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»Alle hielten uns für tot. Wir wurden seit fast zwei Monaten vermisst. wir waren zwölf Jahre alt. Was sonst hätten sie denken sollen?« Lois Als Lois und Carly May in das Auto eines Fremden steigen, fühlt sich zunächst alles wie ein großes Abenteuer an. Endlich gibt ihnen jemand das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Der Mann bringt die beiden in eine abgelegene Waldhütte und lässt sie nicht aus den Augen. Langsam dämmert den Mädchen, dass noch etwas Schreckliches geschehen wird. Zwei Jahrzehnte später: Lois ist Literaturprofessorin und Autorin. Carly May schlägt sich als erfolglose Schauspielerin durch. Ein Drehbuch, das ihre Geschichte erzählt, bringt sie wieder zusammen. Ihre Geschichte ist noch nicht vorbei. »Der Roman fragt: Wovor haben wir Angst? Dieses Buch müssen Sie entdecken!« New York Daily News
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Das Buch
Lois und Carly May sind zwölf, als sie entführt und in einer abgelegenen Jagdhütte für zwei Monate eingesperrt werden. In diesem Sommer, unter dem wachsamen Blick des Entführers, gehen sie eine innige Freundschaft ein, die sie für immer verbinden wird. Nach ihrer Befreiung verlieren sie jedoch den Kontakt zueinander. Zwanzig Jahre später: Lois ist Professorin für Literatur und hat unter Pseudonym einen Roman über ihre Entführung geschrieben. Carly May kämpft in L. A. um Filmrollen und gegen den Alkohol. Bis sie ein Drehbuch in die Hände bekommt, das genau ihre Geschichte erzählt. Ihr wird die Rolle der Ermittlerin angeboten. Zufall? Es gibt nur eine Person, mit der sie jetzt sprechen will: Lois. Doch die ist nicht so leicht aufzuspüren. Nur eins ist deutlich: Die Vergangenheit holt sie wieder ein.
Die Autorin
Maggie Mitchell unterrichtet englische Literatur an der Universität von West Georgia und lebt dort mit ihrem Ehemann und ihren Katzen. Sie hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten in Literaturmagazinen veröffentlicht. »The other Girl« ist ihr erster Roman.
Maggie Mitchell
The other Girl
Du kannst niemals ganz entkommen
Roman
Aus dem amerikanischenEnglisch von Sybille Uplegger
List
Die Originalausgabe erschien 2015unter dem Titel Pretty Isbei Henry Holt, New York
Übersetzung des Gedichts »Porphyrias Buhle« von Robert Browning: R. Borchardt aus: Meller, Horst; Reichert, Klaus (Hg.). Englische und amerikanische Dichtung Bd. 3. München: dtv 2001, S. 16 ff.
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ISBN 978-3-8437-1255-2
© 2015 by Maggie Mitchell© der deutschsprachigen Ausgabe2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Jacket design by Lucy Kim Jacket photographs; © Debra Fedchin/Arcangel Images, © Giorgio Fochesato/Getty Images, © Jacob Sjoman Svensson/Getty Images, © Hans Neleman/Getty Images
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für meinen Vater,Homer Mitchell
Und in Erinnerung an meine Mutter,Susan Reid Mitchell
Alle hielten uns für tot. Wir wurden seit fast zwei Monaten vermisst und waren zwölf Jahre alt. Was sonst hätten sie denken sollen?
Natürlich waren sie froh, als sie uns wiederhatten. Trotzdem war nichts mehr so wie früher. Es war, als wären wir von den Toten zurückgekehrt und nun in irgendeiner Weise befleckt. Dass wir gegen jede Chance überlebt hatten, machte uns schuldig. Ich sah ihnen an, was sie dachten: Bestimmt hatten wir unsere Seelen verkauft – oder Schlimmeres. Sicher, das Ganze war nicht unsere Schuld gewesen (jedenfalls nicht ausschließlich) – aber trotzdem. Wir waren nicht mehr dieselben.
Und sie hatten recht damit, wenn auch nicht so, wie sie dachten. Für uns zählte, dass wir auserwählt worden waren. Aus der Menge herausgegriffen. Wir hatten seit jeher den Verdacht gehabt, dass wir anders waren; endlich hatte es sich bestätigt. Es war zwecklos, so zu tun, als wäre dem nicht so – und zu unserer Erleichterung erwartete das auch niemand mehr von uns. Die Welt hatte erkannt, dass wir außergewöhnlich waren – und hielt Abstand zu uns, als wären wir scharf gemachte Bomben, die eines Tages ohne jede Vorwarnung explodieren könnten.
Wenn ich schon darauf bestehe, dass wir auserwählt worden waren, sollte ich ehrlicherweise auch zugeben, dass er mich als Zweite gewählt hat. Carly May war die Erste. Ich rede mir ein, dass das purer Zufall war, allein ein Umstand der Geographie: dass er uns beide gleichermaßen wollte, nur eben zum fraglichen Zeitpunkt näher an Nebraska war als an Connecticut. Aber ich weiß, dass es bei ihm keine Zufälle gab. Ich war die Zweite. Carly die Erste. Bis in alle Ewigkeit.
Unsere Fotos waren überall, auch wenn wir es nie auf eine Milchtüte schafften. Meistens hatten wir diesen todgeweihten Ich-wurde-längst-in-Stücke-gehackt-und-im-Wald-verscharrt-Gesichtsausdruck. Im Fernsehen und in den Tageszeitungen sah man oft Schulporträts von uns, auf denen wir vor rauchblauem Hintergrund verträumt und tragisch lächelten. Aber es wurden auch Pressefotos von uns veröffentlicht: Carly mit funkelnden Diademen auf ihren goldblonden Locken, den geschminkten Mund zu einem Lächeln verzogen, in dem etwas beunruhigend Verheißungsvolles lag. Ich, Lois, dagegen ernster, meine Buchstabierpokale in der Hand, die Anziehungskraft eines feindseligen Kätzchens ausstrahlend. Zumindest kommt es mir so vor.
Als Carly May achtzehn war, verschwand sie erneut, diesmal aus eigenem Antrieb. Sie hinterließ eine Nachricht. »Sucht nicht nach mir, ihr findet mich sowieso nicht«, hatte sie auf eins der Porträts in ihrer Pressemappe gekritzelt. Sie hatte sich auch einen Schnurrbart gemalt und das Weiße ihrer Augen geschwärzt. Das weiß ich deshalb, weil ihre Stiefmutter Gail mich zwei Jahre später anrief, während sie gerade an ihren Memoiren arbeitete. Sie dachte, ich wüsste vielleicht, wo Carly May steckte. Aber ich wusste es nicht, ich hatte seit Jahren nichts mehr von Carly gehört. All das kann man in Gails Buch nachlesen, wobei sie den Schwerpunkt natürlich auf ihr eigenes Leiden und ihren zupackenden Charakter legte. Sie schickte mir ein Exemplar, ich warf das Buch von einer Brücke.
Als Carly wieder in mein Leben trat, war sie nicht mehr Carly May Smith, und wir waren fast dreißig.
Es ist immer schon schwierig gewesen, darüber zu reden, ohne total melodramatisch zu klingen. Und sobald das passiert, komme ich mir verlogen vor, als würde ich versuchen, jemandem die Idee für ein TV-Drama zu verkaufen. »Nach einer wahren Geschichte« – was nicht gleichbedeutend ist mit der Wahrheit. Ehrlich gesagt habe ich seit Jahren nicht mehr über die Sache gesprochen. Mit keiner Menschenseele.
Dabei war es in Wirklichkeit kein bisschen melodramatisch. Das ist ja das Erschreckende daran, wenn man mich fragt: mit welcher Ruhe wir alles hingenommen haben. Am helllichten Tag auf der Hauptstraße eines kleinen Kuhkaffs in Nebraska entführt zu werden war in meinen Augen längst nicht das Abgefahrenste, was mir an jenem Tag hätte passieren können.
Ich kam gerade vom Ballett und ging langsam die Straße runter zum House of Beauty, wo meine Stiefmutter Gail sich die Nägel und weiß der Geier was sonst noch alles machen ließ. Die Frau bedurfte ziemlich umfangreicher Instandhaltungsarbeiten. Ich trug Radlerhosen und ein Oversized-T-Shirt, hatte die Tasche mit den Tanzklamotten über der Schulter und schleppte mich mit meinen zwölf Jahren über den heißen, breiten Gehsteig der Hauptstraße von Arrow, Nebraska. Ich dachte gerade darüber nach, wie ich Gail das Leben zur Hölle machen könnte, als der Wagen neben mir anhielt. Irgendein grauer Wagen, ich kannte mich mit Autos nicht besonders aus. Aber ich wusste gleich, dass der Typ am Steuer von weit her kam. In Arrow sah man ziemlich selten Fremde. Er lehnte sich herüber und kurbelte auf der Beifahrerseite das Fenster herunter. Wahrscheinlich hat er sich verfahren, dachte ich. Ich vermutete, dass er mich nach dem Weg zurück in die Zivilisation fragen wollte, also blieb ich abwartend stehen, mehr oder weniger gewillt, ihm zu erklären, wie man von hier zum Highway kam. Ich wette, ich hatte diesen pampigen Gesichtsausdruck, wie nur Zwölfjährige ihn draufhaben.
