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Spook. Band 6: Das Opfer des Geisterjägers. Eine temporeiche Abenteuergeschichte über den Kampf gegen Hexen und Dämonen. Fortsetzung der erfolgreichen Spook-Jugendbuchreihe. Fantasy ab 12. Gruselige Gespenster und biestige Boggarts: Die Abenteuer von Geisterjäger Tom Ward Als Lehrling des Spooks ist es Toms erste Pflicht, die Grafschaft vor der Dunkelheit zu schützen. Doch nun benötigt Mum seine Hilfe in ihrer Heimat Griechenland, um sich gegen einen der alten Götter, den Ordeen, zu erwehren. Doch welches Geheimnis verbirgt Mum vor Tom? Und welche Opfer müssen im Kampf gegen die Dunkelheit gebracht werden? "Spook. Das Opfer des Geisterjägers" ist der sechste von mittlerweile 13 Bänden der Bestseller-Fantasy-Reihe "The Wardstone Chronicles". Die beliebte Fantasy Jugendbuch-Reihe erzählt die Geschichte eines jungen Helden, der die Welt vor den schauderhaftesten Kreaturen bewahrt. - Ein Geisterjäger im Fadenkreuz dunkler Mächte: Band 6 der legendären "Spook"-Reihe - Tempo- und wendungsreiche Fantasy: Geister, Hexen und gefährliche Geheimnisse - Meisterhaft erzählte Gruselgeschichte für Kinder und junge Erwachsene ab 12 Jahren - Ein Muss für alle Fans von "Harry Potter", "Percy Jackson" und ähnlichen Jugendbüchern - Fantasy zum Abtauchen: Besser gruseln mit den schaurig-schönen Illustrationen von Patrick Arrasmith Reise ins Reich der Dämonen: Eine Fantasy-Buchreihe für unerschrockene Leser*innen ab 12 Wie beschwört man einen Boggart? Und was hält gefährliche Hexen zuverlässig in Schach? Mit Geistern und Gespenstern kennt sich Tom Ward bestens aus. Als siebter Sohn eines siebten Sohnes hat ihn das Schicksal zum Geisterjäger auserkoren, der den Mächten der Finsternis unerschrocken den Kampf ansagt. Joseph Delaney, der Schöpfer von "Spook", ließ sich bevorzugt von alten Geister-Legenden aus seiner Heimat Lancashire inspirieren. Mit seinen Abenteuergeschichten rund um den blutjungen Geisterjäger hat er einzigartiges Universum erschaffen, das der Reihe bis heute einen Platz unter den beliebtesten Fantasy-Büchern ab 12 sichert.
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Seitenzahl: 315
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foliant Verlag1. Auflage: 2023
Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel»The Wardstone Chronicles – The Spook’s Sacrifice«bei Random House Children’s Publishers UK, a part of the Penguin Random House group of companies© 2009 Joseph Delaney
Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Tanja Ohlsen liegen beim foliant Verlag, Hegelstr.12,74199 Untergruppenbach
Umschlagbild: © „Talexi“ Alessandro Taini, 2009Innenillustrationen: © Patrick Arrasmith
Übersetzung: Tanja OhlsenSatz: Kreativstudio foliant
E-Book AusgabeISBN 978-3-910522-06-0auch als Trade-Paperback erhältlich
www.foliantverlag.de
JOSEPH DELANEY (1945 - 2022)
war früher Englischlehrer, bevor er der Bestsellerautor der Spook‘s-Serie wurde, die in dreißig Ländern veröffentlicht und millionenfach verkauft wurde. Er war verheiratet, hat drei Kinder sowie seine Enkelkinder. Sein Haus liegt mitten im Boggartgebiet, und in seinem Dorf gibt es einen Boggart namens Hall Knocker, der unter der Treppe eines Hauses in der Nähe der Kirche zur Ruhe gelegt wurde. Die meisten Schauplätze in den Spook‘s-Büchern basieren auf realen Orten in Lancashire und wurden manchmal der magischen Welt des Spooks angepasst. Die Inspiration für die Geschichten stammt meist aus lokalen Geistergeschichten und Legenden.
Zitat: ‚Niemals aufgeben! Bleiben Sie dran!‘
Gewinner des Lancashire sowie Hampshire Book Award und Gewinner des Prix Plaisirs de Lire
Für Marie
1. Die Mänade
2. Das Bestiarium des Spooks
3. Ein Wechselbalg?
4. Entscheidungen
5. Alice Deane
6. Eine unheilvolle Prophezeiung
7. Die Reise beginnt
8. Die jungen Damen
9. Was ich bin
10. Eine Gesandtschaft von dreizehn
11. Nächtlicher Angriff
12. Lamias
13. Mein Blut
14. Vorzeichen
15. Der Sturm auf den Ord
16. Füllt den Becher!
17. Feuerelementargeister
18. Ein Handel
19. Dein Schicksal
20. Die ganze Wahrheit
21. Ein scharfer Zahn
22. Letzte Worte
23. Seine furchterregende Majestät
24. Das kann nicht wahr sein
Tagebuch von Thomas J. Ward
Ich wachte abrupt auf, mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Vor dem Fenster zuckten Blitze, denen fast sofort dröhnender Donner folgte. Die Stürme hier hatten mich früher nicht geweckt, daher musste es etwas Anderes sein. Nein, ich hatte das Gefühl, als drohe irgendeine Art von Gefahr.
