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Der neue Roman der »Fifty Shades of Grey« Autorin E L James
London 2019. Das Leben meint es gut mit Maxim Trevelyan. Er ist attraktiv, reich und hat Verbindungen in die höchsten Kreise. Er musste noch nie arbeiten und hat kaum eine Nacht allein verbracht. Das alles ändert sich, als Maxim den Adelstitel, das Vermögen und die Anwesen seiner Familie erbt – und die damit verbundene Verantwortung, auf die er in keiner Weise vorbereitet ist. Seine größte Herausforderung stellt aber eine geheimnisvolle, schöne Frau dar, der er zufällig begegnet. Wer ist diese Alessia Demachi, die erst seit Kurzem in England lebt und nichts besitzt als eine gefährliche Vergangenheit? Maxims Verlangen nach dieser Frau wird zur glühenden Leidenschaft – einer Leidenschaft, wie er sie noch nie erlebt hat. Als Alessia von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, versucht Maxim verzweifelt, sie zu beschützen. Doch auch Maxim hütet ein dunkles Geheimnis.
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Seitenzahl: 699
Buch
London 2019. Das Leben meint es gut mit Maxim Trevelyan. Er ist attraktiv, reich und hat Verbindungen in die höchsten Kreise. Er musste noch nie arbeiten und hat kaum eine Nacht allein verbracht. Das alles ändert sich, als Maxim den Adelstitel, das Vermögen und die Anwesen seiner Familie erbt – und die damit verbundene Verantwortung, auf die er in keiner Weise vorbereitet ist. Seine größte Herausforderung stellt aber eine geheimnisvolle, schöne Frau dar, der er zufällig begegnet. Wer ist diese Alessia Demachi, die erst seit Kurzem in England lebt und nichts besitzt als eine gefährliche Vergangenheit? Maxims Verlangen nach dieser Frau wird zur glühenden Leidenschaft – einer Leidenschaft, wie er sie noch nie erlebt hat. Als Alessia von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, versucht Maxim verzweifelt, sie zu beschützen. Doch auch Maxim hütet ein dunkles Geheimnis.
Autorin
Nachdem sie 25 Jahre für das Fernsehen gearbeitet hatte, beschloss E L James, Geschichten zu schreiben, in die sich die Leser verlieben sollten. Das Ergebnis war die mittlerweile weltberühmte »Fifty Shades of Grey«-Trilogie, die sich global mehr als 150 Millionen Mal verkaufte und in 52 Sprachen übersetzt wurde. Der erste Band, »Fifty Shades of Grey. Geheimes Verlangen«, stand 147 Wochen ununterbrochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Und die Verfilmungen der drei Bände haben alle Rekorde gebrochen. E L James lebt in Westlondon mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller und Drehbuchautor Niall Leonard, und ihren beiden Söhnen.
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Mister« bei Vintage Books, a division of Penguin Random House LLC, New York, and distributed in Canada by Random House of Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto, und zeitgleich bei Arrow, an imprint of Cornerstone, a division of Penguin Random House Ltd., London.
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Copyright © der Originalausgabe 2019 by Erika James Limited
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm GoldmannVerlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur München
Coverfoto: Cover design and photograph by Erika Mitchell
Cover image reproduced with kind permission of
the Royal Borough of Kensington and Chelsea
Back cover photograph © Kwangmoozaa/Shutterstock
Coverinnenseiten: © Fine Pic®, München
Redaktion: Kerstin von Dobschütz und Regina Carstensen
BH • Herstellung: kw
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-25314-1V009
www.goldmann-verlag.de
Für Tia Elba
Danke für deine Klugheit, deine Stärke, deinen Humor und deine innere Klarheit, vor allem aber für deine Liebe.
Nein. Nein. Nein. Nicht die Schwärze. Diese Dunkelheit, die mir die Luft abschnürt. Nicht die Plastiktüte. Panik erfasst sie, drückt die Luft aus ihrer Lunge. Ich kann nicht atmen. Der metallische Geschmack von Angst steigt in ihrer Kehle auf. Ich muss es tun. Es gibt keine andere Möglichkeit. Sei still. Ganz ruhig. Langsam atmen, flach. Wie er gesagt hat. Bald ist es vorbei, dann bin ich frei. Frei. Frei.
Los. Jetzt. Lauf. Lauf. Lauf. Sie läuft, so schnell sie kann, blickt nicht zurück. Die Angst treibt sie an, als sie sich an den Passanten vorbeidrängelt, die spät am Abend noch ihre Einkäufe erledigen. Sie hat Glück: Die automatischen Türen stehen offen. Sie prescht durch die Tür, unter der bunten Weihnachtsdekoration hindurch, auf den Parkplatz. Weiter, immer weiter, schlängelt sich an den geparkten Wagen vorbei, bis sie den Wald erreicht. Sie rennt um ihr Leben, einen schmalen Pfad entlang, zwängt sich zwischen Sträuchern hindurch, deren Zweige ihr ins Gesicht schlagen. Bis ihre Lunge zu platzen droht. Los. Weiter. Nicht stehen bleiben.
Kalt. So kalt. Viel zu kalt. Wie ein Schleier legen sich Müdigkeit und Kälte über ihren Verstand, lähmen ihre Gedanken. Der heulende Wind dringt durch ihre Kleider, bis ins Mark. Sie kauert sich unter einem Strauch zusammen, versucht, mit ihren von der Kälte tauben Händen das Laub zu einem Nest aufzuhäufen. Schlafen. Sie braucht Schlaf. Sie legt sich auf den kalten, harten Boden, viel zu erschöpft, um sich zu fürchten und zu weinen. Die anderen. Haben sie es geschafft? Sie schließt die Augen. Konnten sie fliehen? Bitte, mach, dass sie es geschafft haben, dass sie im Warmen sind … Wie konnte es nur so weit kommen?
Sie wacht auf, zwischen Zeitungspapier und Pappkartons. Ringsum stehen Mülltonnen. Sie zittert am ganzen Leib. Ihr ist so furchtbar kalt. Aber sie muss weiter. Zum Glück hat sie eine Adresse. Sie dankt dem Gott ihrer Nana im Geiste dafür, als sie mit zitternden Fingern den Zettel auseinanderfaltet. Dort muss sie hin. Jetzt. Sofort.
Los. Geh. Ein Fuß vor den anderen. Das ist das Einzige, was sie tun kann. Gehen. Gehen. Gehen. In einem Hauseingang schlafen. Aufwachen und weitergehen. Gehen. Auf der Toilette eines McDonald’s trinkt sie Wasser aus dem Hahn. Das Essen riecht köstlich.
Ihr ist kalt. Ihr Magen schmerzt vor Hunger. Sie läuft weiter und weiter, folgt der Karte. Sie ist gestohlen. Aus einem Laden. Er war mit Lichterketten geschmückt, und aus den Lautsprechern drangen Weihnachtslieder. Der Zettel in ihrer Hand ist schmutzig und halb zerfleddert nach den vielen Tagen, die sie ihn in ihrem Stiefel versteckt hat. Müde. So todmüde. Und schmutzig. Ihr ist kalt, sie fühlt sich schmutzig, hat Angst. Dieser Ort ist ihre einzige Hoffnung. Sie hebt ihre zitternde Hand und drückt die Klingel.
Magda erwartet sie. Ihre Mutter hat ihr geschrieben, dass sie kommen wird. Sie begrüßt sie mit offenen Armen. Aber dann weicht sie erschrocken zurück. Du liebe Güte, Kind, was ist denn mit dir passiert? Ich habe schon letzte Woche mit dir gerechnet!
Gedankenloser Sex, einfach das Hirn rausvögeln – das hat durchaus seine Vorteile. Keine Verpflichtungen, keine Erwartungen und folglich auch keine Enttäuschungen. Lediglich den Namen muss ich mir merken. Wie hieß die Letzte noch? Jojo? Jeanne? Jody? Keine Ahnung – auch sie war nichts als ein namenloser Fick mit viel Gestöhne, sowohl im Bett als auch außerhalb. Ich liege da, blicke auf die Wellen der Themse, die sich kräuselnd an der Zimmerdecke reflektieren, und kann nicht schlafen. Ich bin viel zu ruhelos.
Heute Abend ist es Caroline. Aber sie passt nicht in diese Parade der namenlosen Bettgenossinnen und wird es auch niemals. Was zum Teufel habe ich mir bloß dabei gedacht? Ich schließe die Augen, versuche, die leise Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die mich fragt, ob es wirklich klug ist, mit meiner besten Freundin ins Bett zu gehen – zum wiederholten Mal. Sie liegt neben mir und schläft, ihr schlanker Körper ist in das silbrige Licht des Januarmonds getaucht, ihr Kopf ruht auf meiner Brust, ihre langen Beine sind mit den meinen verschlungen.
Es ist falsch, ganz falsch. Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht, in der Hoffnung, dass sich meine Selbstverachtung dadurch verflüchtigt. Prompt regt sie sich und wird wach. Mit ihrem perfekt manikürten Fingernagel streicht sie über die gewölbten Muskeln meines Bauchs hinweg, umkreist meinen Nabel. Ich spüre ihr schläfriges Lächeln, als ihre Finger weiterwandern, hinunter zu meinem Schamhaar. Ich packe ihre Hand und führe sie an meine Lippen. »Haben wir nicht schon genug Schaden für einen Abend angerichtet, Caro?« Um der Zurückweisung etwas von ihrer Schärfe zu nehmen, küsse ich jede ihrer Fingerspitzen einzeln. Ich bin müde und mutlos wegen der nagenden Schuldgefühle, die mich unablässig quälen. Wir reden hier von Caroline, Herrgott noch mal, meiner besten Freundin und der Frau meines Bruders. Exfrau.
