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Koreanische Mythologie meets fantastische Frauenpower: das Fantasy-Highlight endlich auch auf Deutsch! Lady Bin Seomoon hat ein Geheimnis: Sie ist eine Byeoksa – eine Seelenjägerin – und dazu verdammt, dem Treiben von Geistern in der Menschenwelt ein Ende zu bereiten. In der Hoffnung, bald ein normales Leben führen zu können, versucht Bin 108 Geister auszutreiben und dadurch ihr Schicksal zu ändern. Als Mann verkleidet, schleicht sie sich auf eine rauschende Party und trifft dort auf Eunho, einen loyalen Diener des Königs. Eunho, der die Intrigen des Premierministers untersuchen soll. Eunho, der Bins lange verschollener Verlobter ist – und sich nicht an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnern kann … Eine epische Geisterjagd, eine herzzerreißende Romanze und eine temperamentvolle Heldin, die Säbel und Schicksal selbst in die Hand nimmt! Diese Tropes erwarten dich: - Lost Memories - Second Chances - Arranged Marriage - Crossdressing - Seelenjagd - GeheimnisseDas Must-Have für alle Fans von Sue Lynn Tans "Die Tochter der Mondgöttin", Elizabeth Lims "Sechs Kraniche" und Axie Ohs "Das Mädchen, das in den Wellen verschwand"!
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2025
Esther Park
Die Perlen des Todes
Aus dem Koreanischen von Alexandra Dickmann und Julia Zachulski
Knaur eBooks
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Nachwort
Die Geschichte vom Schlangental
Irgendetwas schien im Schlangental vor sich zu gehen.
Sanft ließ der Wind die Seidenvorhänge vor den Räumen auf und ab tanzen und verbreitete einen intensiven Geruch in der Luft. Er war so unglaublich abstoßend, dass die Gestalt im Schatten ihres Huts nicht umhinkam, das blasse Gesicht zu verziehen.
Sie hatte einen bleichen, geradezu strahlenden Teint, blutleere Lippen und war von einer so schlanken, zierlichen Statur, dass man sie vielmehr in einem Rock als in einer Hose erwartet hätte. Der Ausdruck in ihren Augen hingegen glich einem Sturm – einem wütenden Orkan, der den Himmel unentwegt in seiner Gewalt zu halten schien.
Bin Seomoon griff vorsichtig nach dem Heft ihres Tigersäbels, den sie unter ihrem Gewand versteckt hielt.
Festlich dekorierte Räume reihten sich aneinander, im Garten blühten überall sonderbare Blumen, und Menschen schlenderten mit ihren Gläsern in den Händen umher. Bin musterte alles ganz genau.
»Selbst wenn sich die aufstrebenden Mächte zusammenschließen, bleiben sie Schwächlinge. An den Minister werden sie niemals heranreichen.«
Stimmen drangen durch die dünnen Seidenvorhänge des Raums.
Es handelte sich um die Schlangenresidenz – das Anwesen des Premierministers, ein Mann, dem nachgesagt wurde, noch mehr Macht innezuhaben als der König selbst. Ein Ort, der sogar in finsterer Nacht hell erstrahlte, vom Treiben all jener, die Gold- und Silberschätze mitbrachten, um die Gunst Seiner Gnaden zu gewinnen.
Bin war jedoch nicht auf der Suche nach der Macht oder dem Geld der Lebenden.
Eine plötzliche Bewegung in den Reihen der Trunkenbolde zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Unauffällig blieb Bin vor der geöffneten Schiebetür stehen, kniete sich auf ein Bein nieder und spähte in den Raum.
»Genau deshalb habe ich auch Seine Gnaden aufgesucht und ihn um einen Posten für meinen Jungen gebeten!«
In dem Raum saßen einige Männer, die in protzige Gewänder gehüllt waren.
Neben dem dickbäuchigen Mann in der Mitte des Zimmers streckte sich ein Schatten in die Länge, bei dessen Anblick Bin die Augen verengte. Die langen Finger des Schattens berührten das Perlenband am Hut des Mannes.
Die Perlen klimperten.
Ein Geräusch, das allein Bin wahrnehmen konnte.
Die schattenhafte Gestalt wirkte geradezu verzückt, während sie mit funkelnden Augen die kleinen Kugeln berührte.
Noch nicht.
Bin atmete langsam ein und lauschte den Geräuschen. Dieses Wesen war nicht das, wonach sie heute suchte. Doch die Anwesenheit eines solchen Geists sprach dafür, dass gewiss auch ihr eigentliches Ziel bald auftauchen würde.
Jenes Etwas, das das Schlangental heimsuchte.
»Heute wollen wir die Gläser heben, als gäbe es kein Morgen!«
Voller Elan stießen die Männer an. Ihre aneinanderprallenden Gläser gaben ein scharfes Klirren von sich, als Bin zwischen den herausschwappenden Schnapstropfen etwas entdeckte.
Ein langer, schmaler Schatten huschte über die Münder der Männer, die sich hemmungslos dem Alkohol hingaben, und glitt ihre Rachen hinab.
Bin stand auf.
Oh?
Ihr Blick fiel auf die Schiebetür auf der anderen Seite.
Jemand versteckte sich hinter ihr und spähte genau wie sie heimlich in den Raum.
»Mundet Euch der Schnaps, meine Herren?«
Eine Bedienstete betrat mit reizender Stimme den Raum, nahm die leere Flasche an sich und stand erneut auf. An der Wölbung der Flasche klammerte sich etwas fest. Es gab keine Zeit für weitere Überlegungen.
Das musste es sein.
Bin folgte der Dienerin, die den Raum wieder verließ. Ihr roter Rock streifte über die Gänge der Schlangenresidenz. Mit der Flasche in der Hand lief sie in den hinteren Teil des Gartens. Bin folgte ihr eilig und ging zügig um die Ecke. Es krachte.
»Ah! Was soll das?«
Sie stieß mit einem Mann zusammen, der ebenfalls um die Ecke gerannt kam, und fiel zu Boden.
Verzweifelt suchte sie nach der Dienerin, konnte jedoch nicht ausmachen, wohin sie verschwunden war.
»Euretwegen habe ich sie verloren!«, schallte es auf sie herab – Worte, die vielmehr sie hätte sagen sollen.
Als sie den Kopf hob und einem außergewöhnlich gut aussehenden Gesicht entgegenblickte, stockte ihr der Atem.
Die grazilen Gesichtszüge unter seinen dicken Augenbrauen verliehen dem Mann eine nachhaltige Präsenz. Selbst die Schönheit einer aus Jade geschnitzten Blume hätte im direkten Vergleich mit ihm regelrecht ordinär gewirkt.
Der Mann senkte den Kopf und sah Bin eindringlich an. Die plötzliche Nähe zu ihm ließ sie zurückschrecken.
»Habt Ihr es gesehen?«
»W-was soll ich gesehen haben?«
Bins Ton klang unerwartet streng, doch der Mann blickte ihr direkt in die Augen und wich nicht zurück.
»Wart Ihr es nicht, die mir gegenüber ebenfalls den Raum durchsucht hat?«
Er trat noch einen Schritt näher.
»Ihr habt es also nicht gesehen?«
Ein erfrischender Duft ging von ihm aus.
Es war merkwürdig. Sie wollte am liebsten weglaufen, obwohl sie lediglich von Angesicht zu Angesicht voreinander standen. Bins Augen, die ohne Probleme selbst dem Blick lebloser Dinge standhielten, irrten auf der Suche nach einem Fluchtweg vor diesem Mann vergebens durch die Luft.
Sie spürte die Hand des Mannes an ihrer Taille und schrie vor Schreck auf. Oder besser gesagt hatte sie vor, zu schreien.
»Was tut Ihr da?«
»Es wäre ziemlich ärgerlich, damit hier erwischt zu werden, oder etwa nicht?«
»Wann habt Ihr …?«
In seiner Hand hielt er plötzlich den Säbel, den sie bis eben noch um ihre Hüfte geschnallt hatte.
Es mochte namentlich ein Säbel sein, war aber kurz genug, um unter dem Gewand versteckt werden zu können. Und dennoch hatte er ihn mit Leichtigkeit gefunden und starrte nun Bin an.
»Gebt ihn mir sofort zurück! Was fällt Euch ein, einfach fremdes Eigentum an Euch zu nehmen?«
»Dieser Säbel ist keiner, der lebendige Wesen verletzt, habe ich recht?«
Bins Gesicht erstarrte kurzzeitig.
