The Killer Profile - Helen Fields - E-Book

The Killer Profile E-Book

Helen Fields

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Herzlichen Glückwunsch, dein Profil wird gerade von Midnight J. ausgewertet.« London, ein modernes Biotech-Unternehmen südlich der Themse. Midnight Jones, Anfang 30, stößt bei der Auswertung psychometrischer Persönlichkeitstests auf ein ganz außergewöhnliches Profil: das Profil eines Serienkillers. Als der brutale Mord an einer Frau in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft kurz darauf in den Medien erscheint, deutet alles darauf hin, dass es sich bei dem skrupellosen Mörder um den anonymen Bewerber handelt, dessen Profil die junge Data Spezialistin analysiert hat. Doch niemand glaubt Midnight, dass er gerade erst angefangen hat. Midnight. Cooler Name. Er fragte sich, wofür das J. stand … Sicher war es eine Frau. Er stellte sie sich vor, wie sie an ihrem Schreibtisch saß und sein Profil erstellte. War ihr Haar dunkel oder hell? Wie groß war sie wohl? Und was würde sein Profil ihr offenbaren? Kurz danach wird eine weitere Frau in Midnights Wohnviertel ermordet. Midnight wird erschreckend klar: »Profil K« wird weiter töten – und sie wird eines seiner nächsten Opfer sein. Ihre einzige Überlebenschance ist, ihm auf die Spur zu kommen, bevor er sie im Visier hat … Wendungsreiche Spannung vom Feinsten – Der neue rasante Psychothriller der UK-Bestsellerautorin von ›The Institution‹

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 521

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

London, südlich der Themse. Seit fünf Jahren wertet Midnight Jones für die Necto Corporation psychometrische Tests aus, mit denen Verhaltens- und Denkkompetenzen von Bewerbern gemessen werden. Eines Tages stößt die junge Data- Analystin dabei auf ein noch nie dagewesenes Profil: das Profil eines Killers.

Als der brutale Mord an einer Frau aus ihrem Wohnviertel kurz darauf publik wird, weist alles darauf hin, dass es sich bei dem Täter um den anonymen Bewerber handelt, dessen Daten Midnight analysiert hat. Doch weder ihre Arbeitgeber noch die Polizei glauben ihr. Tatsächlich geschieht kurz danach ein weiterer Mord, erneut in Midnights unmittelbarer Nachbarschaft. Der jungen Frau wird klar: »Profil K« wird weiter töten – und sie wird womöglich sein nächstes Opfer sein …

 

Von Helen Fields ist bei dtv außerdem erschienen:

The Institution

Helen Fields

The Killer Profile

Thriller

Deutsch von Christine Blum

 

 

 

Für Diccon, der mir half,

diese wundervolle stürmische Reise anzutreten

Kapitel 1

Für eine Frau kann der Moment kommen – so leise und sacht, wie ein Blütenblatt von einer welkenden Blume fällt –, in dem sie erkennt, dass gute Absichten ihr das Leben gekostet haben. Ein Moment, so flüchtig, dass er kaum zu fassen ist, und der doch lange in der darauf folgenden Stille nachhallt.

Chloe Martins Augenblick ewiger Reue war jene zeitlose Sekunde, in der sie auf den Fuß im offenen Spalt ihrer Haustür starrte. Du weißt nie, wann es dich trifft, dachte sie. Wie konnte dieser Tag, dieser ganz gewöhnliche Tag in ihrem Leben nur eine solche Wendung nehmen? Wo waren die kosmischen Vorzeichen gewesen? Das Gefühl drohenden Unheils? Was hatte es ihr genützt, dass sie immer einen Handalarm bei sich trug? Dass sie im Dunkeln nie allein nach Hause ging? Dass sie in Lokalen Bierdeckel über ihre Getränke legte, damit niemand etwas hineinschütten konnte; dass sie die Finger vom Onlinedating ließ? Denn jetzt war es doch passiert, nachdem dieser Jemand an ihre Tür geklopft und um Hilfe gerufen hatte – und sie so überstürzt hingeeilt war, so besorgt um das Wohl eines Fremden, dass sie nicht daran gedacht hatte, die Kette vorzulegen.

»Was ist?«, hatte sie gerufen. »Was ist los? Brauchen Sie einen Arzt?«

Da hatte sich der Fuß in dem braunen Lederstiefel in die Tür gestellt. Das Gesicht unter der Kapuze des Eindringlings war im tiefen Schatten der Baumreihe, die ihren Eingang von der so nahen und doch so fernen Straße trennte, nicht zu erkennen. Zu spät fiel ihr auf, dass ihre Außenbeleuchtung nicht funktionierte. Ohne nach oben zu schauen, war ihr klar, dass jemand die Lampe zerschlagen hatte. Jetzt, im Adrenalinrausch, gelang es ihr, eins und eins zusammenzuzählen und mühelos auf zwei zu kommen. Das war kein wahlloser Überfall. Wem der Stiefel auch gehörte, er wusste offensichtlich, dass sie allein lebte. Und war so klug gewesen, bis nach Einbruch der Dunkelheit zu warten.

Vielleicht wusste er sogar, dass sie dazu erzogen worden war, Menschen in Not Hilfe zu leisten. Zu antworten, wenn jemand sie ansprach. Höflich zu lächeln und verschämt weiterzugehen, wenn Männer ihr auf der Straße nachpfiffen. Sich nicht auf das Niveau von Typen einzulassen, die ihr dumm kamen. Den Blödmännern nicht eins auf die Finger zu geben, die sie in der vollen U-Bahn begrapschten, sondern sich einfach zurückzuziehen.

Wie schon seit jeher lag die Bringschuld bei ihr, bei der Frau. Keine provozierende Kleidung zu tragen. Keine Fehler zu begehen. Männer nicht zu ermutigen. Sich nicht in Gefahr zu bringen. Und daran hatte sie sich gehalten, verdammt, das hatte sie. Doch die Gefahr – eine tödliche Gefahr, vermutete sie – war ganz von selbst zu ihr gekommen. Und jetzt öffnete sie den Mund, um zu schreien, denn es war erst neun Uhr abends, es sollten noch eine Menge Leute wach sein, die sie hören konnten, aber eine Faust schnellte auf ihr Gesicht zu, und sie konnte nicht die Tür loslassen, um zu flüchten, weil sonst der Besitzer der Faust freie Bahn in ihre Wohnung gehabt hätte; und dann hätte sie keine Chance, aber die Tür zuschlagen konnte sie auch nicht, weil er sie schon aufdrückte, und …

Die Faust knallte ihr auf den offenen Mund und schien dort zu verharren, während ihr ungebetener Gast in die Wohnung eindrang. Erst als er die Tür zugekickt hatte, zog er sie zurück. Chloe tastete nach ihrem Mund; an ihren Fingern blieben grießig-spitze Zahnsplitter haften. Noch ehe ihr der Schmerz ins Bewusstsein gedrungen war, packte der Angreifer sie am Arm und zerrte daran, sodass sie auf den Knien landete, und, o Gott, grelle Lichter blitzten ihr vor Augen, ihr rauschte das Blut in den Ohren. Chloe erbrach sich. Jedes Fünkchen Kampfgeist entströmte ihr als stinkende, blutdurchsetzte Galle über den zuvor makellosen Parkettboden bis an die noch nicht angebrochene Rolle Geschenkpapier, die sie tagsüber gekauft hatte, weiß – nun ja, jetzt nicht mehr weiß – mit winzigen goldenen Sternchen und pinken Herzchen darauf. Das Geschenk, das liebevoll darin eingepackt werden sollte, stand in der Einkaufstasche daneben. Während sich die Stiefel näherten, hatte Chloe noch Zeit zu hoffen, dass ihre Schwester, wenn es zum Schlimmsten käme, die Tasche finden und erkennen würde, dass das kichernde Plüscheichhörnchen darin für Chloes bald dreijährige Nichte Vivienne bestimmt war. Und lächerlich froh zu sein, dass sie gleich Batterien dafür mitgekauft hatte, ebenfalls in der Einkaufstasche, weil es ihr gemein vorkam, einem Kind etwas zu schenken, was es nicht gleich benutzen konnte. Ihre Nichte liebte Eichhörnchen. Wann immer es ging, nahm Chloe sie am Wochenende in den nahen Park mit, wo sie auf der Jagd nach Eichhörnchen (»Eichinchen«, nannte Vivienne sie) herumrannten, bis es zu dämmerig oder trüb oder regnerisch wurde, um in den Baumkronen etwas zu erkennen, und sie auf eine heiße Schokolade mit Rosinenbrötchen nach Hause gingen.

Der Mann, der sich an ihrem Heim und ihrem Gesicht vergangen hatte, packte sie jetzt an den Haaren. Chloe streckte die Hand nach der Einkaufstasche aus, als könnte die bloße Berührung, das bloße Festhalten daran sie aus diesem Albtraum hinaus in das Dasein katapultieren, für das sie bestimmt war, in dem sie den Mann ihrer Träume kennenlernte und Tag für Tag mit ihrer eigenen lachenden Tochter im Park spielte, sie mit Plüscheichhörnchen und mütterlichen Küssen überhäufte. Während sie durch den Flur in den hinteren Teil der Wohnung gezerrt wurde, entglitt ihr die Tasche. Sie weinte bittere Tränen um das, wovon sie ahnte, dass es bevorstand – nicht nur ihr, sondern allen, die sie liebten.

Er sagte kein Wort, während Chloe wie wild versuchte, mit den Füßen Halt auf den Terrakottafliesen zu finden, auf die Hand einschlug und -kratzte, die ihren zerzausten Haarknoten festhielt und ihr im Gehen ganze Strähnen ausriss. Sosehr sie schreien wollte, wichtiger war es, überhaupt zu atmen. Die Schmerzen in ihrem vom Erbrochenen pelzigen Mund und die nackte Panik vereinten sich zu einem ungeahnten Kloß im Hals.