Als ich aus dem Bett sprang, sah ich, wie der Spiegel über meinem Waschtisch plötzlich heller wurde. Ich erhaschte den Anblick eines Gesichtes darin, das schnell wieder verschwand, doch nicht, bevor ich es erkannt hatte. Es war Alice.
Auch wenn sie zwei Jahre als Hexe ausgebildet worden war, war Alice meine Freundin. Der Spook hatte sie verbannt, daher war sie nach Pendle zurückgekehrt. Ich vermisste sie, hielt aber mein Versprechen gegenüber meinem Meister und ignorierte all ihre Versuche, mit mir in Verbindung zu treten. Doch dieses Mal konnte ich das nicht. Sie hatte eine Nachricht für mich in den Spiegel geschrieben und ich konnte nicht umhin, sie zu lesen, bevor sie verblasste.
Was war denn eine Mänaden-Attentäterin? Von so etwas hatte ich noch nie gehört. Und wie sollte eine Mörderin jedweder Art an mich herankommen, wenn sie dazu durch den Garten des Spooks musste – einen Garten, der von einem mächtigen Boggart bewacht wurde? Falls jemand die Grenzen überschritt, stieß dieser Boggart erst ein markerschütterndes Brüllen aus, das man meilenweit hören konnte, und riss den Eindringling dann in Fetzen.
Und wie konnte Alice von der Gefahr wissen? Sie war doch weit weg in Pendle. Dennoch wollte ich ihre Warnung nicht ignorieren. Mein Meister, John Gregory, war losgezogen, um sich um einen lästigen Geist zu kümmern, daher war ich allein im Haus. Hier oben hatte ich nichts, um mich zu verteidigen. Mein Stab und meine Tasche lagen unten in der Küche, also musste ich hinuntergehen, um sie zu holen.
Keine Panik, sagte ich mir. Lass dir Zeit und bleib ruhig.
Schnell zog ich mich an und schlüpfte in die Stiefel. Als erneut ein lauter Donner krachte, öffnete ich die Tür und trat vorsichtig auf den dunklen Gang, wo ich stehen blieb und lauschte. Alles war ruhig. Ich war mir sicher, dass noch niemand ins Haus eingedrungen war, daher schlich ich so leise wie möglich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, durch den Flur und in die Küche.
Dort steckte ich meine Silberkette in die Hosentasche, nahm meinen Stab und ging aus der Hintertür. Wo war der Boggart? Warum verteidigte er nicht Haus und Garten gegen den Eindringling? Regen peitschte mir ins Gesicht, während ich abwartend den Rasen und die Bäume dahinter nach Bewegungen absuchte. Doch auch als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich sehr wenig sehen. Dennoch lief ich zu den Bäumen im Westgarten.
Kaum hatte ich ein Dutzend Schritte gemacht, als zu meiner Linken ein markerschütternder Schrei ertönte und ich das Hämmern von Füßen hörte. Irgendjemand kam über den Rasen direkt auf mich zu gelaufen. Ich hielt den Stab bereit und drückte in die Vertiefung, woraufhin mit einem leisen Klicken die ausfahrbare Klinge am Ende hervorsprang.
Wieder zuckte ein Blitz auf und ich sah, was mich bedrohte. Es war eine große, dünne Frau mit einer mörderisch langen Klinge in ihrer linken Hand. Ihr Haar war zurückgebunden und ihr hageres, mit einer dunklen Farbe bemaltes Gesicht war hassverzerrt. Sie trug ein langes, vom Regen durchnässtes Kleid und anstatt Schuhen waren ihre Füße mit Lederriemen umwickelt. Das war also eine Mänade, dachte ich.
Ich nahm eine Verteidigungshaltung ein, bei der ich den Stab diagonal hielt, wie ich es gelernt hatte. Obwohl mein Herz heftig schlug, musste ich ruhig bleiben und bei der ersten Gelegenheit zuschlagen.
Plötzlich sauste ihre Klinge nieder und verfehlte meine Schulter nur um Zentimeter. Ich wirbelte herum und versuchte, etwas Abstand zwischen mich und meine Gegnerin zu bringen, denn ich brauchte Platz, um meinen Stab zu schwingen.
Der Rasen war mit Regen vollgesogen und als die Mänade auf mich zu stürzte, glitt ich aus und verlor das Gleichgewicht. Beinahe wäre ich gestürzt, schaffte es aber, nur auf ein Knie zu gehen. Gerade noch rechtzeitig riss ich den Stab hoch, um mich einen Schlag abzufangen, der mir tief in die Schulter gefahren wäre. Ich schlug zurück und traf die Mänade so heftig am Handgelenk, dass das Messer auf den Boden fiel. Über uns zuckte ein Blitz auf, sodass ich die Wut in ihrem Gesicht erkennen konnte, als sie mich jetzt unbewaffnet erneut angriff. Sie schrie etwas, völlig außer sich – aus den harschen, gutturalen Lauten hörte ich ein paar Worte hervor, die ich als Griechisch erkannte. Dieses Mal wich ich zur Seite aus, um ihren ausgestreckten Händen mit den langen Klauen zu entgehen und verpasste ihr einen heftigen Schlag an die Schläfe. Sie stürzte auf die Knie und ich hätte sie leicht mit meiner Klinge durchbohren können.
Stattdessen nahm ich meinen Stab in die rechte Hand, holte die Silberkette aus der Hosentasche und wickelte sie mir ums Handgelenk. Eine Silberkette ist gegen alle möglichen Diener der Dunkelheit nützlich – aber konnte sie eine Mänade binden?, fragte ich mich.