Aber er wollte gar nicht nach dem Weg fragen, und er hatte genügend Fotos von mir gesehen, um zu wissen, dass er das richtige Mädchen vor sich hatte. »Steig ein«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich nehm dich ein Stück mit.«
Also stieg ich ein. Ohne zu zögern. Weiß der Himmel, warum. Wenn ich mich an einer Erklärung versuche, läuft es früher oder später immer auf seinen Blick hinaus. Er sah mich an, als würde er mich in- und auswendig kennen, als könnte er meine Gedanken lesen, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt, der für ihn wichtig war. Will nicht jeder so angesehen werden?
Später studierte ich die Fotos, die er von mir in seiner Akte hatte. Auf einigen hatte ich ein breites, künstliches Lächeln aufgesetzt. Auf anderen sah ich ein bisschen eingeschnappt aus, weil ich versucht hatte, die Schmollgesichter der Models aus den Zeitschriften nachzumachen. Ich wollte dahinterkommen, woher er es gewusst hatte – ich meine, wie er sich so sicher hatte sein können, dass er nichts weiter tun musste, als die Wagentür zu öffnen, und ich würde einsteigen. Ich suchte nach einem verräterischen Aufblitzen von Leichtsinn in meinen noch kindlichen Augen, nach einem Zeichen von unterschwelliger Verdorbenheit. Ich bin sicher, die Polizei hat auch danach gesucht. Später dann. Aber ich habe nie etwas finden können, nicht einmal rückblickend. Ich hatte bereits diesen leicht abgehobenen Blick, den man normalerweise mit schönen Mädchen assoziiert. Soweit ich es beurteilen kann, gab er absolut nichts preis.
Wir fuhren und fuhren. Ich wusste nur, dass wir in östlicher Richtung unterwegs waren. Während der ersten Stunden sagte er kaum ein Wort, ging nur gelegentlich die Radiosender durch, wobei er allerdings nie etwas fand, das ihm gefiel. Mariah Carey, Nirvana, Beck – bei allem verzog er den Mund. Johnny Cash ließ ihn einmal kurz innehalten, aber selbst da drückte er schon nach wenigen Sekunden ungeduldig auf den Knopf, um zum nächsten Sender zu wechseln. Mir drängte sich die Frage auf, wonach er eigentlich suchte und wieso er sich die ganze Prozedur immer wieder antat, wenn er doch schon vorher wusste, dass das Radio ihm nichts zu bieten hatte. Wann immer es ausgeschaltet war, hatte er die Hände locker am Lenkrad, das konnte ich aus dem Augenwinkel beobachten. Irgendwie gab mir das ein Gefühl von Sicherheit. Hin und wieder schaute er zu mir herüber und schenkte mir ein kleines Lächeln: Ein Onkel-Lächeln, dachte ich, oder vielleicht das Lächeln eines Lehrers, wobei ich gar keinen Onkel hatte und meine Lehrer bislang größtenteils Lehrerinnen gewesen waren, nervöse junge Frauen mit Dauerwellen und peinlichen Blümchenblusen. Er war eher ein Phantasielehrer, gutaussehend und ein bisschen geheimnisvoll. Wann immer er sich zu mir umdrehte, gab ich genau auf seine Augen acht, und dabei fiel mir auf, dass er nur mein Gesicht anschaute – sein Blick driftete nie zu meinen braungebrannten, schlanken Beinen oder zu den zwei kleinen Wölbungen unter meinem pinkfarbenen T-Shirt, die sich seit einiger Zeit dort abzeichneten.
Das beruhigte mich. Ich machte es mir bequem und sah zu, wie draußen Nebraska vorbeizog, als hätte es nichts mit mir zu tun. Ich war noch nie aus meinem Heimatstaat rausgekommen und freute mich riesig, als wir die Grenze zu Iowa passierten, obwohl es da mehr oder weniger genauso aussah. Mir gefiel die Vorstellung, meine Welt hinter mir zu lassen. Irgendwann fuhren wir von der Interstate ab und hielten an einer Tankstelle, wo er aus einer Reisetasche auf dem Rücksitz eine dunkelbraune Perücke holte. Er überreichte sie mir, wie man ein Geschenk überreicht, so als wüsste er bereits, dass es mir Spaß machen würde, mich zu verkleiden. Er wartete draußen vor der ungewohnt sauberen Damentoilette und studierte eine Karte, während ich drinnen meine langen Haare unter die Perücke stopfte und sie zurechtzog, bis mir die Ponyfransen gerade in die Stirn fielen. Die Perücke muss billig gewesen sein – die Haare waren steif wie Puppenhaar und hatten diesen Plastikglanz. Ich hatte noch nie eine Perücke getragen, aber es gefiel mir auf Anhieb. Ich rubbelte mir den Lipgloss und den hellrosa Lidschatten weg, die ich zum Ballett getragen hatte, und danach fühlte ich mich wie ein anderes Mädchen. Im beschlagenen, rissigen Spiegel experimentierte ich mit meinem neuen Look. Ich würde scheu und unschuldig sein, beschloss ich. Arglos, auch wenn ich das Wort damals noch nicht kannte. (Sowieso war es mit dem Vorsatz schnell vorbei.) Durch furchtsam gesenkte Lider blickte ich zu meinem Spiegelbild auf und kokettierte ein bisschen mit meinem neuen Selbst, bis er von draußen höflich an die Tür klopfte. Als ich endlich aus der Toilette kam, nickte er anerkennend.
Er kaufte verkohlte Tankstellen-Hotdogs für uns, und wir fuhren weiter Richtung Osten, auf einem ländlichen Highway, der sich durch endlose Maisfelder zog. Ich hätte nicht glücklicher sein können.
Man könnte sie sehr leicht übersehen. Am linken unteren Bildrand, kaum erkennbar, wirft sich eine Frau mit dunkler Brille flach auf den Gehsteig, um einer Kugel auszuweichen. Ihr Tun ist weder an sich relevant noch in irgendeiner Weise maßgeblich für den Plot, sie ist einfach Teil des allgemeinen Durcheinanders – keine Haupt-, ja nicht mal eine Nebenfigur. Ihr Schicksal scheint für die Handlung des Films gänzlich ohne Bedeutung. »Ist sie eine von den Gangstern?«, frage ich Brad und starre mit zusammengekniffenen Augen auf ihr verschwommenes, halb im Schatten liegendes Gesicht.
»Die da unten in der Ecke, meinst du? Wahrscheinlich ist das eher die Gespielin von einem der Gangster. Gangsterbraut – nennt man das nicht so? Sieht ziemlich heiß aus. So Domina-Barbie-mäßig.«
»Sie hat aber ihre eigene Waffe«, sage ich betont beiläufig. »Also ist sie nicht bloß eine Gespielin.« Mir fällt auf, dass sie ihre Pistole in der linken Hand hält. Als ich sehe, wie ihre schlanken Finger den Griff fester umklammern – offenbar macht sie sich zur Flucht bereit –, da weiß ich, dass ich recht habe. Ich kenne diese Hand. Sie ist älter, länger, eleganter als früher. Aber ich würde sie überall wiedererkennen.
Ich habe promoviert und danach eine Dozentenstelle an einem kleinen College auf dem Land angenommen, einem Ableger der State University New York. Dort bringe ich jungen Studenten, deren Gehirne, wie mir allmählich klar wird, fast ausschließlich auf den Empfang elektronischer Stimuli geeicht sind, britische Literatur näher. Meine Studenten sind nicht viel jünger als ich, dennoch kommt es mir so vor, als entstammten sie einem anderen Jahrhundert. Ich lebe in einer geräumigen Wohnung im oberen Stockwerk eines um die Jahrhundertwende erbauten viktorianischen Hauses, das viel Charme, aber eine nur unzureichende Wärmedämmung besitzt. (Hier oben in New York ist geräumig bei den Maklern ein Codewort für kalt.) Es ist ein Donnerstagabend Ende Februar, als ich Carly May in einer Ecke meines Fernsehbildschirms wiedersehe. Draußen herrschen schon seit Tagen Temperaturen unter null. Ein Kollege von der Anglistikfakultät und ich sitzen vor meinem Fernsehapparat, kuscheln uns in Decken, schauen einen Film und essen Pizza dazu. Wenn ich kuscheln sage, dann meine ich damit, dass wir getrennt voneinander kuscheln. Ohne Körperkontakt. Brad Drake und ich sind die jüngsten Assistenzprofessoren an der Fakultät. Die nächstältere Generation, die der Mittdreißiger, hat Kinder, Gärten, ein fertiges Leben. Sie geben Dinnerpartys, bei denen sich alle Gäste um zweiundzwanzig Uhr gähnend und mit einem gemurmelten Hinweis auf den Babysitter verabschieden. In meiner ersten Zeit an der Uni war ich selbst auf einigen dieser Partys. Sich mit ironischer Distanz schlechte Filme anzusehen ist kein Zeitvertreib, der diese Leute noch amüsieren würde. Allesamt wunderbare Kollegen, aber ich wusste von Anfang an, dass sie nie meine Freunde werden würden. Was auch vollkommen in Ordnung ist. Ich brauche nicht viele Freunde: Brad reicht mir.
»Spul mal zum Abspann vor«, fordere ich ihn auf, weil er wie immer die Fernbedienung in Beschlag genommen hat.