Er trat ihre angelehnte Schlafzimmertür ganz auf, und Chloe wünschte sich verzweifelt, er würde irgendetwas sagen – egal was. Ihr wurde bewusst, dass sie noch nie in ihrem ganzen beschaulichen Leben so froh über die Worte gewesen wäre: »Tu, was ich von dir verlange, und lass mich mit dir machen, was ich will, dann bringe ich dich nicht um.« Noch vor zwei Minuten hätte sie jeden für irre gehalten, der dankbar für eine solche Drohung gewesen wäre. Jetzt hätte diese ihr alles bedeutet.

»Bi…«, gelang es ihren Lippen zu formen. Im nächsten Moment packte das Monstrum sie am Kragen und hievte sie aufs Bett. »Bi… ni… ni…«

Im Wohnzimmer begann ihr Festnetztelefon zu klingeln. Eine Rettungsleine, verführerisch knapp außerhalb ihrer Reichweite, unmöglich, sie zu fassen zu bekommen, egal wie wild sie versuchte, sich freizustrampeln. Ihr Angreifer hielt inne und lauschte auf den einsetzenden Anrufbeantworter.

»Hi, hier Chloe Martin. Ich bin gerade nicht erreichbar, aber hinterlasst euren Namen und eure Nummer, dann rufe ich zurück, sobald ich kann.« Wie unglaublich fröhlich ihre Stimme klang. Nicht einmal ansatzweise war ihr beim Aufnehmen der Ansage der Gedanke an so etwas wie den Tod gekommen – der war etwas Unwirkliches, weit entfernt, etwas, woran sie nicht wirklich glaubte.

»Tun Sie mir nichts«, schluchzte sie, endlich in der Lage, die Worte ganz auszusprechen, begleitet von blutigem Schaum und Zahnsplittern. Ihr Angreifer – ein riesiges Ungetüm, nicht mehr, mit einer Maske vor Mund und Nase – knurrte nur und zog ein paar Kabelbinder aus einer Jackentasche.

»Hey, Chlo-Bo«, schallte die Stimme ihrer Schwester durch die Leitung ins Wohnzimmer, genau im heiteren Ton der Ansage. Chloe weinte jetzt lauter, schluchzte verzweifelt. »Wo steckste? Mein süßes kleines Mädel freut sich schon auf dich, wenn du morgen zum Kerzenausblasen auf dem Kuchen kommst! Sie kann’s kaum erwarten, deshalb hab ich gesagt, ich rufe dich noch mal an, damit du auch ja nicht vergisst, dass morgen jemand Geburtstag hat.« Kichern im Hintergrund. »Wer könnte das wohl sein?«

»Bitte …«, flehte Chloe und hob verzweifelt die rechte Hand, die sofort gepackt, nach hinten gezerrt und an einem der metallenen Bettpfosten angebunden wurde.

»Hat vielleicht Daddy Geburtstag?«, fragte ihre Schwester.

»Nein!«, krähte ihre Nichte.

Chloe drehte den Kopf und starrte auf den Kabelbinder. Warum wehrte sie sich eigentlich nicht? Wenn das die letzten Minuten ihres Lebens waren, warum gab sie dann nicht alles?

Er griff nach ihrer linken Hand. Chloe spannte ihre Bauchmuskeln an, ließ die Beine hochschnellen und knallte ihm die Knie ins Gesicht. Während er zurücktaumelte, rappelte sie sich auf und zerrte wild an dem Kabelbinder, mit dem sie am Kopfteil hing.

»Oder hat Mummy Geburtstag?«, scherzte ihre Schwester.

Der Kabelbinder gab nicht nach. Chloe schwang sich auf die Knie, bereit zum Kampf, schnappte sich die Nachttischlampe, riss sie aus der Steckdose und fuchtelte damit herum.

»Nein, hast du nicht, Mummy, es ist nicht dein Geburtstag!«, bekam ihre Nichte kaum heraus vor Lachen.

Chloe atmete so tief ein wie nur möglich. »Hilfe!«, brüllte sie. Wider besseres Wissen hoffte sie darauf, die Bewohner der Wohnung über ihr wären schon von der Arbeit zu Hause oder die ältere Dame nebenan hätte das Hörgerät eingeschaltet, oder jemand ginge den Fußweg hinter dem Haus entlang.

Ihr Angreifer senkte den Kopf und stürmte auf sie zu, den Arm schützend vor dem Gesicht, um abzuwehren, was immer sie mit der Lampe gegen ihn auszurichten versuchte. Ihre Köpfe prallten gegeneinander. Sie hieb ihm die Lampe in die Seite, so heftig, dass sie vom Bett fiel. Über dem rauen Atmen und angestrengten Ächzen sprang mit einem lauten Plopp ihr Arm aus der Gelenkpfanne.

»Wer kann denn dann Geburtstag haben?«, neckte ihre Schwester, während Chloe schrie und flehte.

»Ich!«, quietschte ihre Nichte. »Mummy, ich hab doch morgen Geburtstag! Bist du aber dumm!« Und sie lachten und lachten und lachten.

Ohne sich um Chloes Schreie zu kümmern, zerrte ihr Angreifer sie aufs Bett zurück. Fesselte ihren noch freien Arm an den zweiten Bettpfosten des Kopfteils, egal wie wild sie mit den Beinen nach ihm austrat. Steckte ihr einen Knebel in den Mund, während ihr vor Schmerz und Panik immer wieder schwarz vor Augen wurde.

»Tante Chloe?«, rief aus dem Telefon im Wohnzimmer ihre Nichte. »Bist du da? Mummy, wo ist Tante Chloe? Warum geht sie nicht ans Telefon?«

»Ich weiß es nicht, Baby, aber morgen siehst du sie ja. Auf jeden Fall«, sagte ihre Schwester.

Nein, dachte Chloe. Gott helfe uns, aber ihr werdet mich nicht sehen. Und ich werde Vivienne nicht aufwachsen sehen. Ich werde ihr keine gemeinsame New-York-Reise zum achtzehnten Geburtstag schenken. Und nicht ihr gesetzlicher Vormund werden, wenn dir und deinem Mann etwas passieren sollte, und ihr werdet niemals erfahren, wie stolz und glücklich ich war, als ihr mich als Patin wähltet. Ich werde ihr nicht den Brautschleier kaufen. Du wirst nicht aufgelöst zu mir kommen, wenn Vivienne in der Pubertät gemein zu ihrer Mum ist. Und sie wird nicht wissen, wie sehr ich sie geliebt habe. An ihrem nächsten Geburtstag wird sie sich kaum noch an mich erinnern.

»Okay! Ich hab dich lieb, Tante Chloe. Bis morgen. Vergiss nicht mein Geschenk!«

Nein, das habe ich nicht vergessen, dachte Chloe. Ich hoffe, das Eichhörnchen gefällt dir. Ich will nicht sterben. Ich will nicht, dass ihr erfahren müsst, dass mich jemand umgebracht hat. Ich will nicht so schreckliche Angst haben müssen.

»Schade, dass du nicht da bist, Chlo-Bo. Ganz liebe Grüße und bis morgen.« Luftküsse ins Telefon. Noch etwas Gekicher. Dann ein Knacken und Stille.

Chloe lag reglos da. Die Schmerzen in ihrem Mund, ihrem Kopf, ihrer Schulter waren rasend und reichten doch nicht an den Tsunami der Trauer heran, in den sie hineingesogen wurde.

Vergewaltige mich meinetwegen. Tu mir weh, wenn es sein muss. Aber lass mich leben. Lass mich leben. Lass mich leben.

Die Worte schienen sichtbar in der Luft zwischen ihnen zu hängen, eine schwarze Schrift aus Wolken winziger summender Insekten.

Er zog eine Schere aus einer tiefen Tasche und begann ihre Kleidung entlang der Körpermitte durchzuschneiden, dann die Ärmel und Hosenbeine, zog die Stücke bedächtig weg und ließ sie zu Boden fallen.

Eine Sekunde oder Minute oder Ewigkeit lang verlor Chloe das Bewusstsein.

Sie war auf einer Party, konnte sich aber nicht mehr erinnern, auf was für einer. Es war seltsam, weil sie sich sicher war, dass eigentlich fröhlich gefeiert werden sollte, aber in der Ecke stand ihre Schwester und wurde von ihrem Schwager getröstet, und aus einem anderen Zimmer, dessen Tür verschlossen war, hörte sie ihren Vater schluchzen, und ganz sicher war irgendetwas Schreckliches passiert, denn sie hatte ihren Vater noch nie in ihrem Leben weinen sehen. Selbst beim Begräbnis ihrer Mutter hatte er es sich verkniffen, würdevoll (oder gehemmt?) bis zum Letzten.

Und dann rannte Vivienne mit etwas Plüschigem im Arm vorbei. Begeistert rannte Chloe ihr nach, jagte sie spielerisch durchs Haus wie schon so viele Male zuvor, sie wechselten neckende Rufe, wurden langsamer, dann wieder schneller, sie fing Vivienne beinahe, ihre Nichte ließ sich beinahe fangen. Was hatte sie nur im Arm? Es war nicht genau zu erkennen. Der Kopf schien der eines ganz normalen niedlichen Plüschtiers zu sein, aber es hinterließ unregelmäßige rote Spuren, wenn es bei Viviennes Flucht die Wand streifte, und jetzt spürte Chloe, wie ihr allmählich schlecht wurde. Wie etwas Ungutes in ihr aufstieg. Gerade holte sie Vivienne mal wieder ein, kam ihr nahe genug, um ihre Arme von vorn zu sehen, dann ihr Gesicht, aber Vivienne lachte gar nicht; sie weinte. Und wie seltsam: das Tier war ein Plüscheichhörnchen, dabei hatte Chloe es ihr doch gerade erst gekauft und noch nicht gegeben. Tatsächlich musste sie sich dringend aufraffen und es einpacken, denn es war schon dunkel, und vor der Geburtstagsfeier ihrer Nichte lag ein ganzer langer Arbeitstag. Doch wenn die Feier erst morgen stattfand, wo war sie dann jetzt, und warum waren alle – durchweg alle – so verzweifelt?