Ich konzentrierte mich und in dem Augenblick, als sie aufstand, wurde sie von einem besonders grellen Blitz erleuchtet. Besser hätte es nicht sein können! Ich hatte mein Ziel perfekt in Sicht und ließ die Kette mit einem Knall losschnellen. Sie erhob sich in einer perfekten Spirale, fiel um ihren Körper herum und warf sie zu Boden.
Vorsichtig umkreiste ich sie. Die Kette band ihre Arme und Beine und hatte sich um ihren Kiefer gewickelt, doch sie konnte immer noch sprechen und schleuderte mir einen Strom von Worten entgegen, von denen ich nicht eines verstand. War das Griechisch? Ich glaubte ja, aber es musste irgendein seltsamer Dialekt sein.
Aber es hatte den Anschein, als hätte die Kette ihre Wirkung getan, daher verschwendete ich keine Zeit, packte sie am linken Fuß und begann sie durch das nasse Gras zum Haus zurück zu ziehen. Der Spook wollte sie sicher befragen – falls er verstand, was sie sagte. Mein Griechisch war mindestens genauso gut wie seines und für mich ergaben ihre Worte kaum einen Sinn.
Neben dem Haus stand ein kleiner Schuppen für das Feuerholz, in den ich sie zog, um aus dem Regen zu kommen. Dann nahm ich eine Laterne von einem Regal in der Ecke und zündete sie an, um mir meine Gefangene anzusehen. Als ich sie über ihren Kopf hielt, spuckte sie mich an und ein rosa Klumpen landete auf meiner Hose. Jetzt konnte ich sie auch riechen – es war eine Mischung aus Schweiß und Wein. Und noch etwas, ein schwacher Geruch nach faulem Fleisch. Als sie erneut den Mund öffnete, konnte ich Fleischstückchen zwischen ihren Zähnen erkennen.
Ihre Lippen und ihre Zunge waren dunkelrot gefärbt – ein Zeichen dafür, dass sie Rotwein getrunken hatte. Über ihr Gesicht zog sich ein komplexes Muster aus Wirbeln und Spiralen, das aussah wie rötlicher Schlamm, doch der Regen hatte es nicht abwaschen können. Wieder spuckte sie mich an, daher trat ich zurück und hängte die Laterne an einen der Deckenhaken.
In der Ecke stand ein Stuhl, den ich vor die Wand stellte, außerhalb ihrer Spuckweite. Bis zum Tagesanbruch war es noch mindestens eine Stunde, daher lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und lauschte dem Regen, der auf das Dach des Schuppens trommelte. Ich war müde und konnte es mir leisten, einzudösen. Die Silberkette hielt die Mänade fest im Griff, sie hatte keine Chance, sich zu befreien.
Ich hatte kaum ein paar Minuten geschlafen, als mich ein lautes Geräusch weckte. Erschrocken setzte ich mich auf. Es war ein lautes Rauschen und Brausen, das mit jeder Sekunde näherkam. Etwas näherte sich dem Schuppen und schlagartig wurde mir klar, was das war.
Der Boggart! Er griff an!
Ich hatte kaum Zeit, aufzuspringen, bevor die Laterne ausging und ich heftig umgestoßen wurde, sodass mir die Luft wegblieb, als ich auf dem Rücken landete. Während ich nach Luft keuchte, hörte ich, wie Holzscheite an die Wand geworfen wurden, doch am lautesten waren die Schreie der Mänade. Das Lärmen im Dunkeln hielt eine ganze Weile an, doch dann herrschte plötzlich Stille, abgesehen vom Hämmern des Regens. Der Boggart hatte sein Werk verrichtet und war fort.
Ich hatte Angst, die Laterne wieder anzuzünden, Angst, die Mänade anzusehen. Aber ich tat es dennoch. Sie war tot und sehr bleich, da ihr der Boggart das Blut ausgesaugt hatte. Ihre Kehle und Schultern trugen Spuren von Klauen und ihr Kleid war zerfetzt. Ich konnte nichts mehr tun. So etwas war noch nie vorgekommen. Sobald sie meine Gefangene war, hätte der Boggart sie nicht einmal mehr berühren dürfen. Und wo war er, als er Haus und Garten hätte verteidigen sollen?
Ich ließ den Körper der toten Mänade liegen, wo er war und ging völlig durcheinander wieder ins Haus zurück. Kurz kam mir der Gedanke, Alice über den Spiegel zu kontaktieren. Sie hatte mir das Leben gerettet und ich wollte mich gerne bei ihr bedanken. Beinahe wäre ich schwach geworden, doch ich hatte dem Spook ein Versprechen gegeben. Nachdem ich eine Weile mit meinem Gewissen gerungen hatte, wusch ich mich nur, zog mich um und wartete auf die Rückkehr des Spooks.
***
Er kam kurz vor Mittag. Ich erklärte ihm, was vorgefallen war und wir gingen hinaus, um uns die tote Attentäterinanzusehen.
»Nun, mein Junge, das wirft einen Haufen Fragen auf, nicht wahr?«, meinte mein Meister und kratzte sich den Bart. Er wirkte sehr besorgt, was mich nicht wirklich wunderte. Das Geschehene beunruhigte mich auch.
»Ich bin bislang immer davon ausgegangen, dass mein Haus hier in Chipenden sicher und geschützt ist«, fuhr er fort. »Aber das hier macht einen nachdenklich. Es kommen einem Zweifel. Von jetzt an werde ich nicht mehr so ruhig schlafen. Wie ist diese Mänade nur durch den Garten gekommen, ohne vom Boggart bemerkt zu werden? Es ist noch nie etwas an ihm vorbeigekommen.«
Ich nickte zustimmend.
