The Mothers – Sie müssen perfekt sein oder der Staat nimmt ihnen ihr Kind - Polly Ho-Yen - E-Book

The Mothers – Sie müssen perfekt sein oder der Staat nimmt ihnen ihr Kind E-Book

Polly Ho-Yen

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Beschreibung

England in der Zukunft: 99 % der Frauen sind unfruchtbar. Nur durch gefährliche medizinische Verfahren ist es ihnen noch möglich, schwanger zu werden. Doch auch dann können sie ihr Mutterglück nicht genießen: Die totalitäre Regierung überwacht alle Eltern und entreißt ihnen beim kleinsten Fehltritt ihr Kind. Daher will Kit keine Kinder – bis sie sich verliebt. Als ihre Tochter Mimi auf die Welt kommt, scheint ihr Glück perfekt. Dann jedoch erhält Kit eine Verwarnung nach der anderen und steht kurz davor, Mimi an den Staat zu verlieren. Aber Kit wird um Mimi kämpfen. Koste es, was es wolle …

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Übersetzung aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger

© Polly Ho-Yen 2021

Published by Arrangement with Polly Ho-Yen

c/o DARLEY ANDERSON LITERARY, TV & FILM AGENCY, Estelle House, 11 Eustace Road, LONDON SW6 1JB, UK

Titel der englischen Originalausgabe:

»Dark Lullaby«, Titan Books, London 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Kerstin Kubitz

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Natasha MacKenzie

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Glossar

DAMALS

JETZT

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DANK

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Für Dan

So rein, wie mir erst meine Liebe war,

Find ich sie heute kaum

Weil sie von Zeit und Jahr

Den Wechsel spürt, genau wie Gras und Baum.

Meineidig schwor zur Winterszeit mein Herz,

Sie sei unendlich – wo doch der Mai sie mehrt!

»Wachstum der Liebe« von John Donne (ins Deutsche übertragen von Werner von Koppenfels)

OSIP – Office of Standards in Parenting – Amt für elterliche Normwerte

IPS – Insufficient Parenting Standard – Nicht erfüllte elterliche Normwerte

Induktion – Fruchtbarkeitsbehandlungen, die eine Frau vornehmen muss, um schwanger zu werden

Extraktion – Kindesabnahme, wenn der leibliche Elternteil oder das Elternpaar laut OSIP-Bescheid die elterlichen Normwerte nicht erfüllt

OUT – inoffizielle Bezeichnung für Frauen, deren Fortpflanzungspotenzial laut OSIP ungenutzt bleibt

DAMALS

Als ich Mimi zum letzten Mal sah, war sie fast ein Jahr alt.

Wir hatten beschlossen, ihren Geburtstag früher zu feiern. Nur Thomas, ich und Thomas’ Mutter Santa, die von unseren Eltern als Einzige noch da war.

Ich hatte einen Kuchen gebacken, der aus kaum mehr als Haferflocken, Butter und Ahornsirup bestand; bei Mimi war gerade erst eine Glutenunverträglichkeit festgestellt worden, und nach dem letzten IPS-Bescheid achtete ich mit an Besessenheit grenzender Sorgfalt auf jeden Krümel, der in ihren Mund gelangte.

Als wir uns an dem Abend im November an unseren kleinen Esstisch setzten, ließ uns wohl alle der Gedanke nicht los, wie wenig Zeit uns noch mit ihr blieb. Wir sprachen nicht darüber. Wir starrten lediglich auf meinen mitleiderregenden, zusammengesunkenen Kuchen und die schief stehende elektrische Kerze in der Mitte, die Thomas eigens gekauft hatte.

Im Grunde wusste ich es zu diesem Zeitpunkt bereits.

Am Morgen des letzten Tages hatte ich mein Gesicht an ihr von feinem Flaum bedecktes Köpfchen geschmiegt, während sie schlafend in ihrem Bettchen lag. Thomas nannte es »Mimis kleiner Heiligenschein«, wenn er die Hand auf die goldenen Härchen legte. Schon in diesem Moment war es mir klar gewesen: Unsere gemeinsame Zeit neigt sich dem Ende zu. Aber es war ein so grauenvoller Gedanke gewesen, so voller Schmerz und Dunkelheit und von einer unbegreiflichen Leere, dass ich nicht wagte, mich ihm zu stellen. Ich hatte ihn verzweifelt beiseitegeschoben und »Alles Gute zum Geburtstag, mein kleines Mädchen« in ihr seidig weiches, winziges Ohr geflüstert.

Wir rückten näher zusammen, als wir »Happy Birthday« anstimmten. Voneinander und von dem schwachen, kalten Licht der Kerze angezogen, als könnte die winzige Glühbirne uns tatsächlich so etwas wie Wärme schenken. Wir klangen erschöpft. Die Worte bargen kein Versprechen mehr, sie machten uns lediglich unsere Unzulänglichkeit bewusst. Happy Birthday, liebe Mimi!

Santa sang lauter als Thomas und ich zusammen, und ihre schrägen Töne überlagerten unsere zitternden Stimmen. Sie war ihrem üblichen Kleidungsstil treu geblieben und trug ein gold-orangefarbenes Tuch über den Schultern, einen Rock, der zu ihren roten Lippen passte, und ein bedrucktes Haarband, das die schwarzen, von vereinzelten silbernen Strähnen durchzogenen Haare zurückhielt. Thomas und ich wirkten im Vergleich wie graue, verschwommene Schatten, die hinter ihr emporragten.

Das Lächeln auf ihren roten Lippen galt allein ihrer geliebten und einzigen Enkeltochter. Sie versuchte, das Beste aus diesen letzten Momenten herauszuholen und sie mit Farben und Licht zu füllen, wie sie es auch auf ihren Leinwänden und in ihrem Leben tat. Sie hatte sich bewusst für die sattesten Farben in ihrem Kleiderschrank entschieden, um die Düsternis und die Traurigkeit zu vertreiben, die unser Leben durchdrungen hatten und uns mit sich rissen. Ich versuchte, ebenfalls zu lächeln, aber es war wie eine Maske, die ständig verrutschte.

Hap-py Birth-day to – you. Warum wird das Lied beim Singen immer langsamer? Die letzten Töne zogen sich unangenehm in die Länge, bis Santa zu klatschen begann und wir wohl oder übel einfielen. Ich betrachtete meine Tochter, die in unserer Mitte saß, und fragte mich dasselbe wie immer: Hatten wir eine Welt erschaffen, in der sie glücklich und sicher war?