Chloe schrak auf, würgte, versuchte zu schreien, aber der Laut ging in dem feuchten, stinkenden Lappen um ihren Mund verloren – und im Schmerz. Diesem Schmerz. Diesem verdammten Schmerz. Diesem unermesslichen Schmerz, der alles in ihr zersetzte und ihr den Verstand raubte.

Sie wollte sterben.

Und jetzt wusste sie, warum in ihrem Traum alle so sehr weinten.

Chloe lag still, denn sie hatte keine andere Wahl, und weinte mit ihnen, bis viel zu langsam und blutrot das Ende kam.

Kapitel 2

Der britische Hauptsitz der Necto Corporation hätte auch als botanischer Garten durchgehen können. Eine Londoner Immobilie in bester Lage, die man Backstein für Backstein, Stahlträger für Stahlträger zerlegt und durch üppige Pflanzen, Blumen, Insektenhotels und geschwungene Glaswände ersetzt hatte. Die Mitarbeiter verbrachten ihre Arbeitszeit in wunderschönen Blasen mit Blick auf diese innerstädtische Oase, in einem Bauwerk, das zwischen zierlichen Bäumen und faszinierenden Blütenpflanzen aus der Erde zu wachsen schien. In der Kantine unter einer weiten Kuppel gab es einen kleinen Wasserlauf und Obstbäume, Gemüsebeete zwischen den Tischen, in der Luft summten Schmetterlinge und Bienen. Necto war die Zukunft – eine aufs menschliche Gehirn spezialisierte Biotech-Firma. Die amerikanische Zentrale am Rand von San Diego wusste bei Konzernen weltweit Neid zu erregen, ebenso wegen der atemberaubend schönen Außenanlagen wie wegen der futuristischen Architektur. Die britische Niederlassung war etwas weniger repräsentativ und nur einen Bruchteil so groß, doch die Arbeit war identisch, die Interessen der Klienten die gleichen.

Midnight Jones war schon wieder zu spät dran, und es war erst Dienstag. Da spielte es keine Rolle, dass sie am Abend zuvor eine Stunde länger geblieben war oder in der Vorwoche fünfzig Stunden gearbeitet hatte. Zu spät war zu spät, das zeugte von mangelndem Respekt vor sich selbst und anderen – sagte zumindest ihr direkter Vorgesetzter, und zwar öfter, als es nach Meinung aller anderen Mitglieder ihres Teams nötig gewesen wäre.

Sie wich einem Doppeldeckerbus aus, sprang über die Reste von Fish and Chips hinweg, die jemand am Vorabend auf dem Bürgersteig verloren hatte, und tauchte in das Biotop des Necto-Geländes ein. Midnight atmete ein paarmal tief durch im Wissen, dass sie die nächsten neun Stunden lang klimatisierte Luft atmen würde. Anfangs war sie auf den Duft nach frisch gemähtem Gras und Blüten hereingefallen, hatte der Propaganda geglaubt, die Luft würde direkt aus den Gartenanlagen in die Büros geleitet, um stimulierend und entspannend zu wirken. Erst bei einer blamablen spätabendlichen Zigarettenpause vor einem Pub in Battersea vor fünf Jahren war sie zufällig mit jemandem vom Gebäudemanagement ins Gespräch gekommen und hatte erfahren, dass die sorgsam komponierten Düfte in Wahrheit künstlich waren und aus der Klimaanlage kamen. Wenige Sekunden nach seinem Mini-Whistleblowing hatte er sich in den nächsten Müllcontainer übergeben und war davongetorkelt, vermutlich ohne sich am nächsten Morgen an seine Indiskretion zu erinnern. Noch so etwas: Man redete nicht über Firmeninterna, niemals und mit niemandem. Die Arbeitsplätze hatten nicht einmal Zugang zum Internet, jedenfalls nicht in Midnights Gehaltsklasse. Das Internet, hatte man ihr in der Ausbildung erzählt, sei nur eine zeitverschwendende Ablenkung. Und obendrein ein Einfallstor für Hacker und damit potenzielles Leck für wertvolle Firmengeheimnisse.

Dass Midnight an diesem Morgen so spät kam, lag daran, dass die Pflegerin ihrer Zwillingsschwester sich verspätet hatte. Es war der einzige Grund, warum Midnight sich jemals verspätete, was für ihren Chef Richard Baxter trotzdem nicht als Entschuldigung taugte. Sie zog ihre Karte durch die erste Sicherheitsschranke, schloss ihr Handy ins Schließfach ein, legte an der zweiten ihre Tasche aufs Band und passierte die dritte mithilfe ihres Daumenabdrucks. Im Aufzug wurde automatisch die aus ihrem Firmenpass ausgelesene Etage angesteuert. Es ging abwärts.

Nur die beiden obersten Stockwerke hatten natürliches Tageslicht; dort befanden sich Gruppenarbeitsräume, ein großer Vortragssaal, eine Kantine und Räume für Kundengespräche. Der Aufzug passierte Ebene -1, wo die Produktion angesiedelt war. Necto produzierte Dinge wie Headsets für VR-Training, Zubehör für Elektrokonvulsionstherapie, Lügendetektoren und Psychogalvanometer, die die Reaktion auf emotionale Stimuli maßen. Ebene -2 beherbergte Entwicklung – die meisthofierte Abteilung. Gerüchten nach, die Midnight nie mit eigenen Augen hatte überprüfen können, gab es dort eine Masseurin, eine Sauna mit Hot Tub, einen Fitnessraum und eine Kantine mit eigenem Koch. Den dortigen Visionärinnen, Designern und Codiererinnen wurde alles nachgeschmissen. Während es für Midnights Team schon der Gipfel war, wenn Fortbildungen in der Kantine »Eden« im Erdgeschoss abgehalten wurden, war die Entwicklungsabteilung in letzter Zeit in Singapur und auf Bora Bora gewesen. Der große Unterschied lag in der Ersetzbarkeit.

Allgemein betrachtet war Midnight durchaus intelligent. Sie hatte einen sehr guten Abschluss in Sozialwissenschaft und einen Master in Psychologie und Neurowissenschaften. Aber die Entwickler waren von ganz anderem Schlag. Genies mit einzigartigen Dissertationen, von deren Gehaltsvorstellungen Midnight nur träumen konnte. Anders als für sie gab es für diese Leute keine Schlange gleichwertiger Bewerber, die alles dafür täten, Teil der Necto-Familie zu werden. Diese Tatsache stand ihr Tag für Tag vor Augen. Sie hatte in vielerlei Hinsicht Glück, und sie wusste, dass sie dankbar sein konnte – sowohl für ihr weit über die üblichen Standards hinausgehendes Gehalt, das ihr ermöglichte, für ihre Schwester zu sorgen, als auch für die Gelegenheit, in einer Technologiefirma von Weltrang zu arbeiten. Sie liebte ihren Job, und sie konnte überaus zufrieden sein. Und dennoch. Sie war ersetzbar.

Auf Ebene -3 öffnete sich die Tür. Die Anwendungsabteilung war die größte und doch chronisch unterbesetzt und überarbeitet. Ihre Arbeit war einfach zu beschreiben: Hier wurden die Daten aus den diversen Necto-Produkten ausgewertet und in eine Sprache übersetzt, mit der die Kunden etwas anfangen konnten. Hier rackerten sich verschiedene Teams mit unterschiedlichsten Projekten ab: Das medizinische war mitten in einer höchst profitablen Testreihe für die Wirksamkeit neuer Medikamente. Das psychiatrische verbuchte große Erfolge bei der Integration psychisch kranker Personen in die Gesellschaft, arbeitete mit Pharmaunternehmen zusammen neue Verschreibungspläne aus und organisierte Arzneimitteltests. Und dann war da Midnights Team, das den lieben langen Tag, fünf Tage die Woche, nichts anderes tat als Persönlichkeitsprofile auszuwerten.

»Bequemen Sie sich auch endlich her, Miss Jones?«, ertönte die Stimme ihres Chefs über das Labyrinth aus Zellen hinweg, die jede einen Schreibtisch mit Computer und VR-Brille enthielten und durch eine Art elektrisch ausfahrbares Verdeck geschlossen werden konnten, um ungestört arbeiten zu können. »Wollen Sie kurz zu mir kommen?«

Als ob es eine Option gewesen wäre, Nein zu sagen. Ihr Chef winkte sie in seine Zelle und schloss das Verdeck. Midnight kämpfte gegen den Drang an, die Arme zu verschränken – das hätte ihr nur eine zusätzliche Rüge wegen ablehnender Körpersprache eingebracht.

»Nun, Sie wissen ja, was ich gleich sagen werde«, begann Richard, rückte seine bereits perfekt sitzende Krawatte zurecht und strich sich über das makellos frisierte stahlgraue Haar.

»Ich kann mich nur entschuldigen«, sagte Midnight in viel zerknirschterem Ton, als ihr zumute war. Es war gerade mal eine halbe Stunde. So viel Zeit, wie sie in Necto steckte, schuldete die Firma ihr eine Menge mehr. »Die Pflegerin meiner Schwester hatte sich verspätet, und ich kann nicht aus dem Haus, solange sie nicht da ist. Der Pflegedienst war in letzter Zeit schon öfter unzuverlässig, und …«

»Wenn ich Sie unterbrechen darf, Midnight? Welches unserer Grundprinzipien vergessen Sie gerade anzuwenden?« Auf Richards Lippen spielte ein kleines Lächeln. Midnight hätte ihm gern eine gewischt, um es zu verscheuchen wie eine lästige Fliege.