»Und noch etwas beunruhigt mich, Junge. Warum hat er sie später angegriffen und getötet, als du sie schon mit der Kette gefesselt hattest? Er weiß doch, dass er so etwas nicht darf.«
Wieder nickte ich.
»Und ich muss noch etwas wissen. Woher wusstest du, dass sie im Garten ist? Es hat höllisch geregnet und gedonnert. Gehört hast du sie sicher nicht. Eigentlich hätte sie ins Haus kommen und dich umbringen müssen. Was hat dich also gewarnt?«, fragte der Spook und zog die Brauen hoch.
Ich hörte auf zu nicken und betrachtete unter dem bohrenden Blick meines Meisters meine Schuhe. Dann räusperte ich mich und erzählte ihm genau, was passiert war.
»Ich weiß, dass ich versprochen habe, dass ich nicht durch den Spiegel mit Alice sprechen würde«, schloss ich, »aber es ist so schnell passiert, dass ich gar nichts tun konnte. Sie hat schon früher versucht, Kontakt aufzunehmen, aber da habe ich immer auf Sie gehört und habe weggesehen. Bis jetzt. Aber dieses Mal war es wohl ganz gut, dass ich ihre Nachricht gelesen habe«, fügte ich ein wenig ärgerlich hinzu, »sonst wäre ich jetzt tot.«
Der Spook blieb ganz ruhig. »Nun sicher, ihre Warnung hat dir das Leben gerettet«, gab er zu. »Aber du weißt, was ich davon halte, wenn du durch den Spiegel mit dieser kleinen Hexe sprichst.«
Seine Worte ärgerten mich. Vielleicht bemerkte er es, denn er ließ das Thema fallen. »Weißt du, was eine Mänaden-Mörderin ist, Junge?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur eines – als sie mich angriff, schäumte sie fast vor Wut.«
Der Spook nickte. »Mänaden wagen sich selten aus ihrer Heimat in Griechenland heraus. Es ist ein Stamm von Frauen, die dort in der Wildnis leben und sich vom Land ernähren. Sie essen alles von wilden Beeren bis zu Tieren, die ihnen über den Weg laufen. Sie beten eine blutrünstige Göttin namens Ordeen an und beziehen ihre Macht aus einer Mischung von Wein und rohem Fleisch, mit der sie sich in einen Blutrausch bringen, bis sie bereit sind für neue Opfer. Meist ernähren sie sich von den Toten, verschmähen aber auch Lebende nicht. Diese hier hat ihr Gesicht bemalt, um noch wilder zu erscheinen, wahrscheinlich mit einer Mischung aus Wein und menschlichem Fett – und Wachs, um es zu verbinden. Sie hat zweifellos erst vor kurzem jemanden getötet.«
»Dass du es geschafft hast, sie niederzuschlagen und zu fesseln, ist gut, Junge. Mänaden haben außerordentliche Kräfte. Sie können ihre Opfer mit bloßen Händen zerreißen. Sie leben schon seit Generationen so und haben sich daher zurückentwickelt, sodass sie kaum mehr menschlich sind. Sie sind fast wie wilde Tiere, verfügen aber immer noch über eine gewisse Schläue.«
»Aber warum kommt sie den weiten Weg aus Griechenland hierher?«
»Um dich zu töten, Junge. Das ist offensichtlich. Aber warum du für sie in Griechenland eine Gefahr darstellst, kann ich mir nicht vorstellen. Allerdings bekämpft deine Mutter dort die Dunkelheit, der Angriff hat also sicher etwas mit ihr zu tun.«
Danach half der Spook mir, meine Silberkette vom Körper der Mänade zu lösen und wir brachten sie in den Ostgarten. Dort gruben wir ein schmales Grab für sie, tiefer als lang, wobei ich wie üblich die meiste Arbeit tat. Dann ließen wir sie mit dem Kopf voran in den dunklen Schacht hinunter. Auch wenn sie keine Hexe war, wollte der Spook mit Dienern der Dunkelheit kein Risiko eingehen. Schon gar nicht mit solchen, von denen wir nicht viel wussten. Vielleicht würde sie in einer Vollmondnacht versuchen, sich an die Oberfläche zu scharren – tot oder nicht. Sie würde nicht merken, dass sie in die falsche Richtung grub.
Als wir fertig waren, schickte mich der Spook ins Dorf, um den Steinmetz und den Schmied aufzusuchen. Bis zum späten Abend hatten sie die Steine und Gitterstäbe über ihrem Grab angefertigt. Mein Meister hatte nicht lange gebraucht, um eine Antwort auf seine zwei Fragen zu finden. Am Ende des Gartens hatte er zwei kleine, blutbefleckte Tröge gefunden. Wahrscheinlich waren sie voller Blut gewesen, bevor der Boggart dort seinen Durst gestillt hatte.