»Woher wisst Ihr das …?«
»Ein Tigersäbel, der im Monat, am Tag und zur Zeit des Tigers hergestellt wurde, um dessen Energie zu erlangen. Er ist dafür gemacht, böse Geister zu verletzen und auszutreiben, nicht wahr? Ich habe etwas Ähnliches schon einmal gesehen.«
Die Kunst der Seelenjagd. Die Austreibung des Bösen und Beschwörung des Glücks.
Die wohlgeformten Augenbrauen des Mannes hoben sich.
»Sicherlich ist Euch bewusst, dass es verboten ist, eine solche Waffe ohne die Erlaubnis des Königs zu schmieden.«
Bin durchbohrte den Mann mit ihrem Blick.
»Was wollt Ihr?«
»Oh, Ihr seid schnell von Begriff. Das gefällt mir.«
»Antwortet mir.«
»Wer so etwas bei sich trägt, ist kein normaler Mensch. Seid Ihr etwa auch ein Seelenjäger?«
Bin hob eine Augenbraue.
»Was meint Ihr mit ›auch‹?«
»Wieso? Bin ich etwa zu gut aussehend, um ein Seelenjäger zu sein?«, antwortete der Mann und zog einen weißen Seidenfächer aus seinem Gewand, den er dann geräuschvoll öffnete.
»Was redet Ihr denn da für einen Unsinn?«
Die Augenwinkel des lächelnden Mannes, der gerade noch stolz mit seiner Schönheit geprahlt hatte, senkten sich erneut.
»Nun gut. Es mag wahr sein, dass ich eher mit meinem Gesicht als mit meinen Jagdfähigkeiten überzeugen kann. Und genau deshalb müsst Ihr mir helfen.«
»Wie bitte?«
»Das hier ist die Residenz Seiner Gnaden, des Premierministers. Und so, wie Ihr gekleidet seid, seid Ihr sicherlich kein geladener Gast.«
Die Augen des Mannes musterten Bins abgenutzte Kleidung von oben bis unten.
Ihr marineblaues Gewand war unter all ihrer Kleidung das Schönste, das sie besaß, im direkten Vergleich zu den Gewändern der übrigen Gäste in der Schlangenresidenz wirkte es jedoch schlichtweg unansehnlich.
»Ihr habt doch ebenfalls keine …!«, setzte Bin verärgert an und wollte auf die ebenso dürftige Kleidung des Mannes hinweisen, als sie sich selbst unterbrach.
Was sie zunächst für ein schlichtes, schmuckloses Gewand gehalten hatte, stellte sich auf den zweiten Blick als ein seidener Umhang heraus, den man dicht mit Wolken aus jadefarbenem Garn bestickt hatte. Eine so feine Stickerei, dass sie erst bei genauerer Betrachtung zu erkennen war. Wie viele Menschen Stunden der Mühen dafür aufgewandt hatten, ließ sich unmöglich erahnen.
»Habt Ihr es jetzt verstanden?«
Bin schaute umher. Sie hatte keine Zeit zu verschwenden.
»Wobei soll ich Euch helfen?«
Der Mann lächelte, als er Bins genervten Ton hörte.
»Wie bereits erwähnt, bin ich noch immer ein Anfänger in der Kunst der Seelenjagd. Ich würde Euch gern auf Eurer Jagd begleiten.«
Mit einem Schnalzen der Zunge tat Bin ihren Unmut kund.
»Ha, ist Euch bewusst, worauf Ihr Euch da einlasst? Euer ach so schönes Gesicht könnte sich schnell die eine oder andere Narbe einfangen.«
»Ah, Ihr haltet mich also ebenfalls für gut aussehend. Mit Euren scharfen Augen entgeht Euch gewiss kein einziger Geist.«
»Wie bitte?«
»Heben wir uns die Fragen für später auf und gehen weiter. Ich weiß zwar nicht, wie es um Euch steht, aber ich bin ein viel beschäftigter Mann.«
Bin schüttelte den Kopf. Dieser Mann würde niemals aufhören zu reden.
Er ist ein gut aussehender Irrer, dachte sie, nickte jedoch einfach, als wollte sie sagen: »Mach, was du willst.«
»Nun gut, da Ihr immerhin etwas über die Seelenjagd zu wissen scheint, werde ich Euch keine weitere Beachtung schenken. Solange Ihr mir nicht in die Quere kommt, könnt Ihr mich gern begleiten«, sagte Bin und ging los.
Das Wichtigste war, die Flasche zu finden, die die Bedienstete mit sich genommen hatte.
»Öffnet Eure Arme«, sagte Bin und gestikulierte umher.
»Meine Arme?«
Sein Blick verriet zwar, dass er ihre Absichten nicht verstand, aber er folgte ihren Worten dennoch gehorsam.
Bin nutzte seine breite Statur als Sichtschutz, um eine kleine Rolle aus ihrer Kleidung hervorzuziehen. Um sie war ein funkelnder Faden gewickelt.
Sie griff nach dem Ende des Fadens und warf die Rolle hoch, woraufhin diese, als wäre sie plötzlich zum Leben erweckt worden, durch die Luft flog und nach links in einen Korridor abbog. Bin nickte, während sie beobachtete, wie sich der Faden in ihren Händen entwirrte.
»Hier entlang.«
Gleich darauf machte sie kehrt und ging den Korridor hinab, während der Mann sie schmunzelnd beobachtete.
»Habt Ihr mich gerade als Sichtschutz benutzt?«
Dass diese Person es wagte, den großen Eunho Hyeon so zu behandeln! Jeder andere, der diese Szene miterlebt hätte, wäre schockiert gewesen.
Ich sollte ihr wohl zunächst folgen, immerhin bin ich auf Befehl des Königs hier.
Mit großen Schritten setzte er sich in Bewegung, um Bin einzuholen.
»Hier.«
Bin schaute sich um. Das Ende des Fadens schwebte reglos in der Luft.
Eine träge Brise aus dem Tal der Schlangen strich über ihre Wange. Die mondlose Nacht war dunkler und unheimlicher als sonst. Im Gegensatz zur Schlangenresidenz, in der es von Menschen nur so wimmelte, war es dort, wo Bin gerade stand, sehr still. Es erklang keine Musik, und der strenge, süße Geruch war ebenso verschwunden.
Sie konnte spüren, wie die Seelenperlen an ihrer Taille baumelten, und umschloss den Griff ihres Säbels fester.
»Was ist das?«
Eunho bemerkte die bunte Perlenkette, die um Bins Hüfte hing. Ihr ominöses Leuchten zog die Aufmerksamkeit anderer förmlich auf sich.
»Warum müsst Ihr unbedingt alles wissen?«
»Behandelt man so etwa jemanden, der nichts mehr möchte, als von Euch zu lernen?«, antwortete Eunho und wedelte sanft mit dem Fächer.
»Ich bin mir sicher, dass Ihr mit Eurem Gesicht auch anderswo Arbeit finden werdet. Wieso wollt Ihr ausgerechnet mehr über die Seelenjagd lernen?«
Eunho zuckte mit den Schultern.
»Es ist ja nicht so, als wäre ich aus freien Stücken hier. Wie es scheint, hat diese Kette ebenfalls etwas mit den Geistern zu tun?«
»Diese Perlen erhält man nach einer erfolgreichen Geisteraustreibung.«
»Sieh an. Wie ein Kommandant, der die abgetrennten Köpfe seiner Feinde mit sich herumträgt.«
»Müsst Ihr das wirklich so ausdrücken?«
»Habe ich denn unrecht damit?«
»Vergesst es einfach. Seid von jetzt an bloß still, ab hier ist äußerste Vorsicht geboten …«
Bin blickte auf den Teich vor ihr.
Er war von abgestorbenen Wasserpflanzen überwuchert und verströmte einen verfaulten Geruch. Hinter ihm befand sich eine einsame, heruntergekommene Hütte.
Im Gegensatz zu der belebten Schlangenresidenz schien dieser Ort seit Langem verlassen zu sein. Der schimmernde Faden führte über den Teich hinaus zu der Hütte.
Bin wappnete sich und machte einen Schritt in Richtung Pforte. Die alte Holztür knarrte unheilvoll, als sie sie öffnete und die beiden Seelenjäger in die Dunkelheit hineintraten.
Alles, was sie zunächst sehen konnten, war tiefe Schwärze. Der fensterlose Vorraum war in einer so mondlosen Nacht nur noch mehr von Dunkelheit erfüllt. Und dann war da dieser strenge, vertraute Geruch.
