während sie klein und dünn war wie ein Stock, mit feinem Haar in der Farbe von Stroh.
Sein Gegner hatte eine größere Reichweite, aber Orsian bewegte sich wie ein Tänzer. Der andere Mann verteidigte sich tapfer, aber jeder Schritt und jeder Schlag von Orsian schien darauf ausgerichtet, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Pherri beobachtete das Geschehen so gebannt, dass sie fast zu atmen vergaß. Schließlich ging der größere Mann unter der Wucht von Orsians Hieben zu Boden und gab sich geschlagen. Sie hätte gern applaudiert, wusste aber, dass es ihren Bruder in Verlegenheit brächte.
Zu Pherris Verwunderung war ihr Vater nicht zugegen. Als der Balhymeri des Königs, sein engster militärischer Berater, waren seine Pflichten zahlreich, aber wenn er Berichte zu lesen gehabt hätte, hätte er sie mit in den Hof gebracht.
Naeem, der Stellvertreter ihres Vaters, nickte anerkennend. »Nicht schlecht, Orsian.« Naeem hatte das wenig bemerkenswerte Aussehen eines Soldaten, abgesehen von einem Loch an der Stelle, wo seine Nase hätte sein sollen, das von seinem borstigen braunen Bart kaum verdeckt wurde. »Aber du.« Er drehte sich zu dem anderen Kämpfer um und stieß ein bellendes Lachen aus. »Bist du dir sicher, dass du mein Sohn bist? Ich fand ja immer, deine Mutter wirft dem Bäcker so seltsame Blicke zu.« Das trug ihm das laute Gelächter der versammelten Krieger ein, während Orsian seinen Gegner auf die Füße zog. Naeem zeigte auf einen anderen Mann, der dem Unterlegenen wie aus dem Gesicht geschnitten war. »Du bist der Nächste, Derik. Sieh zu, dass du die Familienehre wiederherstellst. Ich hätte seinen Vater einmal fast besiegt, weißt du.«
Orsian schaute zu den Befestigungsanlagen hoch, und sein Blick begegnete dem von Pherri. »Gebt Ihr mir ein paar Minuten, Naeem?«
Naeem ließ wieder einen schroffen Laut hören. »Spricht kaum ein Wort auf dem Übungsplatz, verlangt aber eine Pause, um mit seiner Schwester zu plaudern. Ihr seid mir ja schöne Krieger, Jungs.« Das trug ihm weiteres lautes Lachen von den Männern ein, und Orsian errötete. »Lasst Euch Zeit, junger Herr. Das Schwerttraining läuft nicht davon.«
Pherri ging Orsian auf halbem Weg die Treppe hinunter entgegen, während Da’ri auf der Wehrmauer blieb. Dass er den vielen bewaffneten Erländern lieber aus dem Weg ging, verwunderte sie nicht. Früher, als sie noch jünger gewesen waren, hätte Orsian sie vielleicht begrüßt, indem er sie hochhob und herumwirbelte, aber ihr einst verspielter Bruder war zu einem ernsten jungen Mann herangewachsen, zumindest in der Öffentlichkeit. Es machte ihr nichts aus; so wie Erwartungen an sie gestellt wurden, wurden auch welche an Orsian gestellt. Mit seiner kleinen Schwester zu spielen war etwas, das sich für einen erländischen Krieger nicht gehörte. Seine angespannte Miene ließ ihn noch ernster erscheinen als sonst. Irgendetwas machte ihm zu schaffen, das konnte Pherri erkennen.
»Gut gekämpft«, sagte sie.
»Danke.« Orsian wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin erst seit einigen Monaten imstande, Burik zu besiegen, und sein Bruder Derik schlägt mich meistens immer noch.«
Pherri hätte Zweifel daran kundtun können, ob es klug war, zur Übung mit Stahl gegen Männer aus dem eigenen Volk zu kämpfen, aber es schien Orsian zu gefallen. »Wo ist Vater?«
Orsian runzelte die Stirn, und Pherri ahnte, dass es die Abwesenheit ihres Vaters war, die ihn beunruhigte. »Er ist schon vor Sonnenaufgang fortgeritten. In der Nacht ist das Leuchtfeuer von Hochferren aufgelodert. Er hat mich geweckt, aber ich durfte ihn nicht begleiten.«
Pherri war weder aufgewacht noch hatte jemand daran gedacht, es ihr gegenüber zu erwähnen. Sie wusste, dass es sich nicht um eine bewusste Kränkung handelte – sie war erst elf Jahre alt und ein Mädchen –, aber trotzdem wurmte es sie. »Könnte es mit Neuigkeiten von Errian zusammenhängen?« Errian war unterwegs und kämpfte gegen den streitlustigen Stamm der Lutum auf der östlichen Seite des Eryispek-Berges. Er hätte eigentlich mit Prinz Jarhik nach Thrumb gehen sollen, aber dann hatten die Lutum angefangen, Schwierigkeiten zu machen. Es war seltsam, dachte Pherri, dass die Lutum zur selben Zeit zu einer Rebellion aufgerufen hatten, als die Thrumb mit ihren Überfällen auf Erland begonnen hatten. Sie würde Da’ri später danach fragen.
Orsian runzelte die Stirn, wie er es gewöhnlich tat, wenn die Rede auf Errian kam. Pherris Brüder ähnelten einander in vielerlei Hinsicht: Sie lebten beide für das Schwert, waren beide stolz und hassten einander. »Falsche Richtung. Es ist wahrscheinlich irgendein Vorfall auf der anderen Seite des Flusses. Wir können das Leuchtfeuer vielleicht von den Wällen aus sehen, falls es immer noch brennt.«
Zusammen mit Orsian kehrte Pherri auf die Wehrmauer zurück. Hochferren war viele Meilen entfernt, aber die Veilchenburg war auf einem hohen Hügel erbaut worden und gewährte so einen weiten Blick über die Ländereien in ihrem Herrschaftsbereich. Der Standpunkt stellte eine natürliche Verteidigungsposition dar, sodass keine Außenmauer vonnöten war. Der Schatten des schneebedeckten Eryispek beherrschte den Horizont im Osten, aber sie schauten jetzt in die entgegengesetzte Richtung.
Von dort galoppierten drei Reiter auf sie zu. Noch waren sie zu weit entfernt, als dass man ihre Gesichter hätte ausmachen können, aber ihre braun-grüne Fahne war nicht zu übersehen. »Das ist Vater«, sagte Pherri und deutete mit dem Finger auf die Reiter.