Mimi saß kerzengerade in ihrem Stuhl. Er war ein elegantes, nordisches Fabrikat, dessen Größe sich dem Alter des Kindes anpassen ließ und das somit in Mimis erstem Lebensjahr mit ihr gewachsen war. Der Stuhl war mir unwillkürlich ins Auge gestochen, als wir während der Induktion eines der Musterhäuser besucht hatten, und als ich schließlich mit ihr schwanger gewesen war, hatte ich darauf bestanden, einen zu besorgen.

Kurz davor hatten Thomas und ich ein offenes Gespräch über Geld und Besitz geführt und beschlossen, dass diese Dinge uns nicht zu besseren Eltern machen würden. Wir redeten uns ein, dass ein Kind vor allem Liebe brauchte. Doch als ich den Stuhl aus goldbraunem Holz mit den sanft geschwungenen Linien bemerkt hatte, hatte ich mir geschworen, einen für sie zu kaufen. Ich hatte bereits vor mir gesehen, wie unsere Tochter beim Abendessen darin saß und unser Dreiergespann komplett machte. Der Stuhl hatte ihr gehört, bevor sie die Augen geöffnet und den Atem der Welt auf ihrer Haut gespürt hatte. Er war da, lange bevor sie fähig gewesen war, selbstständig zu sitzen und zu essen.

»Los, puste die Kerze aus, Meems!«, rief Santa. »Wünsch dir was!«

Mimi war wie verzaubert von dem Kerzenlicht, doch dann huschte ihr Blick zu mir.

»Schon gut, Schätzchen«, erklärte ich aufmunternd und beugte mich zu ihr. »So macht man das an seinem Geburtstag.« Ich blähte übertrieben die Wangen auf.

Thomas tat es mir nach, und während wir uns für sie zum Affen machten, lachten und so taten, als würden wir die Kerze gemeinsam auspusten, vergaßen wir es vermutlich für einen Augenblick. Ich glaube, wir vergaßen, warum wir uns ganze zweiundzwanzig Tage vor ihrem eigentlichen ersten Geburtstag hier versammelt hatten.

Mimi betrachtete unsere Gesichter, und einen Moment lang sah es aus, als wollte sie es uns nachmachen, die rosigen Wangen aufblasen und die Plastikkerze auspusten.

»Du schaffst es, Mimi!«, rief ich in einem Anfall plötzlicher Begeisterung. Eine lange vergangene Erinnerung stieg in mir hoch. Ich sah mich an Mimis Stelle, und meine Schwester Evie saß neben mir. Vor mir stand ein Geburtstagskuchen, und ein Gefühl von Sicherheit und der absolute Glaube an alles, was meine Schwester tat und sagte, erfüllten mich. »Wünsch dir was! Du schaffst es, Kit!«, rief sie mir eifrig zu, genauso wie ich es gerade bei Mimi getan hatte. Gerade so, als könnte sie sich kaum im Zaum halten. Ich dachte, ich müsste es tun, weil Evie es mir befahl. Dass mein Wunsch in Erfüllung gehen würde, weil sie es sagte. Aber in den kurzen Momenten, in denen ich überlegte, hatte ich die Kerze bereits ausgeblasen und dabei vergessen, mir etwas zu wünschen.

Mimis Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, und da, direkt in ihren Augen, sah ich sie.

Pure Freude.

Ihre braunen Augen leuchteten und wurden größer, während das Licht der Kerze in ihnen tanzte. Oder war es das Licht, das aus ihrem Inneren drang? Ich erlaubte mir, darin zu versinken, und dachte einen Moment lang: Ja. Ja, meine Tochter ist glücklich. Alles ist gut. Und nein, ich brauche nicht mehr – absolut gar nichts – als diesen einen Moment, in dem sie so großes Glück empfindet.

Sie beugte sich vor und betrachtete blinzelnd die LED-Kerze, als verstünde sie tatsächlich, dass sie sie auspusten sollte.

»Mach sie aus«, zischte ich Thomas zu, doch die Kerze brannte stur noch einen Moment länger, als sie sollte. Ich merkte aus dem Augenwinkel, wie Thomas neben mir in Panik geriet und die Fernbedienung der Kerze nicht mehr nur drückte, sondern darauf einschlug. Im nächsten Augenblick erlosch das Licht.

Ich dachte erneut an die Kerze, die ich an meinem Geburtstag ausgepustet hatte, ohne mir etwas zu wünschen. Die Flamme hatte zu zittern begonnen und sich von mir weggeneigt, als ich gepustet hatte, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Rauch war aufgestiegen, und trotz der beißenden Schärfe war es ein angenehmer Duft gewesen, den ich sehr gemocht hatte. Ich schob die Erinnerung beiseite. Das Risiko einer echten Kerze auf Mimis Geburtstagskuchen war zu hoch, ganz egal, wie sanft das Licht sein mochte.

Ich streckte die Hand in Thomas’ Richtung und spürte zum ersten Mal an diesem Tag so etwas wie Zufriedenheit. Als hätte er denselben Gedanken gehabt, griff auch seine Hand nach meiner, und unsere Finger trafen sich in der Mitte und umschlangen einander erbittert. Mimi grinste triumphierend, den Mund vor Begeisterung weit aufgerissen, und zeigte ihre ersten Zähnchen.

Das war der Moment – der exakte Moment –, in dem es an der Tür klopfte.

JETZT

Ein Klopfen am Autofenster reißt mich aus dem Schlaf, und ich schrecke hoch.

Mein Nacken schmerzt, die Lichter der Ladestation sind gleißend hell, und es liegt ein geschäftiges Summen in der Luft.

Thomas’ Gesicht taucht auf, die Augen fragend aufgerissen. Sein Mund hinter der Scheibe formt die Worte: Willst du auch etwas?

Ich schüttle den Kopf, und er wendet sich ab. Ich sehe zu, wie er mit schnellen, gleichmäßigen Schritten über den Vorplatz eilt. Wir dürfen nicht zu lange hierbleiben.

Ich bin noch nicht ganz wach und vergesse einen Moment lang, was wir getan haben. Warum wir hier sind. Dann drehe ich mich plötzlich und ruckartig nach hinten und werfe einen Blick auf den Rücksitz. Mein Nacken schreit vor Schmerz über die peitschende Bewegung auf, die gar nicht notwendig ist, weil ich weiß, was ich sehen werde.

Die grauen Sitze sind leer, die Sicherheitsgurte hängen nutzlos herab.