Stattdessen holte sie tief Luft und antwortete leise und widerlich unterwürfig: »Selbstverantwortlichkeit.«

»Auf Anhieb richtig. Selbstverantwortlichkeit. Das bedeutet, Verantwortung für die eigene Leistung zu übernehmen. Um sich seine Erfolge anrechnen zu können, muss man in der Lage sein, sich auch seine Defizite einzugestehen. Sind Sie da bei mir?«

»Ja, sicher. Ich weiß, dass ich für mich verantwortlich bin, aber dass ich mich um meine Schwester kümmere, bringt immer mal Probleme mit sich …«

»Natürlich. Erzählen Sie nur. Was genau war diesmal der Grund für Ihre Verspätung?«

»Meine Zwillingsschwester Dawn ist mehrfach behindert. Man kann sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Wenn ich gehen würde, bevor die Pflegerin kommt, könnte ihr etwas passieren, und es gibt keine Verwandten oder Bekannten, die ich kurz herbitten könnte.«

»Ja, ich glaube, Sie hatten Ihre Zwillingsschwester schon erwähnt.« Das hatte Midnight. Mindestens ein Dutzend Male. »Aber verstehen Sie, es liegt in Ihrer Verantwortung, einen Pflegedienst zu finden, der zuverlässig ist. Es ist ärgerlich, das Problem an Necto weiterzuverlagern. Sie wissen, dass wir Ihre Lücke nicht füllen können. Bei einem guten Team müssen alle Spieler am Ball bleiben. Sie stimmen mir zu, nicht wahr?«

Midnight setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Falls Richard den Hohn darin wahrnahm, ließ er es sich nicht anmerken. »Ganz richtig. Es ist meine Schuld. Ich hole die Zeit wieder rein, indem ich kürzer Mittag mache und länger bleibe.«

Richard hob die Augenbrauen und legte den Kopf schief. »Und …«

»Und ich entschuldige mich beim Team für die Mehrarbeit. Danke für Ihr Verständnis, Richard. Sie sind ein toller Chef.«

»Ach herrje. Sie müssen wir behalten. Also, außer Sie kommen noch mal zu spät, das schlüge dem Fass dann doch den Boden aus. Aber ansonsten sind Sie ein Goldschatz. Und jetzt hopp ans Werk, Miss Jones. Die Zeit und Necto warten nicht.«

Midnight hätte ihm liebend gern die lächerlichen Redensarten ins Gesicht gebrannt.

»Sie sagen es«, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und wandte sich ab, bevor er ihr die schweißfeuchte Hand zum Moderner-Chef-High-Five anbieten konnte, während sie darauf wartete, dass die Zelle sich wieder öffnete. Auf ihrem Weg durch das Zellenlabyrinth rief sie ein paar Leuten »Tut mir leid, dass ich zu spät bin!« zu, was ihr das ein oder andere Kichern und Grinsen einbrachte.

Ihr Arbeitsplatz in der hintersten Ecke bildete mit zwei anderen ein kleines Hufeisen; hier saß ihr Kernteam. Sie ließ ihre Tasche auf den Boden neben ihrem Stuhl fallen und sah betont nicht ihre beste Freundin Amber an, weil sie ahnte, dass Richard Ausschau hielt, ob sie etwa noch mehr Verhalten an den Tag legte, das nicht Necto-konform war. Hinter Amber war ein leerer Platz; das Teammitglied war kürzlich versetzt oder gekündigt worden oder hatte selbst gekündigt – was davon, hatten sie nicht erfahren.

»Hat er dir wieder mal die ›Die anderen müssen einspringen‹-Predigt gehalten?«, flüsterte Amber, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.

»Ja. Samt kleiner Ermahnung, dass ich mich für meine Fehler verantwortlich fühlen muss. Das hatte er schon länger nicht gebracht. Wie läuft das System heute?«

»Es gab ein Software-Update, es wird ein paar Minuten dauern, bis du Daten runterladen kannst. Willst du einen Kaffee? Du siehst aus, als könntest du einen brauchen. Ich hab gleich Pause.«

Bei Necto waren Bildschirmpausen erlaubt oder vorgeschrieben – Midnight wusste es nicht genau –, damit die Mitarbeiter die Augen entspannen konnten, um Kopfschmerzen vorzubeugen; eine Maßnahme, der sich das Unternehmen gern rühmte, um sich als guter Arbeitgeber darzustellen. Unerwähnt ließ Necto dabei, dass intern nachgewiesen worden war, dass die Mitarbeiter nach solchen Pausen tatsächlich wieder effektiver arbeiteten.

»Ein Kaffee wäre super. Dawns Pflegerin kam wieder zu spät, das heißt, ich muss mal wieder Überstunden machen. Ich konnte weder duschen noch frühstücken.« Ihr war bewusst, dass es kein guter Start in den Tag war, sich zu beklagen, aber ihr unflexibles Leben schlauchte sie. Sie war so abhängig von dem Pflegepersonal; manche blieben länger, wenn sie darum bat, aber sie konnte nicht damit rechnen, und sie hatte nicht gerade ein großes Netz privater Kontakte, die zur Not einspringen konnten. Um sich abzulenken, wandte sie sich wieder an Amber. »Egal. Wie war deine Nacht?«

Amber grinste und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Mit der Kombination aus knallrotem Pixie-Cut und falschen Wimpern wirkte sie eher wie ein freches Schulmädchen als wie eine Angestellte eines mächtigen Tech-Konzerns. Sie probierte gerade eine neue Dating-App aus und erheiterte Midnight fast täglich mit neuen katastrophalen oder urkomischen Dates. Midnight stöhnte. »Oh Himmel, erzähl’s mir lieber nach dem Kaffee, so früh verkrafte ich keine detaillierten Frivolitäten.«

»Alles klar. Aber ich sag dir, es lohnt sich. Der Kerl war gebaut wie ein Wikinger!«

Während ihre Freundin in die Teeküche verschwand, loggte sich Midnight ein, durchlief die Sicherheitsmaßnahmen und fing an. Ihre Aufgabe war es, Studienbewerber auf ihre Eignung für den gewählten Studiengang zu prüfen, sowohl von der Vorbildung als auch von Interessen und Persönlichkeit her. Amber stellte ihr einen dampfenden Kaffee in einem wiederverwendbaren Bambusbecher hin, glitt wieder auf ihren Sitz und nahm ihre eigene Arbeit auf. »In der Mittagspause!«, flüsterte sie noch.

Midnight importierte das erste der heutigen Projekte. Es kam von der Thames Environmental Sciences University, die nur einen kurzen Spaziergang von ihrer Wohnung entfernt lag, wie sich unschwer an der Anzahl betrunkener Studierender erraten ließ, die an Freitag- und Samstagabenden an ihrer Tür vorüberkamen. Die dortigen Studiengänge – Naturwissenschaften, Geografie, Sozialgeschichte, Umweltrecht, Politik, Volkswirtschaft und so weiter – kreisten alle um Umweltthematiken. Die Studierenden sollten sowohl strategisches Denken wie gesellschaftliche Verantwortung mitbringen.

Sie lud die erste Bewerbung herunter: für Geografie, ganz klassisch. Auf dem Schirm erschienen die Nummer der Bewerbung und eine Reihe codierter Datensätze. Midnight begann das Profil auszuwerten. Irgendwo bekam jetzt jemand eine Mail oder Handynachricht mit folgendem Text:

Herzlichen Glückwunsch! Dein Profil wird gerade von Midnight J. bei Necto beurteilt – deine Zukunft rückt einen Schritt näher!

Eine nette Geste, wenn auch etwas theatralisch. Der Hintergedanke war, Necto stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Das Unternehmen wollte nicht als großer unheimlicher Tech-Konzern dastehen, dessen Programme auf den gläsernen Menschen hinzielten, und Verschwörungstheorien befeuern. Nein, Necto präsentierte sich als die Guten, die die Welt besser machten, indem sie eine Lösung für jedes Problem anboten – auch für die, von denen man noch gar nichts ahnte.

Midnight sah sich die Bewerbung an. Die Interessen des Kandidaten – männlich, das einzige biologische Merkmal, das ihr angezeigt wurde – lagen stark im für Geografie relevanten Bereich. Die Konzentrationsfähigkeit war für Studienbewerber durchschnittlich. Die Werte für Sozialkompetenz und Selbstsicherheit waren etwas niedrig, aber noch in der Toleranzzone des Kunden. Bei den Freizeitinteressen stach Sport heraus, hauptsächlich Fußball und Cricket. Keine Anzeichen für illegalen Drogenkonsum – tatsächlich kam die Person hier auf den Bestwert. Auch der Wert für Alkoholkonsum war niedrig. Und die sonstigen Tendenzen lagen alle im für die Universität akzeptablen Bereich. Midnight bestätigte die Auswertung als Profil A, was bedeutete, dass die Bewerbung den Anforderungen der Universität vollauf genügte, füllte das digitale Formular aus und schickte es an den Kunden zur weiteren Verwendung. Da würde jemand Ende der Woche strahlend ein Studienplatzangebot im Postfach haben.