Was ist das? Das habe ich doch schon mal gerochen, dachte Bin verwundert und streckte ruckartig die Hand aus, um die Wand der Hütte zu berühren. Zumindest hatte sie es für eine Wand gehalten, dafür stellte sich die Oberfläche jedoch als viel zu glatt heraus. Schnell zog sie eine Leuchtkugel aus ihrer Tasche, die durch ein leichtes Pusten aufleuchtete.
Im dämmrigen Schein der Kugel waren »sie« deutlich zu sehen.
»Was in aller Welt?«, rutschte es Eunho, der gleich neben Bin stand, erstaunt heraus.
Verängstigt hob Bin den Kopf und blickte zu der Glaswand hinauf. Tatsächlich standen sie vor einem riesigen Aquarium, bis zum Rand mit goldenem Wasser gefüllt.
Und Babyschlangen.
In ihm waren etliche der Tiere, jeweils etwa von der Länge des Unterarms eines Menschen, ineinander verworren, sodass man weder Kopf noch Schwanz ausmachen konnte.
»Igitt!«
Bin keuchte und stürzte nach hinten. Die Leuchtkugel in ihrer Hand rollte über den Boden.
»Ist alles in Ordnung?«
Eunho machte ein paar Schritte auf sie zu.
Das Licht der Leuchtkugel wirbelte im Raum umher, beleuchtete in einem Moment die Babyschlangen im Becken, bevor sie im anderen Moment wieder in der Dunkelheit verschwanden. Aus dem goldenen Wasser stiegen Luftblasen auf.
»Ah.«
Bin entfuhr ein kurzer Schrei, als sie begriff, was den üblen Geruch verursacht hatte, der die Hütte erfüllte. Ein Aquarium, das bis zur Decke reichte, gefüllt mit goldenem Wasser und Babyschlangen.
Verblüfft starrte sie auf das riesige Becken.
»Schlangenschnaps.«
Mit dieser Erkenntnis machte sich in Bin sogleich überwältigende Übelkeit breit. Die Hütte selbst war eine riesige Flasche Schlangenschnaps. Auf Bins Worte hin schien auch Eunho zu verstehen.
»Der Alkohol aus der Schlangenresidenz.«
Der goldene Alkohol in den Gläsern der zahlreichen Besucher, die wie Ameisen ausschwärmten, um einen mickrigen Anteil an der Macht zu erlangen. Es war Schlangenschnaps, der ihre Rachen hinab in ihre Mägen floss.
Bin wurde schwummrig.
Es musste ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen sein, der die Hütte und das Aquarium erbaut hatte, kein Geist. Und dennoch übertraf die unheilvolle Aura, die sie in diesem Raum verspürte, die eines gewöhnlichen, böswilligen Geists.
Bin blickte zum Aquarium.
»Das hier ist also alles Schlangenschnaps.«
Der Schnaps wurde traditionell hergestellt, indem man eine Schlange in eine Flasche mit hochgradigem Alkohol legte und sie verschloss. Die Öffnung durfte dabei jedoch keinesfalls vollständig versiegelt werden. Der Schlüssel zur Herstellung bestand darin, der Schlange ein kleines Loch zum Atmen zu lassen, damit sie länger überleben und ihr ganzes Gift ausscheiden konnte, bevor sie schließlich starb.
Bei dem Gedanken daran drehte sich Bin der Magen um. Kaum in der Lage, ihre Übelkeit zu unterdrücken, blickte sie auf.
»Ist das wirklich die Machenschaft eines Menschen?«
»Was habt Ihr nun vor?«, fragte Eunho, woraufhin Bin einen Talisman aus ihrer Kleidung hervorholte.
»Zunächst müssen wir den Ort von dieser unheilvollen Energie reinigen.«
Dann brachte sie den Talisman in der Mitte der Glaswand an.
Ein dumpfer Knall erklang, und das Glas bebte leicht. Bins Blick folgte den Vibrationen.
»Wartet …!«
Bevor Eunho ausreden konnte, knallte es erneut.
Sein Blick traf auf die purpurroten Augen der Schlange, die ihn aus dem Inneren des Tanks ansah. Wieder einmal schlug die Schlange ihren Körper mit voller Kraft gegen die Glaswand.
Mit einem lauten Klirren zersplitterte das Glas des Tanks, und noch bevor sie ausweichen konnte, ergoss sich der giftige Schnaps über Bins Körper.
»Aaaah!«
Die glitschigen Schlangen wanden sich um ihre Arme und Beine. Der Geruch des hochprozentigen Schnapses und die warme Luft, die die Tiere ausstießen, raubten Bin den Atem. Gerade so schaffte sie es noch, den Tigersäbel in ihrer Hand zu zücken. Die funkelnde Klinge schnitt reibungslos durch die Körper der Tiere.
Ein Gemisch aus Alkohol und Blut bedeckte Bins Gesicht und raubte ihr die Sicht. Die Gänsehaut an ihrem ganzen Körper wollte nicht verschwinden. Sie schwang ihren Säbel wild umher, bis sie das Gefühl hatte, dass ihr Körper nicht mehr von den Schlangen umgeben war.
»Haah, uugh …«
Schwer atmend sah Bin sich um.
»Seid Ihr unversehrt?«
Überall war Blut. Die Kadaver der halbierten Schlangen und der Alkohol, vermischt mit ihrem Blut, hatten sich in der ganzen Hütte verteilt. Die Schwänze der Schlangen zuckten noch einige Male, bis sie langsam erschlafften. Dann hörte Bin Eunhos Stimme aus der Ferne.
»M-mir geht es gut.«
Auch sein jadefarbenes Gewand war in Alkohol und Schlangenblut getränkt.
Als Bin umherlief, um zu sehen, ob eine der Schlangen überlebt hatte, ertönte eine Stimme in ihrem Rücken.
… Schwester.
Wie angewurzelt blieb sie stehen.
Ein kleiner Fuß war in der Dunkelheit erkennbar. Winzig, in eine weiße Socke gekleidet und fest mit Papierschnur umwickelt.
Ihr Gesichtsausdruck wurde augenblicklich leer. Ein kleiner Junge in einem Leichengewand trat aus der Dunkelheit hervor. Er hatte ein viel zu junges, heiteres Gesicht, um ein solches Gewand zu tragen.
Schwester, ich bin es. Dein Bruder.
Wie hätte sie seine Stimme nicht erkennen können?
»Hwan …?«
Mit zittriger Stimme rief Bin den Namen, den sie seit jenem Tag nicht mehr ausgesprochen hatte.
Hwan Seomoon. Der Name ihres jüngeren Bruders, der ihretwegen gestorben war.
Ja, ich bin es. Dein Bruder Hwan.
Bins Griff um den Tigersäbel lockerte sich augenblicklich. Traurigkeit machte sich in ihren Augen breit, während sie das Kind in der Dunkelheit betrachtete.
»Warum bist du hier, Hwan? Ich habe doch so sehr gebetet, dass du nun an einem besseren Ort bist.«
Bin schluchzte.
Schwester, hast du gar kein Mitleid mit mir?
Tränen stiegen in den klaren Augen des Kindes auf. In seinem Blick lag ein Hauch von Groll.
Schwester, komm jetzt mit mir.
Der Junge streckte seine Hand aus. Sie war kreidebleich und seine Miene herzzerreißend.
»Hwan, mein lieber Hwan.«
Wie oft hatte sie an damals zurückgedacht. Wenn Bin nicht gewesen wäre, würde ihr Bruder heute noch leben.
Seine Hand berührte die ihre, und ein eisiger Schauer lief ihr den Arm hoch.
»Wenn das dein Wunsch ist, folge ich dir natürlich.«
Eunho betrachtete Bin, wie sie vor sich hin murmelte und ausdruckslos ins Leere starrte.
»Was geht hier vor sich?«
Es schien, als hätte irgendetwas sie in seinen Bann gezogen. Eunho biss die Zähne zusammen.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn hier so etwas erwarten würde. Sein Plan war es lediglich gewesen, sich in der Schlangenresidenz umzusehen und zu vergewissern, ob dort wirklich etwas Bösartiges sein Unwesen trieb.
»Hey!«
Eunho ergriff Bins Schulter, aber seine Stimme drang nicht zu ihr durch.
Er musste es irgendwie schaffen, sie aus ihrer Vision herauszureißen, doch hatten die Schlangen, die als Geister auferstanden waren, bereits begonnen, seine Beine hinaufzukriechen. Wo sie ihn berührten, wurde es so heiß, als würde seine Haut brennen. Er riss sie von sich, aber seine Kraft reichte nicht aus.