Ernüchtert drehe ich mich zurück nach vorne. Ich sehe Thomas’ Kopf über den Eimern mit den halb verwelkten Blumen und im Licht der leuchtenden Sphären, die sich über ihm drehen. Er betrachtet etwas auf einem der Regale, als wollte er es mitnehmen, doch dann richtet er sich auf, folgt dem Hinweisschild zu den Toiletten und verschwindet.

Ein Auto biegt in die Parkbucht neben uns. Ein Mann am Steuer, eine Frau auf der Rückbank. Ich spüre das Unbehagen der beiden. Er ringt die Hände, während sie reden, und massiert sich anschließend die Schläfen. Sie sitzt nach vorne gebeugt, verbogen wie der Ast eines alten Baumes. Ich erkenne den Umriss eines Kindersitzes neben ihr. Deshalb sitzt sie also auf der Rückbank.

Ich recke den Kopf und versuche, einen Blick auf das Baby zu erhaschen. Wir haben keine Kinder gesehen, seit wir das Haus verlassen haben, und mir wird gerade bewusst, wie sehr ich mich danach sehne. Ein winziges, unverbrauchtes Gesicht; das Köpfchen im Schlaf zur Seite gesackt. Ein kleines Wesen, das tapsig die ersten Schritte wagt. Mich überkommt das dringende Verlangen nach einem Beweis für ihre Existenz.

Die Frau fängt meinen Blick auf, und ich wende mich eilig ab und gebe vor, die sich wandelnden Sphären zu beobachten. Als ich einen erneuten Blick in ihre Richtung wage, starrt sie mich immer noch an. Genau wie ihr Mann. Sie fragen sich, warum ich mich für sie interessiere. Sie vermuten, dass ich sie nicht nur ansehe, sondern beobachte. Prüfe. Bewerte.

Im nächsten Augenblick fahren sie los, ohne ihr Auto geladen zu haben. Das Fahrzeug schießt ruckartig nach vorne und nimmt die Kurve ein wenig zu eng. Ein wenig zu schnell. Ich würde ihnen gerne nachrufen, dass es keinen Grund zur Flucht gibt, doch zugleich bin ich froh, dass sie argwöhnisch sind, und will sie mahnen, jederzeit auf der Hut zu sein.

Ich krümme die Schultern. Mein Rücken ist steif von der langen Reise. Ich würde den Schmerz, der zwischen meinen Wirbeln sitzt, gerne abschütteln, aber ich trage ihn mit mir. Er ist tief in mir verwurzelt.

Die Sphären ändern sich erneut. Sie flackern, und weitere Nachrichten werden angezeigt. Ich halte den Blick auf sie gerichtet, um mich von mir selbst abzulenken. Von meinen Gedanken, die sich endlos im Kreis drehen. Ich gähne laut, und die Lider werden mir schwer.

Da sehe ich es.

Der Anblick brennt sich mir ein. Ich spüre ihn wie ein Gewicht auf der Brust, das immer schwerer wird. Wie einen Kloß im Hals, der wächst und mir den Atem raubt. Alles, was ich zu wissen glaubte, verschwindet.

Ich sehe es immer wieder, auch nachdem sich die Sphären erneut geändert haben und nun Statistiken präsentieren.

Ich sehe es, als Thomas auf das Auto zukommt, und ich schließe eilig die Augen und lehne den Kopf zurück, als wäre ich wieder eingeschlafen.

Ich sehe es, während ich höre, wie er seinen Einkauf raschelnd im Handschuhfach verstaut.

Sein Finger gleitet über meine Wange. Er glaubt, dass ich schlafe.

Seine Lippen hauchen einen Kuss auf meine Schläfe.

Ich höre, wie er sagt: »Ich liebe dich.«

Aber ich reagiere nicht. Ich tue so, als würde ich schlafen. Ich stelle mich tot.

Ich kann nur noch an das denken, was ich gerade gesehen habe.

Für ihn ist kein Platz mehr.

DAMALS

Wir lernten uns auf Jakobs Namensfest kennen.

Familien und Freunde hatten sich in Evies und Sebs Garten versammelt, tranken Limonade und warteten darauf, dass das Barbecue begann.

Jakob trug einen Strampelanzug mit orangefarbenen Löwen und schlief bereits den ganzen Nachmittag in Evies Armen. Jedes Mal, wenn Evie und Jakob dicht gefolgt von Seb durch den Garten spazierten, teilte sich die Menge, um sie durchzulassen, und die Gäste senkten respektvoll die Stimmen. Es verlieh der formlosen Zusammenkunft eine seltsame Feierlichkeit.

Jakob füllte den Strampler noch nicht ganz aus. Mit vier Wochen wirkte er immer noch so winzig, dass ich mich fragte, warum sie das Namensfest derart kurz nach der Geburt geplant hatten. Bis Evie mir erklärte, dass das OSIP solche gesellschaftlichen Zusammenkünfte als Möglichkeit nutzte, um festzustellen, wie die jungen Eltern zurechtkamen. Es galt, ein Gleichgewicht zwischen sozialer Isolation und der nötigen Abgrenzung zum Schutz der physischen Gesundheit des Babys zu finden.

Ich hörte das Flüstern, als ich mich durch die Gästeschar schob.

Sie sieht gut aus, nicht wahr? Wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat …

Wie viele Induktionszyklen waren es am Ende?

Ich habe gehört, dass sie es beinahe nicht geschafft hätte.

Ich hörte nur die Hälfte des Gesprächs, und als ich mich umdrehte, konnte ich nicht sehen, wer gesprochen hatte. Einen Moment lang sah ich Evie vor mir, blass und verloren, wie sie beinahe in ihrem Krankenhausbett verschwand. Ich schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden.

Eine ältere Frau, die ich nicht kannte, starrte Jakob noch hinterher, als die beiden schon lange weitergegangen waren. Ihr schien nicht bewusst, dass sie die Hände nach Mutter und Sohn ausstreckte, als stellte sie sich vor, ihn in ihren eigenen Armen zu halten. Doch dann erhob der Mann neben ihr seine laute, durchdringende Stimme, und ihre Hände sanken nach unten.

»Ich meine, wer hätte das gedacht!«, dröhnte er. »Wir hatten Angst vor Atombomben, Überbevölkerung und dem Klimawandel … aber doch nicht vor so etwas. Unfruchtbarkeit. Und noch immer ist völlig unklar, warum es dazu gekommen ist.«

»Ich habe neulich gehört, dass es etwas mit der Umweltverschmutzung zu tun haben könnte. Mit dem Mikroplastik«, erwiderte die ältere Frau. Sie redete leise, als würde es sie ermüden, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

»Aber wenn es damit zu tun hätte, sollte es dann nicht besser werden, nachdem die Umweltverschmutzung eingedämmt wurde? Wir stehen jetzt seit Jahren bei einer Unfruchtbarkeitsquote von 99,98 Prozent.«

»Ich habe es nur gehört«, wiederholte sie in demselben müden Tonfall.