»Er treibt sein Pferd hart an.« Orsian zog die Brauen zusammen. »Womöglich bringt er Neuigkeiten aus dem Westen.«
Pherri biss sich auf die Unterlippe und folgte den Reitern mit ihrem Blick. West-Erland und Ost-Erland waren schon seit mehr als anderthalb Jahrhunderten ein vereintes Land, wenn auch immer noch durch den gewaltigen, reißenden Bleichen Fluss geteilt.
»Wir sollten in den Hof gehen, um ihn zu empfangen«, sagte Orsian. »Komm mit.«
Sie waren nicht die Einzigen, die die Reiter bemerkt hatten. Als sie in den Burghof hinuntergingen, ächzte das große Horn über dem Tor wie ein sterbender Riese und scheuchte die in den Mauern nistenden Vögel in die Lüfte auf. Stallburschen kamen herbeigeeilt, und das Tor knarrte, als vier Wachen sich mühten, es zu öffnen.
Pherri spürte eine Hand in ihrem Haar, und als sie sich umdrehte, erblickte sie ihre Mutter, die ihr ein paar lose blonde Strähnen zurück in das Band schob. »Du könntest versuchen, etwas besser achtzugeben«, tadelte sie. »Außerdem hast du Grasflecken auf deinem Kleid.«
Pherri bemühte sich, zerknirscht auszusehen. Sie hätte es ihrer Mutter ja gern recht gemacht, aber die Kluft zwischen Pherris wahrem Wesen und dem Mädchen, das sie in den Augen ihrer Mutter sein sollte, war unüberwindlich. Ihre Mutter fühlte sich wohl in ihrer Rolle; sie war dazu geboren, Herrin einer Burg zu sein, ihren Hausstand zu leiten und im Namen ihres Ehegatten Recht zu sprechen, und nie war auch nur ein Haar oder ein Faden am falschen Platz. Alles, was Pherri wollte, war, mit ihren Büchern in Ruhe gelassen zu werden. Ihre Mutter sah in dem hellblauen Kleid mit goldbestickten Borten wie immer glänzend aus. Ihr dickes blondes Haar fiel ihr offen über die Schultern. »Tut mir leid, Mutter.«
Ihre Mutter lächelte und beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss auf den Kopf zu drücken. »Ich weiß, dass es dir nicht wirklich leidtut, aber du wirst immer besser im Lügen.«
Sie hörten das Klappern von Pferdehufen, dann preschte ihr Vater mit seinem großen schwarzen Hengst Valour, der vor Anstrengung Schaum vor dem Maul hatte, durchs Tor. Die Diener wichen erschrocken zurück, als das Pferd zum Stehen kam und die Hufeisen Funken sprühten, während sie kreischend über den Stein schrappten.
Pherri lebte in Ehrfurcht vor ihrem Vater, obwohl sie gewöhnlich nur wenig mit ihm zu tun hatte. Er war oft irgendwo weit weg von der Veilchenburg, und wenn er zurückkehrte, fand er immer hundert Dinge, denen er sich widmen musste. Manchmal erzählte er ihr abends Geschichten, aber meist galt seine Aufmerksamkeit Dingen, die den König betrafen, und den heftigen Streitereien ihrer Brüder.
Seine aus Leder und Eisen gefertigte Rüstung saß an ihm, als wäre er darin auf die Welt gekommen. Sein Gesicht wirkte streng, die schwarzen Brauen verschatteten seine dunklen Augen. Er würdigte den Stallburschen, der vortrat und ihm die Zügel abnahm, keines Blickes und hielt sich gegen seine sonstige Gewohnheit nicht damit auf, ihm zu danken. Hinter ihm lief sein riesiger Wolfshund Numa.
»Orsian, Viratia, Naeem, folgt mir«, knurrte er und sah Pherri dabei nicht einmal an. Entschlossen schritt er auf den Bergfried zu, während die drei, die er zu sich befohlen hatte, ihm nacheilten.
Auch Pherri rannte auf ihren dünnen Beinen hinter ihnen her. Irgendetwas Wichtiges war hier im Gange, und sie hatte nicht die Absicht, es zu verpassen.
Sie gingen in die Gemächer ihrer Eltern, aber als Pherri versuchte, ihnen zu folgen, wurde ihr der Weg versperrt. Ihr schwarzbärtiger Vater schaute lächelnd auf sie herunter. »Und wo willst du bitte hin?« Er hob sie mit einem Arm hoch, als wöge sie kaum mehr als eine Puppe.
»Ich will die Neuigkeiten aus dem Westen hören.« Sie mussten es ihr einfach erlauben. Orsian war schließlich nicht so viel älter als sie, und Naeem gehörte nicht einmal zur Familie.
Ihr Vater lachte eine Spur zu laut, wie sie fand, als wollte er sein Unbehagen verbergen. »Ich fürchte, die Neuigkeiten sind nicht für die Ohren kleiner Mädchen bestimmt.« In diesem Moment kam Da’ri um die Ecke. »Und da ist ja auch dein Lehrer. Zurück zu deinem Unterricht, würde ich sagen.« Er küsste sie auf die Stirn und reichte sie an Da’ri weiter.
»Versucht, besser auf meine Tochter aufzupassen«, sagte ihr Vater streng zu ihm. Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Stattdessen trat er in seine Gemächer und schlug die Tür hinter sich zu.
»Das war eigenartig.« Da’ri verzog kaum merklich das Gesicht und stellte Pherri wieder auf den Boden. »Dein Vater ist sonst immer von ausgesuchter Höflichkeit.«
»Er macht sich wegen irgendetwas Sorgen«, sagte Pherri. Rasch drückte sie ein Ohr an die Tür, aber die bestand aus dickem Eichenholz, sodass Pherri nur ihren eigenen Herzschlag hörte. Doch sie musste unbedingt erfahren, was da vor sich ging. Orsian würde es ihr später erzählen, aber was, wenn ihr Vater ihn zur Verschwiegenheit mahnte? Sie dachte kurz nach. Es gab ein Fenster hoch oben in diesem Raum, das auf das Dach eines Lagergebäudes hinausging. Noch bevor Da’ri sie aufhalten konnte, rannte sie los.
»Pherri!«, rief er ihr nach, aber sie lief bereits in Richtung des Nebengelasses.
Als sie nach draußen stürmte, verfehlte sie nur knapp zwei Diener, die mit Speisen beladene Platten trugen. Vor dem Nebengebäude standen mehrere Fässer übereinander, und Pherri kletterte behände an ihnen empor aufs Dach. Da’ri würde ihr folgen können, aber er würde sie nicht verraten, schon aus Sorge davor, ihren Vater zu verärgern. Zu ihrer Freude sah sie, dass das Fenster einen Spaltbreit offen stand, und drückte sich an die Mauer, um zu lauschen.