Mittlerweile war ihr Kaffee kalt geworden. Midnight überlegte, ob sie für Nachschub in die Teeküche schleichen sollte, aber ihre erste Pause war erst in vierzig Minuten fällig, und was Regelverstöße anging, hatte Richard einen sechsten Sinn. Also machte sie weiter. Noch ein männlicher Bewerber. Studiengang nicht festgelegt, was unüblich, aber nicht unmöglich war. Man konnte sich durchaus bei der TESU bewerben, ohne sich bereits für ein Fach entschieden zu haben. Allgemein waren gute analytische Fähigkeiten und ein Mindestmaß an Empathie gefordert; wichtig waren vor allem herausragende kognitive und kreative Werte. Die Studienplätze waren hart umkämpft. Die TESU war international angesehen und entsprechend gefragt.

Sie rief die Daten auf und begann die Ergebnisse auszulesen. »Mist«, brummte sie. »Muss ein Systemfehler sein.« Sie nahm ihr Headset ab und schob sich mit dem Schreibtischstuhl über die Grenze zu Ambers Zelle. »Hast du heute auch schon Schrottdaten gekriegt? Ich hab hier einen Datensatz, der muss irgendwie kaputt sein.«

»Nö, alles normal hier. Hast du mal den Stecker gezogen und wieder eingesteckt?«

Midnight verdrehte die Augen. »Ha, ha. Mist, dann ist es nur bei mir so.« Sie rollte wieder an ihren Schreibtisch zurück, löschte die hochgeladene Datei, lud sie neu und schaute hinein.

Wieder dasselbe Bild. In allen Bereichen waren die Werte am Anschlag. Midnight seufzte. Bei einem solchen Problem blieb nichts übrig, als auf die Rohdaten zurückzugreifen und dort nach dem Fehler zu suchen, und dadurch würde sich ihre Arbeitsleistung vermindern. Das hieß, sie musste so richtig ranklotzen, um auf ihr Pensum zu kommen. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Bei Necto wurde wahnsinnig viel Wert darauf gelegt, Systemfehlern auf den Grund zu gehen. Sie fuhr ihr Verdeck hoch, um ungestört zu sein, und machte sich daran, zu prüfen, wo der Fehler liegen könnte.

Kapitel 3

Die Ausrüstung, die Midnight anlegte, war genau die, die auch die Studienbewerber während der Tests trugen: ein Headset mit einem Band, das die Gehirnaktivität maß, einen Visor, der ihr einerseits Bilder und Videoclips zeigte und andererseits eine Kamera hatte, die Augenbewegungen und Pupillenweite registrierte, sowie einen Handschuh, der Puls, Blutdruck, Fingerbewegungen, Sauerstoffversorgung und Schweißbildung beobachtete. Nichts davon war unangenehm oder unbequem, und wer den Test durchlief, war sich meist überhaupt nicht bewusst, wie viel von ihren oder seinen Körperfunktionen aufgezeichnet wurde. Die ausgelesenen Daten indes hatten ein Aussagepotenzial, an dem selbst Necto noch forschte.

Auf niedrigster Stufe konnte die Software erkennen, ob man lieber Kaffee oder Tee trank, auf Männer oder Frauen stand, eher segeln oder Ski fahren würde. Aber sie bot noch viel mehr. Wurde dir ein Clip gezeigt, registrierte sie, wovon dein Blick angezogen wurde, welchen Bewegungen er folgte, ob das Gezeigte dich fesselte oder langweilte, dich ansprach oder abstieß – und Millionen und Abermillionen weiterer winziger Dinge. Der wahrhaft schlaue Kniff war jedoch, dass sie sich den Reaktionen der Testpersonen anpasste. Verriet man bei einem Bild Anzeichen von Erregung, wurden einem ähnliche Aufnahmen gezeigt, bis die Erregung ein Maximum erreichte oder sich Langeweile einstellte, dann ging sie zu anderen Themen über. Nichts war tabu. Nichts blieb verborgen. Was dein künftiger Arbeitgeber oder deine Ausbildungsstätte danach nicht über dich wusste, war auch nicht von Bedeutung. Es war ein psychometrischer Test, gesteuert von einer KI, die schneller lernte, als Necto sich zunutze machen konnte, und Midnight hatte gewaltigen Respekt davor. Amber meinte, dagegen sähe das Lügendetektorsystem der CIA steinalt aus, und das war noch untertrieben. Als die Software herausgekommen war, hatte es Einwände wegen der Verletzung der Privatsphäre gegeben, aber wie so oft hatte sich die Menschheit irgendwann daran gewöhnt. Tatsächlich war es schlicht so, dass fast niemand begriff, welches Potenzial wirklich darin steckte.

Midnight musste die Aufnahmen, die dem Bewerber vorgespielt worden waren, noch einmal abspielen und hierdurch herausfinden, wo die Software versagt hatte. Das kam gelegentlich vor – nicht einmal Necto war unfehlbar. Midnight setzte das Headset auf, lehnte sich zurück und rief den Anfang der Testsequenz auf.

Sie begann wie immer mit einem Rundflug aus der Vogelperspektive über einen stillen See im Sonnenuntergang, im Hintergrund in Dunst gehüllte Berge, unterlegt mit leiser, unaufdringlicher Musik. Eine Stimme bat Midnight, sich zu entspannen, ganz normal zu atmen und sich vorzustellen, sie schaue zu Hause fern. Sie brauche sich gar keine Gedanken zu machen.

Dann ging es los. Mit Bildern von Hörsälen, Konferenzräumen, dann Umweltthemen – verschmutzte Flüsse, kranke Menschen, sterbendes Vieh. Und hier setzte der Fehler ein.

Während der Szene mit dem sterbenden Vieh war keinerlei Gefühlsregung verzeichnet. Nicht die geringste. Normalerweise, sah sie, lag die Reaktion im mittleren Bereich. Also legte der Computer eine Schippe drauf. Vor Midnights Augen wurde gezeigt, wie Tiere in einem Schlachthof getötet wurden. Immer noch kein Messwert zu erkennen, mit dem die Universität etwas hätte anfangen können. Der Computer bemühte sich noch mehr, eine Reaktion herbeizuführen, und zeigte, wie Jungtiere gequält wurden. Midnight kniff die Augen zu, bis der Clip zu Ende war, dann prüfte sie, ob vielleicht Teile der Messausrüstung nicht funktioniert hatten. Aber Puls und Sauerstoffsättigung wurden stetig aufgezeichnet, Augenbewegungen nach wie vor registriert. Die Ausrüstung schien in bester Ordnung gewesen zu sein.

Sie dachte, jetzt würde es aufhören – die Schreie, die Qualen. Aber es ging weiter. Weitere Clips wurden eingespielt, einer anschaulicher und grausiger als der andere. Endlich beschleunigte sich der Puls des Bewerbers, seine Pupillen begannen sich zu weiten, aber der Computer hatte nun sein Angebot an Tierquälerei erschöpft und ging zu Bildern von Drogen und Alkohol über. Wein- und Bierflaschen wurden gezeigt, lachende Menschen in Pubs, Pärchen, die selbst gedrehte Zigaretten rauchten, betrunkene Männer, die nach Hause taumelten. Keine Reaktion. Der Bewerber hätte eingeschlafen sein können, so langsam war sein Puls. Spritzen und Shishas, Drogenabhängige, die mit glasigem Blick in den Abgrund starrten. Nichts. Dann eine Frau, die sich eine Line zog und dann unbekümmert auf ein Fenster zuschlingerte, den Leuten unten auf der Straße fröhlich etwas zurief – und dann auf die Fensterbank stieg. Sich die High Heels von den Füßen schleuderte. Midnight packte ihre Armlehnen. Die Frau stellte sich auf die äußere Fensterbank, breitete die Arme weit aus – und machte einen Schritt nach vorn.

»Nicht!«, entfuhr es Midnight.

Aber die Frau tat es. Wer auch die Kamera in der Hand hielt, reagierte zu spät – alles, was ihr oder ihm festzuhalten gelang, waren die beiden letzten Sekunden des Sturzes und dann das leblose Häufchen Mensch auf dem Bürgersteig, gehüllt in zerknitterte Designerklamotten.

Der Puls des Bewerbers jagte hoch wie bei einem Hundert-Meter-Sprint. Midnight prüfte die Daten. Seine Handflächen waren schweißfeucht, sein Atem beschleunigt, die Pupillen stark geweitet. Er hatte keine Anstalten gemacht, die Augen zu schließen, um den Suizid nicht mitansehen zu müssen. Seine Gehirnaktivität verriet Erregung ohne jede Empathie. Midnight verzog das Gesicht. Aber noch war die verzeichnete Reaktion nicht maximal, also machte der Computer weiter.

»Ach du Scheiße«, murmelte Midnight.

Sie hingegen konnte es nicht mitansehen. Schon bei der Tonspur biss sie die Zähne zusammen. Sie richtete all ihre Konzentration auf den Dateninput, suchte nach Anzeichen für seelischen Stress bei dem Bewerber. Nichts. Clip um Clip wurde gezeigt, vergeblich versuchte die Software den Bewerber an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu bringen. Die Geräusche waren schlimmer als alles, was Midnight je gehört hatte. Ihr war übel. Sie presste die Hand vor den Mund, bevor sie für einen Augenblick doch auf das Gezeigte schaute. Direkt vor ihr wurde jemand mit einer Art Drahtpeitsche bearbeitet. Midnight gefror das Blut in den Adern. »O Gott, das gibt’s doch nicht.« Sie wollte wegschauen, aber vor Entsetzen blieb ihr Blick an der Szene kleben. Ihre Hände und Kiefermuskeln waren völlig verkrampft.

In der Auswertung war zu sehen, dass der Kandidat schneller atmete. Sein Puls war bei etwa neunzig pro Minute, was ihr immer noch als Irrtum erschien, weil ihr eigener bei gut hundertzwanzig oder mehr war. Doch anders als ihre eigenen Vitalfunktionen, aus denen die Verzweiflung sprach, in diesem gnadenlosen Visor gefangen ausharren zu müssen, zeugten die des Bewerbers von einem ganz anderen Erleben.