Nein. Nicht Exfrau, sondern Witwe.
Ein trauriges, einsames Wort für Umstände voller Trauer und Einsamkeit.
»Ach, Maxim. Mach, dass ich alles vergessen kann«, flüstert sie und drückt mir einen warmen Kuss auf die Brust. Sie streicht sich ihr langes blondes Haar aus dem Gesicht und sieht mich unter ihren dichten Wimpern hervor an. Verlangen und Leid spiegeln sich in ihrem Blick.
Ich umschließe mit meinen Händen ihr hübsches Gesicht und schüttle den Kopf. »Wir sollten das nicht tun.«
»Nicht.« Sie legt mir einen Finger auf die Lippen. »Bitte. Ich brauche es.«
Ich stöhne. Dafür komme ich in die Hölle.
»Bitte«, fleht sie erneut.
Scheiße, ich bin längst dort.
Und weil auch ich trauere – und ihn schrecklich vermisse – und Caroline meine Verbindung zu ihm ist, suche ich ihre Lippen und drehe sie sanft auf den Rücken.
Als ich aufwache, ist das Zimmer von hellem Wintersonnenschein durchflutet, und ich muss die Augen zusammenkneifen. Ich drehe mich um, stelle erleichtert fest, dass Caroline fort ist; nur ein Anflug von Reue und eine Nachricht auf dem Kissen erinnern an sie.
Abendessen heute mit Daddy und der Stiefkuh?
Bitte komm.
Auch sie trauern.
ILY x
Fuck.
Nicht auch noch das! Ich schließe die Augen, voller Dankbarkeit, dass ich allein in meinem Bett liege und dass wir beschlossen haben, bereits zwei Tage nach der Beerdigung nach London zurückzukehren – trotz unserer nächtlichen Aktivitäten.
Wie zum Teufel hatte das alles so aus dem Ruder laufen können?
Nur ein kleiner Schlummertrunk, hatte sie gesagt, doch ein Blick in ihre großen blauen Augen voller Kummer hatte genügt, um zu wissen, was sie in Wahrheit wollte. Genau den gleichen Ausdruck hatte ich an dem Abend gesehen, als wir von Kits tragischem Unfalltod erfuhren – ein Blick, dem ich bereits da nicht hatte widerstehen können. Wir hatten diesen Tanz schon so oft getanzt, doch in dieser Nacht hatte ich mich in mein Schicksal ergeben und zielsicher die Frau meines verstorbenen Bruders gevögelt.
Und nun haben wir es wieder getan, gerade einmal zwei Tage, nachdem wir Kit zu Grabe getragen haben.
Mein Blick heftet sich an die Zimmerdecke. Ich bin erbärmlicher Abschaum, daran besteht kein Zweifel. Doch das Gleiche gilt auch für Caroline. Aber wenigstens hat sie eine Ausrede: Sie trauert, hat Angst, was aus ihr werden wird, und ich bin ihr bester Freund. An wen sollte sie sich denn sonst in dieser Situation wenden? Ich war am Ende derjenige, der es auf die Spitze treiben und die trauernde Witwe trösten musste.
Stirnrunzelnd zerknülle ich den Zettel und werfe ihn auf den Fußboden, wo er unter das Sofa schlittert, auf dem sich meine Kleider stapeln. Über mir treiben die glitzernden Wasserreflexionen, locken mich mit ihrem Spiel aus Licht und Schatten. Ich schließe die Augen.
Mein Bruder war ein anständiger Mann.
Kit. Der wundervolle Kit. Alle haben ihn geliebt – auch Caroline. Am Ende hat sie sich für ihn entschieden. Unwillkürlich schiebt sich das Bild von seinem zerschmetterten Körper unter dem Laken in der Krankenhauspathologie vor mein inneres Auge. Ich hole tief Luft, versuche, die Erinnerung zu verjagen, während sich ein Kloß in meiner Kehle bildet. Er hat etwas Besseres verdient als die reizende Caro und mich, diesen Nichtsnutz von einem Bruder. Er hat es nicht verdient, so schmählich verraten zu werden.
Mist.
Aber wem will ich etwas vormachen?
Caroline und ich verdienen einander. Sie hat mein Bedürfnis befriedigt und ich ihres. Wir sind erwachsene Menschen, die sich einvernehmlich darauf eingelassen haben, und in Wahrheit beide ungebunden. Sie will es. Ich will es, und außerdem kann ich genau das am besten: eine willige, attraktive Frau ficken, bis der Morgen graut. Das ist meine Lieblingsfreizeitbeschäftigung, sie hält mich jung, fit und beschäftigt, und wenn es leidenschaftlich zur Sache geht, erfahre ich alles, was ich über eine Frau wissen muss – wie ich sie heiß mache und ob sie vor Lust laut schreit oder in Tränen ausbricht, wenn sie kommt.
Caroline gehört zu denen, die anfangen zu weinen.
Aber sie hat auch gerade ihren Ehemann verloren.
Und ich habe meinen großen Bruder verloren, mein einziges Vorbild in den vergangenen Jahren.
Scheiße.
Erneut schließe ich die Augen, sehe sein bleiches Gesicht vor mir, spüre die abgrundtiefe Leere, die sein Verlust in mir hinterlässt.
Eine Lücke, die sich niemals schließen lassen wird.
Wieso musste er auch verdammt noch mal in dieser eisigen, rauen Nacht mit dem Motorrad herumfahren? Kit ist – nein, war – doch immer der Vernünftigere von uns beiden, auf Sicherheit bedacht, die Verlässlichkeit in Person. Kit war derjenige, der dem Familiennamen alle Ehre gemacht hat, seinem Ruf gerecht geworden ist, sich stets angemessen verhalten hat. Er hatte einen Job in der City und hat sich gleichzeitig um das beträchtliche Familienvermögen gekümmert. Überstürzte Entscheidungen waren nicht sein Ding, und er wäre auch nie wie ein Verrückter durch die Gegend gerast. Auf ihn konnte man stets zählen – im Gegensatz zu mir. Ich bin der Schandfleck der Familie, das schwarze Schaf, an das keinerlei Erwartungen gestellt werden. Dafür sorge ich. Grundsätzlich.
Ich setze mich auf. Meine Stimmung ist hundsmiserabel. Höchste Zeit, mich im Fitnessraum im Untergeschoss auszutoben. Laufen, Ficken, Fechten – das sind die Dinge, die mich in Form halten.
Die Dance-Musik hämmert in meinen Ohren, der Schweiß läuft mir über den Rücken. Das rhythmische Geräusch meiner Turnschuhe auf dem Laufband klärt meine Gedanken, während ich meinen Körper an seine Grenzen bringe. Normalerweise bin ich beim Laufen fokussiert und dankbar, dass ich überhaupt etwas spüre – selbst wenn es nur das Brennen in den Beinen und der Lunge ist. Heute will ich gar nichts empfinden, nicht nach dieser grauenvollen Woche. Ich will bloß meinen schmerzenden Körper spüren, wie ich ihn schinde. Nicht aber den Verlust.
Laufen. Atmen. Laufen. Atmen.
Nicht an Kit denken. Nicht an Caroline.
Laufen. Laufen. Laufen.
Das Laufband wird langsamer. Ich jogge die letzten Meter meines Fünf-Meilen-Sprints und gestatte den fiebrigen Gedanken, sich wieder in meinem Kopf einzunisten. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich eine Menge um die Ohren.
Vor Kits tragischem Tod habe ich meine Zeit damit verbracht, mich tagsüber von den nächtlichen Strapazen zu erholen und mir zu überlegen, wie ich den folgenden Abend verbringen will. Mehr nicht. Das war mein Leben. Auch wenn ich nur ungern zugebe, wie leer und inhaltslos das ist, ist mir tief im Innern natürlich klar, wie nutzlos ich bin. Seit ich einundzwanzig bin, steht mir ein großzügiger Treuhandfonds zur Verfügung, weshalb ich keinen einzigen Tag in meinem Leben ernsthaft gearbeitet habe – im Gegensatz zu meinem Bruder, der sich mächtig ins Zeug gelegt hat. Allerdings hatte er auch keine andere Wahl.
Heute sieht die Sache jedoch anders aus. Ich bin Kits Testamentsvollstrecker, was der reinste Witz ist. Bestimmt hat er sich kaputtgelacht, als er ausgerechnet mich dafür auserkoren hat, aber nun, da er in der Familiengruft begraben liegt, muss das Testament verlesen und … vollstreckt werden.
Und Kit hat keine Erben.
Ein Schauder packt mich, als das Laufband zum Stillstand kommt; ich will nicht darüber nachdenken, was das bedeutet. Ich bin einfach nicht bereit dafür.