Dad stand etwas abseits und beugte sich über die Blumenbeete. Eine Hand steckte in seiner Hose, mit der anderen umfasste er ungelenk sein Glas. Er trug einen Mantel, obwohl alle anderen Gäste in T-Shirts und dünnen Baumwollhemden gekommen waren. Ich wusste, dass er sich noch unwohler fühlte als sonst, wenn die Sprache auf die wachsende Unfruchtbarkeit kam. Er sah aus, als würde er bald das Weite suchen. Ich machte mich auf den Weg zu ihm, doch da vernahm ich das sanfte Klingen eines Glases, das jemand mit einem Löffel angeschlagen hatte.

Seb stand mit erhobenem Drink vor den Gästen und machte sich bereit. Er nickte jemandem zu, der weiter hinten stand. Da er größer war als alle Anwesenden, fiel es ihm leicht, die Gästeschar zu überblicken. Seine Haare waren eine Spur zu lang, und ich sah vor mir, wie Evie vor der Party versucht hatte, sie zu bändigen.

»Ich möchte nur ein paar Worte sagen«, begann er, zuckte die Schultern und breitete mit einem ungezwungenen Lächeln die Arme aus, als wollte er uns mitteilen, dass es nun mal nicht anders ging. »Ich werde mich kurzfassen, das habe ich Evie versprochen.«

Sie tauschten einen verschwörerischen Blick, und Evies dunkle Augen blitzten liebevoll.

»Als Evie und ich beschlossen, gemeinsam mit der Induktion zu beginnen, hatten wir keine Ahnung, wie es enden würde.«

Mein Blick huschte unwillkürlich von Seb zu Evie. Sie stand stocksteif ein paar Schritte von ihm entfernt und drückte Jakob an sich, aber wenn ihre Hände frei gewesen wären, hätte sie wohl an ihrem Kleid herumgenestelt. Sie wollte ganz offensichtlich nicht, dass Seb diese Rede hielt.

Ich sah, wie sie kaum merklich zusammenzuckte, als er »Induktion« sagte, und sie starrte entschlossen auf Jakob hinunter, als könnte sie sich in seinem Gesicht verlieren. Wir kannten das Wort schon seit sehr jungen Jahren; hatten es in der Schule gelernt. Ich hörte immer noch die gesichtslose Stimme aus den Videos, und ihre Worte hallten in meinen Ohren wider: »Induktion ist der einzige Weg, um die winzige noch vorhandene Menge an brauchbaren Eizellen und Spermien zusammenzuführen.« Eisprungdiagramme, grafische Darstellungen von Embryonenstadien und Ausdrücke wie »Eizellenintensivernte« waren in meinem Kopf herumgeschwirrt und hatten mir damals schon Angst gemacht, obwohl ich noch nicht wirklich verstand, was das für uns zu bedeuten hatte.

Ich erinnerte mich, wie Evie und ich als Teenager versucht hatten, Stück für Stück einen Sinn darin zu finden. Etwas zu verstehen, das zu groß und zu fremdartig schien, um es zu begreifen. Erst mit der Zeit war mir klar geworden, dass es um unsere eigenen Körper ging. Dass diese abstrakten Diagramme in Wahrheit etwas mit uns zu tun hatten.

Je älter wir wurden, desto sachkundiger wurden Evies Bemerkungen zum Thema Induktion, doch als sie dann selbst damit begann, klang sie mit einem Mal abgebrüht. »Es ist ein Zahlenspiel«, erklärte sie mir müde nach einem weiteren erfolglosen Zyklus und kurz vor dem nächsten Versuch. Sie wollte nicht darüber reden, dass die Wirkstoffkombinationen, die zur Stimulation der Eierstöcke verabreicht wurden, oft zu Überreaktionen führten, die wiederum Blutgerinnsel, dauerhafte Organschäden und Herzinfarkte verursachten. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir in der Schule etwas darüber erfahren hätten. Nachdem Evie mit der Induktion begonnen hatte, hatte ich mich selbst schlaugemacht und heimlich die Beipackzettel ihrer Medikamente gelesen. Die in harmloser kleiner Schrift aufgelisteten Nebenwirkungen machten mich benommen. Ich wollte es nicht glauben. Ich begrub das Wissen tief in mir, doch seit damals hatte mich das Unwohlsein nicht mehr losgelassen.

Ich zwang mich, mich wieder auf Seb zu konzentrieren, als könnte ich dadurch die Schatten aus meinen Gedanken verbannen.

»Aber ich hatte immer, die ganze Zeit über, ein Bild vor Augen, von dem ich nicht einmal Evie erzählt habe. Ich sah vor mir, wie wir unser Kind den Menschen vorstellen, die uns auf dieser Welt am meisten bedeuten. Egal, wie hart es war, dieses Bild ließ mich durchhalten. Und jetzt, wo ich hier stehe und euch Jakob vorstelle, unseren wunderschönen Sohn, ist es, als würde ein Traum …«

Sebs Stimme brach, und er verstummte.

Zuerst klang es, als würde er lachen. Es folgte nervöses Gekicher da und dort, während seine Schultern zu beben begannen und er das Gesicht verzog. Er schaffte es nicht, das Beben zu unterdrücken, das von ihm Besitz ergriff. Wir sahen zu, wie sein Körper in sich zusammenfiel, als hätte jemand die Fäden, die ihn aufrecht gehalten hatten, mit einem einzigen, grausamen Hieb durchtrennt. Evie eilte auf ihn zu, das Gesicht sorgenvoll verzerrt, und als sie ihn in die Arme schloss, erklang ein unverkennbares Schluchzen. Es konnte unmöglich zu dem Mann gehören, der vor wenigen Momenten mit seiner kleinen Ansprache begonnen hatte.

Wie zur Antwort hallte ein kollektives Stöhnen, ein vereintes Klagen durch den Garten. Es klang beinahe enttäuscht. Als ob ein solches Ende nicht vorgesehen gewesen wäre. Mehrere Leute eilten Evie hinterher zu Seb, während wir übrigen uns verlegen im Hintergrund hielten und versuchten, nicht zu starren, gleichzeitig aber unfähig waren, den Blick von Sebs tränenüberströmtem Gesicht abzuwenden.