Unten im Raum nahm Orsian neben Naeem am Tisch Platz. Das Empfangszimmer seiner Eltern war einfach eingerichtet, mit Wandbehängen, die seine Mutter genäht hatte, und Möbeln aus Hartholz. Das einzige Zeichen ihres Wohlstands war das vergoldete Schwert mit den Rubinen am Griff, das über der Tür zu ihrem Schlafgemach hing. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er seinen Vater jemals mit diesem Schwert gesehen hätte. Der Griff, der aus der Scheide ragte, war aus schwarzem Leder, abgenutzt und ausgeblichen. Orsians eigenes Schwert hatte ebenfalls einst seinem Vater gehört. Lord Andrik Fassbrecher hielt nichts davon, guten Stahl zu verschwenden.
Sein Vater saß am Kopfende des Tisches und wartete, dass die Diener die Speisen auf den Tisch stellten und wieder gingen. Orsian brannte darauf, zu erfahren, welche Nachrichten seinen Vater vor dem Morgengrauen aus dem Haus getrieben und ihn in derart schlechte Laune versetzt hatten. Wenn es Krieg geben sollte, war er bereit. Er hatte sich oft genug auf dem Übungsplatz bewiesen, und niemand konnte an seinen Fähigkeiten an der Waffe zweifeln. Wenn er gut kämpfte, würde es ihm vielleicht sogar gestattet werden, dem Hymerikaikorps beizutreten, der Elitewache des Königs.
Er wusste, dass er jedes Quäntchen seines Könnens brauchen würde, wenn er sich in den kommenden Jahren ein eigenes Leben aufbauen wollte. Als ältester Sohn erbte sein Bruder Errian sämtliche Ländereien der Familie, von der Veilchenburg bis zum armseligsten Moor. Orsians einzige Hoffnung bestand darin, die Gunst König Hessians und die seines Erben Prinz Jarhik zu erlangen. Er konnte sich nicht darauf ver-lassen, dass Errian ihn gerecht behandeln würde, wenn ihre Eltern einmal nicht mehr da waren.
Orsian sah seinen Vater an und kam sich sofort töricht vor. Andrik Fassbrecher konnte noch Jahrzehnte zu leben haben. Selbst seine Feinde hätten eingeräumt, dass er der größte Krieger im gesamten Königreich war. Er sah aus, als wäre er aus Eichenholz geschnitzt. Sein schwarzer Bart war grau meliert, aber an seiner Willens- und Waffenstärke bestand kein Zweifel. Im Alter von nur sechzehn Jahren hatte er eine Rebellion niedergeschlagen, und als sich West-Erland vor sechzehn Jahren erneut aufgelehnt hatte, war er auch dagegen erfolgreich vorgegangen. Kein Mann in Erland genoss so viel Respekt wie sein Vater, nicht einmal der König. Wenn es irgendjemanden gab, der ein hohes Alter erreichen würde, dann war er es.
»Lasst uns allein«, befahl sein Vater, nachdem die Diener endlich alle Speisen und Getränke gebracht hatten. Naeem übernahm sofort die Aufgabe, Bier auszuschenken, und die Diener verließen den Raum.
Sein Vater fackelte nicht lange. »Prinz Jarhik ist tot.«
Orsians Mutter schnappte nach Luft, und Naeem, der seinen Becher halb zum Mund geführt hatte, klappte der Unterkiefer herunter.
Orsian war genauso schockiert wie sie. Prinz Jarhik war erst achtzehn Jahre alt gewesen und ein fähiger Krieger. Orsian bemühte sich um eine steinerne, ungerührte Miene. Sein Vater würde wollen, dass er sich wie ein Mann verhielt, nicht wie ein gefühlsduseliges Kind.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Naeem.
»Der Prinz hat eine Friedensgesandtschaft aus der Garnison in Thrumbalto empfangen. Er erwartete ihre Kapitulation, aber es war ein getarnter Meuchelmörder unter ihnen. Wie es scheint, trug unser Prinz eine Verletzung durch eine mit Gift bestrichene Waffe davon. Vor zehn Tagen ist er gestorben.«
Alle am Tisch verfielen in Schweigen. Orsian beobachtete seinen Vater genau. Er hatte Jarhik nicht gut gekannt – Errian hatte ihm nahegestanden –, aber der Prinz hatte nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, der sich bei einer Friedensverhandlung überrumpeln ließ.
Doch was bedeutete das für die Thronfolge? König Hessian hatte zwei Töchter, aber die Krone Erlands konnte nur über die männliche Linie weitergegeben werden. Es war ein Gesetz, das auf den Stamm der Meridivale zurückging, die durch das südliche Ödland gezogen waren, bevor sie sich zu Königen über Erland hatten krönen lassen.
»Möge Eryi ihn von der Erde nach Eryispek über den Wolken bringen«, murmelte Naeem die traditionellen Worte. Die anderen stimmten ein, und dann tranken sie alle.
»Ist Prinzessin Tarvanas Sohn jetzt der Thronerbe?«, erkundigte sich Naeem hoffnungsvoll, obwohl Orsian sich sicher war, dass er ihre Gesetze genauso gut kannte wie er selbst.
»Nein.« Andriks Stimme war ernst. »Die Krone wird auf den Cousin des Königs, Lord Rymund Prindian, übergehen.«
Naeem stieß zischend den Atem aus. »Nein. Das können wir nicht zulassen.«
»So will es das Gesetz.« Andrik warf Naeem einen strengen Blick zu. »Ungeachtet der früheren Verbrechen seiner Familie ist Lord Rymund jetzt der Erbe. Wir haben einen Eid geschworen, der Krone zu dienen, Naeem, und nicht einem König unserer Wahl aus einer Laune heraus.«
»Und was wird Hessian tun?«, fragte Orsians Mutter Viratia, die zum ersten Mal das Wort ergriff. Es war typisch für seine Mutter, erst einmal nachzudenken und dann direkt zum Kern der Sache zu kommen. »Wird er wieder heiraten? Ein König braucht einen Erben.«
Hessians Frau war bei der Geburt von Prinzessin Helana gestorben, bevor Orsian zur Welt gekommen war. Der Gedanke an Helana ließ Orsians Herz ein wenig schneller schlagen. Die zweitälteste Tochter des Königs war schwer zu bändigen und wunderschön, und obwohl sie als Kinder zusammen gespielt hatten, war er in ihrer Nähe jetzt oft unsicher und wortkarg. Er befürchtete, dass man ihm seine Gedanken ansehen könnte, und so versteckte er sich für einen Moment hinter seinem Bierhumpen und tat, als nähme er einen tiefen Schluck.