Ich schnappe mir mein iPhone, werfe mir ein Handtuch um den Hals und laufe nach oben in mein Apartment im sechsten Stock, wo ich aus meinen Kleidern steige, sie mitten im Schlafzimmer liegen lasse und ins Badezimmer gehe. Unter der Dusche überlege ich mir, wie ich weiter mit Caroline umgehen soll. Wir kennen uns schon seit der Schule, wo wir früh unsere Seelenverwandtschaft erkannt haben, die uns zusammengeschweißt hat – zwei dreizehnjährige Internatsschüler mit geschiedenen Eltern. Ich war der Neue, und sie hat mich unter ihre Fittiche genommen. Schon bald waren wir unzertrennlich. Caroline wird für alle Zeiten meine erste große Liebe bleiben, das erste Mädchen, mit dem ich Sex hatte – katastrophalen Sex. Und Jahre später hat sie sich für meinen Bruder entschieden – statt für mich. Trotz allem ist es uns gelungen, gute Freunde zu bleiben und die Finger voneinander zu lassen … bis zu Kits Tod.
Mist. Das muss aufhören. Ich will weder diese Komplikationen, noch kann ich sie gebrauchen. Grüne Augen blicken mir ernst aus dem Spiegel entgegen, während ich mich rasiere. Vermassle es dir nicht mit Caroline. Sie ist eine der wenigen Freunde, die du hast. Deine beste Freundin. Rede mit ihr. Finde eine Lösung. Sie weiß, dass wir nicht zusammenpassen. Entschlossen nicke ich meinem Spiegelbild zu, während ich mir den Rasierschaum abwische. Ich lasse das Handtuch zu Boden fallen und gehe ins Ankleidezimmer, wo ich meine schwarzen Jeans aus einem Regal ziehe. Erleichtert stelle ich fest, dass ein frisch gebügeltes weißes Hemd und ein gereinigtes schwarzes Sakko im Schrank hängen. Heute muss ich mich mit den Anwälten der Familie zum Mittagessen treffen. Ich schlüpfe in meine Stiefel und ziehe einen Mantel vom Bügel.
Verdammt. Heute ist ja Montag.
Krystyna, meine steinalte polnische Putzfrau, wird am Vormittag vorbeikommen. Ich ziehe ein paar Scheine aus meiner Brieftasche und lege sie auf den Tisch im Eingangsbereich, ehe ich die Alarmanlage einschalte und durch die Tür trete. Ich schließe hinter mir ab und nehme die Treppe anstelle des Aufzugs.
Kalte, frische Winterluft schlägt mir entgegen, als ich auf die Straße trete. Atemwölkchen schweben vor meinem Mund. Ich blicke von Chelsea Embankment über die graue Themse hinweg zur Peace Pagoda am anderen Ufer. Genau das will ich – Frieden –, aber womöglich wird es noch lange Zeit dauern, bis ich ihn wirklich finde. Ich hoffe, dass während des Mittagessens einige Fragen geklärt werden. Ich winke ein Taxi heran und nenne dem Fahrer die Adresse in Mayfair.
Pavel, Marmont and Hoffman, bereits seit 1775 die Anwälte meiner Familie, haben ihren Kanzleisitz in einem feudalen Bau im georgianischen Stil in der Brook Street. »Zeit, endlich erwachsen zu werden«, sage ich leise, als ich die reich verzierte Holztür öffne.
»Guten Tag, Sir«, begrüßt mich die junge Dame am Empfang mit einem strahlenden Lächeln, während sich eine sanfte Röte auf ihrem olivfarbenen Teint ausbreitet. Auf eine dezente Art ist sie sehr hübsch. Unter normalen Umständen hätte ich nach fünf Minuten Plaudern ihre Nummer gehabt, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich heute hier bin.
»Ich habe einen Termin mit Mr. Rajah.«
»Und Ihr Name ist?«
»Maxim Trevelyan.«
Ihr Blick schweift über den Bildschirm, und sie schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Sie deutet auf zwei lederne Clubsessel in der holzvertäfelten Lobby. Ich setze mich und greife nach der heutigen Ausgabe der Financial Times. Die Rezeptionistin telefoniert eindringlich mit jemandem, während ich die Titelseite überfliege, ohne jedoch die Informationen aufzunehmen. Als ich aufblicke, tritt Rajah auf mich zu und streckt die Hand aus, um mich höchstpersönlich zu begrüßen.
Ich erhebe mich.
»Lord Trevethick, zuallererst möchte ich Ihnen mein tief empfundenes Beileid aussprechen«, sagt er, während wir einander die Hände schütteln.
»Mr. Trevethick, bitte«, erwidere ich. »Ich muss mich erst noch an den Titel meines Bruders gewöhnen.«
Der jetzt mein Titel ist.
»Natürlich.« Mr. Rajah nickt mit einer höflichen Ehrerbietung, die mir auf die Nerven geht. »Würden Sie mich nun bitte begleiten? Wir werden im Speiseraum der Partner zu Mittag essen. Und ich muss erwähnen, dass wir einen der besten Weinkeller von ganz London unser Eigen nennen.«
Stunden später blicke ich wie gebannt in die tanzenden Flammen im Kamin meines Clubs in Mayfair.
Earl of Trevethick.
Der bin ich jetzt.
Es ist unfassbar. Eine Katastrophe.
Als ich noch jünger war, habe ich meinen Bruder stets um seinen Titel und seine Stellung innerhalb der Familie beneidet. Schon von Anfang an war Kit der Liebling, vor allem meiner Mutter, allerdings war er auch der Erbe und nicht der Ersatzspieler. Geboren als Viscount Porthtowan, war er mit zwanzig nach dem plötzlichen Tod unseres Vaters der zwölfte Earl of Trevethick geworden. Und heute, mit achtundzwanzig, bin ich die Nummer dreizehn. Doch obwohl ich immer scharf auf diesen Titel war und auf alles, was damit einhergeht, komme ich mir nun, da ich ihn übernommen habe, wie ein Eindringling vor.
Du hast heute Nacht die Countess gefickt. Das ist schlimmer, als auf fremdes Terrain vorzudringen.
Ich nehme einen Schluck von meinem Glenrothes und hebe mein Glas. »Auf die Toten«, flüstere ich und muss grinsen, als mir die Ironie bewusst wird. Glenrothes war Dads und Kits Lieblingswhisky – und von jetzt an gehört der 1992er-Jahrgang mir.
Ich kann mich nicht mehr genau an den Tag erinnern, an dem ich mit Kit und seiner Position als Erbe meinen Frieden geschlossen habe, aber es muss irgendwann kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag gewesen sein. Er hatte den Titel, er hatte sich das Mädchen unter den Nagel gerissen, das musste ich akzeptieren. Doch jetzt gehört alles mir. Alles.
Selbst deine Frau. Zumindest gestern Nacht.
Ironischerweise ist sie mit keiner Silbe in seinem Testament erwähnt.
Sie bekommt keinen Penny.
Genau das war ihre größte Angst.
Wie konnte er so nachlässig sein? Vor vier Monaten hat er ein neues Testament aufgesetzt, jedoch keinerlei Vorsorge für sie getroffen. Sie waren erst zwei Jahre verheiratet …
Was hat er sich dabei gedacht?
Natürlich ist es möglich, dass sie es anficht. Wer könnte es ihr verdenken?
Ich fahre mir mit den Händen übers Gesicht.
Was soll ich jetzt tun?
Mein Telefon summt.
WOBISTDU?
Caroline.
Ich schalte das Telefon aus und bestelle mir noch einen Drink. Ich will sie heute Abend nicht sehen, sondern mich lieber in einer anderen verlieren. In einer Frau, die ich noch nicht kenne und mit der mich nichts verbindet, und vielleicht sollte ich mir heute Abend mal wieder eine Line genehmigen. Ich schalte das Handy wieder ein und öffne Tinder.
»Dieses Apartment ist ja der reinste Wahnsinn, Maxim.« Sie blickt auf die Themse, in deren trübem, gräulichem Wasser sich das Licht der Peace Pagoda am anderen Ufer spiegelt. Ich nehme ihr die Jacke ab und lege sie über die Sofalehne.
»Einen Drink oder etwas Stärkeres?«, frage ich. Wir werden uns ohnehin nicht lange im Wohnzimmer aufhalten. Als hätte man ihr ein Zeichen gegeben, wirft sie sich das schwarze Haar über die Schulter und blickt mich aus ihren haselnussbraunen, mit schwarzem Kajal umrandeten Augen eindringlich an.
Sie fährt mit der Zunge über ihre geschminkten Lippen und zieht eine Braue hoch. »Etwas Stärkeres?«, fragt sie verführerisch. »Was trinkst du denn?«
Aha, sie geht nicht auf das Stichwort ein. Also kein Koks, aber sie hat ohnehin mehr intus als ich. Ich trete näher, so dicht, dass sie den Kopf in den Nacken legen muss, um mich anzusehen. Ich achte jedoch darauf, sie nicht zu berühren.
»Ich bin nicht durstig, Heather«, raune ich mit leiser Stimme und bin heilfroh, dass ich mir ihren Namen gemerkt habe. Sie schluckt. Ihre Lippen teilen sich.
»Ich auch nicht«, flüstert sie, während sie mir ein verführerisches Lächeln schenkt.
»Und was willst du dann?« Ich bemerke, wie ihr Blick zu meinem Mund wandert. Eine Einladung. Ich halte inne, um sicherzugehen, dass ich das Signal richtig interpretiert habe, dann beuge ich mich hinunter und küsse sie, ganz flüchtig nur, ehe ich mich zurückziehe.