»Schon gut, mir geht es gut.« Seine Worte gingen beinahe in den wohlwollenden Wünschen und Beruhigungen der umstehenden Gäste unter.

Jemand, an den ich mich mittlerweile nicht mehr erinnern kann, hob sein Glas und rief: »Auf Evie und Seb! Und auf den kleinen Jakob!«, aber er wurde zischend zum Schweigen gebracht. »Nicht jetzt«, erklang ein böses Flüstern. Danach unterhielten sich alle nur noch mit gedämpfter Stimme, als wäre es ungehörig, lauter zu reden.

Ich bewegte mich von einer Gruppe zur nächsten, füllte Gläser und bot den Gästen Kartoffelchips an, die jedoch keinen Anklang fanden. Man war sich einig, dass Seb vor lauter Glück, Vater zu sein, seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Eltern von Neugeborenen litten unter akutem Schlafmangel. Niemand war Herr seiner Sinne, wenn er nächtelang nicht mehr als zwei Stunden am Stück schlief.

»Das Essen ist bald fertig«, trällerte Evie, als die ersten Gäste Anstalten machten, sich zu verabschieden. Der Einzige, der gehen durfte, ohne dass es einen Einwand gab, war Dad, und der war kurz nach Sebs Rede verschwunden. Tränen hatten ihn immer schon in die Flucht geschlagen.

Evie stand am Grill und hielt ein langes silbernes Küchenmesser in der Hand, um damit die Plastikpackungen mit den rohen rosa Würstchen zu öffnen. Es wirkte viel zu groß und bedrohlich für diese Aufgabe. Sie reichte Jakob an eine alte Arbeitskollegin weiter, eine matronenhafte Frau namens Deborah, die nicht weit entfernt in einem Liegestuhl saß. Jakob schlief auf Deborahs Brust weiter, ohne sich zu rühren, trotzdem ließ Evie ihn keine Sekunde aus den Augen. Ich wollte ihr gerade das Messer abnehmen, als ein unbekannter Mann mit sehr kurzen dunklen Haaren eine Hand auf Evies legte und mir zuvorkam.

Evie überließ es ihm dankbar. Sie trat zurück und sah sich im bevölkerten Garten um, als suchte sie etwas oder jemanden.

»Ist alles okay?«, fragte ich. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Als Evie sah, dass ich es war, ließ sie zu, dass ihr Lächeln ins Wanken geriet.

»Ja, alles okay. Mir geht es gut. Es ist vermutlich gar nichts …«

»Sag es mir«, erwiderte ich mit schwesterlicher Direktheit.

»Es ist wegen Jakob. Wir haben heute die erste Warnung vom OSIP erhalten. Kein IPS-Bescheid, nur eine Warnung. Aber es hat uns aus der Bahn geworfen. Vor allem Seb.«

»Wann? Was ist passiert?«

Das OSIP, das Amt für elterliche Normwerte, gab es seit der Einführung der Induktion. Die Mitarbeiter des Amtes waren im Grunde Polizisten, die Eltern überwachten und sicherstellten, dass die Bedürfnisse jedes Kindes auf höchstem Niveau erfüllt wurden. Vernachlässigung und Misshandlungen gehörten der Vergangenheit an. Das OSIP hatte weitaus mehr Macht und Einfluss als sein Vorgänger, das Sozialamt. Mittlerweile lebten Eltern in ständiger Angst vor einem IPS-Bescheid und der letztlichen Extraktion des Kindes aus ihrer Obhut.

»Es war nichts. Wir haben ihn zurück ins Auto gesetzt, nachdem wir das Essen für heute eingekauft hatten. Seb bereitete den Sitz vor, und ich hielt Jakey. Als Seb so weit war, gab ich ihm Jakey, und vielleicht lag es daran, dass Seb zur Hälfte im Auto lehnte, als er nach ihm griff, jedenfalls bekam er ihn nicht richtig zu fassen, und da passierte es.«

»Hat er ihn fallen lassen?«

»Nein! Das nicht. Er hat sein Genick nur nicht ordnungsgemäß gestützt. Das hat zumindest die Beamtin gesagt.«

»Das ist doch nicht der Rede wert«, stimmte ich ihr zu. »Fandest du es okay?«

»Na ja …« Evie zögerte. »Ich glaube schon. Bis die Beamtin herbeieilte und uns darauf aufmerksam machte. Ich meine, vermutlich hätte er das Genick besser stabilisieren können.«

»Denk am besten nicht mehr darüber nach«, sagte ich. »Das war eine einmalige Sache.«

»Das hoffe ich«, erwiderte Evie. »Seb macht sich große Vorwürfe, aber mir ist es auch nicht aufgefallen. Es war also genauso meine Schuld. Das hat auch die Beamtin gesagt. Dass ich mich … Wie war noch mal das Wort? … Dass ich mich mitschuldig gemacht hätte.«

»Wie war sie so? Die Beamtin, meine ich.«

»Sie sah aus wie eine ganz normale Frau, an der man auf der Straße vorbeigeht, ohne sie zu bemerken. Kurze Haare, kein Make-up. Ein bisschen … altbacken. Ich dachte, sie würden Anzüge und Sonnenbrillen tragen, sodass man sie sofort erkennt, aber sie war vollkommen unscheinbar. Normal. Durchschnittlich.«

»Stell dir vor, du müsstest diesen Job machen.« Ich erschauderte. »Warum tut man sich so etwas an?«

»Das war es ja. Sie schien stolz darauf zu sein. Ich spürte, dass sie tatsächlich das Gefühl hatte, uns zu helfen, als sie uns erklärte, dass Seb Jakob falsch stützte. Sie schien zufrieden mit sich, dass es ihr aufgefallen war. Als würde sie uns einen Gefallen tun.«

»Wenn es tatsächlich nur eine Verwarnung war und nichts dabei herauskommt, dann hat sie das vielleicht tatsächlich getan. Jetzt wisst ihr, dass ihr superwachsam sein müsst.«

»Ja«, sagte Evie und lächelte traurig. »Das wird schwerer, als ich dachte.«

»Du schaffst das«, versicherte ich ihr.

»Vielleicht«, sagte Evie. »Vielleicht auch nicht.« Sie wischte sich aufgebracht eine Träne von der Wange.

»So darfst du nicht denken. Denk an die Induktionen. Daran, was du gelernt hast. Was du durchgemacht hast. Du bist eine wundervolle Mum. Und Seb kümmert sich hervorragend um Jakob. Jakey ist ein glücklicher kleiner Junge.«

Evie schluckte. Ihr Gesicht glühte, so sehr bemühte sie sich, nicht zu weinen. Rote Flecken zogen sich vom Hals bis über die Schlüsselbeine.