»Der Talisman, den Jinwoo mir gegeben hat, ist nicht mehr zu gebrauchen.«
Die Geister klammerten sich an Eunhos Körper fest.
»Hört Ihr mich denn nicht? Ihr müsst zu Euch kommen!«, brüllte er Bin an, doch seine Worte wurden schon bald von der Welle an Schlangengeistern verschlungen, die seinen Körper unter sich bedeckte. Seine ausgestreckte Hand und der Saum des jadefarbenen Ärmels versanken mit ihm im Schlangenhaufen.
Das darf nicht sein.
Die Energie, die von den Schlangengeistern ausging, zog ihm allmählich die Kraft aus dem Körper.
Ein schwarzer Schatten erschien in seiner schwindenden Sicht.
Wer ist das?
Mehr Zeit, darüber nachzudenken, blieb ihm jedoch nicht. Als er die schwarze Gestalt sah, die sich Bin näherte, entwich auch die letzte Kraft aus seinem Körper, und er verlor das Bewusstsein.
Ein leises Klimpern ging von den roten Ohrringen aus, die zwischen dem langen, schwarzen Haar baumelten und selbst in der Dunkelheit hell aufleuchteten.
»Tss.«
Der Schatten schnalzte leicht mit der Zunge und schaute zu Bin, die entgeistert dastand.
»Tritt zurück.«
Der Geist, der die Gestalt des Jungen angenommen hatte, schrie laut auf.
Nein, nein, nein, nein!
Es reichte eine kleine Handbewegung des Schattens, und der ohrenbetäubende Schrei des Geists verstummte augenblicklich.
Bin starrte in die Leere des Raums. Alles, was übrig geblieben war, waren die eingestürzte Hütte, Glasscherben und der Schnaps überall auf dem Fußboden. Der Wind pfiff durch die bröckelnden Wände.
»Was …?«
Als Bin wieder zu sich kam, wehte das schwarze Haar, das den Flügeln eines Raben glich, in ihr Sichtfeld. Sie erhaschte einen Blick auf den Mann neben ihr, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte blasse Haut und düstere Augen, die in ihre Richtung zurückstarrten. Seine langen Wimpern warfen einen Schatten auf seine weißen Wangen. Schon auf den ersten Blick konnte sie sehen, dass dies kein gewöhnlicher Mann war.
Der Saum seines langen, schwarzen Gewands flatterte im Wind.
»Seid Ihr nun wieder bei Sinnen?«
Es war eine ihr fremde Stimme. Ein plötzlicher Ruck ließ Bin nach vorne schnellen. Der Mann hatte sie mit einem Griff an ihre Schulter zu sich gezogen und sah ihr tief in die Augen. Als hätte er genug gesehen, ließ er sie kurz darauf wieder los.
»Haaa …«
Erst jetzt konnte Bin tief Luft holen. Die kalte Nachtluft strömte in ihre Lunge. Dann rannte sie wie vom Blitz getroffen los, durchwühlte den Berg aus Schlangenkadavern und zog Eunhos erschlafften Körper aus ihnen hervor.
Der schwarz gekleidete Mann betrachtete die toten Babyschlangen, ohne von deren Anblick überrascht zu sein. Dann blickte er zu Eunho und Bin.
»Zwei Seelenjäger, die hierherkommen, um ihrer Pflicht nachzugehen, und stattdessen beinahe ihr eigenes Leben lassen. Was soll man dazu noch sagen?«
Die Stimme des Mannes war rau wie das Rascheln der Äste eines Baums, durch die gerade ein Windstoß wehte.
»Wäre ich ein wenig später eingetroffen, hättet ihr den Styx überquert.«
Das leblose Gesicht des Mannes hatte eine seltsame Ausstrahlung.
»I-ich danke Euch vielmals.«
»Da Ihr einen Tigersäbel bei Euch tragt, hielt ich Euch für einen fähigen Jäger. So kann man sich täuschen.«
Der Mann schraubte den Verschluss von der Flasche in seiner Hand ab und goss einen Teil über die Schlangenkadaver. Kaum dass die Flüssigkeit die Kadaver berührte, lösten sie sich auf und verschwanden. Die glasigen Augen des Mannes zeigten einen Hauch von Verärgerung und Resignation.
Ruckartig drehte er sich um und sah Bin erneut an.
»Also, was meint Ihr, soll ich für die Rettung Eures und des Lebens dieses Mannes verlangen?«
Jedes Haar auf ihrem Körper stand ihr zu Berge. Bin umklammerte den Griff ihres Säbels. Dies war definitiv kein normaler Mann. War er überhaupt ein Mensch?
»Was wollt Ihr?«, fragte Bin mit zitternder Stimme. Der Mann bewegte sich langsam auf sie zu.
»Ihr habt etwas gesehen, das nicht für Eure Augen bestimmt war. Wisst Ihr, dieses Gebiet fällt unter meine Zuständigkeit.«
Seine Zuständigkeit.
Die Worte erinnerten Bin an den Premierminister. Dies war seine Residenz. Bedeutete das etwa, dass der Mann vor ihr einer seiner Anhänger war?
»Wie sagt man so schön: Ein Toter kann weder hören noch sprechen.«
Der Tonfall des Mannes war höflich, aber die Implikation war es keineswegs. Wenn er Bin und ihren Begleiter an Ort und Stelle beseitigte, würde das Geschehene geheim bleiben. Bin zog ihren Säbel.
Sie wusste nicht, wie lange sie durchhalten würde, aber wenn sie mit etwas Glück einen seiner Arme oder ein Bein schwer verletzte, könnte sie vermutlich entkommen. Als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen, sagte er mit träger Stimme:
»Ein solcher Säbel, der nicht zum Töten erschaffen wurde, kann mir nichts anhaben, mein Bester.«
Ihre Blicke trafen sich, während er Bin ruckartig näher kam. So nah, dass sie bereits die Adern unter seiner bleichen Haut zu erkennen glaubte. Sein langes Haar, das sein Gesicht halb verdeckte, und die roten Ohrringe – alles schien so unwirklich.
Ob der Tod so aussehen würde, wenn er menschliche Gestalt annähme? Bei diesem Gedanken überkam Bin ein seltsames Gefühl der Vertrautheit. Hatte sie das schon einmal gedacht? Aber wann?
»Wer zum Teufel seid Ihr …?«
Die langen schwarzen Haare des Mannes wehten im Wind. Im Vergleich zu ihnen erschien selbst die sie umgebende Dunkelheit hell.
Der Mann wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. Unter allen möglichen Antworten, die er ihr hätte geben können, entschied er sich schließlich für das Folgende:
»Nun, sagen wir einfach, ich bin ein Mann, der mit einem Fuß im Diesseits und mit dem anderen im Jenseits steht.«
Die Stimme des Mannes blieb noch immer monoton. Bins Augen weiteten sich.
Auch diese Worte hatte sie schon einmal gehört.
»Ah.«
Dann schoss ihr wie ein Blitz eine Erinnerung in den Sinn.
Bitte, verschont ihn! Ich gebe Euch alles, was Ihr begehrt, aber bitte rettet sein Leben!
Schluchzend verbeugte sich die Gestalt aus ihrer fernen Erinnerung vor jemandem.
Es war niemand anderes als Bin selbst. Sie flehte mit all ihrer Kraft, um das zu schützen, was ihr am meisten bedeutete.
Die Gestalt vor ihr trug auch jetzt denselben Ausdruck im Gesicht wie damals. Dieses Gesicht, das auf sie herabblickte, als sie am Boden lag und unter Tränen um Gnade bat.
Ein emotionsloser Blick, als würde ihn alles, was in dieser Welt geschah, völlig kaltlassen.
Bin packte den Saum seines schwarzen Gewands und verbeugte sich mehrmals vor ihm. Letztendlich erfüllte er ihren Wunsch. Gewiss eine spontane Entscheidung, die ihn wie ein plötzlicher Windhauch überkommen hatte.
Im Gegenzug werde ich diesem Jungen jegliche Erinnerungen an dich nehmen.
In Ordnung.
Sie hätte alles dafür getan, um sein Leben zu retten, auch wenn sie dafür sein Gedächtnis und ihre Liebe eintauschen müsste.
Und so nahm der Mann ihm als Gegenleistung dafür, Bins große Liebe zu retten, sämtliche Erinnerungen an sie und versiegelte diese.