»Das muss er tun«, sagte Andrik. »Er hat jetzt sechzehn Jahre lang getrauert. Elyana hätte nicht gewollt, dass er allein stirbt und zulässt, dass Erland an die Prindians geht. Und Hessian weiß, was von ihm erwartet wird. Er wird sich vermählen. Es beschämt mich, dass ich ihn in der Vergangenheit nie dazu gedrängt habe.
Aber wir müssen uns auch auf einen Krieg vorbereiten. Wir kämpfen bereits an zwei Fronten, und wer weiß, wie sich diese Entwicklung auf Prindians Ambitionen auswirken wird. Wenn seine Mutter davon hört, wird sie ihn dazu drängen, seinen Anspruch mit dem Schwert durchzusetzen. Sie könnten gemeinsame Sache mit Thrumb oder dem Imperium machen.«
Naeem schnaubte. »Er kann gemeinsame Sache machen mit wem zur Hölle er will. Wir werden ihn über den Bleichen Fluss zurückjagen, und das Imperium gleich mit, falls es beschließt aufzubegehren.«
Orsian war sich da nicht so sicher. Das Imperium lag weit jenseits der Berge, aber es war viel wohlhabender und bevölkerungsreicher als Erland. Es gab Geschichten darüber, wie Erland es einst besiegt hatte, aber Orsian glaubte nicht recht an sie, denn sie handelten meist von zwei Meter großen Königen, die eigenhändig fünftausend Männer getötet hatten.
»Aber das Hymerikaikorps muss gewappnet sein«, gab Naeem zu. »Reiten wir in die Hauptstadt?«
Andrik nickte. »Morgen früh. Sorg dafür, dass die Männer fertig zum Aufbruch sind, und berichte ihnen von Jarhiks Tod. Und wenn einer von ihnen verlangt, dass wir nach Thrumb reiten, kannst du ihm sagen, dass ich es verbiete. Die Thrumb können warten. Wir reiten bei Tagesanbruch los. Du auch, Orsian.«
Als Orsian zusammen mit Naeem den Raum verließ, klopfte ihm das Herz vor Stolz wie eine Marschtrommel. Sein Vater wollte ihn mit in den Krieg nehmen! Er fühlte sich bereit und musste gegen die Unruhe ankämpfen, die sich in seinem Magen eingenistet hatte. Dafür hatte Orsian trainiert, und für einen Moment vergaß er sogar, dass der Prinz tot war und er eigentlich trauern sollte.
»Düstere Nachrichten, Junge«, sagte Naeem, als sie gemeinsam auf die Soldatenunterkünfte zugingen, und holte Orsian damit in die Gegenwart zurück. »Ich habe immer gewusst, dass die Thrumb Barbaren sind. Einer von denen hat mir meine Nase genommen.« Er tippte sich zweimal auf die Narbe, dort, wo früher seine Nase gewesen war. »Ich habe dem Prinzen das Kämpfen beigebracht, und er war einer der Besten.« Er spuckte aus. »Die Thrumb wären im Kampf niemals an ihn herangekommen, diese feigen, treulosen Bastarde.«
Jarhiks Tod betrübte Orsian – er wäre eines Tages sein König geworden, und er verspürte ihm gegenüber eine natürliche Loyalität –, aber er konnte auch nicht vergessen, dass Jarhik und Errian unzertrennlich gewesen waren. Errian war dreist und eitel; wer ihn zu seinen Freunden zählte, war in Orsians Augen nur die Hälfte wert. »Denkt Ihr, es wird Krieg geben?«, fragte er. Mit Naeem konnte man besser reden als mit seinem Vater. Auf dem Übungsplatz war er ein strenger Lehrmeister und schwer zufriedenzustellen, aber privat lachte er gern und war ein begabter Geschichtenerzähler.
»Ja.« Naeem war direkt und offensichtlich nicht in der Stimmung für Geschichten. »West-Erland wird erneut aufbegehren, genau wie es das unter Ranulf Prindian getan hat. Die Norhai mögen mich niederstrecken, wenn ich mich irre.«
Orsian hatte von Ranulf gehört, Lord Rymunds älterem Bruder. Er hatte die Familie von Königin Elyana entführt und ermordet, um Hessian zum Kampf zu provozieren, und dadurch einen Krieg angezettelt, um West-Erland zurückzuerobern. Nach Andriks Sieg über ihn hatte der König Ranulf in ein Verlies im tiefsten Kerker von Pfeiferswehr geworfen. Der bloße Gedanke daran ließ Orsian schaudern. Es hieß, es gäbe Ebenen in den Kerkern, die so tief und vergessen waren, dass dort nur Geister patrouillierten. »Über Rymund Prindian habe ich bisher nur gehört, dass er faul und ohne Ehrgeiz sei.«
Naeem schnaubte. »Das Blut wird es zeigen. Ich weiß, dass er ein fauler Kerl sein soll, aber seine Mutter ist es nicht. Breta Prindian hat die Alte Linie nie vergessen, keinen Tag lang. Ihr war klar, dass Ranulf zu dumm war, um zu herrschen, deshalb hat sie ihn zu einem Aufstand angestiftet, den er nicht gewinnen konnte, damit der Titel des Lords an Rymund ging. Und in den letzten sechzehn Jahren wird sie ihm jeden Tag mit dem Mist über sein Geburtsrecht und das Königreich, das die Väter deines Vaters gestohlen hätten, die Sinne vernebelt haben. Es wird Krieg geben, wenn sie ihren Willen bekommt, denk an meine Worte.«
Pherri hatte jedes Wort ihrer Unterredung mitbekommen. Da’ri hatte ihr anschließend eine ziemliche Strafpredigt gehalten, aber er selbst hatte nur allzu gern zugehört, sobald er sich auf das Dach des Lagerraums gekämpft hatte. »Es wird Krieg geben«, hatte er ihr grimmig erklärt, als Pherri ihn gefragt hatte, was die Nachrichten bedeuteten. »Bürgerkrieg für Erland, Vernichtung für die Thrumb, und für mich …« Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Wer weiß? Auf der Veilchenburg bin ich vermutlich nicht mehr sicher, falls ich es überhaupt je war.«
Es war schon spät, und Pherri lag im Bett, aber sie konnte vor lauter Sorge um Da’ri nicht schlafen. Die Tatsache, dass er ein Thrumb war, hatte schon genug Feindseligkeit hervorgerufen, und jetzt würde der Tod des Prinzen die Lage noch zehnmal schlimmer machen. Sie hoffte, dass er heute Abend seine Türen verriegelte. Inzwischen würde sich die Nachricht bis zu den Soldaten und Wachen herumgesprochen haben, und nach einem durchzechten Abend in ihren Unterkünften konnten ihre Gedanken leicht in Richtung Rache wandern.