»Können wir nicht warten, bis der Film zu Ende ist?«
»Ich kenne die Frau«, sage ich. »Ich schwöre, ich kenne sie. Ich muss das nachprüfen.«
»Woher solltest du sie denn kennen? Man kann ja kaum ihr Gesicht sehen. Und wenn du sie kennst, warum willst du es dann nachprüfen? Ich meine, wenn du dir so sicher bist? Außerdem –«
»Warum musst du jedes Mal, wenn ich etwas sage, eine Diskussion anfangen?« Eine sinnlose Frage. Das ist eben Brads Art. Normalerweise finde ich diese perverse Neigung ganz liebenswert. Außerdem ist es eine seiner vielen Charaktereigenschaften, die, wenigstens in meinen Augen, die ganz und gar platonische Natur unserer Beziehung begründen. Ich schnappe mir die Fernbedienung.
Rasch spule ich durch den Beginn der Titelsequenz, in dem die Figuren noch richtige Namen haben, bis zu dem Teil vor, in dem die Rollenbeschreibungen kryptischer werden: erste Tote, zweite Tote, Mädchen im Diner, Frau mit Pistole. In dieser letzten Gruppe stoße ich auf einen Darstellernamen, der zwar nicht der ist, nach dem ich gesucht habe, der aber dennoch meine Aufmerksamkeit erregt: Chloe Savage. Die Initialen stimmen überein. Und da ist noch etwas: ein geisterhaftes Echo jenseits aller Logik, eine Art dumpfes Pochen in der Magengrube. Ich weiß es einfach.
»Sie ist es nicht«, teile ich Brad in gespielter Enttäuschung mit und lasse mich zurück in die Couch sinken. Die Lüge kommt instinktiv, ich denke nicht eine Sekunde lang darüber nach, Brad die Wahrheit zu sagen.
Es ist vollkommen einleuchtend, dass sie ihren Namen geändert hat.
Irgendwann verabschiedet sich Brad. Müde und widerwillig wagt er sich in den Schnee hinaus, wobei sein sehnsuchtsvoller Blick mir zu verstehen gibt, dass er hofft, ich möge ihm für die Nacht meine Couch anbieten. Kaum ist er weg, setze ich mich sofort an meinen Rechner. Ich finde genügend Fotos von Chloe Savage, die das bestätigen, was ich ohnehin schon wusste. Ihre im Netz verfügbaren Biographien sind enttäuschend vage, um nicht zu sagen: Sie wimmeln vor Lügen. Nur ein Detail verbindet sie mit Carly May: »Nahm als Kind an Schönheitswettbewerben teil.« Dass sie Miss Pre-Teen Nebraska gewesen ist, wird allerdings nicht erwähnt. Im Gegenteil, es ist zu lesen, sie käme aus Connecticut. Wie ich, fährt es mir durch den Kopf. Das muss sie sich von mir ausgeliehen haben. Auch das kann als eine Art Beweis gelten.
Ich drucke alles aus, was ich finden kann: Lebensläufe, Filmographie, Fotos. Ich lege das Material fein säuberlich in eine Mappe und schreibe Carly/Chloe darauf. Dann stecke ich die Mappe ohne erkennbaren Grund ganz unten in eine Schublade, wie um sie zu verstecken. Wovor? Neugierigen Blicken? Ich könnte streng geheime Regierungsunterlagen auf meinem Nachttisch aufbewahren, und sie wären vollkommen sicher.
Trotzdem verstecke ich die Mappe. Es scheint mir das einzig Richtige zu sein.
Ich war superhübsch. Groß für mein Alter, mit goldenen Locken und saphirblauen Augen. Wie eine kleine Elfe. Eine sexy Elfe, sollte ich hinzufügen, jedenfalls sobald ich aufgebrezelt war. Es ging los, nachdem Gail zu uns gekommen war. Als Daddy sie mit nach Hause brachte, um sie mir vorzustellen, war die Sache eigentlich schon gelaufen: Sie hatte seinen Heiratsantrag angenommen. Damals hatte sie rotgefärbtes Haar und violette Kontaktlinsen und lange pinkfarbene Fingernägel. Von Natur aus eine graue Maus, hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um sich Farbe zu verleihen. Aber es war wie beim Technicolorverfahren: Es wirkte unecht. Sie hatte eine hohe, näselnde Stimme. Mir mit meinen sieben Jahren kam sie vor wie eine Figur aus einem Cartoon. Warum mein trauriger, stiller Vater zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter eine Cartoonfigur heiraten wollte, begriff ich nicht. Er muss wohl der Ansicht gewesen sein, ich bräuchte eine Ersatzmutter, oder vielleicht dachte er, ich würde mich über Geschwister freuen, die Gail auch postwendend in Gestalt zweier kleiner Halbbrüder produzierte. Er hätte mit beiden Vermutungen danebengelegen, allerdings machte er sich nie die Mühe, mich zu fragen.
»Püppchen«, so nannte Gail mich gleich bei unserer ersten Begegnung. »Oh, Carly May, bist du aber ein süßes kleines Püppchen«, sprudelte sie. »Hugh, du hast mir gar nicht gesagt, was für ein bezauberndes kleines Püppchen sie ist!«
Mein Vater lud weiter schweigend die Einkaufstüten aus dem Kofferraum. Ich erkannte sofort, dass er meistens Gail das Reden überließ.
Nachdem ich zum zweiten Mal verschwand, brachte Gail ein Buch heraus. Wohlgemerkt, ich sage nicht, dass sie ein Buch schrieb. Ich schwöre, sie hat in ihrem ganzen Leben nie etwas Komplizierteres als einen Einkaufszettel zu Papier gebracht. Ihre Ghostwriterin hieß Liz Caldwell, der Name steht in kleinerer Schrift rechts unten in der Ecke des Schutzumschlags wie die Signatur eines Malers – man muss schon genau hinschauen, um sie zu entdecken. »Mit Liz Caldwell«, heißt es dort. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie dieses mit ausgesehen haben muss: Gail sitzt im Wohnzimmer, eine Ladung Schminke im Gesicht, als wollte sie zur Oscarverleihung, eine Hand hält die Kippe, die dicken Wurstfinger sind mit sämtlichen Ringen gespickt, die sie besitzt. So suhlt sie sich in Selbstmitleid und der erbärmlichen Illusion ihrer eigenen Wichtigkeit. Ihr gegenüber sitzt Liz Caldwell, die so tut, als wäre sie von Gails Weisheit und Charakterstärke beeindruckt, die in ihre Notizen schaut und Gail hin und wieder sanft ermuntert, während neben ihr der Kassettenrekorder surrt. Woher ich weiß, dass Liz nur so getan hat, als wäre sie beeindruckt? Weil ich Gail kenne, deswegen. Aber vielleicht musste Liz sich auch gar nicht die Mühe machen, ihre Verachtung zu verbergen: Wahrscheinlich war Gail viel zu sehr mit ihrem eigenen Drama beschäftigt, als dass sie irgendetwas anderes wahrgenommen hätte. Einfühlungsvermögen war noch nie eine ihrer Stärken.
Selbst der Titel des Buches ist eine Lüge: Wie ich meine Tochter zweimal verlor. Zugegeben, selbst wenn es der Wahrheit entspräche, wäre es geschmacklos, aber ich bin nicht – und war auch nie in irgendeiner Weise – Gails gottverdammte Tochter. Man kann nicht verlieren, was man nie hatte.
Ich war klug, ob man es glaubt oder nicht. Ich bin klug. Die Leute rechnen nicht damit. Meine Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben kam, als ich fünf war, war Lehrerin. Mein Vater las gern. Immer wenn er aus dem Stall kam, ließ er sich in seinen Sessel fallen und griff nach einem Buch. Meistens waren es Sachbücher, aber auch Romane. Als ich klein war, lasen meine Eltern mir oft vor, und sie redeten mit mir wie mit einer intelligenten Lebensform. In der Schule schrieb ich gute Noten, wenn ich mir Mühe gab, aber unter Gails Herrschaft kam es mir wenig sinnvoll vor, mich weiter anzustrengen.
Sie muss die Sache mit den Schönheitswettbewerben auf eigene Faust recherchiert haben. Es war die Ära vor dem Internet, insofern war es schwieriger als heutzutage. Sie muss die Informationen per Post angefordert haben. Wie auch immer, jedenfalls war sie diejenige, die die Broschüren anschleppte, mit denen alles begann. Es war das erste Mal, dass wir überhaupt davon hörten – Daddy und ich, meine ich.
»Ich wusste gar nicht, dass es so was auch schon für kleine Mädchen gibt«, sagte Daddy und blätterte mit seinen großen rauen Farmerhänden durch die Hochglanzprospekte, als hielte er etwas in der Hand, das er nur ungern berührte – einen Tierkadaver zum Beispiel. »Ich dachte immer, die Teilnehmerinnen sind schon älter.«
»Schau dir die Mädchen nur mal an«, sagte Gail und fuhr mit einer pink lackierten Kralle über die lächelnden Mondgesichter. »Du musst doch selber zugeben, dass Carly May hübscher ist als die alle. Sie könnte so einen Wettbewerb mit links gewinnen.«
»Aber warum sollte sie das wollen?«, fragte Daddy, gab ihr die Broschüren zurück und zog an einem meiner Zöpfe. »Carly May hat was im Kopf.« Ich war in der zweiten Klasse. »Diese Mädchen sehen doch alle aus wie dumme Hühner. Hübsche Gesichter und nichts dahinter.«
»Es gibt Schlimmeres«, sagte Gail.
»Auf die Schönheit des Charakters kommt es an, nicht auf die des Körpers«, sagte Daddy.