Die Entscheidung hatte ihr Leben ruiniert, aber dennoch gab es keinen Tag, an dem Bin sie bereut hätte. Ganz im Gegenteil – dass sie ihn in seiner dunkelsten Stunde beschützen konnte, war die einzige Stütze in ihrem Leben.
»Paryeo.«
Als Bin seinen Namen aussprach, verfinsterte sich das Gesicht des Mannes.
Zunächst schien er überrascht, als könne er nicht glauben, was er gerade hörte. Dann schien er es verleugnen zu wollen, bis sich letztendlich ein Ausdruck feurigen Zorns in seinem Gesicht breitmachte.
Mit seiner großen Hand umschlang der Mann Bins Hals und hob ihren Körper vom Boden auf.
»Woher kennt ein gewöhnlicher Sterblicher meinen Namen?«
Die glasigen Augen des Mannes waren von Wut erfüllt. Fest in seinem Griff gefangen, zappelte Bin und antwortete mit schwacher Stimme: »I-ihr wart es doch, der auf meinen Hilferuf geantwortet hat!«
Sein Gesicht erstarrte. Bin nutzte den Moment und strampelte sich frei. Keuchend fiel sie auf die Knie, während der Mann regungslos vor ihr stand.
»Ich soll auf Euren Hilferuf reagiert haben?«
Bin richtete sich langsam auf und sah dem Mann in die Augen.
»Erinnert Ihr Euch etwa nicht mehr an das Kind, das genau wie Ihr Dinge aus dem Diesseits und dem Jenseits sehen konnte?«
Er schaute sie fragend an.
»Ihr habt damals meinen Wunsch erfüllt. Als ich Euch bat, das Leben eines Jungen zu retten, der von einem Geist besessen wurde und beinahe gestorben wäre.«
»Ihr habt mich gebeten, ihm das Leben zu retten?«
»Ja. Im Gegenzug dafür nahmt Ihr seine Erinnerung an Euch …«
Da stieß der Mann ein »Aah« aus.
Er musterte Bins Gesicht, als würde er es erneut zum ersten Mal sehen. Seine glasigen Augen blitzten einen Moment lang auf.
»Damals habt Ihr auf meine Frage, wer Ihr seid, genau dasselbe erwidert. Ein Mann, der mit einem Fuß in dieser Welt und mit dem anderen in der nächsten steht. Erinnert Ihr Euch, Paryeo?«
Der Mann neigte den Kopf leicht zur Seite, als Bin ihn erneut bei seinem Namen nannte.
»Schon lange hat mich niemand mehr so genannt. Es gab da in der Tat ein Kind, das mich angefleht hat, etwas völlig Unmögliches zu tun, aber …«
Der Mann musterte Bin von Kopf bis Fuß.
»Ein interessanter Aufzug für eine junge Frau.«
Bin sah auf ihre Kleidung hinab. Sie trug die eines Mannes.
»Diese Gewänder eignen sich nun mal am besten, um hier draußen meiner Tätigkeit als Seelenjägerin nachzugehen.«
Paryeo studierte ihr Gesicht gründlich.
Das mutige kleine Mädchen mit dem roten Band im Haar war zu einer Seelenjägerin herangewachsen.
Wenn auch vermutlich nicht aus freien Stücken.
Auch ein nicht-menschliches Wesen wie Paryeo verstand, dass dies die einzige Option für Menschen war, die mit der Gabe geboren wurden, Geister zu sehen.
»Was soll ich nur mit Euch machen?«
Normalerweise hätte er sie töten müssen. Immerhin kannte sie sein Gesicht, seinen Namen und seine Identität, und doch zögerte er.
»Selbst jetzt habt Ihr mir das Leben gerettet. Wärt Ihr nicht gewesen, wäre ich den Geistern gefolgt und nun bereits tot. Ihr habt mich aus ihrem Bann befreit.«
»Ihr sammelt Seelenperlen«, sagte er, als er die Perlenkette an Bins Hüfte bemerkte.
»Man erzählt sich, dass einhundertundacht dieser Perlen einem ermöglichen sollen, zu seinem alten Schicksal zurückzukehren. Ich bin Seelenjägerin geworden, weil ich nichts unversucht lassen wollte. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als alle Perlen zu sammeln und endlich ein normales Leben führen zu können.«
»Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht damit gerechnet, dass Ihr bis heute überleben würdet. Eure Existenz war mir daher schlichtweg entfallen.«
Paryeo bückte sich und ließ seine Hand durch die dünnhäutigen Kadaver der Schlangen gleiten. Mit einem knirschenden Geräusch zersplitterten die Schlangenhäute in kleine Stücke. Dann hob er etwas auf.
»Nun, sagen wir einfach, dass die Tatsache, dass Ihr noch immer lebt, mir einen Grund gegeben hat, Euch heute zu retten.«
Bevor Bin etwas sagen konnte, drückte Paryeo ihr das, was er hochgehoben hatte, in die Hand.
»Es ist wahrlich bewundernswert, dass Ihr noch am Leben seid. Hier, ein Geschenk für Euch.«
Bin betrachtete die blutrote Kugel in ihrer Hand – die Seelenperle, die sie vom Austreiben der Schlangen gewonnen hatte.
»Eventuell können wir uns gegenseitig von Nutzen sein. Ihr könnt mich jederzeit besuchen, falls Ihr einen Pakt eingehen wollt.«
»Ich soll Euch besuchen …?«
Bin sah Paryeo an.
»Ich kann Euch sicherlich bei der Jagd nach Seelen helfen. Natürlich gibt es etwas, das ich im Gegenzug von Euch verlange.«
Für einen Moment verzog Bin das Gesicht. Nach einem kurzen Zögern fragte sie mit leiser Stimme: »Wollt Ihr damit sagen, dass es etwas gibt, bei dem ich Euch helfen kann?«
»Natürlich nur, wenn Ihr mich auch findet.«
Paryeo hob den Kopf leicht und starrte in den sternen- und mondlosen Nachthimmel hinauf.
»Jetzt, wo Ihr habt, was Ihr wollt, solltet Ihr lieber von hier verschwinden. Macht Euch auf den Weg und blickt ja nicht zurück.«
»Was? Was soll das bedeuten?«
Sanft hob er seine Hand. Der lange, schleppende Saum seines schwarzen Gewands flatterte in der Brise. Paryeo sah Bin kurz an.
»Das bedeutet …«
Ein greller Blitz, gefolgt von einem lauten Knall, der wenige Sekunden, nachdem das Licht erloschen war, durch die Luft hallte. Erschrocken verdeckte Bin ihr Gesicht mit einem Ärmel, doch verspürte sie schon bald eine Hitze, die sie schnell wieder aufblicken ließ.
»Was zum …?«
Der Blitz traf genau auf die Hütte und entfachte ein Feuer. Die Flammen färbten Paryeos Gesicht rot, sein Gesichtsausdruck jedoch blieb unverändert gleichgültig.
»Das bedeutet, dass ich diesen Ort zerstören werde. Also lauft weg, solange Ihr noch könnt.«
Ein Funke flog mit einer Brise durch die Luft und landete im Wald in der Nähe des Teichs.
Ein weiterer Blitz schlug ein, diesmal in das Hauptgebäude der Schlangenresidenz. Hilfeschreie ertönten aus der Ferne. Bin blickte überrascht in die Richtung von Paryeo, aber der war bereits verschwunden.
Die Flammen verschlungen die prachtvolle Residenz innerhalb kürzester Zeit. Alarmiert von den lauten Donnerschlägen und dem tobenden Feuer eilten die Menschen nach draußen.
»Argh!«
Schreiend rannten die Trunkenbolde um ihr Leben.
»Löscht das Feuer! Los, löscht es!«, rief jemand mit lauter Stimme, doch niemand hörte ihm zu. Die Flammen hatten sich so schnell ausgebreitet, dass es keine Möglichkeit mehr gab, hinter der Schlangenresidenz zu entkommen.
Bedeutet das etwa, wir müssen durch die Residenz hindurch fliehen …?
Bin biss sich auf die Lippe.
»Hier entlang! Hier entlang!«
Sie konnte sehen, wie die Diener den Gästen mit Gesten den Fluchtweg zeigten. Bin blickte auf den bewusstlosen Eunho hinab.
»Was soll ich nur mit ihm tun?«
Das Einzige, was sie über ihn wusste, war, dass er keine große Hilfe für sie darstellte. Dennoch konnte sie ihn nicht einfach dem Tod überlassen.
Als ich von den Schlangengeistern in ihren Bann gezogen wurde, hörte ich aus der Ferne seine Stimme rufen, dass ich aufwachen solle.