»Hör auf damit«, meinte sie sanft.

»Wie wär’s, wenn du dich auf die Suche nach Seb machst? Ich kümmere mich inzwischen ums Essen.« Ich deutete auf den dunkelhaarigen Mann, der ihr das Messer abgenommen hatte. Er hatte die Würstchen aus den Verpackungen befreit und auf einem Teller zu einer Pyramide gestapelt. Gerade war er damit beschäftigt, weiße, würfelförmige Anzünder auf der Holzkohle zu verteilen. »Wir sorgen dafür, dass die Meute satt wird. Wer ist der Kerl am Grill?«

»Thomas«, antwortete Evie. »Ein Arbeitskollege von Seb.«

Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders und stieß stattdessen die Luft aus. Seufzend. Leer.

JETZT

Thomas schläft neben mir.

Er liegt zur Seite gedreht, das Gesicht zur nichtssagenden weißen Wand, an der lediglich das verschwommene Aquarell einer Gartenlandschaft hängt. Wenn er jetzt die Augen öffnen würde, wäre das Bild das Erste, was er sieht.

Die Formen verlaufen ineinander. Langweilige grüne Büsche werden zu Blumen und schließlich zu einer Gestalt – einem Gärtner in übergroßen Stiefeln und Schlapphut, der sein Gesicht verdeckt. Das Bild wurde aufgrund seiner Ausdruckslosigkeit, seiner blassen Farben und der undeutlichen Linienführung ausgewählt, trotzdem macht es mich wütend.

Als würde es mich drängen, das Leben auf diese Art wahrzunehmen, durch einen Nebel, mit weich gezeichneten Ecken und Kanten. Unscharf und konturlos, um nur ja zu vergessen, wie dornenreich es ist.

Thomas’ Atem geht gleichmäßig. Ich bin mir sicher, dass er tief und fest schläft, wobei ich das vorhin auch dachte – bis ich mich bewegte und er sich zu mir umdrehte und die Hand nach mir ausstreckte. Schon bald wird ein neuer Morgen anbrechen, auch wenn es noch stockdunkel ist. Es war beinahe Mitternacht, als wir hier ankamen, und danach brauchte Thomas einige Zeit, um runterzukommen. Er wollte reden und schlief später lange nicht ein. Ruhelos warf er sich hin und her, und seine Füße traten gegen die Laken, als versuchte er, sich daraus zu befreien. Erst jetzt bin ich überzeugt, dass er wirklich schläft.

Ich schiebe ein Bein unter dem weißen Laken hervor, und als Thomas sich nicht rührt, schlage ich es zurück. Das Bettzeug ist ein wenig kratzig vom vielen Waschen. Ich tappe leise aus dem Schlafzimmer und zur Treppe. Erst als ich unten angekommen bin, wage ich, Luft zu holen.

Die Zimmer sind mir fremd, aber ich bin den Weg seit unserer Ankunft so oft in Gedanken durchgegangen, dass ich das Gefühl habe, die Wohnung gut zu kennen. Ein ums andere Mal bin ich um die Ecke gegangen und die Treppe nach unten geschlichen, um leise die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen, während ich im Bett gelegen und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet habe.

Nach unserer Ankunft erkundete Thomas jeden Zentimeter der Maisonettewohnung und drückte auf seinem Weg alle Lichtschalter, als könnte er die Räume dadurch einladender und vertrauter machen. Die Wohnung steht auf der Liste mit den sicheren Unterschlüpfen, in denen wir unterkommen können, und sie ist genauso seelenlos wie die anderen. Ein wenig zu sauber, mit straffgezogenen Laken, ohne eine Spur von Leben oder Liebe.

Hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich das schmuddelige Bett in unserem Zuhause nicht verlassen. Dort, wo eine feine Staubschicht auf den Gardinenstangen liegt und sich gelegentlich ein Nachtfalter einfindet.

Aber jetzt sind wir hier an diesem weißen, hellen Ort.

Räume ohne Erinnerungen.

Wände ohne Fotografien.

Ich habe eine ganze Wand mit Familienfotos dekoriert, als ich schwanger war. Mimi wand sich und hickste in meinem Bauch, während ich Löcher bohrte, Rahmen aufhängte und alte Fotos von Mum, Dad und Evie ausgrub, die ich bereits vergessen hatte. Ich fand kein Foto von Maia, meiner kleinen Schwester, die als Baby starb, auch wenn ich mich erinnern kann, einmal eines gesehen zu haben – ein winziges, verschrumpeltes Gesicht, eingewickelt in weiße Laken. Es gab ein neues Foto von Santa und Thomas, auf dem sie nicht in die Kamera blickten, sondern nichts ahnend miteinander lachten und die Köpfe zusammensteckten.

Meine Familie war außergewöhnlich, denn es gab sowohl Evie als auch mich, und Geschwister waren mittlerweile eine Seltenheit. Meine Eltern gehörten aufgrund eines unbegreiflichen Zufalls zu dem winzigen Prozentsatz der Bevölkerung, der sich auf natürliche Art fortpflanzen konnte. Einige Jahre vor Evies Geburt begannen sich die Fälle von Unfruchtbarkeit zu häufen, und als Mum mit uns schwanger war, unterzogen sich bereits mehr oder weniger alle Frauen, die Kinder haben wollten, einer Induktion.

Evie und ich waren eine Seltenheit, weil es zwei von uns gab, aber wir waren außergewöhnlich, weil wir auf natürlichem Weg gezeugt worden waren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich die Wahrheit erfahren habe, aber ich weiß noch, dass Dad uns auftrug, nicht darüber zu sprechen. Er meinte, andere Leute würden sich dabei unwohl fühlen.

Unwohl. Ich erinnere mich, wie ich das Wort laut wiederholte und mich dabei immer wieder verhaspelte. Wie alt ich damals war, weiß ich nicht mehr.

Mit Mimi im Bauch stand ich vor der Wand mit den Familienfotos und ließ den Finger über die Gesichter meiner Mutter und meines Vaters gleiten, Hand in Hand an ihrem Hochzeitstag. Sie sahen aus wie jedes andere frisch verheiratete Paar im Konfettiregen, so außergewöhnlich und dennoch gewöhnlich in ihrer Freude. Man konnte von dem Foto noch nicht auf das Wunder schließen, das ihnen widerfahren würde. Darauf, dass sie es irgendwie schaffen würden, sich ohne Hilfe fortzupflanzen.