Vielleicht würde ihr Vater Da’ri fortschicken, zu seinem eigenen Schutz. Aber wer sollte sie dann unterrichten? Sie hatte bereits jedes Buch in ihrer kleinen Bibliothek zweimal gelesen. Die Bibliothek von Pfeiferswehr beherbergte angeblich mehr als tausend Bücher, aber ihre Mutter würde ihr niemals erlauben, dorthin zu gehen. Und was war mit Orsian? Vielleicht konnten sie ihren Vater überreden, dass er hierblieb, um Pherri und ihre Mutter zu beschützen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er in den Krieg zog, um andere Männer zu töten oder selbst getötet zu werden.
Da sie nicht schlafen konnte, las sie bei Laternenlicht unter ihrer Bettdecke. Das ging so lange, bis es an der Tür klopfte und sie vor Schreck beinahe die Laterne umgeworfen hätte.
»Ich bin’s«, erklang Orsians gedämpfte Stimme. Pherri stellte ihre Laterne auf den Tisch und erhob sich, um die Tür zu entriegeln.
»Du hast es also schon gehört?«, fragte er, als er sich setzte und das Buch mit der Ahnenreihe des erländischen Adels auf ihrem Tisch entdeckte. Pherri hatte darin Rymund Prindians Abstammung zurückverfolgt, um herauszufinden, warum er der Thronerbe war. »Natürlich hast du zuerst in einem Buch nach Antworten gesucht.«
»Inzwischen weiß es jeder.« Sie würde Orsian nicht verraten, dass sie ihre Unterredung belauscht hatte. »Ich habe gehört, dass du fortgehst.«
Orsian nickte ernst. »Wenn die Prindians sich erheben, könnte es Krieg geben. Wir werden kämpfen müssen.«
Bei dem Gedanken, dass Orsian in den Krieg ziehen könnte, krampfte sich Pherris Herz zusammen. Sie sprang auf und warf die Arme so heftig um ihren Bruder, dass er zusammenfuhr. »Bitte, geh nicht.« Tränen schossen ihr in die Augen. Orsian ging fort, und Da’ri würde vielleicht ebenfalls gehen müssen. Sie würde allein zurückbleiben, ohne einen Menschen, der sie vor der Enttäuschung ihrer Mutter beschützte. »Sag Vater, dass du hierbleiben und auf Mutter und mich aufpassen musst.«
Orsian lachte und umarmte sie, aber als er sich wieder von ihr löste, war sein Gesicht ernst. Er wirkte plötzlich älter als noch vor wenigen Stunden. »Ich muss das tun, für Vater. Für uns alle. Dafür wurde ich geboren. Glaubst du, wir wären noch sicher, wenn Rymund Prindian die Krone an sich reißen würde? Vater ist ein halber Sangreal; wir würden als Bedrohung angesehen werden.«
Pherri versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken und den Knoten der Angst in ihren Eingeweiden zu verdrängen. Orsian wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Rechtmäßigkeit des Krieges oder seinen Platz im Königreich Erland infrage zu stellen. Seine Gradlinigkeit war eines der Dinge, die sie an ihm liebte. »Wo wollt ihr denn hin?«
»Zuerst nach Merivale, um mit dem König zu sprechen. Vater wird versuchen, ihn dazu zu überreden, wieder zu heiraten. Das Schwierigste wird sein, eine Braut für ihn zu finden. Jedes adelige Mädchen in Erland hatte sein Herz an Prinz Jarhik gehängt.«
Pherri dachte einen Moment lang nach. Sie trat an den Tisch und schlug das Buch, in dem sie gelesen hatte, eine Seite weiter hinten auf. Dann überflog sie den Text und blätterte vor und zurück.
»Da«, sagte sie und zeigte triumphierend mit dem Finger auf die Seite. »Lady Ciera Binsendocht, sechzehn Jahre alt und verlobt mit Lord Rymund Prindian. Ihr Vater ist einer der reichsten Lords in Ost-Erland. Sie sollte der König heiraten.«
Orsian beugte sich über die Seite. »Du würdest also von Lord Binsendocht verlangen, dass er die Verlobung auflöst? Und sie stattdessen den König heiraten lassen?«
Pherri nickte. »Nimm den Prindians einen Verbündeten und gewinne einen für uns. Lord Binsendocht ist ein Vasall des Königs, er würde Ja sagen müssen.«
Ein Lächeln breitete sich auf Orsians Gesicht aus. »Bei Eryis Zähnen, Pherri, das ist genial!« Er hob sie hoch und wirbelte sie herum, bis Pherri schwindelig wurde und sie lachen musste. »Ich werde es Vater sagen. Mit einem solchen Verstand solltest du ein Lord sein.«
Pherri grinste. Sie war froh, dass sie Orsian helfen konnte. Und wenn der König eine vorteilhafte Ehe einging, würde der Krieg vielleicht abgewendet werden. Dann konnte Orsian nach Hause kommen und Da’ri bleiben, und niemand würde sterben müssen.
»Ich muss gehen«, sagte Orsian und umarmte seine Schwester noch einmal. »Ich bin hergekommen, um mich zu verabschieden. Wir reiten im Morgengrauen los.«
Stürmisch erwiderte Pherri seine Umarmung und küsste ihn auf die raue Wange, die mit schwarzen Stoppeln überzogen war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie vorher schon da gewesen waren. »Pass auf dich auf, Orsian. Und komm nach Hause, so schnell du kannst.«
Sie zogen los, als die Sonne aufging, und die Zwillingsbanner von Sangreal und Fassbrecher flatterten im Sommerwind, ihre Schatten lang und fahl im frühen Licht des Morgens.
Andrik gab ein zügiges Tempo vor und ritt zu schnell, als dass irgendjemand neben ihm hätte reiten und mit ihm sprechen können. Nur seine beiden Wolfshunde leisteten ihm Gesellschaft, drahtige, pechschwarze Kreaturen, die sich an Valours Fersen hefteten. Er musste nachdenken, und zwar allein, und es gab kaum einen besseren Ort dafür als auf dem Rücken eines Pferdes, wo nur das gleichmäßige Schlagen der Hufe seine Konzentration störte.
Dies war sein siebenundvierzigster Sommer, dreißig Jahre waren seit seinem ersten Krieg vergangen, mehr als ein halbes Leben hatte er im Dienste Erlands verbracht. In Wahrheit noch länger; er war jetzt seit über vierzig Jahren Hessians Gefolgsmann, seit sein Halbbruder ihn beim Spielen auf dem Fußboden im großen Saal von Pfeiferswehr gefunden hatte, einen unerwünschten königlichen Bastard, geboren von einer verstorbenen Fremden.