Ich starrte auf die glitzernden Rüschenkleider, die die Mädchen anhatten – vielleicht waren es dumme Hühner, vielleicht auch nicht, wie sollte man das feststellen? –, und dachte über Gails Worte nach. Mein Gott, woher wissen Kinder eigentlich die Dinge, die sie wissen? Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich damals zweierlei begriff: Erstens, dass Gails Behauptung, ich sei hübscher als die anderen Mädchen, zutraf. Ich war erst acht Jahre alt, aber ich wusste es mit derselben Gewissheit, wie ich wusste, dass Hennen Eier legen. Und das wusste ich zweifelsfrei, da ich jeden Tag ins Hühnerhaus ging, um sie einzusammeln. Ich würde gerne behaupten, dass es mir nie jemand gesagt hat, aber irgendwie muss die Welt es mir gesagt haben.
Und ich verstand zweitens, dass Gail – sosehr ich sie auch damals schon hasste – höchstwahrscheinlich recht damit hatte, dass es wichtig war, hübsch zu sein. Und ich wusste, dass es da etwas gab, wonach ich mich sehnte, etwas Großes, das ich nicht benennen konnte. Etwas, das sich außerhalb meiner alltäglichen Welt befand. Also sorgte ich dafür, dass Gail mich eine Weile später dabei sah, wie ich allein am Küchentisch in den Broschüren blätterte. Daddy war nicht zu Hause.
Mehr brauchte sie nicht, um loszulegen.
Ich halte meine Vergangenheit vor niemandem geheim, jedenfalls nicht direkt. Meine Geschichte folgte mir ganz einfach nicht von der Highschool aufs College, und ich zog es vor, nicht weiter davon zu sprechen. Ich wollte versuchen, eine andere Lois zu sein, zumindest in der Öffentlichkeit. Selbst als ich meine Dissertation über den Topos der Entführung im englischen Roman schrieb, stellte niemand außer meinen Eltern und meinem Doktorvater die offensichtliche Verbindung her. Wie es scheint, habe ich mich zu einem ganz normalen, unauffälligen Menschen entwickelt: Lois Lonsdale, Anglistikdozentin, Fachfrau für sehr dicke Romane, in denen, glaubt man meinen Studenten, nichts passiert. Penible Verfechterin des korrekten Gebrauchs von Semikolons. Noch bis vor kurzem erinnerte sich kein Mensch an die Entführung, geschweige denn an die Namen der wie durch ein Wunder unversehrt geretteten Mädchen. Es gab zu viele andere Mädchen in den Nachrichten, von denen die meisten weit weniger Glück hatten; als Zuschauer springen wir mit unserer Aufmerksamkeit von einer Tragödie zur nächsten. Nachdem unsere Fotos aus den Medien verschwunden waren, hörten Carly May und ich faktisch auf zu existieren; die Zeiten, da Reporter vor meiner Tür campierten, sind längst vorbei.
Doch mittlerweile habe ich ein neues Geheimnis: Ich bin Lucy Ledger, Autorin des Thrillers Der Wald so still, der sich einigermaßen gut verkauft und bald, wie unwahrscheinlich das auch klingen mag, für die große Leinwand verfilmt werden soll. Der Roman basiert lose auf den Ereignissen unserer Entführung. Mein Leben ist wieder kompliziert geworden.
Ich hatte immer schon ein Faible für Geheimnisse.
In meinem Seminar über den englischen Roman nehme ich gerade Samuel Richardsons Pamela durch. Ich will das Buch möglichst früh im Semester hinter mich bringen, damit wir uns danach den interessanten Dingen zuwenden können. Den interessanteren Dingen, wollte ich sagen, auch wenn das natürlich Ansichtssache ist. Ich versuche meine skeptischen Studenten davon zu überzeugen, dass die Lektüre von Pamela durchaus Spaß machen kann. Wie man ja weiß, handelt es sich bei dem Buch um einen Briefroman, wenngleich einen ziemlich merkwürdigen, da die meisten Briefe ihren jeweiligen Empfänger nie erreichen. Man könnte es aber auch als eine Art Schauerroman im Gewand einer Heiratsgeschichte beschreiben. Als Mr B’s wenig zartfühlende Versuche, seine junge (blutjunge!) Bedienstete zu verführen (zu vergewaltigen), fehlschlagen, verschleppt er sie kurzerhand, setzt sie auf einem seiner zahlreichen Anwesen gefangen und lässt sie von seiner Komplizin und Mitverschwörerin, der sadistischen Mrs Jewkes, bewachen. Dass Pamela am Ende ihren »Herrn« heiraten darf, versöhnt einen nur bedingt mit der Tatsache, dass sie die Hälfte des Romans in Gefangenschaft verbringt, dabei ständig Mr B’s Vergewaltigungsversuche abwehren muss und oft vor Angst in Ohnmacht fällt.
Aber zugleich ist es auch eine Liebesgeschichte.
In der Regel kaufen mir meine Studenten das mit der Liebesgeschichte nicht ab.
Als daher Sean McDougal eines frühen Februarnachmittags in der Tür zu meinem Büro auftaucht, nehme ich an, er sei einer aus der Schar der Unzufriedenen, und bereite mich innerlich darauf vor, diesem leicht bedrohlich wirkenden, nach Zigaretten riechenden blassen Gespenst meinen Standardvortrag über die Relevanz von Pamela zu halten.
Doch dann überrascht er mich. »Ich hab Sie gegoogelt.«
Sean ist groß und hager, aber zugleich auch irgendwie konturlos. Seine spärliche, flaumige Gesichtsbehaarung verstärkt diesen Effekt noch: Er wirkt unscharf. Wäre er attraktiv, wenn er gepflegter aussähe, nicht so lauernd? Möglich. Schwer zu sagen. Bei seinem Anblick fühle ich mich vage an jemanden erinnert, doch ich durchforste mein Gedächtnis vergebens. Ich kann den Ursprung des Gefühls nirgendwo festmachen.
Er sitzt mir an meinem Schreibtisch gegenüber, als wäre er dort zu Hause; von seinem dicken Mantel tropft der schmelzende Schnee auf meinen Fußboden, und in seinen hellen, farblosen Augen liegt ein leicht boshaftes Funkeln. Er wirkt sehr selbstzufrieden.
Verdammt.
Ursprünglich hatte ich geglaubt, ein Pseudonym würde mir auf gleichsam magische Weise ein Doppelleben garantieren. Ich war davon ausgegangen, eine klare Grenze zwischen Lois Lonsdale und Lucy Ledger ziehen und nach Belieben zwischen den beiden hin und her wechseln zu können. Meine Lektorin Amelia Winter allerdings befreite mich rasch von diesem Irrtum. Als sie mich zum ersten Mal nach dem realen Hintergrund meines Romans fragte, antwortete ich ihr selbstgewiss, es gebe keinen. Alles sei pure Erfindung, behauptete ich. Daraufhin streckte sie einen sehnigen Arm aus, wählte von den Dutzenden druckfrischer Exemplare, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten, eins aus und begann darin zu blättern. Hinter ihr, im Fenster ihres im fünfundzwanzigsten Stock gelegenen Büros, drängten sich glitzernde Wolkenkratzer. Ich konnte mein Glück immer noch kaum fassen. Aus meinem Manuskript war tatsächlich ein Buch geworden.
»Die Sache ist die«, sagte Amelia, während sie die Seiten überflog. »Für uns ist es wichtig, über solche Dinge Bescheid zu wissen. Denn wenn es da etwas gibt – ganz egal, was –, wird es herauskommen. Dafür sorgt das Internet. Wenn wir vor der Veröffentlichung über alles informiert sind, können wir das zu unserem Vorteil nutzen. Aber wenn nicht, wenn Sie uns gegenüber nicht offen sind, kann es eventuell schwer werden, den Schaden zu kontrollieren.« Sie klappte das Buch wieder zu, als hätte sie gefunden, was immer sie darin gesucht hatte. »Darüber sollten Sie mal nachdenken«, sagte sie.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, tat es aber trotzdem.
Sean zieht geräuschvoll die Nase hoch, und ich schiebe ihm meine Kleenex-Schachtel hin. Er beachtet sie nicht. Ich hatte unter dem Schreibtisch die Beine übereinandergeschlagen, aber jetzt stelle ich beide Füße in ihren flach besohlten Wildlederstiefeln fest auf den Boden. Das ist meine Verteidigungshaltung – oberhalb der Hüfte ist sie nicht wahrnehmbar.
»Ach ja?« Ich rücke unnötigerweise einen Stapel Papiere auf meinem Schreibtisch zurecht. »Tja, das Wunder der modernen Technik. Hätte Pamela doch nur Mr B googeln können, dann wäre der Skandal um seine schwangere Mätresse viel früher aufgeflogen, und Pamela hätte sich ihm gegenüber vielleicht nicht ganz so verständnisvoll gezeigt.« Ich sage dies bewusst leichthin, da ich es nicht wirklich für eine akzeptable Art halte, über den Roman zu reden – breche ich damit doch eine meiner eigenen Regeln: In der fiktionalen Literatur gibt es kein »Was wäre wenn?«, es gibt keine Parallelwelten, in denen die Figuren vielleicht anders gehandelt hätten und die Geschichte, wären ihre Protagonisten auch nur halb so klug wie wir, ein völlig anderes Ende hätte nehmen können. So ist es beispielsweise auch absolut unsinnig, darauf zu pochen, Pamela hätte Mr B niemals heiraten dürfen: Pamela ist überhaupt nur deshalb von Bedeutung, weil sie genau das tut, es immer getan hat und immer tun muss. Andernfalls gäbe es keinen Roman. Keine Pamela.