Seine Pupillen waren geweitet. Nicht ein einziges Mal hatte er die Augen geschlossen, seine Hände waren entspannt. Seine Gehirnaktivität verriet Aufmerksamkeit und Erregung. Ein hohes Niveau der Stimulierung. Aber nicht – immer noch nicht, verflucht noch mal! – maximal.

Ein neuer Clip begann: Man sah eine an ein Bett gefesselte Frau. Midnight schloss wieder die Augen und begann ein Lied zu summen, eines derjenigen, mit der ihre Mutter immer ihre Schwester beruhigt hatte, damals, als ihre Eltern sich noch für das Elternsein interessiert hatten.

Weitere zwei Minuten verstrichen, in denen der Computer sich bemühte, die Grenzen des Bewerbers zu finden. Hundertzwanzig Sekunden Hölle. Weinen, Schreien, Flehen. Midnight sang lauter und lauter, zwang ihre Lippen, die Worte zu formen, um ihr Gehirn abzulenken, damit sie nicht zuhören musste.

»Will you make me a cambric shirt?«, sang sie zum x-ten Mal. »Parsley, sage, rosemary and thyme.«

Endlich drang nichts mehr aus der Tonspur. Midnight traute dem Frieden nicht und blieb noch kurz mit fest geschlossenen Augen sitzen, bis im Headset ein Weihnachtslied angestimmt wurde, Kinder kicherten, im Hintergrund knackte ein Feuer.

Sie holte tief Luft und wagte die Augen zu öffnen. Die Szene war zutiefst friedlich und wie aus dem Bilderbuch. Eine Familie bei der Bescherung. Schenken und beschenkt werden. Essen und trinken. Sicherheit, dachte sie. Geborgenheit. Sie warf einen Blick auf die Daten des Bewerbers. Sein Puls, der beim vorigen Clip endlich ins Rasen gekommen war, hatte sich auf sechzig Schläge pro Minute verlangsamt. Nicht einmal sein Adrenalinpegel war noch erhöht. Sein Gehirn wies gerade noch die Grundaktivität auf, die zum Leben erforderlich war.

»Wer ist das, verdammt noch mal?«, flüsterte Midnight.

Weitere Videos. Männer, Frauen, Kinder. Aus verschiedenen Erdteilen. Verschiedenen sozialen Schichten. Arbeiter in unterschiedlichen Jobs. Diverse religiöse Stätten. Unterschiedlich gestaltete Häuser und Wohnungen. Geschäfte, Lokale, Fortbewegungsmittel. Die Software lief wie am Schnürchen, ohne die kleinste Unregelmäßigkeit.

Midnight saß da, wie betäubt und mit flauem Magen, und fragte sich, wie sie diese Bilder und Geräusche je wieder aus dem Kopf bekommen sollte. Beim Gedanken, nach alledem am Abend zu ihrer wundervollen unschuldigen Schwester zurückzukehren, hätte sie den Visor am liebsten quer durch den Raum gepfeffert.

»Das kann nicht echt gewesen sein«, redete sie sich zu. »Das war garantiert computergeneriert. Mach einfach weiter.«

Noch eine halbe Stunde lang wurden ihr Clips gezeigt, alle erleichternd normal, doch Midnight konnte an nichts anderes denken, als dass sie am liebsten aus dem Büro geflohen, ins Erdgeschoss hinaufgefahren und draußen an der frischen Luft spazieren gegangen wäre – irgendwohin, wo sie sich ein Glas mit dem stärksten Drink gönnen konnte, den man für Geld kaufen konnte. Sie nahm den Visor ab und fuhr das Verdeck ein.

»Himmel, wie siehst du denn aus?«, kam sofort von Amber. »Wie schon mal gegessen und wieder ausgespuckt.«

»Ja. Das da ist total komisch, keine Ahnung. Ich dachte, die Daten wären falsch, aber alles lief korrekt ab. Ich weiß echt nicht.« Sie merkte, wie wenig Sinn das ergab.

»Wann darfst du Pause machen? Du siehst aus, als könntest du eine gebrauchen.«

»Gleich. Ich will noch eine Sache nachschauen. Danach Pause.« Sie verzog den Mund zu etwas, was sich eher wie eine Grimasse als ein Lächeln anfühlte.

Dann extrapolierte sie die Daten, wobei sie jeden Parameter zweimal prüfte. Ihre Empfehlung für die Universität stand fest. Ihrer Meinung nach sollte dieser Mensch weder dort noch an irgendeiner anderen akademischen Einrichtung auf der Welt studieren. Diese Beurteilung musste sie jetzt schreiben und das Profil finalisieren, und sie hatte vor, der TESU unbedingt außerdem eine gesonderte Nachricht zu schreiben, um sicherzugehen, dass der Bewerber nicht doch noch ein Schlupfloch fand und sich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal bewarb.

Eilig machte sie alles fertig, mit der tröstlichen Aussicht vor Augen, sich gleich auf der Toilette kaltes Wasser ins Gesicht klatschen und die Hände desinfizieren zu können, um jegliche Keime abzutöten, von denen es sich anfühlte, als könnten sie durch eine Art psychische Osmose auf sie übergegangen sein.

Midnight wartete. Ihr Computer brauchte ungewöhnlich lange. Die eingegebenen Daten schienen ihm ganz schön zu knabbern zu geben. Genau wie ihrem Gehirn.

»Komm schon, komm schon, komm schon«, redete sie ihm zu.

Zur Antwort spuckte der Computer einen Profilcode und einen blinkenden Cursor aus.

»Was soll denn das jetzt?«, fragte sie den Bildschirm, rieb sich die Augen und starrte das Ergebnis an, das sie noch nie gesehen hatte – ja, es war ihr noch nicht einmal bekannt, trotz der Tausenden Datenprofile, die sie schon bearbeitet hatte.

Dem Computer war das egal, er blieb bei seiner Meinung. Midnight zog die Rohdaten auf ein separates Laufwerk, damit sie nicht etwa bei einem Update beschädigt wurden, und zur Sicherheit noch auf einen Datenstick, um sie ihrem Chef zu zeigen. Dann loggte sie sich aus, um sich Rat einzuholen, wie sie weiter vorgehen sollte.

Der Bewerber war ein Profil K.

Kapitel 4

 

DER BEWERBER

 

Er vollendete das Sudoku, stand auf und schaute aus dem Fenster. Draußen auf der Straße hasteten Menschen vorüber, nicht ahnend, dass er sie beobachtete. Und selbst wenn sie ihn bemerkten, was war dabei? Er war nur ein Mann mit einer Zigarette in der einen und einer Tasse in der anderen Hand, der zusah, wie alles seinen Gang ging.

Diese Woche würde er einen neuen Job antreten. Davor wollte er seine Wohnung putzen. Besorgungen sollte er auch noch machen, was ihn nervte, weil er es hasste, die vollgepackten Einkaufstaschen vom Supermarkt zurückzuschleppen. Das war das Einzige, was ihm an London missfiel: dass es so unpraktisch war, ein Auto zu haben. Als Jugendlicher war er gern Auto gefahren, aber jetzt, ohne eigenen Stellplatz, wäre es ihm unerträglich gewesen, jeden Tag auf der Suche nach einem Parkplatz um die Blocks zu tuckern. Kürzlich war er immerhin an ein Motorrad gekommen, das war schon mal ganz gut, aber nicht so praktisch wie ein Auto.

Er nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette aus. Zehn am Tag, zeitlich so gleichmäßig verteilt wie möglich, mehr erlaubte er sich nicht. Schließlich musste er seine Miete zahlen und für die Zukunft sparen.

Die Liste seiner heutigen Erledigungen war noch nicht vollständig. Es war Waschtag, und heute gab es da mehr zu tun als sonst, wegen – er musste nach Worten suchen, um es innerlich zu benennen – der Dinge, die er getan hatte. Das war nun schon über einen Tag her, und bisher hatte noch nichts davon Erwähnung in den Nachrichten gefunden; das war zugleich gut und enttäuschend. Gut, weil es bedeutete, dass es keine Zeugen oder neugierige Nachbarn gegeben hatte, die schon währenddessen die Polizei gerufen hatten. Enttäuschend aus offensichtlichen Gründen. Es hatte etwas Faszinierendes, sich vorzustellen, wie ein ganzes Team von Ermittlern sich den Kopf zerbrach, wer das wohl gewesen war, sich abmühte, die Sauerei zu enträtseln, die er hinterlassen hatte.

Er liebte Rätsel, vor allem mathematische, hatte aber auch ein gutes Allgemeinwissen, Gedächtnis und Wortgedächtnis und war strukturiert. Schon immer hatte er technologische Themen gemocht und war in der Schule gut in Naturwissenschaften gewesen. Selbsttests fand er sehr reizvoll, deshalb hatte er auch diese neue Profilerstellungssoftware ausprobiert. Schon seit er zum ersten Mal etwas über die psychometrische Technologie des Necto-Konzerns gelesen hatte, war er davon fasziniert gewesen; als er also vor drei Monaten diesen kostenlosen Gutschein bekommen hatte, meldete er sich nur wenige Tage später an. Im Begleitschreiben hieß es, seine Ergebnisse würden zur Weiterverwendung bei künftigen Arbeitgebern gespeichert, was ihm hervorragend passte, weil er gerade einen Jobwechsel ins Auge gefasst hatte. Zudem war der Test wie eine Art Schachspiel beschrieben worden (Schach mochte er auch sehr gern) – er gegen die Maschine. In der Schule hatte er einmal genau darüber eine Kurzgeschichte geschrieben, für die er einen Preis bekommen hatte. Wie hätte er da widerstehen können?