Vierzig Jahre Loyalität für das Geschenk eines Wolfshundwelpen und eines hölzernen Spielzeugpferdes. Hessian sagte immer, er hätte nie einen besseren Handel abgeschlossen, aber Andrik empfand ganz genauso. Eine prächtige Festung mit fruchtbarem Land, eine liebevolle, wunderschöne Ehefrau und drei Kinder. Nichts davon wäre möglich gewesen ohne die Gunst des Königs. Ohne Hessian wäre Andrik inzwischen wahrscheinlich längst tot, im Schlaf erstickt von einem der Diener von Hessians Mutter, oder verbannt aus der Festung und in einer Gasse von Merivale wegen eines Kantens Brot erdolcht.
Das hatte er auch zu Viratia gesagt, als sie ihn gedrängt hatte, nicht fortzugehen, sondern darauf zu warten, dass Hessian nach ihm schickte, ihn ausnahmsweise einmal seine eigenen Schlachten ausfechten zu lassen. »Ich werde es nie verstehen«, hatte sie ihm geantwortet, nachdem er ihre Bitte abgelehnt hatte. »Der Mann ist unvernünftig, Andrik. Was schuldest du ihm noch mehr als das, was du ihm schon hundertfach gegeben hast?«
»Alles«, war seine einfache Antwort gewesen. »Ich habe ihm als Knabe einen Eid geleistet, und mit der Zeit habe ich gelernt, ihn zu lieben wie einen Bruder. Er ist immer noch dieser Mann, Viratia, und er wird immer auf meine Loyalität zählen können.«
Es machte den Tod von Prinz Jarhik nur umso unerträglicher. Andrik hatte Hessian vor sechzehn Jahren geraten, sich erneut zu vermählen, aber der König wollte damals nichts davon hören. Der Verlust Elyanas hatte ihn sehr mitgenommen. Er hatte sich zurückgezogen und war zufrieden gewesen, andere das Königreich regieren zu lassen, während er in Verfolgungswahn und Verbitterung versank. So konnte es nicht weitergehen.
Die Wahrheit, die Andrik niemals über die Lippen brin-gen würde, war, dass Jarhik ein Narr gewesen war. Er hatte nie gelernt, vorsichtig zu sein, und jeder, der sich seinen Launen widersetzt hatte, war schnell aus dem Kreis der jungen Lords, die ihn umgaben, ausgestoßen worden. Aber Andrik machte sich auch selbst Vorwürfe. Er hätte anstelle des Prinzen nach Thrumb gehen sollen, aber Jarhik hatte verzweifelt auf sein erstes Kommando gedrängt, und Hessian hatte dem nachgegeben.
Doch jetzt war keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Sie mussten handeln, und das konnte Andrik nicht allein tun. Er war ein Krieger, und mehr hatte er nie sein wollen. Er brauchte Hessians Listigkeit. Trotz seiner Schwäche war der Verstand des Königs immer noch scharf. Vielleicht würde der Tod seines Erben ihn aus seinem Dämmerschlaf aufrütteln. Wenn nicht, waren sie verloren.
Der Lärm von herannahendem Hufschlag riss ihn aus seinen Überlegungen, und als er sich umdrehte, sah er Orsian auf sich zupreschen. Er rief ihm etwas zu. Andrik verringerte sein Tempo ein wenig, um seinem Sohn die Möglichkeit zu geben, ihn einzuholen. Er hatte früher gehofft, dass seine Söhne heranwachsen würden, um für Jarhik zu kämpfen, so wie er es für Hessian getan hatte. Jetzt fragte Andrik sich, ob er in fünfzehn Jahren vielleicht immer noch Seite an Seite mit ihnen kämpfen würde, um die Krone für einen noch ungeborenen König zu sichern. Andrik würde dann um die sechzig sein, weit über das Alter hinaus, in dem die meisten Männer ihre Schwerter an den Nagel hängten.
Als er jetzt Orsian betrachtete, mit seinem gelockten Haar und dem dunklen Teint, war es, als sähe er das Gespenst des Knaben, der er selbst einmal gewesen war, auch wenn er sich genauso draufgängerisch und töricht aufgeführt hatte wie Jarhik. Das war nichts, das man Orsian je hätte vorwerfen können. Sein zweitgeborener Sohn war ernst und fleißig in allem. Das würde ihm gute Dienste leisten. Errians Temperament glich eher dem von Andrik in seinen früheren Jahren, obwohl sie einander äußerlich überhaupt nicht ähnlich waren: zu stolz und zu bereit, etwas als Kränkung aufzufassen, aber unnachgiebig in Worten und Taten. Seine Söhne hätten einander gut ergänzt, wenn sie nur vernünftig genug gewesen wären, miteinander auszukommen.
»Was gibt es, Orsian?«
»Hast du schon über die Braut des Königs nachgedacht?«, fragte er etwas atemlos, da er sein Pferd hart angetrieben hatte, um Andrik einzuholen.
Sein Sohn war direkt auf den Punkt gekommen, was Andrik zu schätzen wusste. »Ich gestehe, das habe ich noch nicht.«
»Lady Ciera Binsendocht aus Klippwehr. Sie ist Lord Prindian versprochen.«
Andrik erinnerte sich, dass diese Verlobung schon vor Jahren bekannt gegeben worden war. Der junge Prindian hätte sie inzwischen längst ehelichen sollen. Es sprach für seine Trägheit, dass er es nicht getan hatte.
»Lord Binsendocht herrscht über Klippwehr«, fuhr Orsian eifrig fort, als Andrik nicht antwortete. »Es hat einen florierenden Hafen, und Binsendocht ist ein wohlhabender Mann.«
»Und du schlägst vor, dass wir stattdessen für Hessian Anspruch auf sie erheben.« Das Mädchen war jung, zu jung vielleicht, aber das war an sich nicht ungewöhnlich. Und Andrik kannte Lord Binsendocht: Wenn er auch nur halb so furchtsam war wie in ihrer Jugend, würde er ihnen ihre Bitte nicht abschlagen. »Es ist ein guter Plan, aber er stammt nicht von dir.« Andrik lächelte. Orsian war klug, doch zu arglos, um selbst auf so eine Idee zu kommen.
Orsian verzog das Gesicht. »Es war Pherris Vorschlag«, gab er zu. »Sie hatte ein großes Buch über die Familien Erlands im Zimmer liegen.«
»Meine kluge Tochter.« Vielleicht hätte er Pherri doch in ihre Beratung am Tag zuvor einbeziehen sollen. Es war ein Einfall von der Art, wie Viratia ihn vielleicht gehabt hätte, obwohl es ihr widerstrebt hätte, eine derart junge Braut für Hessian vorzuschlagen. Es würde schwierig werden, eines Tages einen Gemahl für Pherri zu finden. Nicht viele Männer wünschten sich eine kluge, neugierige Ehefrau. »Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast.«
Es war ein Dreitagesritt bis nach Merivale, und obwohl Andrik keine Verzögerung wünschte, gestattete er ihnen, jeden Abend anzuhalten und ein Lager aufzuschlagen. Es würde vielleicht bald eine Zeit kommen, in der er von seinen Männern verlangen müsste, die Nacht durchzureiten, und es war wichtig, dass sie sich dann einer solchen Forderung nicht widersetzten.