»An der Stelle im Buch sind wir noch nicht«, sagt Sean gänzlich humorlos. »Wollen Sie nicht wissen, was ich rausgefunden hab? Im Internet?«
Ich kann es mir schon denken. Als ich Amelia gegenüber damals mit der Wahrheit herausrückte, kam mir der Verdacht, dass ich ihr damit lediglich bestätigte, was sie ohnehin schon wusste. Demnach war offensichtlich keine Detektivarbeit notwendig, um Lucy Ledgers Spur bis zu Lois Lonsdale zurückzuverfolgen. Seans Hände liegen auf meinem Schreibtisch, rot und wund, die Nägel zerbissen und nicht so sauber, wie sie sein könnten. Ich wünschte, er würde die Hände wieder in die Taschen stecken, bei ihrem Anblick wird mir übel. Sean ist kein Sherlock Holmes, und doch sieht es ganz so aus, als würde er mir gleich beweisen, dass Amelia mit ihrer Prophezeiung von damals recht hatte.
Ich mache Ausflüchte. »Wenn ich das wissen wollte, hätte ich mich selbst gegoogelt.« Was ich selbstverständlich schon getan habe. Tut das nicht jeder? Damals kamen zunächst einmal neun andere Suchergebnisse: eine unbekannte Sängerin, die zufälligerweise den gleichen Namen hat wie ich, Volkszählungsdaten, Einträge aus Sterberegistern, jemand, der allen Ernstes noch eine Myspace-Seite hat, die Besitzerin einer Hundepension in Ohio und natürlich die Fakultätswebsite mit meinem Profil und meinen Vorlesungsplänen. Erst darunter stößt man auf einen knappen, nüchternen Webeintrag mit einer Auflistung von Kindesentführungen, nach Jahrzehnten geordnet. Meine Entführung ist eine von vielen in der Mitte der neunziger Jahre. Danach muss man sich nur noch durch vier weitere Seiten klicken, bis man auf die Information stößt, dass Lois Lonsdale und Lucy Ledger ein und dieselbe Person sind; und von dort ist es dann nur noch ein virtueller Katzensprung, bis sich einem auch der Rest der Geschichte offenbart.
Ich schenke Sean ein Lächeln, das sowohl professoral als auch gewinnend sein soll. Damit hoffe ich ihn von seinem Kurs abzubringen, der zweifellos Unangenehmes für mich verheißt. Noch bleibt ihm Zeit, die Sache zu überdenken. Im Gegensatz zu Pamela ist seine Geschichte noch nicht geschrieben.
Aber er lässt sich nicht beschwichtigen. Jetzt fällt es mir wieder ein: Er hat eine schauderhafte erste Seminararbeit abgeliefert. Habe ich ihn durchfallen lassen? Vermutlich. Ich lege großen Wert darauf, dass man mich ernst nimmt und niemand mich für ein Leichtgewicht hält. Ich klappe mein Zensurenbuch auf. Tatsächlich, durchgefallen: zu dumm.
»Es war, als Sie über Pamela gesprochen haben und darüber, wieso sie Mr B nach allem, was der ihr angetan hat, überhaupt noch heiraten kann. Irgendwas an der Art, wie Sie darüber geredet haben, kam mir komisch vor.« Seine Stimme klingt seltsam monoton. Unheimlich, finde ich langsam. Verstörend. »Das passiert mir manchmal. Ich kriege so eine Eingebung, was andere Leute betrifft. Also hab ich mich über Sie schlaugemacht. Wollen Sie raten, was ich rausgefunden hab?«
»Ich kann es mir mit allergrößter Mühe vorstellen«, antworte ich trocken. »Wahrscheinlich war es nicht mein dritter Platz beim nationalen Buchstabierwettbewerb.«
Bislang ist es mir relativ gut gelungen, Lucy Ledger aus Lois Lonsdales Alltag herauszuhalten. Auf ihrem Autorenfoto hat Lucy Ledger dunkel geschminkte Augen und sieht trendig glamourös aus. Sie trägt Lederjacke und Statement-Ohrringe. Lois Lonsdale hingegen blickt auf der Fakultätswebsite streng durch die ihr ins Gesicht fallenden Haare, ihr Hals wird eingerahmt von einem steifen Blusenkragen, der aus dem Revers ihres adretten Kostüms hervorschaut. Wenn man nicht gerade danach sucht, würde man niemals eine Ähnlichkeit feststellen. Wir haben meinen wahren Namen nicht öffentlich gemacht, als das Buch herauskam, allerdings kamen einige besonders beharrliche Rezensenten trotzdem dahinter. Meine Eltern erhielten ein paar Anrufe von Leuten, die die alte Geschichte noch einmal aufwärmen wollten, und Mirandas und Stephens Missfallen in Bezug auf mein literarisches Projekt führte dazu, dass unser Verhältnis sich noch weiter abkühlte. Dem Leiter der Fakultät erzählte ich beim Einstellungsgespräch von dem Roman, allerdings erwähnte ich nicht, dass er Wurzeln in meiner eigenen Vergangenheit hatte. Der Mann fand es ohnehin skandalös genug, dass ich einen Unterhaltungsroman geschrieben hatte, und erklärte sich ohne viel Überredung einverstanden, die Sache geheim zu halten. Das gestaltete sich einfacher als erwartet: Es gab nur minimale Überschneidungen zwischen meinen zwei Welten. Auf Lesungen sah ich nie ein bekanntes Gesicht, und den Großteil der Pressearbeit versuchte ich von zu Hause abzuwickeln. Ich wurde zu einer Meisterin des E-Mail- und Telefoninterviews.
Sean McDougal ist die erste echte Bedrohung, mit der ich mich konfrontiert sehe.
Nachdem er eine Zeitlang in seinem Rucksack gewühlt hat, fördert er ein zerfleddertes Taschenbuch zutage. Es ist aufgequollen und dunkel, als hätte er es vor dem Ertrinken gerettet – oder in die Badewanne fallen lassen, was mir wahrscheinlicher vorkommt. »Ich hab’s gebraucht bei Amazon gekauft«, sagt er. »Praktisch umsonst, bis auf das Porto.«
Es ist Der Wald so still.
Der Gedanke, dass dieser ungepflegte Rüpel in meinem Leben – ja sogar in meinen Sätzen – herumstochert, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Trotzdem ist es wohl kaum eine Katastrophe. Ich überlege angestrengt und versuche vorauszuahnen, wie dieser schrecklich unsympathische junge Mann die Sache nutzen könnte, um mir zu schaden.
Mir fällt nichts ein.
Für eine Romanautorin ist das wohl ein Armutszeugnis.
Ich gehöre auf die Bühne. Das hat Zed mir gesagt (so haben wir ihn immer genannt – wie den englischen Buchstaben Z; seinen echten Namen haben wir erst hinterher erfahren), und ich wusste gleich, dass er damit recht hat. Trotzdem bin ich beim Film gelandet. Angeblich taugt mein Gesicht besser für die Leinwand. Fürs Theater braucht man ein Sprechgesicht. Große Augen, einen breiten, ausdrucksstarken Mund, scharfe Wangenknochen, eine gut definierte, ja markante Nase. »In gewisser Weise«, sagt mein Agent, »bist du zu hübsch.« Und das ist nicht als Kompliment gemeint. Er sagt nicht mal schön. Er sagt hübsch, verdammte Scheiße. Und hübsch ist genau das Richtige für gewisse Rollen in gewissen Filmen.
»Was du dir in Bezug auf deine Figur vergegenwärtigen musst«, hat mir einmal ein Regisseur gesagt, »ist, dass sie zwar schön ist, aber davon gar nichts weiß. Deshalb verlieben sich alle in sie. Das Geheimnis ihrer Schönheit ist ihre Unschuld.«
»Ihre Dummheit, meinst du wohl?«, sagte ich mit einem Lachen. Der Regisseur lachte nicht. Er wusste gar nicht, worauf ich hinauswollte, und erklärte mir das Ganze noch einmal von vorn, als hätte ich nicht seit der Highschool immer wieder dieselben Sprüche gehört. Sie ist so hübsch, und sie weiß es nicht mal!, sagten die Leute bewundernd über gewisse Mädchen.
Denn nur dann kann man einer Frau ihre Schönheit verzeihen: wenn sie ein Dummkopf ist – oder eine Lügnerin.
Man kann nicht in dieser Welt groß werden, ohne in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen, wie sehr man den Frauen in den Illustrierten oder im Fernsehen ähnelt (oder ihnen eben nicht ähnelt). Und für den Fall, dass man nicht von selbst darauf kommt – weil man so wahnsinnig bescheiden ist, oder was auch immer –, wird die Welt einen schon darauf aufmerksam machen. Genau wie die Welt einen garantiert darauf aufmerksam machen wird, wenn man hässlich oder fett oder auf irgendeine andere Weise inakzeptabel ist. Damit meine ich nicht, dass die Leute es einem notwendigerweise ins Gesicht sagen (obwohl es früher oder später jemand tun wird), sondern dass sie es einen spüren lassen. Man sieht es an ihren Blicken, an der Art, wie sie sich einem gegenüber verhalten.