»Ich glaube, du weißt ganz genau, was ich will.« Sie vergräbt die Finger in meinem Haar und zieht mich zu sich herab, zu ihrem warmen und willigen Mund. Sie schmeckt nach Brandy, unter den sich ein Hauch von Tabak mischt. Einen Moment lang bin ich irritiert. Ich kann mich nicht erinnern, sie mit einer Zigarette im Club gesehen zu haben. Ich lege eine Hand auf ihre Hüfte, während ich die andere über ihre üppigen Kurven wandern lasse. Sie hat eine schmale Taille und große, feste Brüste, die sie aufreizend gegen mich presst. Unwillkürlich frage ich mich, ob sie so gut schmecken, wie sie sich anfühlen. Ich lasse meine Hand tiefer wandern, während ich sie leidenschaftlicher küsse, ihre warme Mundhöhle mit der Zunge erkunde.
»Und was willst du?«, flüstere ich an ihrem Mund.
»Dich.« Ihre Stimme ist rau und kehlig, voller Dringlichkeit. Sie ist scharf. Und wie. Sie macht sich an den Knöpfen meines Hemds zu schaffen. Reglos stehe ich da, als sie es mir über die Schultern streift und es zu Boden fällt.
Soll ich sie hier nehmen oder im Bett? Am Ende siegt die Bequemlichkeit. Ich nehme ihre Hand. »Komm.« Sie folgt mir ins Schlafzimmer.
Es ist sauber und aufgeräumt.
Gott segne Krystyna.
Ich schalte die Nachttischlampe an und führe sie zum Bett. »Dreh dich um.«
Heather schwankt leicht auf ihren hohen Absätzen, als sie gehorcht. »Vorsicht.« Ich ziehe sie an den Schultern zu mir heran und drehe ihren Kopf so, dass ich ihre Augen erkennen kann. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind hell. Klar. Fokussiert. Nüchtern genug. Ich beuge mich vor, lasse meine Zunge an ihrem Hals entlangwandern, schmecke ihre warme, duftende Haut. »Ich finde, wir sollten uns hinlegen.« Ich öffne den Reißverschluss ihres kurzen roten Kleids und ziehe es ihr über die Schultern, halte kurz inne, als ihre Brüste in einem roten BH zum Vorschein kommen. Mit den Daumen streiche ich über die Spitze, woraufhin sie stöhnend den Kopf in den Nacken legt, den Rücken durchbiegt und sich mir gierig entgegenreckt.
Oh, ja.
Ich schiebe die Finger unter den hauchzarten Stoff und umfasse ihre Nippel, die sich unter der Berührung aufrichten, während sie mit dem Knopf meiner Jeans ringt. »Wir haben die ganze Nacht«, murmle ich und löse mich kurz von ihr, um ihr das Kleid gänzlich auszuziehen.
Ein roter Tanga betont ihre perfekten Hinterbacken.
»Dreh dich um. Ich will dich sehen.«
Wieder wirft sie ihr Haar über die Schulter, dreht sich um und blickt mich unter ihren dichten Wimpern hervor an. Ihre Brüste sind der reinste Wahnsinn.
Ich lächle. Sie lächelt.
Das wird großartig.
Mit einem Ruck zieht sie mich am Bund meiner Jeans zu sich, ihre Brüste pressen gegen meinen Körper. »Küss mich«, fordert sie mit rauer Stimme und lässt ihre Zunge über ihre Zähne gleiten. Sofort spüre ich das vertraute Ziehen in den Lenden.
»Wie Sie wünschen, Madam.«
Ich lasse meine Finger durch ihr seidiges Haar gleiten und küsse sie, diesmal härter. Augenblicklich reagiert sie, packt mich bei den Haaren, während sich unsere Zungen vereinen. In diesem Moment hält sie inne und blickt mich mit anzüglich glitzernden Augen an, als hätte sie mich erst jetzt wirklich bemerkt und fände Gefallen an dem, was sie sieht. Abermals küssen wir uns, und diesmal ist ihr Mund noch fordernder als zuvor.
O Mann, sie will es wirklich.
Sie öffnet den Knopf meiner Hose und zieht sie mit einem Ruck herunter. Lachend ergreife ich ihre Hände und schiebe sie behutsam von mir, sodass wir beide auf dem Bett landen.
Heather. Ihr Name ist Heather. Sie liegt neben mir und schläft. Ich werfe einen Blick auf den Wecker. 5:15 Uhr. Der Sex war gut, kein Zweifel, aber jetzt will ich, dass sie geht. Wie lange muss ich noch hier liegen und ihren Atemzügen lauschen? Vielleicht hätten wir lieber zu ihr gehen sollen, dann hätte ich jederzeit verschwinden können. Aber zu mir war es näher – und wir konnten es beide nicht erwarten. Während ich an die Zimmerdecke starre, lasse ich den Abend noch einmal Revue passieren, versuche, mich an Dinge zu entsinnen, die sie mir über sich erzählt hat – falls überhaupt. Sie arbeitet beim Fernsehen und muss morgens im Büro sein. Deshalb muss sie bestimmt bald aufstehen, oder? Sie wohnt in Putney. Sie ist echt scharf. Und willig. Sehr, sehr willig. Am liebsten mag sie es, wenn man sie von hinten nimmt. Sie ist eher der stille Typ, wenn sie kommt, aber äußerst talentiert mit dem Mund und weiß genau, wie sie einen müden Kerl erneut auf Touren bringt. Allein bei der Erinnerung erwacht mein Schwanz zum Leben, und ich überlege kurz, ob ich sie wecken soll. Ihr dunkles Haar liegt wie ein Fächer ausgebreitet auf dem Kopfkissen, ihre Züge sind entspannt. Ich ignoriere den Stich beim Anblick ihrer Gelassenheit, und ich frage mich, ob ich wohl den gleichen inneren Frieden fände, wenn ich sie erst besser kennen würde.
Ach, verdammt, ich will, dass sie endlich verschwindet.
Du hast ein Problem mit Nähe und Intimität. Carolines Stimme hallt in meinen Gedanken wider.
Caroline.
Sie hat mir drei quengelige Nachrichten geschickt und mehrmals angerufen, aber ich habe nicht darauf reagiert. Meine Jeans liegen achtlos auf dem Fußboden. Aus der Gesäßtasche ziehe ich mein Handy heraus und lese mit einem Blick auf die schlafende Gestalt neben mir – nein, sie hat sich nicht bewegt – Carolines Nachrichten.
WOBISTDU?
RUFMICHAN!
*SCHMOLL*
Was ist eigentlich ihr Problem?
Sie kennt mich lange genug, um zu wissen, was Sache ist. Sich einmal zwischen den Laken zu wälzen ändert nichts daran, was ich für sie empfinde. Ich liebe Caroline … auf meine Art, als gute Freundin eben.
Ich habe sie nicht zurückgerufen. Weil ich keine Lust habe. Und weil ich nicht weiß, was ich ihr sagen soll.
Feigling. Mein Gewissen meldet sich zu Wort. Ich muss die Angelegenheit ins Reine bringen. Über mir an der Zimmerdecke tanzen die Wellen der Themse, frei und unbeschwert. Locken mich. Und führen mir vor Augen, was ich verloren habe.
Freiheit.
Und was ich stattdessen habe.
Verantwortung.
Scheiße.
Die Gewissensbisse übermannen mich, ein Gefühl, das ich nicht kenne und das mir gar nicht behagt. Kit hat mir alles hinterlassen. Alles. Und Caroline steht mit leeren Händen da. Sie ist die Frau meines Bruders. Und wir haben es miteinander getrieben. Kein Wunder, dass mich das schlechte Gewissen plagt. Und ich weiß, dass es ihr genauso geht. Deshalb ist sie mitten in der Nacht verschwunden, ohne mich zu wecken und sich zu verabschieden. Würde das Mädchen neben mir doch nur das Gleiche tun.
Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht.
VIELZUTUNHEUTE. ALLESKLAR?
Es ist kurz nach fünf. Bestimmt schläft sie, deshalb bin ich auf der sicheren Seite. Ich kümmere mich später um sie … oder morgen.
Heather regt sich. Flatternd öffnen sich ihre Lider.
»Hi.« Sie schenkt mir ein zögerliches Lächeln, das jedoch verblasst, obwohl ich es erwidere. »Ich sollte gehen«, sagt sie.
»Gehen?« Hoffnung keimt in mir auf. »Musst du nicht.« Es gelingt mir sogar, aufrichtig zu klingen.
»Doch. Ich muss zur Arbeit, und das rote Kleid ist wohl kaum passend fürs Büro.« Sie setzt sich auf und schlingt das Laken aus Seide um ihre Kurven. »Es war … schön, Maxim. Wenn ich dir meine Nummer gebe, rufst du mich dann an? Telefonieren ist besser, als über Tinder zu kommunizieren, finde ich.«
»Natürlich«, lüge ich mühelos, ziehe sie an mich und küsse sie zärtlich. Sie lächelt verschämt, steht auf und schlingt das Laken sorgsam um sich, ehe sie ihre Sachen vom Boden aufhebt.
»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, frage ich.