Außerdem wollte sich Andrik eigentlich nicht beeilen, damit Hessian die Nachricht einige Tage und nicht nur Stunden vor seiner Ankunft empfing. Wenn Hessian in seiner tiefsten Trauer einen Befehl gab, war es Andriks Ehrenpflicht, ihm zu gehorchen, ganz gleich, was er verlangte. Ein oder zwei Tage konnten einen gewaltigen Unterschied machen. Die Boten würden die Nacht durchreiten und an den Wegstationen frische Reittiere bekommen. Sie sollten Merivale inzwischen fast erreicht haben.
Am zweiten Tag war es ungewöhnlich warm, was sowohl die Reiter als auch die Pferde durstig und reizbar machte. Die Hitze hielt bis zum Abend an, und sie sparten sich die Mühe, ein Feuer zu entzünden, als sie haltmachten, um zu schlafen. Niemandem war es danach zumute, zu trinken oder Geschichten zu erzählen, und Naeems Versuche stießen auf taube Ohren.
Andrik blieb bis tief in die Nacht hinein wach, während der Boden unter ihm abkühlte. Der Nachthimmel war wolkenlos, und ein Teppich funkelnder Sterne entfaltete sich in alle Richtungen bis zum Horizont und darüber hinaus.
Zwischen den Überfällen der Thrumb und der Rebellion der Lutum hatte es sich bereits so angefühlt, als würde Erland auseinanderfallen. Und jetzt würden sie vielleicht auch noch gegen die Prindians kämpfen müssen. Sie waren die wahre Bedrohung, die noch jedem König der Sangreal-Dynastie seit dem Abkommen schlaflose Nächte bereitet hatte.
Seltsam und misslich genug, dass wir uns mit zwei Bedrohungen abgeben mussten, die ein halbes Land auseinanderliegen. Jetzt auch noch eine dritte. Und die Norhai haben sich das Schlimmste bis zum Schluss aufgehoben.
Sollte es zu einem Krieg kommen, war Einigkeit der Schlüssel. Jeder Lord schwor Hessian die Treue, und jeder, der seinen Eid hielt, wäre einer weniger für die Prindians.
Andrik konnte nicht einmal innerhalb seines eigenen Hauses Einigkeit herstellen. Er hatte Errian in den Kampf geschickt, zum einen, um sich für den Angriff der Lutum auf die Stadt Basseton zu rächen, zum anderen, um ihn und Orsian zu trennen. Seine Söhne waren zerstritten, seit sie das erste Mal ein Schwert in der Hand hielten. Für ihn und Hessian war es einfacher gewesen – ihr Altersunterschied betrug mehr als ein Jahrzehnt, und sie hatten beide erkannt, was der jeweils andere ihm zu bieten hatte. Errian und Orsian lagen altersmäßig zu nah beieinander, waren zu unterschiedlich und kämpften beide zu gern.
Er würde ihnen eine Brücke schlagen müssen. Noch war Zeit dafür. Errian hatte dem Prinzen nahegestanden, und es würde ihn zutiefst betrüben, wenn er von dessen Tod erfuhr. Wenn Orsian dann bei ihm war, würden die beiden vielleicht miteinander ins Reine kommen.
Am Abend des dritten Tages kam die Stadt Merivale in Sicht wie ein großer, dunkler Fleck über Land und Himmel. Die hohen Türme von Pfeiferswehr ragten über ihr auf und streckten sich wie Finger in die Höhe. Auf einem sanften Hügel gelegen wies die Stadt drei Tore in ihren massiven Mauern auf und einen Wald im Norden. Der Festung am nächsten lagen Gebäude, die aus Stein gefertigt worden waren, aber es gab auch einige aus Holz, und die Häuser direkt an der Stadtmauer waren einfache Bauten aus Lehm und Stroh. Er hatte im Wind noch nichts davon bemerkt, aber Andrik wusste, wie schrecklich die Stadt in der Sommerhitze stinken würde. Alle Abwässer flossen den Hügel hinunter in den Wassergraben, und dessen Gestank würde bestialisch sein.
Andrik rief seinen Sohn, der einige Meter hinter ihm ritt.
Orsian ließ sein Pferd antraben. »Ja, Vater?«
Andrik zeigte nach Nordosten, vorbei an Merivale, auf den Eryispek. Der Berg war unvorstellbar groß. Seine gewaltigen Ausmaße ließen Merivale im Vergleich geradezu winzig erscheinen. Er selbst glaubte nicht, dass der Berg endlos sein konnte, aber er würde diejenigen, die es taten, immer bewundern. »Du reitest zum Osthang des Eryispek, zu deinem Bruder. Ich brauche Nachricht von der Rebellion der Lutum.«
Orsian klappte die Kinnlade herunter. »Aber …«
Andrik hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Du wirst nach Pfeiferswehr zurückkehren, sobald du mit Errian gesprochen hast.« Das hatte er in der Hoffnung beschlossen, dass die Brüder sich versöhnen würden. Außerdem ging es Hessian schon zu den besten Zeiten nicht besonders gut, und die Trauer würde ihn noch weiter schwächen. Es war besser, wenn Orsian nicht zu eng mit ihm zu tun hatte – es würde vielleicht seinen Kampfeswillen dämpfen, wenn er sah, für wen sie kämpften. »Du wirst ihm von Jarhiks Tod berichten, und ihr werdet zusammen trauern. Du musst deinen Bruder nicht lieben … Bei Eryi, du musst ihn nicht einmal mögen, aber ihr werdet einander respektieren und Seite an Seite kämpfen, nicht gegeneinander. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Orsian überlegte kurz, bevor er antwortete, und verzog unzufrieden den Mund. »Ja.«
»Gut. Und du wirst jemanden brauchen, der dich begleitet, einen alten Hasen.«
»Einen alten Hasen wie unseren Vater, Mylord?«, rief einer von Naeems Söhnen grinsend. Burik, mutmaßte Andrik, aber er hatte Mühe, ihn von Derik zu unterscheiden. »Er ist nicht der Gewitzteste, aber ein solches Gesicht ist eine bessere Verteidigung als jeder Schild.« Die Zwillinge brüllten vor Lachen.