Wie gesagt: außer man ist dumm oder vollkommen verblendet. Bestimmt gibt es solche Fälle auch.
»Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun«, versuchte ich damals dem Regisseur begreiflich zu machen, obwohl ich längst erkannt hatte, dass es zwecklos war. »Es geht einfach nur darum, dass man die Dinge beim Namen nennt.«
Er fand, so wie ich meine Figur anlegte, sei sie zu wissend, zu selbstreflektiert. So würden die Zuschauer keine Sympathie für sie entwickeln, meinte er.
Mitunter denke ich, dass wir ein Land voller Heuchler sind. Und ich bin einer von ihnen: Am Ende habe ich die Rolle so gespielt, wie er es wollte. Meine Figur geriet zu einer kitschigen Männerphantasie, nicht zu einer echten Person.
Und trotzdem wurde ich nicht berühmt.
Ich mache es mir im Bademantel mit einer Tasse Tee an einem sonnigen Fenster gemütlich, um endlich das Drehbuch zu lesen, mit dem mir Martin schon seit geraumer Zeit in den Ohren liegt. Er findet es gut, meinte, ich würde davon begeistert sein, aber ich traue ihm nicht so recht. Sein Enthusiasmus macht mich nervös: Ich weiß, dass seine Hoffnungen in Bezug auf mich nicht mehr dieselben sind wie früher, und ich fürchte mich davor, herauszufinden, was er inzwischen als »großartige Rolle« für mich empfindet – vielleicht eine nervige Mutter in einem Teenieklamauk oder die klammernde, shoppingsüchtige Ehefrau in einer romantischen Komödie, in der natürlich andere Figuren im Mittelpunkt stehen. Karikaturen. Ich bin fast dreißig, und da es mir nicht gelungen ist, Nicole Kidman oder Julia Roberts zu werden, ist das alles, wofür ich auf dem Schauspielerinnenmarkt noch tauge: Karikaturen.
Das Drehbuch beginnt mit einer Konfrontation zwischen der Polizei und einem einzelnen Schützen, der sich in einer Hütte im Wald verschanzt hat. Zwei hübsche Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, legen im Wohnzimmer der rustikalen Hütte ein Puzzle, während ihre furchtsamen Blicke immer wieder zum Fenster gehen. Auf der Veranda sitzt ein Mann mit einem Gewehr in der Hand und blickt ruhig in den Wald hinaus. Die Hütte ist umstellt. Die Polizei rückt vor, und der Mann ignoriert wiederholt die durchs Megaphon gebrüllten Befehle. Er macht keinerlei Anstalten, sich mit erhobenen Händen zu ergeben. Die Mädchen sind starr vor Angst. Sie sind sauber und ordentlich, wenngleich etwas sonderbar gekleidet: Sie tragen schlichte dunkle Baumwollkleider, ihre langen Haare hängen offen herunter. Sie ähneln entfernt den Mitgliedern einer Sekte.
Plötzlich kommt es zu einem Tumult – der Zuschauer sieht ihn nicht, er hört ihn nur –, als die Polizei sich der Hinterseite der Hütte nähert. Der Mann hebt das Gewehr.
Ich lese zehn Seiten, bevor ich aufstehe, in die Küche gehe und meinen Tee gegen eine Bloody Mary eintausche. Ich hätte wirklich gerne etwas Stärkeres, aber streng genommen ist es noch Vormittag, also ist die Bloody Mary mein Kompromiss. Dann gehe ich zurück und lese die erste Szene ein zweites Mal. Ich muss mich vergewissern, dass ich nicht den Verstand verloren habe.
Martin ist nicht in seinem Büro, und er geht auch nicht ans Handy. Ich hinterlasse ihm fünf Nachrichten. Ich muss wissen, ob das ein Scherz ist. Ich wüsste nicht, wie das sein könnte, aber andererseits weiß ich auch nicht, was es sonst sein sollte. Es gibt gewisse Unterschiede – wir waren oben, als es passierte, nicht im Wohnzimmer. Es gab auch kein Puzzle: Stattdessen diskutierten wir über die Kostüme für ein Theaterstück, an dem wir gerade probten. Aber die Kleider, die Haare. Die Hütte. Der Mann im Adirondack-Stuhl. Meine eigene beschissene Geschichte.
Es dauert wesentlich länger, als es sollte, bis ich begriffen habe, dass ich nicht eins der entführten Mädchen spielen soll. Nein, ich bin für den Part der Ermittlerin vorgesehen, die sich den Fall zu sehr zu Herzen nimmt, durch deren Hilfe die Mädchen aufgespürt werden können, die zwischenzeitlich eine regelrechte Obsession für den Kidnapper entwickelt, die sich beklemmenden Wahrheiten aus ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss, bla, bla, bla. Das ist meine Rolle.
Eigentlich müsste es mich ja beruhigen, dass ich keine Ahnung habe, wer zum Teufel diese Frau sein soll, und nur annehmen kann, dass sie – ähnlich wie das Puzzle – frei erfunden ist, stattdessen jedoch ärgere ich mich darüber. So vieles an der Geschichte ist mir vertraut, dass die Abweichungen unangenehm hervorstechen.
Der Anfang des Drehbuchs ist das Ende der Geschichte. Danach wird die Handlung bis zu diesem Augenblick erzählt, angefangen bei dem Zeitpunkt, als das erste Mädchen zu dem Mann ins Auto steigt. Hier und da sind einige weitere Unwahrheiten eingestreut.
Hier kommt meine Geschichte. Die Geschichte, die Lois gestohlen hat. (Es kann nur Lois gewesen sein, wer sonst?) Wir sind nie in Motels abgestiegen, der Mann und ich. Wir haben im Wagen geschlafen. Ich befand mich die meiste Zeit in einem angenehmen, trägen Dämmerzustand. Er hat zwischendurch kurz auf Parkplätzen, am Ende von Sackgassen oder in kleinen Parks die Augen zugemacht. Beim ersten Mal hat er einen dicken Strick durch eine meiner Gürtelschlaufen gezogen und ihn sich ums Handgelenk gebunden: Falls ich mich bewegte, erklärte er mir ganz selbstverständlich, würde er davon aufwachen. Es klang nicht nach einer Drohung, obwohl es in gewisser Hinsicht vermutlich eine sein sollte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass er eine Waffe im Handschuhfach hatte. In Nebraska besaß so ziemlich jeder eine Waffe – aber diese hier war anders, eine kleine, handliche Pistole. Wie im Fernsehen, dachte ich. Davor hatte ich noch nie etwas anderes zu Gesicht bekommen als Jagdgewehre.
Man weiß nie, wer da draußen herumläuft oder auf was für verrückte Ideen die Menschen kommen, sagte er, als ich die Pistole sah, wie um mir zu versichern, dass sie nicht für mich gedacht war, sondern zur Abschreckung gegen lästige Fremde dienen sollte, denen wir möglicherweise unterwegs begegnen würden. Er klang ein wenig entschuldigend, wenn nicht gar verlegen.
Aber wir begegneten niemandem. Sofern sich die Leute überhaupt Gedanken über uns machten, schienen sie uns für Vater und Tochter zu halten – obwohl er sehr jung Vater geworden sein musste, um in seinem Alter bereits ein zwölfjähriges Kind zu haben. Eins der Dinge, die mir während der Fahrt auffielen, war, dass die meisten Menschen vollkommen auf sich und ihre eigenen Probleme fixiert waren. Für jemanden wie mich, der an die kleinstädtische Neugier und Wichtigtuerei von Arrow gewöhnt war, war es eine faszinierende Erfahrung: Wir durchquerten einen Ort nach dem anderen, ohne dass irgendjemand von uns Notiz genommen hätte. Wir waren wie Geister.
So froh ich war, aus Nebraska weg zu sein, so wenig Eile hatte ich, an irgendeinem anderen Ort anzukommen. Es gefiel mir, die Welt an meinem heruntergekurbelten Fenster vorbeifliegen zu sehen: Ackerland, das in kleine staubige Ortschaften überging, der heiße Wind, der durch meine hässliche Barbieperücke wehte. Teilweise ist mir die Fahrt als eine Abfolge von Gerüchen im Gedächtnis geblieben: Kuhfladen, Hühnerhöfe, Fast Food, Holzkohlegrills, frisch gemähtes Gras, Donutläden. Einmal saßen wir eine Weile in einem Städtchen fest, weil dort – aus uns unbekanntem Anlass – gerade eine Parade abgehalten wurde. Da wir nicht weiterfahren konnten, stiegen wir einfach aus und schauten zu, als gehörten wir zu den Bewohnern. Ich habe immer noch den satten Geruch von Zuckerwatte und Hotdogs und fettgebackenen Krapfen in der Nase. Fast hatte man den Eindruck, die Atmosphäre in der Stadt wäre etwas, das man essen konnte, auch wenn man es hinterher bereuen würde.
Auf dem Rückweg zum Auto kaufte er mir Zuckerwatte, und für die nächsten Meilen wickelte ich mir die klebrigen Fetzen um die Zunge, heilfroh, dass ich nicht die blonde Milchkönigin war, die in einem weißen Cabrio durch den Ort kutschiert wurde und der Menge mit einer Drehung des Handgelenks zuwinkte, so als wäre ihre Hand bloß eine nutzlose Flosse. Das starre Lächeln in ihrem rotwangigen Gesicht hätte meins sein können. Gott sei Dank, dachte ich, als wir wieder unterwegs waren.