Sie verstand nicht, wie er zu einem Seelenjäger geworden war, wenn er die Kunst nicht annähernd beherrschte. Nun aber hatte es oberste Priorität, ihr und das Leben dieses Mannes zu bewahren.
»Ihr werdet diese Schuld später begleichen müssen.«
Mit diesen Worten hob sie Eunho hoch und schaffte es gerade so, ihn auf ihren Rücken zu heben.
Er war deutlich größer als Bin, weshalb seine Beine über den Boden schleiften, aber sie hatte keine andere Wahl. Von der Seite betrachtete sie sein Gesicht, das in der Kuhle ihrer Schulter versunken war.
Seine langen Wimpern und die fest geschlossenen Augen.
»Warum nur?«
Bin blinzelte.
Es war seltsam. Zuvor war es ihr nicht aufgefallen, aber als sie ihn nun mit geschlossenen Augen sah, erinnerte er sie an jemanden.
»Das ist unmöglich.«
Sie schüttelte den Kopf.
Während Bin mit Eunho auf dem Rücken mühsam weiterging, hörte sie plötzlich eine Stimme.
»Eunho! Eunho Hyeon!«
Wie angewurzelt blieb sie stehen.
Wieso ruft jemand hier diesen Namen?
Vor Schreck kam kein Ton über ihre Lippen, und obwohl sie von Flammen umgeben war, schienen diese plötzlich unwichtig geworden zu sein.
Bin drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Rufe kamen.
»Eunho!«
Der Blick des Mannes, der laut nach Eunho schrie, traf ihren. Seine Augen wurden groß. Er eilte herbei und sah Eunhos Gesicht auf Bins Schulter.
»Eunho! Was in aller Welt ist passiert?«
Bins Gesicht wurde kreidebleich.
»Eunho …?«
Sie schaute noch mal in das Gesicht des Mannes, den sie auf ihren Schultern trug.
Erst dann erkannte sie die wahre Ursache für das Gefühl der Vertrautheit, das sie zuvor überkommen hatte. Aus Überzeugung, dass sie ihn nie wiedersehen würde, hatte sie sein Gesicht bereits in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt.
Bin.
»Ja, genau so würde er aussehen«, murmelte sie, als sie sich vorstellte, wie der gut aussehende Junge aus ihrer Erinnerung wohl heute aussehen würde.
Eunho Hyeon.
Bin Seomoons Verlobter.
»Du meine Güte! Fräulein!«
Als die Magd Samwol sah, wie Bin über das Goldseil stieg und den Garten des Nebengebäudes betrat, rannte sie mit erschrockenem Gesicht auf sie zu.
»Wessen Blut ist das?«
Samwol war völlig fassungslos, als sie das Blut auf Bins Gesicht erblickte, doch Bin schüttelte nur den Kopf.
»Ist schon gut. Es ist nicht meins.«
»Ist es nicht? D-dann bin ich beruhigt. Habt Ihr Euch verletzt? Was ist mit Euren Kleidern passiert, und wo habt Ihr Euren Hut gelassen? Ihr seht aus, als wärt Ihr von einem Schlachtfeld heimgekehrt!«
Als Antwort auf Samwols Worte wedelte Bin leicht mit der Hand hin und her.
»Die … die Jagd heute war einfach etwas anstrengend.«
»Deshalb sage ich doch, Ihr solltet damit auf …«, setzte Samwol an und verstummte, noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Dann stellte sie einen Korb mit sauberer Kleidung neben Bin, die auf dem hölzernen Boden saß.
»Ich bereite Euch zunächst ein Bad vor, damit Ihr Euch ordentlich waschen könnt.«
Bin nickte kraftlos. Erst jetzt lockerte sich ihr Griff um den Tigersäbel. Sie hatte ihn so fest umklammert, dass sich das Muster des Hefts in ihre Handfläche geprägt hatte. Ein langer Seufzer entwich ihren Lippen.
Als sie die Augen schloss, konnte sie sein Gesicht vor sich sehen. Das Gesicht des schweren Mannes, der eben noch auf ihrem Rücken gelegen hatte.
Dieser ihr so vertraute Name, den sie so lange nicht mehr gehört hatte. Den sie nie würde vergessen können.
»Eunho Hyeon.«
Diese drei Silben lasteten schwer auf Bins Herz.
Nie hätte sie gedacht, dass sie ihn so wiedersehen würde.
»Ich dachte, ich könnte ihn für immer vergessen.«
Bin schüttelte langsam den Kopf. Es war so irreal, so seltsam.
Hundertmal hatte sie sich ausgemalt, was sie sagen und wie sie ihm entgegenblicken würde, wenn sie ihn wiedersähe.
Jedes Mal waren ihre Vorstellungen anders, aber eines blieb immer gleich.
In dem Moment, als sie auf Eunho träfe, würde sie ihn sofort erkennen. Immerhin war er derjenige, für den sie ihre Erinnerungen und ihr Leben gegeben hatte, wie könnte sie das also nicht? Sie war sich so sicher, ihn selbst inmitten einer Menschenmenge mit Leichtigkeit finden zu können.
»Haha.«
Ein falsches Lachen brach über Bins Lippen.
Selbst aus nächster Nähe hatte sie den Mann vor sich nicht als ihren Verlobten erkannt, aber es waren auch immerhin mehrere Jahre vergangen.
Sie gingen schon längst getrennte Wege, viele Dinge hatten sich verändert, und …
»Er hat jede Erinnerung an mich verloren.«
Der gegenwärtige Eunho war ein ganz anderer als der Eunho in ihrer Erinnerung. Eine andere Existenz, gefüllt mit anderen Erinnerungen und Erfahrungen.
Es war, als wäre sie endlich in der Realität angekommen, von der sie zwar stets gewusst hatte, dass es sie gab, sie jedoch nie als solche akzeptieren wollte.
Seine Ausdrucksweise, sein Blick, sein Gesicht und sein Aussehen. Alles war anders als in ihrer Erinnerung.
»Ich verstehe. Der Eunho, den ich einst kannte, existiert nicht mehr.«
Bin hob den Kopf und blickte in den Garten des Nebengebäudes.
Im Sommer hatten sie hier gemeinsam beobachtet, wie die Blumen blühten, und sich im Winter vor dem anderen im Schnee versteckt. Trotz allem, was Bin widerfahren war, blieb Eunho stets an ihrer Seite.
Bin.
Sie starrte auf die Stelle, an der der junge Eunho in ihrer Erinnerung stand.
Manchmal hatte er Leckereien vom Markt, saisonale Blumen oder auch kleine Schmuckstücke für sie mitgebracht und dort auf Bin gewartet.
»Mein Verlobter.«
Unbewusst drückte Bin die alte, zerfledderte Zierquaste zusammen, die an ihrer Perlenkette hing. Auch die hatte ihr Eunho vor langer Zeit gekauft.
Nun war es ein Geschenk, das lediglich einen Empfänger, aber keinen Überbringer mehr hatte.
Bin dachte an den Eunho, den sie heute gesehen hatte, an seine kalten Augen und die maskulinen Gesichtszüge.
»Ich muss dich nun wohl wirklich loslassen.«
Erst jetzt wurde ihr innerlich klar, dass sie bisher noch immer an ihm festgehalten hatte.
»Fräulein, Euer Badewasser steht bereit.«
Auf Samwols Worte hin trat Bin ein. Die Dienerin half ihr dabei, aus der Kleidung zu schlüpfen.
»Habt Ihr übrigens schon davon gehört?«
»Was meinst du?«
Bins Frage ließ die Dienerin einen Moment lang zögern, bevor sie sprach.
»Man sagt … Meister Eunho kehre in die Stadt zurück, um den Posten als Innenminister anzunehmen.«
Die Wasserperlen auf Bins Wimpern tropften herab wie Tränen.
»Hach, entschuldigt mein loses Mundwerk. Seine Familie hat seit Jahren nicht mehr über Eure Verlobung gesprochen.«
Beschämt senkte Samwol den Kopf.
»Innenminister?«
»Wie bitte? Oh, ja. So haben es seine Bediensteten erzählt. Weil ihr Meister in derart jungen Jahren in ein so hohes Amt aufsteigt, laufen selbst die Diener erhobenen Hauptes umher.«
»Ich verstehe.«
Mit diesen Worten schloss Bin die Augen.
Samwol beobachtete sie einen Moment lang und verließ dann den Raum, um Bin ihre Ruhe zu lassen.