»Uber ist in Ordnung.«
»Ich kümmere mich sofort darum.«
»Okay, danke. Nach Putney.«
Sie gibt mir die Adresse, während ich aufstehe, mir meine Jeans schnappe und mein Handy und das Schlafzimmer verlasse, damit sie sich in Ruhe anziehen kann. Es wundert mich immer wieder, wie Frauen sich am Morgen danach benehmen. Schüchtern und still. Und auch Heather ist nicht länger die laszive, fordernde Sirene von gestern Nacht.
Ich bestelle einen Wagen und trete ans Fenster, um auf die dunkle Themse hinauszublicken. Nach einer Weile erscheint sie neben mir und drückt mir einen Zettel in die Hand. »Meine Nummer.«
»Danke.« Ich stecke ihn in die Hosentasche. »Dein Wagen ist in fünf Minuten da.«
Verlegen und schweigsam steht sie neben mir und lässt den Blick durch den Raum schweifen, überallhin, um mir bloß nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
»Was für eine schöne Wohnung. So luftig«, sagt sie. Das Geplauder ist ein Versuch, die entstandene Peinlichkeit aufzufangen. Ihr Blick bleibt an meiner Gitarre und dem Flügel hängen. »Du spielst?« Sie geht hinüber.
»Ja.«
»Deshalb hast du so geschickte Hände.« Sie runzelt die Stirn, als wäre ihr soeben erst bewusst geworden, dass sie die Worte laut ausgesprochen hat. Ihre Wangen färben sich in einem hinreißenden Roséton.
»Spielst du auch?«, frage ich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
»Nein. Ich habe es gerade mal zum Blockflötenkurs in der zweiten Klasse geschafft.« Erleichterung zeichnet sich auf ihrer Miene ab, wahrscheinlich, weil ich nicht weiter auf ihre Bemerkung über meine Hände eingegangen bin. »Und das alles?« Sie deutet auf den Mac und die Decks in der Ecke.
»Ich trete manchmal als DJ auf.«
»Ehrlich?«
»Ja. In einem Club in Hoxton. Ein paarmal im Monat.«
»Deshalb all die Vinylplatten.« Sie lässt den Blick über die Sammlung in den Regalen an der Wand schweifen.
Ich nicke.
»Und die Fotos?«, fragt sie und zeigt auf die Schwarz-Weiß-Landschaftsaufnahmen im Wohnzimmer, die auf großen Leinwänden aufgezogen sind. »Die sind von mir. Ab und zu stehe ich aber auch vor der Kamera.«
Verwirrt sieht sie mich an.
»Ich arbeite als Model. Hauptsächlich für Zeitschriften.«
»Toll. Du bist ein Mann mit vielen Talenten.« Sie grinst. Offensichtlich kehrt ihr Selbstbewusstsein zurück. Gut so. Diese Frau ist die reinste Göttin.
»Tja, ein Universalgenie eben«, erwidere ich mit einem selbstironischen Lächeln. Ihr Grinsen verfliegt, und sie sieht mich mit gerunzelter Stirn an.
»Stimmt etwas nicht?«, fragt sie.
Was? Wovon redet sie? »Nein. Gar nichts.« Mein Telefon summt. Es ist die Benachrichtigung, dass ihr Wagen vorgefahren ist. »Ich rufe dich an«, sage ich, während sie ihre Jacke nimmt und ich ihr hineinhelfe.
»Nein, tust du nicht. Aber keine Sorge. So ist das nun mal mit Tinder-Bekanntschaften. Ich hatte jedenfalls Spaß.«
»Ich auch.« Ich beschließe, ihr nicht zu widersprechen. »Soll ich dich nach unten begleiten?«
»Nein danke, ich bin schon erwachsen. Wiedersehen, Maxim. Es war nett, dich getroffen zu haben.«
»Gleichfalls … Heather.«
Sie strahlt mich an, sichtlich erfreut, dass ich mir ihren Namen gemerkt habe. Es ist unmöglich, ihr Lächeln nicht zu erwidern. »Schon besser«, sagt sie. »Ich hoffe, du findest, wonach du suchst.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst mich züchtig auf die Wange, dann dreht sie sich um und balanciert auf ihren hohen Absätzen zum Aufzug. Mit gerunzelter Stirn sehe ich ihr hinterher, den Blick auf ihren tollen Hintern in dem roten Kleid geheftet.
Finden, wonach ich suche? Was zum Teufel meint sie damit?
Ich habe doch alles, was ich brauche. Dich hatte ich gerade, morgen wird es eine andere sein. Was könnte ich sonst noch wollen?
Aus irgendeinem Grund ärgert mich die Bemerkung, doch ich verdränge sie und gehe zurück zum Bett, heilfroh, dass sie weg ist. Als ich meine Jeans ausziehe und zwischen die Laken schlüpfe, hallen ihre provokanten Worte in mir nach.
Ich hoffe, du findest, wonach du suchst.
Wo zum Teufel kam das auf einmal her?
Ich habe gerade ein riesiges Anwesen in Cornwall, ein Haus in Oxford, ein weiteres in Northumberland und ein kleineres Haus in London geerbt – aber zu welchem Preis?
Kits lebloses, bleiches Gesicht flammt vor mir auf.
O Gott!
So viele Menschen sind nun von mir abhängig, zu viele, viel zu viele: Hofpächter, Arbeiter auf den einzelnen Anwesen, Personal in vier Haushalten, die Bauunternehmer in Mayfair …
Verdammt!
Kit, du blöder Idiot. Wie konntest du es wagen zu sterben, verdammt noch mal!
Ich schließe die Augen, als in mir ungeweinte Tränen aufsteigen. Heathers Worte kämpfen sich immer wieder in meinen Kopf, bis ich in tiefen Schlaf falle.
Alessia steckt die Hände in die Taschen von Michals altem Anorak, um sie zu wärmen. Den Schal halb übers Gesicht gezogen stapft sie durch den eisigen Regen zu dem Apartmentkomplex am Chelsea Embankment. Heute ist Mittwoch, ihr zweiter Tag ohne Krystyna, und sie muss in die großzügige Wohnung mit dem Flügel.
Trotz des grässlichen Wetters verspürt sie so etwas wie Triumph, weil sie die Fahrt in der überfüllten U-Bahn ohne Panikattacke überstanden hat. Allmählich bekommt sie ein Gefühl dafür, wie London so tickt – zu viele Menschen, zu viel Lärm und viel zu viel Verkehr. Das Schlimmste ist jedoch, dass die Leute kein Wort miteinander wechseln, mit Ausnahme von »Entschuldigung«, wenn sie einen anrempeln, oder »Steigen Sie bitte ein«. Alle verschanzen sich hinter ihrer Tageszeitung, hören über Kopfhörer Musik oder starren auf ihre Handys oder E-Reader, sorgsam darauf bedacht, bloß keinen Blickkontakt mit anderen herzustellen.
An diesem Morgen hatte Alessia Glück und fand einen Sitzplatz in der U-Bahn, doch die Frau neben ihr ließ sich während der ganzen Fahrt am Handy lautstark über ihr misslungenes Date am Vorabend aus. Alessia ignorierte sie und langte nach einer herumliegenden Zeitung, um ihr Englisch zu verbessern, während sie wünschte, sie hätte Kopfhörer, um Musik zu hören und das Gekeife der Frau auszublenden. Nach einer Weile schloss sie die Augen und gab sich einem Tagtraum hin, majestätische, schneebedeckte Berge und üppige Wiesen tauchten darin auf, die Luft erfüllt vom Duft nach Thymian und dem Summen von Bienen. Sie vermisst ihr Zuhause schmerzlich. Die Stille und die Ruhe dort. Sie vermisst ihre Mutter. Und ihr Klavier.
Sie bewegt die Finger in den Anoraktaschen, während sie an ihre Aufwärmübungen denkt. Sie kann die Noten klar und deutlich in ihrem Kopf hören und sie in leuchtenden Farben vor sich sehen. Wie lange ist es her, seit sie das letzte Mal gespielt hat? Beim Gedanken an den Flügel in der Wohnung wächst ihre Vorfreude.
Sie durchquert die Eingangshalle des historischen Gebäudes und geht zum Aufzug, wobei sie Mühe hat, ihre Begeisterung unter Kontrolle zu halten, und fährt in die oberste Etage. Montags, mittwochs und freitags gehört diese wunderschöne Wohnung mit den hohen, luftigen Räumen, den Holzböden und dem Flügel ihr ganz allein. Sie schließt die Tür auf und will die Alarmanlage ausschalten, doch zu ihrer Verblüffung ertönt kein Warnsignal. Vielleicht ist sie ja defekt oder gar nicht eingeschaltet. Oder … O nein! Zu ihrem Entsetzen wird ihr klar, dass der Besitzer zu Hause sein muss. Sie steht vor den großen Schwarz-Weiß-Fotos und lauscht angestrengt auf Geräusche. Nichts.
Mirë.
Nein. »Gut.« Englisch. Denk in Englisch. Wer auch immer hier lebt, muss zur Arbeit gegangen sein und vergessen haben, die Alarmanlage einzuschalten. Sie ist dem Mann noch nie begegnet, aber er muss einen tollen Job haben, weil die Wohnung riesig ist. Wie soll sie sich sonst jemand leisten können? Sie seufzt. Der Mann mag reich sein, aber er ist schrecklich schlampig. Dreimal war sie inzwischen hier, zweimal davon mit Krystyna, aber jedes Mal herrschte das blanke Chaos. Es hat immer Stunden gedauert, um Ordnung zu schaffen und sauber zu machen.