Du hättest schreien können, sagten die Leute später. Du hättest weglaufen können, du hättest irgendjemanden um Hilfe bitten können. Er scheint dir doch ausreichend Gelegenheit gegeben zu haben.
Lois Lonsdale ist außer mir der einzige Mensch auf der Welt, der diese Geschichte kennt.
»Hatten Sie jemals Sean McDougal in einer Ihrer Veranstaltungen?«, frage ich Kate LeBlanc. Dabei kenne ich die Antwort bereits, weil ich mir seine Akte angesehen habe: Er hat vergangenes Semester ein Überblicksseminar bei ihr belegt. Kates Spezialgebiet ist die frühe amerikanische Literatur, und in diesem Augenblick kommt mir der Gedanke, dass die Falten, die von ihren Nasenflügeln abwärts bis zu den Winkeln ihres schmallippigen Mundes verlaufen, etwas nachgerade Puritanisches haben. Sie erwecken den Eindruck, als verziehe sie permanent missbilligend das Gesicht, selbst wenn ihre Miene eigentlich neutral ist. Ich frage mich, ob dies hier womöglich ein Fehler ist. In der Regel bitte ich niemanden um Hilfe. Kate und ich sitzen in einem Café in der Stadt, in einer Ecke mit größtmöglichem Abstand zur Tür, die sich immer wieder öffnet, um Stöße winterlich kalter Luft hereinzulassen. Es ist einigermaßen gemütlich hier, und der Kaffee schmeckt auch nicht schlecht. Das Flair ist so großstädtisch, wie man es in einem Ort dieser Größe eben erwarten kann. Die Bilder lokaler Künstler, die an den Wänden hängen, sind rührend überteuert, und keins von ihnen wird jemals verkauft.
»Einmal. Im letzten Semester.« Kate nippt an ihrem Tee, da sie, wie sie mir begierig erklärt hat, kürzlich Kaffee von ihrem Speiseplan gestrichen hat. Solche willkürlichen Akte der Selbstkasteiung machen mich nervös, genau wie ihre nächsten Worte. »Wieso? Haben Sie Schwierigkeiten mit ihm?« Hätte sie gesagt: »Macht er Ihnen Schwierigkeiten?«, wäre alles in Ordnung. Stattdessen schiebt sie mit ihrer Formulierung, ob nun bewusst oder unbewusst, die Verantwortung für das Problem mir zu.
Ich lasse nicht locker, weil ich Bescheid wissen muss: Hat Sean speziell mich herausgegriffen – denn so kommt es mir vor, und ganz eindeutig will er, dass ich das denke –, oder benimmt er sich bei jedem so?
»Manchmal ist er mir einfach ein bisschen unheimlich«, sage ich so beiläufig wie möglich. Ich will ihr klarmachen, dass das Problem ganz allein bei ihm liegt: Weder bin ich diejenige, die unheimlich ist, noch neige ich dazu, in meiner Paranoia überall unheimliche Dinge zu sehen oder aus jeder noch so alltäglichen Begebenheit gleich ein persönliches Drama zu machen.
»Wirklich!« Kate macht große Augen. Ihre langen Ohrringe aus bunten Perlen zittern und schimmern, ein Echo ihres Erstaunens. »Seltsam. Er ist eigentlich ein kluger Kerl. Ziemlich ruhig, sicher, aber als unheimlich würde ich ihn nicht bezeichnen. Wie genau äußert sich das denn? Wenn ich fragen darf?«
Klug? Interessant. »Na ja, im Seminar eigentlich gar nicht. Ich merke nur, wie er mich manchmal so anstarrt. Das macht mich nervös. Und er kommt sehr oft zu mir ins Büro. Auffällig oft.«
»Ja, er ist ein großer Freund von Sprechstunden«, sagt Kate. »Wahrscheinlich, weil er sich nicht traut, im Seminar den Mund aufzumachen. Den Eindruck hatte ich zumindest von ihm. Mit Situationen unter vier Augen kommt er besser zurecht.« Was eine gute Dozentin auch erkennen und fördern würde. Sie spricht es nicht aus, aber es steht im Raum.
Warum weigert sie sich, auch nur die Möglichkeit anzuerkennen, ich könnte recht haben? Was verspricht sie sich davon? Mir wird klar, dass dies der Punkt ist, an dem ich das Gespräch lieber beenden sollte; ich sollte das Thema wechseln und stattdessen über die Frühjahrsferien oder über die Läden hier reden. Das tue ich aber nicht. Der scheue, intelligente Student, den sie mir beschreibt, ist nicht der Sean, den ich kennengelernt habe, und meine Bedenken ihm gegenüber wachsen nur noch.
»Ja, aber etwas an seinem Verhalten ist so distanzlos, wenn Sie verstehen. Das meinte ich mit unheimlich. Er scheint sich sehr stark für mein Leben zu interessieren – allemal mehr als für das, was ich über die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zu sagen habe. War das bei Ihnen auch so?«
Etwas wie Abscheu huscht über Kates Züge, und sie fällt mir mit einer scharfen, abfälligen Handbewegung ins Wort. »Ach, Lois. An Ihrer Stelle würde ich mir darüber keine Gedanken machen. Sie dürfen nicht vergessen, dass er ein sozial sehr gehemmter Mensch ist. Ich glaube, er hat einfach wenig Kontrolle über die Signale, die er aussendet. Meiner Ansicht nach sollten Sie keine voreiligen Schlüsse daraus ziehen oder Ihrem ersten Eindruck allzu große Bedeutung beimessen. Sie sind noch neu hier, und wir sind ein kleines College. Sicher sind die Studenten in Bezug auf Ihre Person neugierig und wissen nicht immer, wo die Grenzen sind. Aber ich würde Neugier nicht mit Besessenheit gleichsetzen.«
Ich habe das Wort Besessenheit nie in den Mund genommen: Es kommt von ihr, und es ist ein feindseliges Wort. Bestürzt sehe ich sie an; in ihren Augen steht geschrieben, was sie wirklich denkt: Natürlich glauben Sie, alle jungen Männer wären von Ihnen besessen, weil Sie hübsch sind. Und was noch schlimmer ist: Sie sind so eitel, dass ich es Ihnen jetzt auch noch bestätigen soll. Sie warten darauf, dass ich sage: »Aber Lois, Ihnen muss doch klar sein, dass junge Männer sich Ihnen gegenüber immer so verhalten werden.« Haben Sie vielleicht mal darüber nachgedacht, sich die Haare zusammenzubinden oder sich unauffälliger zu kleiden? Sie sind genau die Sorte krankhaft selbstbezogener Frau, die ständig nach Lob und Anerkennung lechzt …
Ich lege die Hände um meine Kaffeetasse, um sie zu wärmen, auch wenn der Kaffee schon fast kalt geworden ist. Kate irrt sich. Ich bin nicht auf Schmeicheleien aus, nicht von meinen Studenten und schon gar nicht von ihr. Was ich will, sind Informationen, seien sie auch noch so vage. Ich will wissen, ob mein Verdacht gerechtfertigt ist und ich mir Sorgen machen muss. Doch an dem angespannten Zug um ihren Mund und dem ungehaltenen Tappen ihres Fußes auf dem Boden erkenne ich, dass sie mir keine Hilfe sein wird; mehr noch, ich habe sie gegen mich aufgebracht. An einer kleinen Fakultät wie unserer kann man es sich nicht leisten, Feinde zu haben. Plötzlich muss ich an meine Mutter denken. »Warum mögen die anderen mich nicht?«, habe ich sie einmal gefragt, nachdem ich in der Grundschule von Mitschülern zurückgewiesen worden war. »Ach, die sind wahrscheinlich bloß neidisch«, antwortete sie unbestimmt und knipste eine verwelkte Blüte von einem Rosenbusch vor dem Hotel ab. Sie konnte mich allerdings nicht davon überzeugen, dass sie meine Welt überhaupt gut genug verstand, um eine solche Äußerung zu tätigen. Später stellte ich einer meiner Therapeutinnen dieselbe Frage, inzwischen wollte ich unbedingt eine Antwort darauf haben. »Was glauben Sie denn?«, fragte sie auf die ihr eigene hilfreiche Art zurück, den Kopf forschend zur Seite geneigt.
Ich leere meine Kaffeetasse und wechsle das Thema: Ich komme auf den Schnee zu sprechen, der fürs Wochenende angesagt wurde, und wir weichen auf eine angeregte Unterhaltung über das Wetter aus. Schließlich habe ich erfahren, was ich erfahren wollte: Sean verhält sich nur mir gegenüber so, normalerweise gibt er sich anders. Es ist also etwas Persönliches, er will etwas von mir.
Der Teil meines Gehirns, der nicht aktiv an der Wetterdiskussion beteiligt ist, flüchtet sich vor lauter Unbehagen in ein altes Spiel aus meinen Buchstabiertagen. Das passiert mir in letzter Zeit häufiger. Kate, denke ich; Wörter mit K: Kaleidoskop, Keratin, Kamikaze, Krypton, koscher, Krinoline. Es gibt weniger K-Wörter, als man meinen möchte. K-Wörter sind hart und eckig: Sie passen zu ihr, denke ich, schlinge sie ihr um den Hals und binde sie wie Anker an ihre Knöchel. Ich behänge Kate mit K-Wörtern. Das beruhigt mich ein wenig.