Ein königlicher Minister.
Er entfernte sich immer weiter von ihr, bis er letztendlich unerreichbar für sie sein würde.
»Wie erwartet haben sich unsere Wege bereits getrennt.«
Die untergehende Sonne, die sich im Fluss spiegelte, färbte den weiten Himmel rot.
Eunho merkte sofort, dass er träumte. Die Blätter eines großen Baums an der Mündung des Flusses rauschten in der Brise.
Bitte lass mich dir helfen.
Es war ein kleiner Junge, sein jüngeres Ich, der dies sagte. Aber wann?
Jemand stand vor ihm.
Ein roter Rock und ein unkenntliches Gesicht waren durch die grünen Blätter hindurch zu sehen.
Dieses Bild in seinem Traum, in dem er erwartungsvoll auf eine Antwort des Mädchens mit den fest zusammengepressten Lippen wartete, spiegelte keine seiner Erinnerungen wider.
Sosehr er sich auch fragte, wer die Gestalt war, offenbarte sein Traum nicht ihr Gesicht.
Die Gefühle des jungen Eunho, wie er so dastand und wartete, konnte er jedoch umso deutlicher spüren.
Seine zitternden Hände und sein rasendes Herz.
Bitte sag, dass ich dir helfen darf. Wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann, und sei es auch nur ein kleines bisschen, dann erlaube es mir …
Das Gemurmel des jungen Eunho klang wie ein sanfter Windhauch, der die Ohren des Mädchens vor ihm vermutlich nie erreicht hatte.
Ihre Lippen bewegten sich, und im nächsten Moment …
»Eunho Hyeon!«
Ein lauter Ruf drang an Eunhos Ohren. Als eine Hand nach seiner Schulter griff, riss er die Augen auf.
»Du bist wach!«
Ein vertrautes Gesicht erschien in seiner noch immer verschwommenen Sicht.
»Jinwoo?«
»Da du dich noch an mich erinnerst, scheint dir wohl nichts zu fehlen.«
»Was meinst du dami… argh.«
Ein Stöhnen entglitt Eunhos Mund, als er versuchte, aufzustehen. Sein ganzer Körper pochte vor Schmerz. Jinwoo half ihm schnell dabei, sich wieder hinzulegen.
»Du solltest dich nicht so ruckartig bewegen. Dein Körper befindet sich in einem schrecklichen Zustand.«
Jinwoo sah ebenfalls nicht viel besser aus. Wo auch immer er sich herumgetrieben hatte, seine Kleidung und die Haare waren völlig zerzaust. Er roch nach Feuer und war übersät von Rußflecken.
»Was ist passiert?«, fragte Eunho.
Jinwoo blickte ihn ungläubig an.
»Sag du mir lieber, was dir widerfahren ist! Wenn der Herr dich nicht aus den Flammen gerettet hätte, wärst du nun tot!«
»Tot …?«
»In der Schlangenresidenz ist plötzlich ein Feuer ausgebrochen. Ein Blitzschlag hat es entfacht.«
»Feuer? Ein Blitzschlag?«
Eunho hob eine Augenbraue.
»Selbstverständlich weißt du nichts davon, du warst bereits ohnmächtig.«
»Willst du damit sagen, dass dieser Mann mich gerettet hat?«
»Ja.«
Eunho blinzelte bei Jinwoos Worten.
Das Gesicht, das er in der Schlangenresidenz gesehen hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Der Körper, der aussah, als könnte er bei der kleinsten Berührung in Stücke brechen. Das dünne Lächeln und die vagen Blicke.
»H-hast du ihn nach seinem Namen gefragt?«
Jinwoo schüttelte den Kopf.
»Es blieb keine Zeit mehr, und der Herr sah ebenfalls nicht danach aus, als wollte er mir seinen Namen verraten. Nachdem er dich an mich übergeben hat, ist er verschwunden.«
»Und das, wonach wir gesucht haben?«
Jinwoo grinste und zog ein kleines Buch aus seinem Ärmel.
»Ich bin nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Als ich den Dienern folgte, habe ich dieses Verzeichnis gefunden. Darin sind alle Besucher der Schlangenresidenz aufgeführt, wie viel sie bezahlt und was sie dafür bekommen haben.«
Eunhos Augen leuchteten auf.
»Das sollte uns verraten, wer die Anhänger des Premierministers sind, die ihn innerhalb des königlichen Rats unterstützen!«
»Nutze diese Gelegenheit, um Seiner Majestät als Innenminister eine Hilfe zu sein, Eunho.«
Innenminister.
Es gab großen Widerspruch, als bekannt gegeben wurde, dass Eunho diesen Posten erhalten sollte. Doch Hui Lee, der junge König und Freund von Eunho, seit sie gemeinsam für die Beamtenprüfung gelernt hatten, war nicht bereit, in dieser Frage nachzugeben.
Mit anderen Worten, die Erwartungen an Eunho waren ausgesprochen hoch.
»Also, was ist dir widerfahren?«, fragte Jinwoo erneut.
Eunho erinnerte sich an das zurück, was er gesehen hatte.
»Offenbar hat der Premierminister begonnen, ebenfalls mit nicht-menschlichen Wesen sein Spiel zu treiben.«
»Nicht-menschliche Wesen?«
Eunho erzählte von den Schlangen und dem Schlangenschnaps, die er hinter der Residenz gesehen hatte.
»Der Herr sagte, er sei ebenfalls ein Seelenjäger wie du. Dank ihm habe ich von den Machenschaften des Premierministers erfahren.«
Fragend neigte Jinwoo den Kopf zur Seite.
»Ein Seelenjäger? Er kam mir nicht bekannt vor. Ich habe ihn in dieser Stadt noch nie gesehen.«
»Seltsam. Ein Jäger, den du nicht kennst? Er schien kein Hochstapler zu sein.«
Es ärgerte Eunho, dass er dieser Person sein Leben verdankte und nicht einmal ihren Namen kannte.
»Nun, wenn das Schicksal es so will, werdet ihr euch sicher wiedersehen.«
»Das Schicksal …«
Eunho seufzte leise. Von draußen ertönte die Stimme eines Dieners.
»Meister, seid Ihr erwacht?«
Eunho und Jinwoo wechselten Blicke. Was sie in der Schlangenresidenz getan und auch, was sie dort gesehen hatten, durfte keinesfalls nach außen dringen. Auf Eunhos Geste hin öffnete Jinwoo schnell die Tür für ihn.
»Was führt dich her? Eunho wurde heute in den Palast berufen und ist bereits im Morgengrauen abgereist. Er hat mich hergeschickt, um seine Sachen zu holen.«
Der Diener erkannte Jinwoos Gesicht und verbeugte sich.
»Ihr müsst Meister Jinwoo sein. Entschuldigt bitte die Störung. Ich werde die gnädige Frau davon unterrichten.«
Jinwoo nickte und schloss die Tür direkt wieder. Ein weiterer leiser Seufzer entkam Eunhos Lippen, während Jinwoo den Kopf schüttelte.
»Was könnte deine Mutter veranlasst haben, zu dieser Stunde einen Diener zu schicken?«
»In letzter Zeit sucht sie verzweifelt nach einer Gemahlin für mich.«
Jinwoo sah ihn verdutzt an. »Eine Gemahlin? Hast du nicht bereits eine Verlobte? Wie hieß sie noch gleich?«
Auch Eunho fiel der Name nicht auf Anhieb ein. Er musste tief in seinem Gedächtnis kramen, bis er sich schließlich erinnerte.
»Bin Seomoon. Ja, das war ihr Name.«
»Moment, die Tochter der Seomoon-Familie ist deine Verlobte?«, vergewisserte sich Jinwoo überrascht.
»Ja, warum?«
»Hach, nun verstehe ich, wieso deine Mutter sich so verhält.«
»Wieso? Was ist denn?«
»Da du kein sonderlich großes Interesse an Klatsch und Tratsch hegst, hast du sicherlich nichts davon gehört, aber die Mitglieder der Seomoon-Familie sind äußerst bekannt dafür, mit einem sehr unheilvollen Schicksal geboren worden zu sein. Es gab sogar eine Zeit, in der sie regelmäßig von Todesfällen heimgesucht worden sind.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Wenn ich mich recht entsinne, ist es nun schon fünf Jahre her. Egal, ob Diener oder Verwandte der Familie, sie alle sind gestorben, ohne dass man etwas dagegen tun konnte. Bis schließlich sogar ihr Sohn, der Erbe der Seomoon-Familie, in jungen Jahren sein Leben verlor.«
»Ihr Sohn? Bin Seomoon hatte also einen jüngeren Bruder?«
»Den Geschichten nach schon. Es heißt, die Mitglieder der Seomoon-Familie sollen seit dem Tod des Jungen kaum noch ihr Anwesen verlassen.«
»Und das stimmt auch wirklich?«
Jinwoo schnalzte mit der Zunge, als er bemerkte, dass Eunho all das zum ersten Mal zu hören schien.