Es war nicht der erste psychologische Test, den er mitgemacht hatte – am Moorview College hatte er so einige durchlaufen –, aber der von Necto hatte ihn völlig umgehauen. Genau konnte er nicht den Finger darauf legen, welcher Punkt in dem Test sein Dasein so fundamental umgekrempelt hatte, aber er hatte eingeschlagen wie ein Blitz.

Und jetzt kämpfte er mit seiner Selbstdisziplin. Es sah ihm nicht ähnlich, seine Pflichten im Haushalt so weit in den Tag hinein unerledigt zu lassen. Er war mit den Gedanken woanders. Schon mehrmals hatte er sich dabei ertappt, wie er mitten in einer Arbeit plötzlich nicht mehr wusste, was er eigentlich machen wollte.

An der Sache mit der Frau ärgerte ihn eines: dass er vergessen hatte, Fotos zu machen. Wie viele Serien und Podcasts hatte er sich zur Vorbereitung nicht reingezogen – er hatte keinerlei Überblick mehr. Und doch hatte ihn der plötzliche Erregungsschub einfach überwältigt, und er war die Sache amateurhaft angegangen. Hätte er Fotos, die er sich anschauen könnte, es käme ihm viel realer vor. Aber sicherlich würde die Polizei sie bald finden, dann konnte er das Ganze in den Zeitungen nachlesen. Das würde ihm helfen, sich an Details zu erinnern.

Er hoffte nur, dass seine Eltern nichts davon mitkriegen und sich darüber auslassen würden, wenn er übers Wochenende bei ihnen war. Sie liebten es, die neuesten Nachrichten ausführlich durchzudiskutieren, vor allem, wenn es um Kriminalität ging. Es ging ihm weniger darum, was sie von ihm dachten – nicht, dass sie je herausfinden würden, dass er der Schuldige war –, sondern dass ihm das sein Erlebnis vermiesen würde. Sie waren beide so unglaublich rational. Beide kamen aus konservativen Familien; sein Vater hatte eine Privatschule besucht und seine Mutter ein Gymnasium. Beruflich war er Aktuar gewesen und sie Lektorin für eine wissenschaftliche Zeitschrift. Beide lasen gern und gingen vorsichtig mit ihrem Geld um – hätte es damals, als sie zwanzig waren, schon Dating-Apps gegeben, hätten sie garantiert gematcht. Jetzt, mit Ende sechzig, wohnten sie noch immer in dem Ort auf dem Land, wo er aufgewachsen war. Bei seinem Auszug hatten sie ihm die Kaution und die ersten sechs Monatsmieten bezahlt; einen Kauf zu finanzieren kam für sie nicht infrage. Anscheinend fanden sie, er müsse lernen, mit Geld umzugehen. Er seufzte. Schon der Preis, den er für dieses jämmerliche Wohlwollen zahlte, war hoch genug. Jeden Sonntag zum Mittagessen vorbeikommen, beim Abwasch helfen (eine Spülmaschine verbrauchte ihnen zu viel Strom und Wasser) und dann Scrabble oder Cribbage mit ihnen spielen und sich dabei über die Ereignisse der Woche unterhalten. Beim nächsten Besuch würden vor allem Fragen zu seinem neuen Job auf dem Plan stehen.

»Ach, Scheiße!« Er schnappte sich das Zigarettenpäckchen, zerrte noch eine heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und zog ein silbernes tropfenförmiges Feuerzeug aus der Tasche. Er war nicht sonderlich materialistisch, aber dieses Feuerzeug liebte er. Es fühlte sich so gut in der Hand an: glatt, kalt, schwer. Er ließ die Spitze des Tropfens aufschnappen und entfachte mit dem Rädchen die Flamme. Während er den ersten Zug nahm, ließ er sie brennen und betrachtete sie. Gott, wie schön sie war. Die Extrazigarette war ein Schritt weiter in die Abhängigkeit, aber er war fit und gesund. Und stark. In seinem Leben hatte er seine Körperkraft noch kaum auf die Probe stellen müssen, aber das Mädchen hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, und in letzter Zeit hatte es noch andere Gelegenheiten gegeben, wo er körperlich gefordert war. Und er hatte stets die Oberhand behalten. Es hatte sich gut angefühlt, dieses körperliche Überlegensein. Er hatte gedacht, vor allem das Blut würde die Hauptattraktion sein, aber an seine körperlichen Grenzen gebracht zu werden, war auch unwahrscheinlich befreiend gewesen.

Es klingelte, dem Ton nach an der Haustür. Er eilte durchs Treppenhaus und fand draußen ein Päckchen. Während er es aufriss, fragte er sich, was er als Nächstes tun sollte, also als nächste … größere Unternehmung. Die Clips von Necto vor drei Wochen waren eine Erleuchtung gewesen; heilige Scheiße, was hatte er sie genossen. Er konnte es gar nicht in Worte fassen. Es gab keine Metapher, die dem gerecht wurde. Nur hatte er jetzt nichts mehr, worauf er sich freuen konnte.

Das Päckchen war immerhin schon mal etwas: Küchenmesser, so scharf, dass sie eher in den Operationssaal als in die Küche gehört hätten. Er zog eines aus der Metallhülle. Das Geräusch, das dabei entstand, hörte sich auf reizvolle Weise an wie das Ziehen eines Schwerts in einem Schwarz-Weiß-Film, dieses lange zzzzzzz mit dem kurzen ing dahinter, wenn die Spitze aus der Scheide herausschoss. Er nahm eine Zwiebel aus dem Kühlschrank, hielt das Messer darüber und übte nur so viel Druck aus, dass der Schnitt sauber blieb. Mühelos glitt es durch die Knolle, mit diesem befriedigenden Knirschen. Und noch einmal. Was für eine perfekte Klinge. Und noch einmal. Er unterbrach kurz, um die Haut abzuziehen, dann schnitt er die Zwiebel in Würfel. Kleiner und kleiner wurden die Stücke, der Saft lief heraus, bis das Schneidbrett ganz klebrig-feucht war. Er schnitt sie so klein wie nur möglich, dann spülte er das Messer ab, mischte Salz und Pfeffer unter die Stücke und holte Eier aus dem Kühlschrank. Zu Mittag konnte er sich genauso gut ein Omelette machen. Kochen tat ihm gut. Es war eines der Dinge, die er in der Schule gelernt hatte, und es förderte seine Konzentration und Zielstrebigkeit. Das Abwiegen und Abmessen, die Präzision, dass es eine in sich abgeschlossene Tätigkeit mit definiertem Ziel war. Und er hatte schon wieder Hunger. Er war regelrecht ausgehungert. Er musste etwas mit sich anfangen. Vor allem aber musste er sich von Jessica ablenken.

Sein Handy pingte. Er seufzte, legte das Messer vorsichtig hin und schaute sich die Nachricht an. Einen Moment lang verspürte er zugleich ein Glücksgefühl und Panik.

Herzlichen Glückwunsch, stand da. Dein Profil wird gerade von Midnight J. bei Necto beurteilt – deine Zukunft rückt einen Schritt näher!

Midnight. Cooler Name. Er fragte sich, wofür das J stand – und was davon war der Vor- und was der Nachname? Sicher war es eine Frau. Er stellte sie sich vor, wie sie an ihrem Schreibtisch saß und sein Profil erstellte. War ihr Haar dunkel oder hell? Und ihre Haut? Wie groß war sie wohl?

»Midnight J.«, sagte er vor sich hin, während er die Eier in einen Rührbecher schlug und zu schlagen begann. Was würde sein Profil ihr offenbaren? Den regelkonformen Menschen, zu dem er erzogen worden war, oder sein neues, authentisches, befreites Ich? Es schien ihm unfair, dass sie ihn so intim kennenlernte, während er von ihr nicht mehr als einen Teil ihres Namens kannte.

Vielleicht konnte er das ändern. Wie schwer mochte das schon sein? Schließlich war er gut im Rätselraten.

Kapitel 5

Midnight nahm einen Atemzug, der einer Apnoetaucherin würdig gewesen wäre, und ging auf Richard Baxters Schreibtisch zu.

Als sie seine Zelle betrat, sah er auf die Uhr. »Bildschirmpause?«

Zum tausendsten Mal wurde ihr Blick von seinem Ehering angezogen. Wie konnte jemand nur diesen Menschen geheiratet haben? Das sollte Necto mal anbieten – das Psychoprofil deines Zukünftigen zu erstellen. Damit könnten sie noch einige Milliarden mehr machen. »Ich habe ein Problem zu melden.«

»Dafür ist der Technik-Support da. Bitte halten Sie sich an die Standardvorgehensweise.« Er sang die Worte beinahe.

Midnight schloss eine Millisekunde lang die Augen. »Es ist kein technisches Problem. Ich habe alles überprüft. Also, ich meine, ich habe mich an die Standardvorgehensweise gehalten. Die Sache ist …«

»Haben Sie im Betriebsleitfaden nachgesehen? Fast jede Frage, die Sie vielleicht haben, kann gelöst werden, wenn Sie sich durchklicken.« Er hatte sich schon wieder seiner Tastatur zugewandt.

Midnight hätte ihn liebend gern gefragt, was er eigentlich von Manieren hielt. Und vom respektvollen Umgang mit Mitarbeitern. Und davon, sich den Betriebsleitfaden sonst wohin zu stecken. »Es geht um ein anomales Profil. Im Betriebsleitfaden steht klar und deutlich, dass wir uns bei Unregelmäßigkeiten in Profilen an unseren Vorgesetzten wenden sollen, das wären also …«

»Kommen Sie nicht klar, weil Sie übermüdet sind? Ich weiß, ich war wegen des Zuspätkommens streng mit Ihnen, aber es ist ja zu Ihrem eigenen Besten.« Richard schenkte ihr ein unechtes Lächeln. »Um ehrlich zu sein, scheint es mir wenig sinnvoll, mit diesem Gespräch weitere Zeit zu verschwenden, nachdem Sie heute Morgen schon …«

»Was ist ein Profil K?«, fiel sie zur Abwechslung mal ihm ins Wort. »Das wurde in meiner Ausbildung nicht erwähnt. Und ich habe nachgeschaut, es wird nirgends erklärt.«

»Ein Profil K gibt es nicht.« Der Honig in seiner Stimme hatte sich verflüchtigt. »Sie haben entweder einen Fehler gemacht, oder jemand erlaubt sich einen Scherz mit Ihnen.«

»Inwiefern einen Scherz? Was soll an der Profilbezeichnung K witzig sein?«

Richard Baxter bedeutete ihr mit erhobenem Finger zu schweigen. Sie starrte ihn ungläubig an.