Ja, der dritte Platz beim Buchstabierwettbewerb auf nationaler Ebene, genau wie ich es Sean gegenüber erwähnt habe: Das ist ein Geheimnis, das zu hüten sich nicht lohnt. Es war in einer Zeit, als sich noch niemand für das Thema interessierte, bevor es Filme über Buchstabierwettbewerbe gab, bevor im Fernsehen darüber berichtet wurde, bevor Buchstabieren Anfang des neuen Jahrtausends irgendwie schick wurde. Mit zehn las ich im Kinderteil der Zeitung einen Artikel über einen Jungen, der einen regionalen Buchstabierwettbewerb gewonnen hatte. Neugierig geworden, schaute ich mir die Liste der Wörter an, die er für seinen Sieg hatte buchstabieren müssen. Galanterie, Pamphlet, Feuilleton, illuster, achterlich, Forsythie, Pumpernickel. Die meisten dieser Wörter, das wusste ich, kamen nur in Büchern vor, nicht in den Unterhaltungen echter Menschen; die Hälfte davon hätte ich nicht einmal richtig aussprechen können, trotzdem kannte ich sie. Und die übrigen, mir noch unbekannten Wörter prägten sich meinem Gedächtnis sofort ein. Ich spürte förmlich, wie es geschah.
Das kann ich auch, dachte ich und erging mich prompt in Siegesphantasien. Ich war überzeugt, für Großes bestimmt zu sein, und es kam mir ungerecht vor, dass mein Leben als Fünftklässlerin so wenig Gelegenheit bot, mich unter Beweis zu stellen. Buchstabieren wäre ein Anfang, dachte ich mir.
Ich begann, indem ich aus Wörterbüchern Listen zusammenstellte und mich selbst prüfte. Ich bat meine Eltern um Hilfe, die mein neues Hobby zwar wunderlich, aber harmlos fanden, und einen Englischlehrer, der hoffte, durch mich zu Ruhm und Ehre zu kommen. Ich meldete mich bei einem regionalen Wettbewerb an und schaffte es als eine der jüngsten Teilnehmerinnen ins Finale. In dem Jahr gewann ich noch nicht, aber im darauffolgenden. Als ich zwölf war, hatte ich mich für die nationale Ausscheidung in Washington, D. C., qualifiziert.
Am Ende zog ich mich recht bald wieder aus der Buchstabierszene zurück. Zum einen hatte nach meiner Rückkehr aus den Adirondacks die Vorstellung, bekannt zu sein, jeden Glanz verloren; mein Bild in der Zeitung zu sehen löste nicht länger Begeisterung in mir aus.
Aber die Wörter blieben für alle Zeiten in meinem Kopf.
Als ich das Café verlasse und den verschneiten Gehweg entlangstapfe, mache ich mit L weiter.
Loggia, larmoyant, limnisch.
Selbst ich muss zugeben, dass meine Kindheit, von außen betrachtet, etwas Malerisches hatte. Das weitläufige neuenglische Landhotel, die Pferde, die prasselnden Feuer in den Kaminen und fünf Meter hohe Christbäume – man kann sich ihrem Charme nicht entziehen. Doch selbst vom Krieg zerstörte Dörfer in den Fernsehnachrichten, wo zerlumpte, unterernährte Kinder zwischen den pittoresken Bombentrümmern alter Steinhäuser spielen, können bisweilen malerisch aussehen. Das bedeutet nicht, dass man dort leben möchte. Ich will die Leiden meiner Kindheit nicht überbewerten, sondern nur zum Ausdruck bringen, dass es möglich ist, in einer Umgebung, die andere Menschen auf einer Postkarte bewundern, todunglücklich zu sein.
Meine Eltern führten ein Landhotel. Das Anwesen befand sich seit Generationen im Besitz der Familie meiner Mutter. Sein Herzstück war ein annähernd quadratischer Bau im Kolonialstil, flankiert von zwei langen Seitenflügeln, die zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt worden waren. Aus dem hinteren Teil des Gebäudes ragte, wie ein überzähliger Fangarm, ein dritter Anbau hervor. Durch ihn gelangte man zu dem, was meine Mutter heute noch als den Küchengarten bezeichnet. In dem Anbau hatte sie ihre frühe Kindheit verbracht – in diesem ästhetisch fragwürdigen Appendix hinter dem Haus, der von der Straße aus nicht zu sehen war und somit den majestätischen Eindruck und die Symmetrie des Haupthauses nicht stören konnte. Es war nicht der schönste Teil des Anwesens, aber der praktischste: Zum einen waren die kleinen Räume mit den niedrigen Decken leichter zu heizen, zum anderen sahen die bequemen modernen Möbel, mit denen meine Großeltern sie ausgestattet hatten, darin nicht klein und armselig aus. Der Rest des Hauses war damals noch verschlossen – ungenutzt, ungeheizt. Meine Mutter hat mir allerdings erzählt, dass sie als Kind Durchgänge zu den langen Fluren, den mit Tüchern verhangenen Zimmern entdeckte und dort spielte, so wie zweifellos alle Kinder in den zweihundert Jahren vor ihr.
Dann kam mein Großvater zu Geld. Zu viel Geld. Es war ihm gelungen, auf den Zug der boomenden Versicherungsbranche in Hartford aufzuspringen. Und schon bald, so berichtet meine Mutter, fielen Scharen von Handwerkern ins Haus ein, um es in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, bis schließlich das gesamte Anwesen wieder offen war und die Fensterscheiben im Sonnenlicht blinkten. Die Familie zog ins Haupthaus zwischen elegante Möbel und Lüster aus einer anderen Ära.
Meine Mutter erbte das Haus, jedoch nicht genug Geld, um es instand zu halten; die Restaurierung hatte bereits einen Großteil des Vermögens meines Großvaters verschlungen, und seine immer extravaganter werdenden Lebensgewohnheiten hatten es weiter schrumpfen lassen. (Man munkelte, so meine Mutter, von geheimen Kartenspielen, Pferderennen, teuren Mätressen in der Stadt.) Sie war in der Annahme groß geworden, dass sie einmal eine gute Partie machen und so den Fortbestand des Hauses sichern würde – was zutiefst viktorianisch klingt, das ist mir durchaus bewusst. Sie besuchte das Mount Holyoke College, sie war begabt, sie wurde nicht ausschließlich darauf vorbereitet, sich einen guten Mann zu angeln. Doch die Familie genoss in der Gesellschaft des Ortes ein hohes Ansehen: Man verkehrte mit anderen wohlhabenden Familien, und sie traf sich mit jungen Männern, die dazu auserkoren waren, Bankiers oder Ärzte oder Versicherungsmagnaten zu werden. Teure Kleider und Pelze und Autos und Ausflüge in die Stadt. Pferde, Tennis.
Doch Miranda Sheridan heiratete niemanden aus dieser Welt. Sie heiratete meinen Vater, der zwar hochfliegende Pläne unbestimmter Art, aber keinen Pfennig Geld hatte. Genau wie sie war Stephen Lonsdale Maler – wenigstens dachte er das damals, aber er gab die Malerei schon kurz nach der Hochzeit wieder auf. Meine Mutter hingegen zieht sich auch heute noch regelmäßig in ihr Atelier zurück, obwohl sie ihre Arbeiten nur selten ausstellt oder verkauft. Ihre großen abstrakten Leinwände verleihen den Gemeinschaftsräumen des Hotels eine museale Atmosphäre; in den Gästezimmern, behauptet mein Vater, würden sie zu einschüchternd wirken. Den Schilderungen meiner Mutter zufolge hatte sich Stephen vom Luxusleben der Sheridans verführen lassen, obwohl er es gleichzeitig verachtete – eine Haltung, die er vor meinem Großvater, einem ergrauten, steifen und durch und durch ehrbaren Mann, nicht ganz verbergen konnte.
Nach dem Tod meines Großvaters kamen meine Eltern, die zwei mittellosen Gelegenheitsexzentriker, zu dem Schluss, dass sich das Haus irgendwie selbst finanzieren müsse. Was es auch nach wie vor auf bewundernswerte Weise tut. Also verbannten sie sich selbst (und später dann auch mich) in einen der Seitenflügel und bauten den Rest des Hauses zu einem hübschen neuenglischen Landhotel um, von dem später auch in zahllosen Reisemagazinen berichtet wurde: Hochglanzfotos einer exklusiven ländlichen Pracht, die für mich nie nach Zuhause aussah.
Was für ein herrlicher Ort für ein Kind! Ich kann gar nicht zählen, wie viele Leute mir das schon gesagt haben. Aber stellen Sie sich vor: Das Haus war immer voll, und meine Eltern hatten ständig mit den Gästen zu tun. Deren Bedürfnisse und Wünsche waren uferlos, und der Lebenszweck meiner Eltern bestand darin, jedem einzelnen von ihnen nachzukommen. Tagsüber sah ich nur wenig von meiner Mutter und meinem Vater. Zum Abendbrot kamen wir zwar für gewöhnlich zusammen, doch obwohl wir absichtlich spät aßen, in der Hoffnung, dass sich die Gäste dann größtenteils auf ihre Zimmer zurückgezogen hätten, kam es oft genug vor, dass wir durch die Klingel gestört wurden, über die unser bescheidenes Quartier mit dem Rest des Hauses in Kontakt stand. Dann seufzten meine Eltern jedes Mal und sahen sich über den Tisch hinweg wortlos an. Mit diesem Blick machten sie aus, wer an der Reihe war zu gehen – beziehungsweise wer am wenigsten getrunken hatte.