Später wandte ich mich den anderen Fotos zu und erzählte Mimi von den Menschen darauf und wie sie so waren. Nach ihrer Geburt wurde es zu einem festen Bestandteil unseres Tagesablaufs, dass wir vor dieser Wand standen und ich ihr immer wieder dasselbe erzählte, in einer Singsang-Stimme, die ich nicht ablegen konnte, sosehr ich mich auch bemühte.

Ich sehe die Fotos deutlich vor mir, während ich hier vor der beigen, leeren Wand unserer vorübergehenden Bleibe stehe. Und wie durch Zauberhand ist plötzlich alles wieder da, und der seelenlose Raum verwandelt sich in das Zuhause, das Thomas und ich zusammen erschaffen haben. Ich blicke aus dem Kinderzimmer in den Garten und auf den Maulbeerbaum, den wir bei unserem Einzug gepflanzt haben. Mimi und ich verbrachten viel Zeit dort draußen und beäugten seine dürren Äste, die uns wie lange, dünne Finger zu sich riefen. Ich sehe die gesteppte Krabbeldecke aus farbenprächtigen Quadraten, auf der ihre jeweiligen Lieblingsspielzeuge verstreut lagen. Dads Lehnstuhl. Thomas’ und Santas Bilder. All die kleinen Dinge, die zusammengezählt unser Zuhause ergaben, das mittlerweile verlassen ist.

Hier wirkt alles, was wir besitzen, fehl am Platz. Das Brot, die Bananen und der Karton mit den Teebeuteln, den Thomas in einem Anfall von Sesshaftigkeit gekauft hat, liegen verloren auf der glänzenden, gesprenkelten Küchenarbeitsplatte. Die Milchpackung steht in der Mitte des leeren Kühlschrankes, als versuchte sie, so viel Platz wie möglich einzunehmen – allein, weil sie die Möglichkeit dazu hat. Mein zerknitterter, schäbiger Mantel liegt auf dem gepolsterten, kirschroten Sofa, wo ich ihn abgelegt habe.

Gedankenverloren greife ich danach und schließe ihn über dem T-Shirt und der abgetragenen Schlafanzughose. Mit jedem Knopf werde ich ein wenig sicherer und fühle mich mehr wie ein Mensch, vor dem ein neuer Tag liegt, an dem er tun und lassen kann, was er will.

Nach dem letzten Knopf fühle ich mich vollständig umhüllt und geborgen.

Ich schlüpfe barfuß in meine Schuhe und greife nach dem Autoschlüssel, den Thomas neben der Obstschale abgelegt hat, in der sich kein Obst befindet.

Der Tag gehört mir.

Und ich verschwinde.

DAMALS

Er stand leicht nach vorne gebeugt und beäugte den Grill eingehend.

Obwohl wir uns nicht kannten, streckte ich unwillkürlich die Hand aus und legte sie sanft auf seine Schulter.

Das Baumwollshirt unter meiner Handfläche fühlte sich kühl an.

»Thomas?«

Er wandte sich langsam zu mir um, und wir standen einander einen Moment länger als nötig schweigend gegenüber, während unsere Blicke über das Gesicht des anderen wanderten, als wäre es eine unbekannte Landschaft.

»Ich bin Evies Schwester«, erklärte ich, auf lächerliche und unerklärliche Weise schüchtern. »Kit«, presste ich noch hervor, mir wie immer der Auswirkungen des Wortes Schwester bewusst.

Schwester. Bruder. Worte, die langsam ausstarben.

»Kit«, wiederholte er leise, als wollte er sich den Namen einprägen.

»Ich bin hier, um zu helfen – mit dem Grill.«

»Super. Dieser Würstchenberg ist das Einzige, was ich bis jetzt zustande gebracht habe. Und ich hoffe inständig, dass ich die Kohlen zum Glühen bekomme, bevor die Meute vor Hunger außer sich gerät.«

»Da sind wir schon zwei. Aber wir können uns wehren. Damit zum Beispiel …« Ich ließ den Blick über die Kochwerkzeuge schweifen und zückte eine lange Metallzange.

»Und ich nehme …« Thomas betrachtete das Durcheinander ebenfalls und entschied sich für einen Holzkochlöffel. »Den hier! Richtig eingesetzt kann man damit einigen Schaden anrichten.«

»Das werden wir sehen, wenn es so weit ist.« Ich blickte zu den Gästen hinüber, die in kleinen Grüppchen zusammenstanden und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. »Sie sehen eigentlich ganz harmlos aus.«

In diesem Moment wurden die Stimmen der am nächsten stehenden Gruppe zu uns herübergetragen.

»Das hätte schon längst passieren sollen«, erklärte ein kleiner Mann mit ergrauendem Haar. Soweit ich wusste, war er ein alter Freund von Sebs Familie. Er lehnte sich beim Sprechen immer wieder nervös zuckend nach vorne. »Die Kustoden wussten schon lange, dass wir uns darauf zubewegen – sie hätten es viel früher umsetzen sollen. Wenn Torrent nicht gestorben wäre, befänden wir uns jetzt in einer weitaus besseren Lage.«

Ich sah, wie Thomas einen Blick in Richtung der Gruppe warf.

»Und schon geht es los …«, murmelte ich, ohne nachzudenken.

Der Mann polterte weiter.

»Wenn sie die Maßnahmen bereits vor zehn, fünfzehn Jahren eingeleitet hätten …«

»Aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, wie viele sich tatsächlich dazu bereit erklären werden. Junge Frauen …«, begann Evies Kollegin Deborah, doch der Mann redete einfach weiter.

Ich spürte wie aus dem Nichts das Verlangen, ihn zu unterbrechen. Ihm das Wort abzuschneiden, wie er es bei Deborah gemacht hatte. Ich wollte etwas Deutliches, Bedeutendes sagen, das seiner herrischen Tirade ein Ende setzte, doch als ich den Mund öffnete, war da nichts. Ich hatte keine Antworten.

Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor, wenn sich Gespräche um Politik drehten. Da war etwas in mir, etwas Leidenschaftliches, Bestimmtes. Es wollte heraus und gehört werden, aber ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich war wie geknebelt, obwohl ich nicht richtig wusste warum.