»Miss Jones, das ist ein Scherz. Ein schlechter Scherz, um ehrlich zu sein. Bei der Einführung der Profilbezeichnungen musste man der Vollständigkeit halber auch eine für Probanden finden, die in jeder Hinsicht anomal sind – null Empathie, pervers bis über die Grenzen der Software hinaus, mit Reaktionen jenseits von soziopathisch, schon im extrem psychopathischen Bereich. Man verlieh diesem theoretischen Ergebnis den Buchstaben K für Killer, was ich persönlich nicht im Geringsten witzig finde. Aber diese Extreme kann niemand erreichen. Soweit ich weiß, war selbst bei den Bewerbern für den militärischen und den Spezialeinsatzbereich noch nie ein Profil K dabei. Was Sie da auch für ein Problem haben, ich bin mir sicher, es ist nicht wirklich ein Profil K.«

»Sosehr mich Ihr kompetenter Zuspruch beruhigt, dieses Profil ist eindeutig eines. Also, was machen wir damit?«, fragte Midnight.

»Es wäre vielleicht angebracht, sich etwas zu mäßigen.«

»Und vielleicht wäre es angebracht, das nicht einfach als Irrtum abzutun. Die Bezeichnung Profil K war vielleicht ein blöder Witz, aber ich habe die Rohdaten überprüft. Ich habe mir die Fotos und Clips angesehen, die dem Probanden gezeigt wurden, und seine Reaktionen darauf mitverfolgt. So etwas habe ich noch nie erlebt. Nicht einmal annähernd.«

»Na gut, betrachten wir das mal näher.«

Midnight war sich ziemlich sicher, dass sie keine dreißig Sekunden mehr davon entfernt war, ihm eine in die Fresse zu geben.

»Ich denke«, fuhr er fort, »wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass Frauen sehr empfindsam sein können, also könnte das, was Sie gesehen haben, für Sie zwar aufwühlend, aber für einen Mann vielleicht nur etwas hart gewesen sein.«

»Richard«, sagte Midnight.

»Ja?«

»Halten Sie einfach den Mund. Ich gehe zu Sara Vickson.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zum Ausgang, vorbei an den Aufzügen und durch die Tür in den Trakt der Geschäftsleitung. Hier waren die Flure breiter, das Licht angenehmer. Pflanzen säumten den Weg, hie und da stand ein Designersofa – nicht dass darauf jemals jemand gesessen hätte, anstatt zu arbeiten. Um die Ecke befand sich eine Rezeption mit einer lächelnden Sekretärin dahinter, die Anstalten machte, sie zu begrüßen. Midnight grüßte nicht zurück. Sie kannte diesen Blick, der so viel bedeutete wie: »Oh, wie schön, dass Sie da sind, vielleicht kann ich Ihnen einen Termin in einem Monat oder so anbieten?«

»Mein Name ist Midnight Jones, und ich habe einen Termin bei der leitenden Direktorin«, sagte sie. »Verzeihen Sie, ich bin etwas zu spät, also muss ich gleich rein, ich würde Ms. Vickson ungern warten lassen.«

Das falsche Lächeln verwandelte sich in ein Stirnrunzeln. »Die Frau Direktor hat jetzt keinen Gesprächstermin. Sie müssen sich irren. Ich kenne ihren Kalender sehr zuverlässig.«

»Glaube ich Ihnen, wahrscheinlich spinnt die Technik mal wieder. Möchten Sie sie etwa warten lassen? Ich will meinen Termin ungern mit einer Beschwerde beginnen.«

»Ich muss zuerst mit ihr Rücksprache halten. Sie ist heute sehr beschäftigt, und wenn ich Sie einfach zu ihr lasse …«

»Von mir aus«, sagte Midnight. »Gehen Sie zu ihr. Aber beeilen Sie sich.« Weit hinten im Flur waren Schritte zu hören – das war mit nahezu tausendprozentiger Sicherheit der verdammte Richard. Ihr Chef durfte auf keinen Fall vor ihr zu Sara Vickson gelangen.

Die Sekretärin war aufgestanden und ging zu einer der sechs Türen, die in sehr großzügige Büros führten. Anstandshalber hätte Midnight still stehen bleiben sollen. Stattdessen kreuzte sie die Finger, als wäre sie wieder fünf Jahre alt, schlich sich so leise wie möglich hinter die Sekretärin, wartete, bis Vicksons Tür aufging, und drängte sich hinein.

Die Sekretärin schnappte nach Luft. »Ms. Vickson, tut mir leid, Ms. Jones sagte, sie hätte einen Termin …«

Vickson sah nicht einmal von ihrem Laptop auf. »Jetzt nicht, ich bin beschäftigt, egal wer sie ist.«

»Nein!«, ertönte von der Flurecke her Richards Stimme. Seine Schritte beschleunigten sich.

Die Sekretärin versuchte Midnight hinauszuschieben.

»Das hier ist wichtig«, sagte Midnight. »Es kann leider nicht warten. Ich weiß, mein Vorgehen ist nicht leitfadenkonform, aber bei meinem direkten Vorgesetzten komme ich nicht weiter.«

Hinter ihr platzte Richard herein. »Das ist nicht wahr. Ich habe mich um die Sache gekümmert. Ich habe alles unter Kontrolle. Ich werde das an die Personalabteilung melden. Miss Jones hat sich meinen Anweisungen widersetzt. Offensichtlich hat sie ein Datenprofil nicht korrekt ausgewertet.«

Sara Vickson funkelte sie alle finster an, die Finger mit den bronzefarben lackierten Nägeln reglos über der Tastatur, und fuhr sich mit der Zungenspitze dezent über die perfekt geschminkten Lippen. Ihre Sekretärin wich in die Zimmerecke zurück.

»Wenn das nicht wichtig ist, sind Sie alle gefeuert«, sagte sie. »Alle drei.«

Einen Moment lang herrschte wie betäubte Stille.

Midnight erholte sich zuerst. »Ich habe ein Profil K. Und fürs Protokoll, in den Daten ist definitiv kein Fehler.«

Bedächtig klappte Vickson ihren Laptop zu. »Sie«, sagte sie zu ihrer Sekretärin. »Nehmen Sie meine Anrufe entgegen.« Die Sekretärin eilte hinaus.

»Sorry«, murmelte Midnight ihr leise zu.

»Und Sie gehen zur Personalabteilung und melden, was Sie zu melden haben. Damit habe ich nichts zu tun.«

Richard trat einen kleinen Schritt zurück und wurde rot.

»Vielleicht sollte er das nicht machen«, sagte Midnight. »Er hat sich mir gegenüber extrem frauenfeindlich geäußert und angedeutet, ich hätte ein Profil falsch interpretiert, weil ich weiblich und daher überempfindlich bin.«

Die folgende Pause war zu lang, als dass Richard noch glaubhaft hätte widersprechen können.

»Dann scheinen Sie mir beide quitt zu sein«, sagte Vickson. »Sie erweisen Ihrem Chef bitte in Zukunft mehr Respekt; wir haben bei Necto eine sehr klare Hierarchie. Und Mr. Baxter, wenn Sie gern über empfindliche Frauen reden möchten, dann machen Sie doch bitte einen Termin mit mir aus.« Er öffnete und schloss zweimal den Mund, schließlich gab er sich geschlagen. »Gut, Sie können gehen.«

Richard verzog sich und schloss die Tür hinter sich. Midnight erwartete, Vickson würde sie auffordern, sich zu setzen. Nichts dergleichen.

»Und jetzt erzählen Sie«, sagte sie. »So wie Sie hier reingeplatzt sind, sollte es gefälligst spannend sein.«

Knapp und nüchtern schilderte Midnight, was passiert war. Als sie geendet hatte, nahm Vickson die Unterlippe zwischen die Zähne und tippte mit ihrem Montblanc-Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Nur damit das klar ist – was glauben Sie, was wir mit dieser Information anfangen sollen, Miss Jones?«

Midnight runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich … ich dachte, diese Frage könnten Sie mir beantworten.«

»Nein. Die beantworten bitte Sie mir. Also, ich möchte jetzt nicht wissen, was passieren wird. Ich möchte wissen, was Sie denken. Ich würde wirklich gern hören, was Sie erwartet haben, indem Sie damit zu mir gekommen sind.«

Midnight dachte einen Moment nach. »Also, ich denke, wir sollten die TESU genauer informieren, nicht nur hinsichtlich der üblichen Einschätzung geeignet oder ungeeignet. Die sollten wissen, womit sie es zu tun haben. Und vielleicht sollten wir es der Polizei melden. Die Bezeichnung Profil K war ja vielleicht als Witz gedacht, aber dieser Mann kennt keine Grenzen. Vielleicht – oder vermutlich – misshandelt er seine Partnerinnen. Und ich halte ihn generell für sehr gefährlich. Vielleicht sollte die Uni sogar seine genauen Daten an die Polizei weiterleiten, damit die ein Auge auf ihn hat.«

Vickson nickte. Midnight spürte, wie erleichtert sie war, es ausgesprochen zu haben.