Naeem lachte mit ihnen, und dabei dehnte sich das Loch, das er anstelle einer Nase hatte, auf groteske Weise aus. »Jawohl, warum nicht? Es ist Jahre her, dass Ihr mich aus den Augen gelassen habt, Mylord. Ich dachte immer, meine Frau hätte Euch gebeten, mich im Blick zu behalten.«
Andrik brummte erheitert. »Du wirst es schon machen. Aber überlass Orsian das Reden, sonst erschreckst du die Leute nur.«
Orsian und Naeem trennten sich von der Gruppe, während Andrik seine Eskorte in Richtung Merivale führte. Die blutrote Flagge über Pfeiferswehr flatterte auf halbmast, und ein zarter Schleier aus purpurfarbenem Rauch hing über der Stadt, der aus dem Schornstein der Kirche Eryis quoll. Die Priester zündeten bunte Kerzen an, um das Ableben eines Angehörigen königlichen Geblütes zu würdigen. Die Nachricht vom Tod des Prinzen musste sie bereits erreicht haben.
Sie betraten die Stadt durch das ruhigere Widdertor statt durch das Königstor. Andrik hatte keine Geduld für eine Ehrenwache, die sie auf der Burgstraße begleiten würde, während die drängelnde Bevölkerung ihm zurief, er solle in den Kampf gegen die Thrumb ziehen. Der Krieg war von Anfang an ein törichtes Unterfangen gewesen, eine völlig unverhältnismäßige Reaktion auf ein paar Banditen der Thrumb, die in den dunkelsten Winkeln von West-Erland ihr Unwesen trieben, und wenn Hessian versuchen sollte, ihn dorthin zu schicken, würde er ihm das sagen. Die wahre Bedrohung lag innerhalb der Grenzen von Erland.
Trotz ihres unangekündigten Erscheinens erwartete Theodric sie bereits, als sie den Burghof erreichten. Der Magier des Königs hatte die irritierende Eigenschaft, Dinge zu wissen, bevor sie geschahen.
»Er empfängt Euch in seinem Privatgemach im Turm«, sagte Theodric, als Andrik absaß. Andrik nickte ihm zu und ging direkt an ihm vorbei.
Er eilte in das oberste Stockwerk der Festung und machte sich von dort an den Aufstieg in den Turm des Königs. Seine schweren Stiefel hallten auf dem kalten, steinernen Boden wider. Als Kind hatte er diesen Teil der Burg gemieden, denn die Wachen hatten ihn mit dem stumpfen Ende ihres Speeres geschlagen, wenn sie ihn dort erwischten, wo er nichts zu suchen hatte. Seine Domäne waren die große Halle und der Küchentrakt gewesen, wo seine Jugend und seine Verzweiflung ihm häufig ein Stück Kuchen von einer mitfühlenden Dienerin eingetragen hatten.
Ich frage mich, ob sich noch irgendjemand daran erinnert, wie ich damals gelebt habe, abgesehen von Hessian.
Die beiden Wachen oben an der Treppe waren ihm bekannt. Sie hoben die Faust zum Gruß, als er die oberste Stufe erreichte, und traten beiseite, um ihn in die Privatgemächer einzulassen. Andrik blieb für einen Moment stehen, wechselte ein paar Worte mit den beiden Männern, lobte ihre Fähigkeiten und erkundigte sich nach ihren Familien. Sie würden vielleicht bald in den Krieg ziehen, und ein Krieger sollte wissen, für wen er kämpfte. Nachdem er ihnen zum Abschied auf die Schulter geklopft hatte, trat er ein.
König Hessian Sangreal stand am offenen Fenster und wandte sich von seiner Betrachtung des Eryispek ab. Er war nie ein gesunder Mann gewesen, aber jetzt hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Leichnam als mit einem König. Sein Gesicht war vor Trauer eingefallen, seine scharfen Züge waren von tiefen Schatten gezeichnet und seine trüben Augen blutunterlaufen und müde. Er gab trotzdem noch eine beeindruckende Figur ab mit seiner ungewöhnlichen Körpergröße, seinem langen grauen Haar und der tiefroten Zobelrobe mit schwarzem Besatz.
»Sag mir, Bruder …« Hessians Stimme klang erschöpft. »Findest du Gefallen daran, deine Männer zu loben wie billige Huren, die auf ein Trinkgeld aus sind?«
»Ich finde Gefallen daran, wenn meine Männer zufrieden sind, mein König. Männer kämpfen besser für einen Befehlshaber, den sie mögen.«
Hessian schenkte ihm ein trauriges Lächeln und ließ sich in einen Stuhl am Tisch fallen, dessen Platte die Umrisse Erlands hatte, mit einer kegelförmigen Flasche an der Stelle des Eryispek. »In Wahrheit, Bruder, beneide ich dich um deinen unbefangenen Umgang mit den einfachen Soldaten.« Er schaute auf den Tisch hinunter. »Wenn auch nicht so sehr, wie ich dich um deine beiden Söhne beneide.«
Andrik setzte sich ihm gegenüber und schenkte ihnen Wein ein. »Ich würde nicht weniger um meinen Sohn trauern, nur weil ich einen weiteren habe, noch würde ich weniger um meine Tochter trauern, weil ich zwei Söhne habe. Für Eltern ist der Verlust eines Kindes die schlimmste Tragödie, die man sich vorstellen kann. Es tut mir leid, Hessian.«
Hessian wischte sich über seine blutunterlaufenen Augen. »Du hast natürlich nicht unrecht, aber ich habe nicht nur einen Sohn und Erben verloren. Ich habe eine Dynastie verloren, ein Königreich und mein Lebenswerk.«
»Es ist noch nicht zu spät, Hessian. Du musst dich wieder vermählen.« Andrik sprach entschlossen, in der Hoffnung, trotz der Verzweiflung seines Bruders zu ihm durchzudringen. Er hatte von einer Dynastie gesprochen und dabei etwas von seinem alten Feuer gezeigt.
»Ich habe noch zwei weitere Söhne gezeugt, weißt du.« Hessian nahm einen Schluck von seinem Wein. »Mit Bauernmädchen. Sie müssten jetzt das mittlere Lebensalter erreicht haben. Ich frage mich manchmal, was aus ihnen geworden ist.« Andrik zuckte zusammen, als Hessian plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Oh, was für ein Blatt Eryi mir zugeteilt hat!« Roter Wein sprühte aus seinem Mund. »Sechzehn Jahre lang habe ich mir die Liebe für eine tote Frau bewahrt, und obwohl es mir das Herz bricht, muss ich jetzt wieder heiraten und mit diesem gebrechlichen Körper einen Erben zeugen. Sag mir, Andrik, welche glückliche junge Maid hattest du für eine solche Enttäuschung im Sinn?«