»Ich vermute, dass dem Blut etwas beigemischt wurde. Vielleicht hat es den Boggart einschlafen lassen oder ihn verwirrt. Deshalb hat er die Mänade nicht entdeckt und sie später getötet, obwohl er es nicht sollte. Es ist schade, dass sie tot ist. Wir hätten sie befragen und herausfinden können, warum sie hier war und wer sie geschickt hat.«
»Könnte der Teufel dahinterstecken?«, fragte ich. »Könnte er sie geschickt haben, um mich zu töten?«
Der Teufel, auch bekannt als der Satan, trieb seit letztem August in der Welt sein Unwesen. Er war von den drei Clans der Pendle-Hexen heraufbeschworen worden, den Malkins, den Deanes und den Mouldheels. Diese Clans bekriegten einander jetzt, da einige Hexen im Bann des Teufels standen, während andere seine erbitterten Feinde waren. Ich war ihm seitdem drei Mal begegnet, doch obwohl mich jede dieser Begegnungen bis ins Mark erschüttert hatte, wusste ich, dass es unwahrscheinlich war, dass mich der Teufel eigenhändig töten würde, da er gehobbelt war.
Genau wie man ein Pferd hobbeln kann, indem man seine Beine zusammenbindet, damit es nicht zu weit weg wandert, wurde der Teufel in der Vergangenheit von jemandem gehobbelt und seine Macht eingeschränkt. Wenn er mich selbst töten würde, dann würde er nur für einhundert Jahre über die Welt herrschen, eine Zeitspanne, die er für allzu kurz halten würde. Den Regeln seiner Fesseln nach hatte er also nur eine Wahl: Entweder brachte er eines seiner eigenen Kinder dazu, mich zu töten oder er brachte mich auf seine Seite. Wenn er mich zur Dunkelheit bekehrte, würde er bis ans Ende aller Zeiten herrschen. Das hatte er bei unserem letzten Treffen versucht. Wenn ich allerdings durch die Hand eines anderen starb, wie zum Beispiel die der Mänade, dann würde er die Welt irgendwann sowieso beherrschen. Hatte er sie also geschickt?
Der Spook sah mich nachdenklich an. »Der Teufel? Das wäre eine Möglichkeit, Junge. Wir müssen auf der Hut sein. Du hast Glück, dass du diesen Angriff überlebt hast.«
Fast hätte ich ihn daran erinnert, dass es eher Alice als Glück gewesen war, ließ es aber. Es war ein anstrengender Tag gewesen und ihn zu ärgern, würde mir nichts bringen.
***
Am Abend konnte ich nicht einschlafen und stand nach einer Weile auf, zündete die Kerze an und begann, den Brief meiner Mutter zu lesen, den ich im Frühling erhalten hatte.
Lieber Tom,
Der Kampf gegen die Dunkelheit in meinem eigenen Land war lang und schwer und nähert sich seinem Höhepunkt. Aber wir beide haben eine Menge zu besprechen und ich muss sowohl noch etwas enthüllen als auch um etwas bitten. Ich brauche etwas von dir. Das und deine Hilfe. Wenn es einen Weg gäbe, das zu verhindern, dann würde ich dich nicht darum bitten. Aber was ich zu sagen habe, muss ich dir von Angesicht zu Angesicht sagen, nicht in einem Brief. Daher werde ich am Mittsommerabend für kurze Zeit nach Hause zurückkehren.
Ich habe Jack geschrieben, um ihn über meine Ankunft zu informieren, daher freue ich mich darauf, dich an diesem Tag auf dem Hof zu treffen. Arbeite gut an deinen Lektionen, mein Sohn, und bleibe optimistisch, egal wie dunkel die Zukunft aussehen mag. Du bist stärker als du glaubst.
In LiebeMama
Mittsommer war in weniger als einer Woche und der Spook und ich würden nach Süden reisen, um den Hof meines Bruders Jack zu besuchen und meine Mum zu treffen. Ich vermisste sie und konnte es gar nicht erwarten, sie zu sehen. Doch ich war auch gespannt, zu erfahren, was sie von mir wollte.
Am nächsten Morgen fand der Unterricht wie gewohnt statt. Ich war im dritten Lehrjahr und lernte, wie man die Dunkelheit bekämpfte. Im ersten Jahr hatte ich etwas über Boggarts gelernt, im zweiten über Hexen. Jetzt hieß mein Fach: »Die Geschichte des Bösen«.
»Nun, dann mach dir mal Notizen«, befahl der Spook und kratzte sich am Bart.
Ich machte mein Notizbuch auf, tunkte die Feder ins Tintenfass und wartete darauf, dass der Unterricht begann. Ich saß auf der Bank im Westgarten. Es war ein schöner Sommermorgen und am Himmel war nicht eine einzige Wolke zu sehen. Direkt vor uns lagen die mit Schafen gesprenkelten Hügel, während um uns herum die Vögel sangen und das schläfrige Summen der Insekten erklang.
»Wie ich bereits sagte, Junge, manifestiert sich das Böse zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten in unterschiedlicher Gestalt«, begann der Spook und wanderte vor der Bank auf und ab. »Aber wie wir zu unserem Leidwesen erfahren haben, ist ihre fürchterlichste Form hier im Land und in der ganzen Welt der Teufel.«
Mein Herz machte einen Sprung und ich hatte einen Kloß im Hals, als ich an unsere letzte Begegnung dachte. Der Teufel hatte mir ein schreckliches Geheimnis enthüllt. Er hatte behauptet, dass Alice seine Tochter war – die Tochter des Teufels. Es war schwer vorzustellen, aber was war, wenn das stimmte? Alice war meine engste Freundin und hatte mir mehr als ein Mal das Leben gerettet. Wenn es wahr war, was der Teufel mir gesagt hatte, dann hatte der Spook recht getan, sie zu verbannen. Wir durften nie mehr zusammen sein – doch dieser Gedanke war nur schwer zu ertragen.