Durch das Oberlicht dringt lediglich das trübe Grau des Morgens, deshalb schaltet Alessia das Licht ein. Augenblicklich erwacht der Kronleuchter über ihr zum Leben und taucht den Eingangsbereich in gleißende Helligkeit. Sie löst ihren Schal und hängt ihn gemeinsam mit dem Anorak in den Garderobenschrank neben der Tür. Sie zieht ihre Stiefel und Socken aus, nimmt die alten Turnschuhe, die Magda ihr gegeben hat, aus der Plastiktüte und schlüpft hinein, dankbar, dass sie trocken sind, sodass ihre Füße bestimmt bald warm werden. Das Top und das T-Shirt sind viel zu dünn für das winterliche Wetter. Kräftig reibt sie sich die Arme, um die Kälte zu vertreiben, während sie durch die Küche in die Wäschekammer geht, wo sie ihre Plastiktüte abstellt. Sie zieht eine unförmige Nylonschürze heraus, die Krystyna ihr überlassen hat, und ein hellblaues Tuch, mit dem sie ihr dichtes, zu einem Zopf geflochtenes Haar in Schach hält. Aus dem Schrank unter dem Waschbecken nimmt sie das Putzzeug, schnappt sich den Wäschekorb, der auf der Waschmaschine steht, und geht in sein Schlafzimmer. Wenn sie sich beeilt, bleibt ihr nach dem Putzen noch etwas Zeit, um sich an den Flügel zu setzen.
Sie öffnet die Tür, bleibt jedoch abrupt auf der Schwelle stehen.
Er ist hier.
Der Mann!
Er liegt mitten auf dem breiten Bett und schläft. Nackt. Wie angewurzelt steht sie da, schockiert und fasziniert zugleich, und starrt ihn an. Die Bettdecke hat sich um seinen Körper verheddert. Trotzdem ist er nackt … splitternackt. Sein Gesicht ist ihr zugewandt, doch verdeckt vom dichten braunen Haar, das ihm wirr in die Stirn fällt. Einen Arm hat er unter das Kissen geschoben, den anderen in ihre Richtung ausgestreckt. Er hat muskulöse Schultern mit einem raffinierten, halb unter der Bettdecke verborgenen Tattoo. Sein Rücken ist leicht von der Sonne gebräunt, verjüngt sich zu schmalen Hüften mit kleinen Grübchen und einem knackigen Hintern.
Sein Hinterteil.
Er ist nackt!
Lakuriq!
Zot!
Seine langen, kräftigen Beine liegen unter der zerknüllten silberfarbenen Tagesdecke und dem schimmernden Seidenlaken, an einer Ecke ragt eine Zehe heraus. Er regt sich. Die Rückenmuskeln zucken, während sich seine Lider flatternd öffnen und leuchtend grüne Augen enthüllen. Alessia stockt der Atem. Bestimmt ist er wütend, weil sie ihn geweckt hat. Kurz begegnen sich ihre Blicke, doch dann dreht er sich auf die andere Seite, nimmt einen tiefen Atemzug und schläft weiter. Erleichtert atmet sie auf.
Shyqyr Zoti!
Zutiefst beschämt geht sie auf Zehenspitzen wieder hinaus und flitzt den Flur entlang ins Wohnzimmer, wo sie das Putzzeug auf den Boden stellt und seine Kleider einzusammeln beginnt.
Er ist hier? Wie kann er jetzt noch im Bett liegen? Um diese Uhrzeit!
Er kommt doch bestimmt zu spät zur Arbeit.
Ihr Blick fällt auf den Flügel. O nein! Sie hat sich so darauf gefreut, spielen zu können. Am Montag hat sie sich nicht getraut, obwohl sie sich nichts sehnlicher gewünscht hat. Heute wäre es das erste Mal gewesen. In ihrer Fantasie hört sie die Klänge von Bachs Präludium in c-Moll. Wütend schlägt sie mit den Fingern die Noten an, während die Melodie in leuchtendem Rot, Gelb und Orange durch ihre Gedanken flutet, in vollkommener Widerspiegelung ihrer Wut. Das Stück erreicht seinen Höhepunkt und strebt dann langsam dem Ende entgegen, als sie ein T-Shirt vom Boden pflückt und in den Wäschekorb befördert.
Wieso muss er ausgerechnet heute hier sein?
Sie weiß, dass ihre Enttäuschung irrational ist. Schließlich wohnt er hier. Aber ihre Ernüchterung lenkt sie von den Gedanken an ihn ab. Dies ist das erste Mal, dass sie einen Mann nackt gesehen hat. Einen nackten Mann mit leuchtend grünen Augen – dasselbe Grün wie der stille, tiefe Drin an einem heißen Sommertag. Sie runzelt die Stirn, will jetzt nicht an zu Hause denken. Er hat sie direkt angesehen. Nur gut, dass er nicht aufgewacht ist. Mit dem Wäschekorb in der Hand tritt sie zu der halb geöffneten Tür zu seinem Schlafzimmer und späht hinein. Ob er immer noch schläft? Das Rauschen der Dusche dringt aus dem Badezimmer.
Er ist also wach!
Kurz überlegt sie, einfach zu gehen, verwirft die Idee jedoch sofort wieder. Sie braucht diesen Job, und wenn sie jetzt verschwindet, feuert er sie womöglich.
Vorsichtig öffnet sie die Tür und lauscht dem melodielosen Summen aus dem Badezimmer. Mit klopfendem Herzen betritt sie eilig das Zimmer und sammelt die Kleidungsstücke ein, die überall auf dem Boden herumliegen, ehe sie sich in die Wäschekammer zurückzieht und sich fragt, wieso ihr das Herz bis zum Hals schlägt.
Sie holt tief Luft. Natürlich hat sie nicht damit gerechnet, ihn hier vorzufinden, im Bett. Damit, dass er nackt war, hat es überhaupt nichts zu tun; nicht mit seinem fein geschnittenen Gesicht, der geraden Nase, den vollen Lippen, den breiten Schultern, den muskulösen Armen. Absolut nicht. Es ist bloß der Schock. Sie hätte nie im Leben damit gerechnet, den Besitzer des Apartments zu sehen, und dann auch noch so …
Ja. Er ist attraktiv.
Alles an ihm. Sein Haar, seine Hände, seine Beine, sein Hintern …
Wirklich attraktiv. Und das klare Grün seiner Augen, als er sie angesehen hat.
Eine dunkle Erinnerung kommt ihr in den Sinn. Von zu Hause. Eisblaue Augen, voller Zorn, der sich über ihr entlädt.
Nein. Nicht an ihn denken!
Sie massiert sich die Stirn.
Nein. Nein. Nein.
Sie ist geflohen. Ist jetzt hier. In London. Sie ist in Sicherheit. Wird ihn niemals wiedersehen.
Sie kniet sich hin, um die Kleidungsstücke in die Waschmaschine zu stopfen, so wie Krystyna es ihr gezeigt hat. Zuerst durchsucht sie die Taschen, zieht Kleingeld und das obligatorische Kondom heraus, das er in all seinen Hosentaschen mit sich herumzutragen scheint. In der Gesäßtasche findet sie einen Zettel mit einer Telefonnummer und einem Namen, Heather. Sie steckt alles in ihre Schürzentasche, gibt eine Waschmittelkapsel in das Fach und schaltet die Maschine ein.
Als Nächstes leert sie den Trockner und stellt das Bügelbrett auf. Sie wird bügeln und so lange in dieser Kammer bleiben, bis er weg ist.
Was, wenn er nicht weggeht?
Und wieso versteckt sie sich vor ihm? Schließlich ist er ihr Arbeitgeber. All ihre anderen Chefs hat sie ebenfalls kennengelernt, und es gab keinerlei Probleme, bis auf Mrs. Kingsbury, die ihr überallhin gefolgt ist und ihre Arbeit kritisiert hat. Sie seufzt. Die Wahrheit ist, dass sie ausschließlich für Frauen arbeitet. Nur er ist ein Mann, und Männer machen ihr Angst.
»Bye, Krystyna!« Seine Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. Die Haustür fällt mit einem leisen Knall ins Schloss, und dann ist es still. Er ist fort. Sie ist alleine. Erleichtert sinkt sie gegen das Bügelbrett.
Krystyna? Weiß er etwa nicht, dass sie Krystynas Platz eingenommen hat? Magdas Freundin Agatha hat das Ganze in die Wege geleitet. Hat sie ihm nicht erzählt, dass jetzt jemand Neues seinen Haushalt macht? Alessia wird gleich heute Abend in Erfahrung bringen, ob ihr Arbeitgeber informiert wurde. Sie bügelt ein weiteres Hemd und hängt es auf einen Bügel, dann geht sie in den Eingangsbereich. Er hat das Geld für sie schon hingelegt. Das bedeutet doch, dass er nicht so schnell zurückkehrt, oder?
Augenblicklich hebt sich ihre Stimmung. Mit neuer Entschlossenheit kehrt sie in die Wäschekammer zurück, holt seine frisch gebügelten Sachen und trägt alles in das Schlafzimmer.