»Ts, selbst wenn du wenig Interesse an deiner Verlobten hast, musst du davon doch gehört haben!«
»Die Verlobung ist so gut wie verfallen. Es war mein Großvater, der einst dieses Versprechen zwischen unseren Familien knüpfte. Seit er von uns gegangen ist, haben weder meine noch die Familie der Seomoons jemals wieder darüber gesprochen.«
Der Seomoon-Familie konnte keinesfalls entgangen sein, dass regelmäßig Heiratsvermittler das Haus der Hyeons aufsuchten. Und trotzdem brachte sie kein einziges Mal das Thema Heirat zur Sprache.
Jinwoo strich sich über das Kinn.
»Wie soll ich es am besten sagen … immerhin scheinen sie ihren Platz zu kennen.«
Ihren Platz.
Eunho runzelte die Stirn. Aus irgendeinem Grund verstimmten ihn diese Worte.
»Du bist zum Innenminister aufgestiegen und wirst dem König an seiner Seite dienen. Die Familie deiner Gemahlin sollte also ein gewisses Maß an Einfluss haben. Insofern ist das Handeln deiner Mutter nur verständlich.«
»…«
Eunho erwiderte nichts und blickte nachdenklich umher.
Auch er hatte diese Ansicht geteilt. Eine Verlobung, die in seiner Kindheit von den Erwachsenen der Familie beschlossen worden war, hatte keine große Bedeutung. Sein Leben ging weiter, als hätte es sie erst gar nicht gegeben.
Als er von zu Hause wegging, um für die Prüfungen zu lernen, als er diese erfolgreich bestand und als hoher Beamter in die Verwaltung einberufen wurde, und selbst als er in die Stadt zurückkehrte, um seine Stelle als Innenminister anzutreten – in all diesen Momenten dachte er kein einziges Mal an seine Verlobung.
Seine Verlobte war wie ein Schatten – nicht einmal ihr Gesicht hatte er je gesehen.
Wie ihre Stimme wohl klingen mochte, welche Farbe ihre Augen hatten, und wie sie sich bewegte oder lachte?
Nie waren ihm diese Gedanken gekommen.
Umso merkwürdiger war es für ihn, dass diese Fragen ausgerechnet jetzt seine Neugier zu wecken schienen.
»Man erzählt sich, es habe gestern ein großes Feuer im Schlangental gegeben«, sagte Sangseon mit tiefer Stimme. Eine kalte Morgenbrise wehte in den Raum hinein. Sangseon verbeugte sich noch tiefer. Der Mann, der zu seinen Füßen die Kleidung wechselte, schien bei dieser Nachricht kurz innezuhalten.
»Ich verstehe, im Schlangental also.«
Die Diener um ihn herum traten vorsichtig zurück.
Als Sangseon den König in seinem Gewand erblickte, senkte er den Kopf.
»Damit ist es genau so gekommen, wie der Premierminister es bereits vorhergesehen hat.«
Die Stimme des Königs war kalt, als er sprach.
»Ich bin untröstlich, Eure Majestät«
Hui Lee, der König des Reichs, warf einen Blick in den dunklen Morgenhimmel. Sein Gewand lastete schwer auf seinen Schultern, fast als wollte es ihm sagen, dass er des Königstitels nicht würdig war.
»Der Innenminister soll umgehend in den Palast kommen. Ich muss von ihm persönlich hören, was geschehen ist.«
»Wie Ihr wünscht, Eure Majestät.«
Ein leichtes Seufzen kam Hui über die Lippen.
Der Königstitel, die höchste Macht, nach der man sich sehnen konnte.
Für Hui hingegen wäre es treffender zu sagen, dass das Leben ihn gänzlich unerwartet auf den Thron geführt hatte. Sicher, er war von königlichem Blut, doch stammte er lediglich aus einer kleinen, unbedeutenden Familie, einem kleinen Nebenzweig im Stammbaum. Er hätte es nie gewagt, auch nur davon zu träumen, eines Tages den Thron zu besteigen.
Nachdem er jedoch die einzige Tochter von Giljeon Han, dem Premierminister, geheiratet hatte, änderte sich der Lauf seines Lebens.
Ihre Hochzeit hatte für reichlich Aufsehen gesorgt. Niemand verstand, weshalb die Tochter des Premierministers nicht den Kronprinzen oder dessen ältesten Nachkommen, sondern lediglich den Sohn einer unbedeutenden Familie im königlichen Stammbuch ehelichte.
Aber als Hui zum ersten Mal in die runden, schönen Augen von Giljeons Tochter – Chaeryeong Han – blickte, war es ihm klar geworden.
»Sie wurde geboren, um Königin zu werden.«
Nie zuvor hatte er gedacht, dass die Augen eines erst zehnjährigen Mädchens vor lauter Entschlossenheit derart hell leuchten konnten.
Für sie gab es zwei Wege, um Königin zu werden. Sie konnte entweder vom Königshof auserwählt werden, um in die königliche Familie einzuheiraten, oder ihren eigenen Vater zum König machen.
Giljeon Han und seine Tochter Chaeryeong entschieden sich für die zweite Möglichkeit. Als Hui die junge Frau heiratete, wurde ihm klar, dass der Han-Clan nichts unversucht lassen würde, um eines seiner Mitglieder auf den Thron zu setzen.
Weniger als ein Jahr nach ihrer Hochzeit erkrankte der Kronprinz und starb. Und noch bevor sie den Platz als Kronprinz selbst einnehmen konnten, verstarben auch die anderen Prinzen.
»Hui Lee, tritt vor und akzeptiere das Erbe des Königs als das deine!«
So wurde der Thron schließlich an ihn übergeben. Er konnte die Stimmen jener, die darüber spekulierten, ob dies ebenso sein Todesurteil bedeutete, noch immer hören.
»Jetzt ist es wohl so weit«, hatte Hui damals Eunho, der neben ihm stand, zugeflüstert.
Nun gab es kein Zurück mehr.
Hui erinnerte sich noch genau daran, wie Chaeryeong Han bei seiner Krönungszeremonie in festlichem Gewand neben ihm gestanden hatte.
Wie sie dort mit ihren runden Augen in den Raum blickte, umgeben von roten, blauen und goldenen Kleiderschichten. Ihr sanfter Blick und ihr junges Gesicht.
Die auf den Pflastersteinen aneinandergereihten Untertanen flüsterten allesamt, dass sie mit ihrer hohen Stirn und ihrem strahlenden Gesicht die perfekte Königin darstellte. Einigen schien ihre Ernennung zur Königin noch weitaus bedeutender zu sein als Huis eigentliche Krönung.
Und so wurden die beiden zu den neuen Herrschern über das Reich.
Chaeryeong, die Herrscherin dieses Landes und alleinige Tochter von Giljeon Han.
Deshalb behandelte Hui sie auch wie eine Königin, statt sie als seine Gattin zu betrachten. Als vor zwei Jahren bekannt wurde, dass sie einen Jungen geboren hatte, machten sich die ersten Anzeichen von Besorgnis im Hof bemerkbar.
Als rechtmäßiger Sohn der Königin war seine Ernennung zum Kronprinzen nur eine Frage der Zeit. Doch damit würde der Premierminister unangefochtenen Einfluss auf den Königshof gewinnen. Der alte Mann, der den letzten drei Königen gedient hatte und inzwischen selbst ein Teil der Königsfamilie geworden war, besaß bereits vollständige Kontrolle über den königlichen Rat. Die Folgen, wenn er auch noch Großvater des Kronprinzen werden würde, waren mehr als absehbar.
War Chaeryeongs Sohn erst einmal Kronprinz, wäre Hui für diesen Plan nutzlos. Es gäbe keinen Grund, ihn weiter auf dem Thron zu halten, wenn stattdessen ein Angehöriger des Han-Clans zum König gekrönt werden könnte.
Den Platz des Kronprinzen einem Kind zu überlassen, bedeutete ebenfalls, dass die Königin die vorläufige Herrschaft übernehmen dürfte, bis der Thronfolger ein angemessenes Alter erreicht hätte.