»Aber auch wenn der Teufel unsere größte Sorge ist«, fuhr der Spook fort, »so gibt es doch noch andere Diener der Dunkelheit, die mit Unterstützung der Hexen, Magier oder anderen Menschen durch die Portale in unsere Welt gelangen können. Dazu zählen alte Götter wie Golgoth. Du erinnerst dich vielleicht daran, dass wir im Anglezarke-Moor mit ihm zu tun hatten.«
Ich nickte. Das war ziemlich knapp gewesen und hätte mich beinahe das Leben gekostet.
»Wir können dankbar dafür sein, dass er wieder schläft«, sagte mein Meister. »Aber andere sind dafür äußerst wach. Sieh dir zum Beispiel das Heimatland deiner Mutter an, Griechenland. Wie ich dir gestern erzählt habe, gibt es dort eine wilde Göttin namens Ordeen, die von den Mänaden angebetet wird. Seit undenklichen Zeiten hat sie im großen Stil Blut vergossen. Zweifellos steckt sie hinter allem, was deine Mutter gerade bekämpft.
Ich weiß nicht viel über die Ordeen. Aber offensichtlich taucht sie mit ihrem Gefolge auf, das alles im Umkreis von mehreren Meilen tötet. Und die Mänaden, die normalerweise über ganz Griechenland verteilt sind, sammeln sich in großer Zahl, um ihre Ankunft zu erwarten. Sie sind wie Geier, bereit, sich auf das Fleisch der Toten und der Sterbenden zu stürzen. Für sie ist es eine Art Erntezeit, eine Zeit der Fülle, die Belohnung, die sie für die Anbetung der Ordeen und ihrem Gefolge erhalten. Deine Mutter kann uns sicher viel mehr darüber erzählen – in meinem Bestiarium sind das leere Seiten, die gefüllt werden müssen.«
Das Bestiarium des Spooks, eines der dicksten und interessantesten Bücher in seiner Bibliothek, enthielt alle möglichen schrecklichen Kreaturen. Aber zu manchen Wesen gab es Wissenslücken, die der Spook ergänzte, wann immer er konnte.
»Ich weiß allerdings, dass die Ordeen anders als andere alte Götter keine menschliche Hilfe braucht, um durch ein Portal in unsere Welt zu kommen. Selbst der Teufel war auf die Hilfe der Pendle-Hexen angewiesen. Aber es scheint, als könne sie jederzeit durch ihr Portal kommen – und zurückkehren, wenn es ihr beliebt.«
»Das »Gefolge«, das mit ihr durch das Portal kommt – was ist das?«, fragte ich.
»Es sind Diener der Dunkelheit. Dämonen und Elementargeister. Die Dämonen sehen zum größten Teil aus wie Menschen, besitzen aber ungeheure Kräfte und sind sehr grausam. Dazu gibt es Vaengir – fliegende Lamia-Hexen. So viele haben sich jetzt zu ihr gesellt, dass nur sehr wenige anderswo bleiben – sie leben einzeln oder paarweise, wie die Schwestern deiner Mutter. Stell dir nur vor, wie es sein muss, wenn die Ordeen kommt – ein Heer dieser Kreaturen, das sich vom Himmel stürzt, um seinen Opfern das Fleisch von den Knochen zu reißen. Man will gar nicht daran denken, Junge!«
Nein, ganz sicher nicht. Die beiden Schwestern meiner Mutter waren fliegende Lamias. In der Schlacht am Pendle Hill hatten sie mit uns gekämpft und hatten unter den drei gegnerischen Hexenclans riesiges Unheil angerichtet.
»Ja, Griechenland ist ein gefährlicher Ort. Deine Mutter muss viel bekämpfen … es gibt auch wilde Lamias, die sich auf vier Beinen fortbewegen. In Griechenland kommen sie sehr häufig vor, vor allem in den Bergen. Ich schlage vor, dass du nach dem Unterricht in die Bibliothek gehst und sie im Bestiarium nachschlägst. Frische dein Wissen über sie auf und schreibe eine Zusammenfassung davon in dein Notizbuch.«
»Sie haben gesagt, dass bei der Ordeen auch Elementargeister seien. Was ist das?«, wollte ich wissen.
»Feuerelementargeister – so etwas haben wir hier nicht. Aber ich kann dir an einem anderen Tag erzählen, was ich über sie weiß. Heute sollten wir uns lieber dem Studium der Alten Sprache widmen, die viel schwerer ist als Latein oder Griechisch.«
***
Der Spook hatte recht. Der Rest des Unterrichts war so schwierig, dass ich Kopfschmerzen bekam. Aber es war sehr wichtig, dass ich die Alte Sprache lernte: sie wurde für gewöhnlich von den alten Göttern und ihren Jüngern verwendet und auch die Grimoirs - die Bücher über schwarze Magie, die die Nekromanten verwendeten – waren in der Alten Sprache geschrieben.
Als der Unterricht vorbei war und ich in die Bibliothek meines Meisters gehen konnte, war ich erleichtert. Ich ging wirklich gerne dorthin. Die Bibliothek war der ganze Stolz des Spooks und er hatte sie mit dem Rest des Hauses von seinem eigenen Meister, Henry Horrocks, geerbt. Einige der Bücher hatten schon vorhergehenden Spooks gehört und waren viele Generationen alt, einige hatte John Gregory selbst geschrieben. In ihnen war ein Lebenswerk an Wissen verzeichnet, das er sich bei der Ausübung seiner Tätigkeit und der Bekämpfung der Dunkelheit erarbeitet hatte.