Es ist der einzige Raum, der nicht weiß gestrichen ist. Die Wände sind hier grau, dunkles Holz und ein großer Spiegel mit vergoldetem Rahmen über dem breitesten Bett, das sie je gesehen hat. An der Wand gegenüber hängen zwei Schwarz-Weiß-Fotografien von Frauen, die ihren nackten Rücken der Kamera zugekehrt haben. Sie wendet sich ab und sieht sich um. Was für eine Unordnung! Eilig hängt sie die Hemden in den Schrank, der größer ist als ihr gesamtes Zimmer, und legt die gefalteten Sachen ins Regal. Im Schrank ist es auch fürchterlich unaufgeräumt, und es juckt sie in den Fingern, Ordnung zu schaffen – im Gegensatz zu Krystyna, die es anscheinend einfach hingenommen hat. Aber das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, die sie nicht hat, weil sie unbedingt noch auf dem Flügel spielen will.
Sie zieht die Vorhänge zurück und blickt durch die raumhohen Fenster hinunter zur Themse. Zwar hat es aufgehört zu regnen, doch es ist immer noch trübe – die Straße, die Bäume im Park, alles ist in düsteres Grau getaucht, ganz anders als bei ihr zu Hause.
Nein. Hier ist jetzt ihr Zuhause. Sie ignoriert die aufsteigende Traurigkeit und legt die Sachen aus seinen Hosentaschen in eine Schale auf dem Nachttisch, ehe sie sich an die Arbeit macht.
Als Letztes ist der Mülleimer dran. Sie bemüht sich, nicht auf die vielen gebrauchten Kondome zu achten, während sie den Abfall in die Plastiktüte kippt. Beim ersten Mal war der Anblick schon ein Schock, und jetzt ist es nicht anders. Wie kann ein Mann so viele von den Dingern verbrauchen?
Igitt!
Alessia macht weiter, staubt ab, putzt, poliert, sorgsam darauf bedacht, sich von dem Raum fernzuhalten, den sie nicht betreten darf. Kurz fragt sie sich, was sich wohl hinter der verschlossenen Tür befindet, unternimmt jedoch keinen Versuch, sie zu öffnen. Krystyna hat keinen Zweifel daran gelassen, dass der Raum für sie absolut tabu ist.
Am Ende bleibt ihr eine halbe Stunde. Sie packt die Putzsachen weg und gibt die frisch gewaschenen Sachen in den Trockner, dann zieht sie die Schürze aus, entfernt das Tuch und stopft es in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
Die volle Mülltüte stellt sie neben die Eingangstür, um sie später in die Tonne hinter dem Haus zu werfen. Vorsichtig öffnet sie die Haustür und blickt sich um. Weit und breit ist nichts von ihm zu sehen. Beim ersten Mal hat ihr der Mut gefehlt, weil sie Angst hatte, er könnte zurückkommen. Aber nun, da er sich verabschiedet hat, ist sie entschlossen, das Risiko einzugehen.
Sie kehrt ins Wohnzimmer zurück und setzt sich an den Flügel, wartet kurz, um den Augenblick zu genießen. Schwarz und schimmernd, erhellt von dem eindrucksvollen Kronleuchter über ihrem Kopf. Mit dem Finger streicht sie über die goldfarbene Lyra und die Worte darunter:
Steinway & Sons.
Auf dem Notenhalter liegen ein Bleistift und dieselbe halb fertige Komposition wie am ersten Tag, als sie Krystyna begleitet hat. Sie studiert die Notenblätter, hört die Melodie in ihren Gedanken, traurig, einsam und voller Melancholie, vage und unvollendet in Schattierungen aus Blassblau und Grau. Sie versucht, die tiefgründigen, nachdenklichen Klänge mit dem gut aussehenden nackten Mann im Bett in Einklang zu bringen. Vielleicht ist er ja Komponist. Und dann ist da noch die Regalwand mit den alten Schallplatten, die sie jedes Mal abstauben muss; der Mann ist zweifellos ein leidenschaftlicher Sammler.
Sie starrt auf die Tasten. Wie lange ist es her, seit sie das letzte Mal gespielt hat? Wochen? Monate? Unvermittelt erfasst sie ein tiefer Schmerz, der ihr den Atem raubt, während ihr die Tränen in die Augen steigen.
Nein. Nicht hier. Sie wird jetzt nicht zusammenbrechen. Sie klammert sich am Flügel fest, um das Heimweh und den schweren Kummer zu verjagen, als ihr bewusst wird, dass es mehr als einen Monat her ist, seit sie das letzte Mal auf einem Klavierhocker saß. So viel ist seither passiert.
Sie zittert, dann holt sie Luft und zwingt sich zur Ruhe. Sie lockert die Finger und streicht über die Tasten.
Weiß. Schwarz.
Allein sie zu berühren beruhigt sie. Sie sehnt sich danach, diesen einzigartigen Moment auszukosten, sich in der Musik zu verlieren. Behutsam schlägt sie einen Akkord in e-Moll an, klar und voller Kraft, ein kühnes, lebhaftes Grün wie die Augen des Mister. Hoffnung durchströmt sie. Der Steinway ist perfekt gestimmt. Zum Aufwärmen spielt sie »Le Coucou«. Mühelos fliegen ihre Finger über die Tasten, und sie spürt, wie all die Last, die Angst und der Kummer der vergangenen Wochen von ihr abfallen, als sie in den Farben der Musik versinkt.
Eines der Londoner Häuser der Trevelyans befindet sich auf dem Cheyne Walk, nur einen kurzen Spaziergang von meiner Wohnung entfernt. 1771 von Robert Adam erbaut, diente Trevelyan House meinem Bruder Kit seit dem Tod unseres Vaters als Zuhause. Ich verbinde mit dem Haus viele Kindheitserinnerungen – einige glücklich, andere weniger –, und nun gehört es mir, genauer gesagt, es wird treuhänderisch für mich verwaltet. Wieder holt mich die Realität für einen Moment ein. Ich schüttle den Kopf und schlage den Mantelkragen gegen die beißende Kälte hoch, die weniger von der eisigen Luft zu stammen, sondern vielmehr meinem Innern zu entspringen scheint.
Was um alles in der Welt soll ich mit diesem Haus anstellen?
Zwei Tage sind vergangen, seit ich Caroline zuletzt gesehen habe, und mir ist bewusst, dass sie wütend auf mich sein wird, aber früher oder später muss ich ihr gegenübertreten. Ich stehe vor der Eingangstür und überlege, ob ich tatsächlich meinen Schlüssel benutzen soll – obwohl ich immer einen hatte, käme ich mir wie ein Eindringling vor, wenn ich unangemeldet hereinplatzen würde.
Ich hole tief Luft und klopfe zweimal. Sekunden später geht die Tür auf, und Blake, der Butler der Familie aus einer Zeit, als ich noch nicht einmal geboren war, steht vor mir.
»Lord Trevethick.« Er senkt seinen kahlen Kopf und hält mir die Tür auf.
»Ist das wirklich nötig, Blake?« Ich trete in die Eingangshalle. Wortlos nimmt Blake mir meinen Mantel ab. »Wie geht es Mrs. Blake?«
»Gut, Mylord, wenngleich zutiefst betrübt über die jüngsten Ereignisse.«
»Wie wir alle. Ist Caroline zu Hause?«
»Ja, Mylord. Ich glaube, Lady Trevethick ist im Salon.«
»Danke. Ich finde den Weg.«
»Natürlich. Darf ich Kaffee servieren?«
»Ich bitte darum. Und, Blake, ich sagte ja letzte Woche bereits, dass ein schlichtes Sir völlig genügt.«
Blake hält kurz inne, dann nickt er. »Ja, Sir. Danke, Sir.«
Ich muss mich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Bislang war ich der ehrenwerte und achtbare Maxim Trevelyan, der hier mit »Master Maxim« angesprochen wurde. Der Titel »Lord« galt ausschließlich für meinen Vater, nach seinem Tod ging er dann auf meinen Bruder über. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.
Ich gehe die weitläufige Treppe hinauf und in den Salon, der leer ist bis auf mehrere üppig gepolsterte Queen-Anne-Sofas, die sich seit Generationen in Familienbesitz befinden. Durch den Salon gelangt man in den Wintergarten, von dem aus sich ein spektakulärer Ausblick auf die Themse, den Cadogan Pier und die Albert Bridge bietet. Caroline sitzt, eingehüllt in eine Kaschmirstola, in einem Sessel und starrt aufs Wasser. In der Hand hält sie ein zerknülltes blaues Taschentuch.
»Hi«, begrüße ich sie. Caroline dreht sich zu mir um. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt, ihre Augen sind gerötet und verquollen.
Fuck.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, herrscht sie mich an.
»Caro«, sage ich beschwichtigend.
»Hör mit diesem verdammten Caro auf, du Wichser.« Mit geballten Fäusten steht sie auf.
Scheiße. Sie ist stocksauer.
»Was habe ich jetzt wieder getan?«
»Du weißt genau, was du getan hast. Wieso hast du nicht zurückgerufen? Zwei Tage sind vergangen.«
»Ich hatte eine Menge, worüber ich nachdenken musste. Ich war beschäftigt.«
»Du? Beschäftigt? Du wüsstest noch nicht mal, was das bedeutet, wenn du darüber stolpern würdest und dein Schwanz reinfiele, Maxim.«
Ich spüre, wie ich blass werde, doch dann muss ich lachen.
Caroline entspannt sich ein klein wenig. »Bring mich gefälligst nicht zum Lachen, wenn ich wütend auf dich bin.« Sie zieht eine Schnute.