Ich sagte mir, dass ich nicht gut genug Bescheid wusste, und das stimmte zum Teil auch. Als ich jünger gewesen war, hatte ich gedacht, ich könnte es einfach ignorieren. Ich kannte nichts anderes als das Leben unter der Herrschaft der Kustoden und ihre Ansichten, wie man das Problem der immer rascher sinkenden Bevölkerungszahlen lösen konnte. Ich hatte nur immer wieder Bruchstücke aufgeschnappt, wenn mein Vater von früher erzählt hatte. Von den Wahlen, den Volksbegehren, den Debatten und den Umfragen. Er wirkte aufgewühlt, wenn er davon sprach, als könnte er noch immer nicht begreifen, wie es so weit kommen konnte. Zu einem Einparteiensystem, einer totalitären Regierung.

»Das könnte einige Zeit dauern«, flüsterte Thomas zurück.

»Was … was hältst du von … von den Kustoden?«

Er wandte sich zu mir um. »Grundsätzlich? Das ist keine leichte Frage, und ich befürchte, ich habe keine wirkliche Antwort darauf. Vielleicht, weil so viel Lärm darum gemacht wird.« Er runzelte die Stirn.

»Mir geht es auch so«, gestand ich. »Ich würde gerne etwas zu den Geschehnissen sagen – etwas, woran ich wirklich glaube, ohne zu wiederholen, was andere gesagt haben.«

»Das ist schwer, wenn man ständig nur hört, was die Sphären wiedergeben. Und wie die Leute wiederholen, was die Sphären wiedergeben.«

Ich nickte und merkte, wie ich mich ihm gegenüber öffnete. »Ich glaube, mir gefällt es nicht, wie die Dinge gehandhabt werden, aber irgendwie verstehe ich auch, dass es praktisch ein unlösbares Problem ist. Und dass wir etwas tun müssen.«

Mir war mehr als klar, wie unbeholfen und schwammig meine Worte waren, doch Thomas nickte.

»Das eine schließt das andere nicht aus, nicht wahr?«, erwiderte er leise.

»So viele Menschen sind sich offenbar sicher, dass die Kustoden genau das sind, was wir gebraucht haben und weiterhin brauchen. Ich höre immer öfter, wie Leute sich wünschen, dass es noch weiter getrieben wird. Wie unser Freund da drüben.« Ich deutete auf Sebs Bekannten, der immer noch seine Meinung herausposaunte.

»Die Zeiten der positiven Ermutigungen sind vorbei«, sagte er gerade. »Verpflichtende Induktion ist der nächste Schritt, ihr werdet sehen. Und das Alterslimit wird weiter herabgesetzt werden. Das ist unausweichlich, nicht wahr?«

Einige Umstehende nickten, und zustimmendes Murmeln erklang. Die Frau, die ich vorhin beobachtet hatte, wie sie die Hände nach Jakob ausstreckte, presste schweigend die Lippen aufeinander.

»Hast du die neusten Nachrichten gehört?«, fragte Thomas leise.

Ich nickte. Als ich am Morgen durch meine Wohnung geeilt war und versucht hatte, einen Fleck aus dem Kleid zu entfernen, das ich zum Namensfest tragen wollte, war meine ArbeitsSphäre zum Leben erwacht und hatte lautstark die neuesten Mitteilungen verkündet. Ich hatte das heiße Wasser bis zum Anschlag aufgedreht, um sie zu übertönen, aber die Worte waren dennoch zu mir durchgedrungen. Man hatte das Mindestalter für Induktionen von achtzehn auf sechzehn Jahre herabgesetzt. Sechzehnjährigen Mädchen war es nun erlaubt, sich einer Fruchtbarkeitsbehandlung zu unterziehen, und sie wurden aktiv dazu ermuntert. Es gab ein Diagramm, das den prognostizierten Bevölkerungsrückgang verdeutlichte, wenn die Anzahl der Induktionen nicht stieg. Die Produktionskraft würde sich verringern, was zu Knappheiten und teuren Importen führte. Ein Sprecher der Kustoden gab eine kurze Erklärung ab, das Gesicht abgezehrt und faltig.

»Es fühlt sich falsch an«, sagte ich, und mir wurde erneut klar, wie unbeholfen ich klang. Ich konnte nicht vermitteln, wie groß die Angst davor war, was das zu bedeuten hatte. Sebs Bekannter hatte recht: Wir hatten uns der verpflichtenden Induktion für alle Bürgerinnen wieder einen Schritt genähert. Es fühlte sich an wie ein Schatten, der sich über mich senkte und dem ich nicht entkommen konnte.

In diesem Moment trat eine Frau auf uns zu, die Evie und Seb während der Induktion kennengelernt hatten. Sie räusperte sich leise und ungeduldig.

»Wird das heute noch etwas?«, fragte sie und warf einen vielsagenden Blick auf die rußigen Briketts, die genauso kalt waren wie die Steine darunter. Sie hatte zu einem sorgsamen Bob geschnittene Haare, und aus ihrem bemüht besorgten Blick sprach Zorn.

Ich sah im Augenwinkel, dass Thomas vorsorglich den Holzkochlöffel zückte, und unterdrückte ein Kichern, bevor ich der Frau ruhig in die Augen sah.

»Und wenn nicht? Verlassen Sie die Feier dann?«

»Nun … nein, natürlich nicht. Ich wollte nur nachfragen, weil …« Sie verstummte.

»Weil Sie hungrig sind?«, beendete ich den Satz für sie.

»Nein, das nicht …«

»Weil Sie nachsehen wollten, was hier los ist?«

»Ich … ich wollte nachsehen, ob ich … helfen kann.«

»Aber gerne!«, erwiderte ich begeistert. »Ich wollte tatsächlich gerade die Salate aus dem Kühlschrank holen. Könnten Sie das übernehmen? Sie sind Jacqui, nicht wahr? Ich bin Kit, Evies Schwester. Und das ist Thomas. Zusammen sind wir das Team Barbecue.«

Jacqui schenkte uns ein schüchternes Lächeln, das sogar sie selbst zu überraschen schien, dann machte sie sich auf den Weg in die Küche, drehte sich allerdings noch einmal um. »Brauchen wir sonst noch etwas?«

»Servietten«, antwortete ich. »Falls Sie welche finden. Ich glaube, sie sind in einer der Schubladen in der Mitte. Versuchen Sie es mit der untersten.«

»Wow«, sagte Thomas, als Jacqui mit zielstrebigen Schritten im Haus verschwand. »Du hast offenbar die Gabe, das Beste in den Menschen zum Vorschein zu bringen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht so recht. Aber die meisten Menschen wollen helfen, man muss ihnen nur die Gelegenheit geben. Eigentlich war ich sogar ein wenig zu hart zu ihr«, gab ich zu. »Ich wollte nicht so … so spitz klingen. Es ist passiert, ehe ich mich zurückhalten konnte.«