Der Spook machte sich immer Sorgen, dass seiner Bibliothek etwas geschehen könnte: Als Alice bei uns war, war es ihre Aufgabe gewesen, handgeschriebene Kopien von den Büchern anzufertigen. Mr. Gregory glaubte, dass die Bewahrung dieser Bibliothek für künftige Spooks eine seiner Hauptpflichten war und wann immer es möglich war, erweiterte er diesen Wissensschatz.
Es gab Regale mit tausenden von Büchern, doch ich ging schnurstracks auf das Bestiarium zu. Es war eine Liste aller Arten von Kreaturen, von Boggarts und Dämonen bis zu Elementargeistern und Hexen, sowie persönliche Berichte und Skizzen, in denen der Spook beschrieb, wie er die Dunkelheit bekämpfte. Ich blätterte durch die Seiten bis ich zum Kapitel »Lamiahexen« kam.
Die erste Lamia war eine mächtige Zauberin von großer Schönheit. Sie liebte Zeus, den höchsten der alten Götter, der bereits mit der Göttin Hera verheiratet war. Unglücklicherweise bekam Lamia Kinder von Zeus. Als sie dies entdeckte, erschlug Hera in eifersüchtiger Wut alle diese unglücklichen Kinder bis auf eines. Vor Trauer verrückt geworden, begann Lamia Kinder zu töten, wo immer sie sie fand, sodass die Bäche und Flüsse rot von Blut waren und die Luft von den Schreien verzweifelter Eltern erfüllt war. Schließlich bestraften die Götter sie damit, dass ihr Unterkörper schlangenförmig und schuppenbedeckt wurde wie der einer Schlange.
In dieser Verwandlung wandte sie ihre Aufmerksamkeit jetzt jungen Männern zu. Sie lockte sie in den Wald, wo nur ihr schöner Kopf und ihre Schultern über dem weichen grünen Gras sichtbar waren. Wenn sie ihr Opfer nahe genug angelockt hatte, schlang sie ihren Unterkörper fest darum, presste den Atem aus dem hilflosen Körper und drückte ihm den Mund in den Nacken, bis sie ihm den letzten Tropfen Blut ausgesaugt hatte.
Später hatte Lamia einen Liebhaber namens Chaemog, ein spinnenartiges Wesen, das in den tiefsten Höhlen der Erde wohnte. Sie gebar ihm Drillinge, alles Mädchen. Sie waren die ersten Lamia-Hexen. An ihrem dreizehnten Geburtstag stritten sie sich mit ihrer Mutter und rissen ihr nach einem schrecklichen Kampf alle Glieder aus. Alle Stücke von ihr, einschließlich ihres Herzens, verfütterten sie an eine Herde wilder Eber.
Im Buch wurde noch weiter beschrieben, welche Arten von Lamias es gab, wie sie aussahen, wie sie sich verhielten und – was für einen Spook am wichtigsten war – wie man sie bekämpfen konnte. Ich wusste schon eine ganze Menge über Lamias. Der Spook hatte Jahrelang mit einer zahmen Lamia namens Meg zusammengelebt und ihre wilde Schwester Marcia in einer Grube im Keller seines Hauses in Anglezarke eingesperrt. Sie waren beide nach Griechenland zurückgekehrt, aber während meiner Zeit in Anglezarke hatte ich eine Menge über sie gelernt.
Ich las weiter und machte mir dabei Notizen. Es war eine sehr nützliche Wiederholung. Es stand auch etwas über die fliegenden Lamias, die Vaengir, darin, die der Spook zuvor erwähnt hatte. Ich dachte wieder an Mum. Schon als kleines Kind hatte ich gewusst, dass sie anders war. Sie hatte einen leichten Akzent, der besagte, dass sie nicht in unserem Land geboren war. Sie scheute direktes Sonnenlicht und hielt tagsüber oft die Vorhänge in der Küche geschlossen.
Mit der Zeit hatte ich mehr über Mama erfahren. Ich wusste, wie Dad sie in Griechenland gerettet hatte. Und später hatte sie mir erzählt, dass ich etwas Besonderes war, der siebte Sohn eines siebten Sohnes und ihr Geschenk an das Land, eine Waffe, die gegen das Böse eingesetzt werden konnte. Aber die letzten Puzzleteile fehlten immer noch. Was genau war Mum eigentlich?
Mamas Schwestern waren Vaengir – fliegende, wilde Lamias, die, wie der Spook gerade berichtet hatte, nur selten diesseits des Ordeen-Portals anzutreffen waren. Sie waren nun im Malkin-Turm und bewachten ihre Truhen, in denen sich Geld, Tränke und Bücher befanden. Ich hatte den Verdacht, dass auch Mama eine Lamia war. Wahrscheinlich auch eine Vaengir. Es kam mir am Wahrscheinlichsten vor.
Es war ein weiteres Rätsel, das ich lösen musste – obwohl ich sie nicht direkt danach fragen konnte. Ich hatte den Eindruck, als müsse Mum mir das von sich aus erzählen. Vielleicht sollte ich die Antwort bald erfahren.
Als mir der Spook am späten Nachmittag ein paar Stunden frei gab, machte ich einen Spaziergang in den Hügeln. Ich stieg den Parklick Pike hinauf und sah den dunklen Wolken zu, die langsam durch das Tal unter mir zogen und lauschte den charakteristischen Kiwitt-Rufen der Kiebitze.