»Ich kann nur immer wieder über deine Eloquenz staunen.« Ich breite die Arme aus, und sie tritt zu mir.
»Wieso hast du nicht zurückgerufen?« Sie erwidert meine Umarmung, und ich nehme wahr, wie ihre Wut allmählich verraucht.
»Es ist eine ganze Menge, was ich erst mal verdauen muss«, sage ich leise. »Ich musste nachdenken.«
»Allein?«
Ich antworte nicht. Weil ich nicht lügen will. Am Montag war es … äh … Heather, gestern … wie hieß sie noch? Ach ja. Dawn.
Caroline versteift sich und löst sich aus meiner Umarmung. »Das habe ich mir fast gedacht. Ich kenne dich einfach zu gut, Maxim. Und? Wie war sie?«
Ich zucke die Achseln, als sich das Bild von Heathers Mund um meinen Schwanz in meine Gedanken schiebt.
Caroline seufzt. »Musst du dich eigentlich durch sämtliche Betten vögeln?«, sagt sie mit gewohnter Verachtung.
Was soll ich darauf erwidern?
Caroline ist die Einzige, die über meine nächtlichen Aktivitäten Bescheid weiß. Sie hat eine beachtliche Sammlung an unflätigen Ausdrücken für mich auf Lager und hält mir regelmäßig meine Promiskuität vor.
Trotzdem will sie mit mir ins Bett.
»Du kämpfst gegen deine Trauer an, indem du dich mit der nächstbesten Frau einlässt, während ich ein Abendessen mit Daddy und der Stiefkuh ertragen musste. Es war grauenvoll«, mault sie. »Und gestern Abend war ich ganz allein im Haus.«
»Es tut mir leid.« Etwas Besseres fällt mir gerade nicht ein.
»Hast du die Anwälte gesprochen?« Ohne Vorwarnung wechselt sie das Thema und sieht mich direkt an.
Ich nicke. Wenn ich ehrlich bin, ist das einer der Gründe, weshalb ich ihr aus dem Weg gegangen bin.
»O nein.« Sie schnieft. »Du bist so ernst. Kit hat mich nicht bedacht, stimmt’s?« Trauer und Angst spiegeln sich in ihrem Blick.
Ich lege ihr die Hände auf die Schultern und bringe ihr die Nachricht so schonend bei, wie ich nur kann. »Alles ist in den Treuhandfonds geflossen, mit mir als Erben.«
Schluchzend schlägt sie sich die Hand auf den Mund. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Dieser verdammte Mistkerl«, flüstert sie.
»Keine Angst, wir lassen uns etwas einfallen«, murmle ich und ziehe sie wieder in meine Arme.
»Ich habe ihn geliebt«, sagt sie mit leiser, kleinlauter Stimme, einem jungen Mädchen gleich.
»Ich weiß. Ich auch.« Aber natürlich weiß ich, dass sie auch Kits Titel und seinem Reichtum sehr zugetan war.
»Du setzt mich doch nicht auf die Straße, oder?«
Ich nehme ihr das Taschentuch aus der Hand und tupfe die Tränen ab. »Natürlich nicht. Du bist die Witwe meines Bruders und meine beste Freundin.«
»Das ist alles?«, fragt sie mit einem tränenfeuchten, aber bitteren Lächeln. Statt einer Antwort drücke ich ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Der Kaffee, Sir.« Blake steht in der Tür zum Wintergarten.
Sofort lasse ich die Arme sinken und trete einen Schritt von Caroline weg. Blakes Miene ist ausdruckslos, als er das mit Tassen, Milch, einer silbernen Kaffeekanne und meinen Lieblingskeksen – einfache Schokobiskuits – beladene Tablett abstellt.
»Danke, Blake«, erwidere ich und versuche, die Röte nicht zu beachten, die sich fühlbar auf meinem Hals und meinen Wangen ausbreitet.
Frechheit siegt.
»Ist das alles, Sir?«, fragt Blake.
»Ja, für den Moment. Danke«, entgegne ich schärfer als beabsichtigt.
Blake zieht sich zurück, und Caroline schenkt Kaffee ein. Meine Schultern sinken vor Erleichterung herab, und die Stimme meiner Mutter hallt in meinen Ohren wider. Nicht vor dem Personal.
Ich halte noch immer Carolines feuchtes Taschentuch in der Hand. Stirnrunzelnd betrachte ich es, als mir das Fragment eines Traums von heute Nacht in den Sinn kommt. Oder war es heute Morgen? Eine junge Frau? Ein Engel? Vielleicht eher die Heilige Jungfrau Maria oder eine Nonne in blauem Habit, die an der Tür zu meinem Schlafzimmer stand und über meinen Schlaf wachte.
Was zur Hölle soll das bedeuten?
Ich bin nicht religiös.
»Was ist los?«, fragt Caroline.
Ich schüttle den Kopf. »Nichts«, murmle ich, nehme die Kaffeetasse entgegen und reiche ihr das Taschentuch zurück.
»Könnte sein, dass ich schwanger bin«, sagt sie.
Wie bitte? Ich werde blass.
»Von Kit. Nicht von dir. Du bist viel zu vorsichtig.«
Das will ich auch meinen! Ich fühle mich, als würde mir jemand den Teppich unter den Füßen wegziehen.
Kits Erbe!
Verdammt kompliziert.
»Falls es so ist, finden wir bestimmt eine Lösung«, sage ich. Kurz empfinde ich eine innere Befreiung darüber, diese Verantwortung an Kits Nachkommen weitergeben zu können, gleichzeitig überfällt mich unvermittelt ein überwältigendes Gefühl von Verlust.
Der Grafentitel gehört nun mir. Zumindest im Moment.
Was für ein Chaos!
Ich sitze im Taxi und fahre ins Büro, als mein Telefon läutet. Es ist Joe.
»Hey, Kumpel. Wie geht’s?« Er klingt ernst. Natürlich spielt er darauf an, wie ich mich nach Kits tragischem Tod fühle. Seit der Beerdigung habe ich ihn nicht mehr gesehen.
»Ich überlebe.«
»Lust auf eine Runde auf der Planche?«
»Liebend gern, aber leider kann ich nicht, weil ich den ganzen Tag über Termine habe.«
»Earl-Mist?«
Ich lache. »Genau. Earl-Mist.«
»Vielleicht im Lauf der Woche? Mein Degen fängt schon an zu rosten.«
»Abgemacht. Oder vielleicht ein paar Drinks?«
»Perfekt. Ich sehe mal, ob Tom da ist.«
»Cool. Danke, Joe.«
»Ist doch selbstverständlich, Kumpel.«
Ich lege auf. Meine Stimmung ist im Keller. Es fehlt mir, nicht einfach tun zu können, wonach mir der Sinn steht. Wenn ich mitten am Tag eine Runde fechten will, sollte ich das auch tun können. Joe ist mein Fechtpartner und einer meiner engsten Freunde. Stattdessen muss ich ins Büro und zur Abwechslung arbeiten.
Und all das deinetwegen, Kit.
Die Musik im Loulou’s ist ohrenbetäubend. Ich spüre die Bässe in meiner Brust vibrieren. Die Lautstärke verhindert jede ohnehin unnötige Unterhaltung. Ich dränge mich durch die Menge an die Bar. Was ich jetzt brauche, sind ein Drink und ein williger, warmer Frauenkörper.
Die letzten anderthalb Tage habe ich mich durch endlose Termine mit den beiden Treuhandfonds-Managern gequält, die sich um das beträchtliche Investment-Portfolio und die Stiftung kümmern, um die Verwalter unserer Güter in Cornwall, Oxfordshire und Northumberland, um die Londoner Immobilien sowie den Bauunternehmer, der die drei Apartmentkomplexe in Mayfair betreut. Oliver Macmillan, Kits rechte Hand, war ebenfalls dabei. Er und mein Bruder waren Freunde seit ihrer Schulzeit in Eton, danach haben beide an der London School of Economics Wirtschaft studiert, bis Kit nach dem Tod unseres Vaters sein Studium aufgeben musste, um in seine aristokratischen Fußstapfen zu treten.
Oliver ist schmal, mit einem dichten blonden Lockenkopf und Augen von undefinierbarer Farbe, denen absolut nichts entgeht. Er ist skrupellos und ehrgeizig, kennt sich mit Bilanzen aus und schafft es mühelos, das Personal in Schach zu halten, das in den Diensten des Earl of Trevethick steht.
Ich habe keine Ahnung, wie Kit das alles hingekriegt hat, zumal er noch seinen Job als Fondsmanager in der Innenstadt hatte. Aber mein Bruder war ein gerissener Bursche, mit allen Wassern gewaschen.
Und witzig dazu.
Er fehlt mir.
Ich bestelle mir einen Grey Goose mit Tonic. Vielleicht war er deshalb so erfolgreich, weil er Macmillan hinter sich wusste. Ich frage mich, ob Olivers Loyalität groß genug ist, dass er auch mir zur Seite steht, oder ob er meine Naivität schamlos ausnutzen wird, während ich versuche, mit meinen neuen Verantwortlichkeiten und Aufgaben zu jonglieren. Ich habe keine Ahnung, weiß nur eins: Ich traue ihm nicht über den Weg, deshalb nehme ich mir fest vor, im Umgang mit ihm stets vorsichtig und wachsam zu bleiben.