Wie sehr ich Alice vermisste! Wir hatten hier oben viele fröhliche Stunden verbracht. Alleine hier herumzulaufen war nicht dasselbe. Ungeduldig wartete ich darauf, dass die Woche vorüber ging und ich mit dem Spook zu Jacks Hof aufbrechen konnte. Ich freute mich wirklich darauf, Mama zu sehen und zu erfahren, was sie von mir wollte.
Am Morgen unserer Abreise ging ich ins Dorf, um die wöchentlichen Vorräte für den Spook vom Bäcker, vom Gemüsehändler und vom Metzger zu holen. Schließlich sollten wir nur ein paar Tage fort sein. Im letzten Laden erklärte ich dem Besitzer, einem großen, rotbärtigen Mann, dass jeder, der die Glocke an der Weide läutete, um den Spook zu sprechen, würde warten müssen.
Auf dem Rückweg durch den Ort war mein Sack wegen des Lebensmittelmangels leichter als normal. Im Süden des Landes tobte immer noch der Krieg und die Berichte klangen nicht gut. Unsere Streitkräfte mussten sich zurückziehen und die Versorgung der Armee verschlang so viele Lebensmittel, dass die Ärmsten der Armen fast am Verhungern waren. Ich bemerkte, dass sich die Lage in Chipenden weiter verschlechtert hatte. Es gab mehr hungrige Gesichter und einige Häuser waren verlassen, weil die Familien sich auf den Weg in den Norden gemacht hatten, in der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse.
***
Der Spook und ich schritten in flottem Tempo los, doch obwohl ich wie üblich meinen Stab und unsere beiden Taschen trug, machte es mir nichts aus. Ich konnte es nicht erwarten, Mum zu sehen. Doch nach einer Weile, als es wärmer wurde, wurde der Spook langsamer. Ich lief ihm davon und musste ständig auf ihn warten. Mit der Zeit wurde er immer gereizter.
»Langsam, Junge, langsam!«, beschwerte er sich. »Meine alten Knochen können nicht so schnell. Wir sind einen Tag zu früh dran – deine Mutter kommt sowieso erst am Mittsommerabend.«
Spätabends am zweiten Tag, noch bevor wir den Gipfel des Henkershügels erreicht hatten, sah ich in der Richtung, in der der Hof lag, Rauch aufsteigen. Für einen Augenblick packte mich die Furcht. Ich musste an den Überfall der Pendle-Hexen vom letzten Jahr denken. Sie hatten die Scheune abgebrannt und dann das Haus geplündert und Ellie, Jack und die kleine Mary entführt.
Doch als wir durch den Wald zur Nordwiese hinunter gingen, sah ich, dass es mehr Grund zum Staunen als zur Furcht gab. Südlich des Hofes brannten Lagerfeuer, über ein Dutzend, und Rauch sowie der Geruch nach Essen hingen in der Luft. Wer waren die Leute, die auf Jacks Feldern lagerten? Ich wusste, dass er Fremde auf seinem Hof nicht mochte, daher fragte ich mich, ob das etwas mit Mum zu tun haben könnte.
Doch ich hatte nur wenig Zeit, darüber nachzudenken, da ich spürte, dass sie bereits zu Hause war. Leichter brauner Rauch stieg aus dem Kamin in den blauen Himmel und ich spürte die Wärme ihrer Anwesenheit. Ich wusste einfach, dass sie zurück war!
»Mama ist schon hier – ich bin ganz sicher!«, sagte ich mit Freudentränen in den Augen zum Spook. Ich hatte sie so vermisst und konnte es nicht erwarten, sie zu sehen.
»Ja, Junge, da hast du wohl recht. Geh hinunter und begrüße sie. Ihr habt eine Menge zu bereden und möchtet sicher etwas Privatsphäre. Ich werde hier oben warten.«
Lächelnd nickte ich und rannte den bewaldeten Hang zur neuen Scheune hinunter. Doch bevor ich den Hof erreichte, lief mir an der Ecke mein Bruder Jack über den Weg. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war er schwer krank gewesen, nachdem ihn die Hexen, die den Hof überfallen und Mamas Kisten gestohlen hatten, fast totgeschlagen hatten. Jetzt war er sonnenverbrannt und sah wieder stark und gesund aus und seine Augenbrauen waren buschiger als je zuvor. Er umarmte mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb.
»Schön, dich zu sehen, Tom!«, rief er, hielt mich auf Armeslänge Abstand und lächelte breit.
»Schön, dich wieder gesund und munter zu sehen, Jack«, erwiderte ich.
»Dank dir. Ellie hat mir alles erzählt. Ohne dich läge ich jetzt wohl sechs Fuß unter der Erde,«
Ich hatte ihn und seine Familie mit Alice zusammen aus dem Malkin-Turm gerettet.
»Mama ist wieder da, nicht wahr?«, fragte ich aufgeregt
Jack nickte, doch sein Lächeln verschwand. Sein Gesicht wirkte irgendwie beunruhigt und zeigte eine Spur von Unsicherheit und Traurigkeit.
»Ja, sie ist wieder da, Tom. Und sie freut sich sehr darauf, dich zu sehen, aber ich muss dich warnen. Sie hat sich verändert …«
»Verändert? Wie meinst du das?«
»Zuerst habe ich sie kaum erkannt. Es ist eine Art Wildheit – besonders in ihren Augen. Und sie sieht jünger aus, als hätte sie die Jahre abgeworfen. Ich weiß, dass das nicht möglich ist …«
Ich sagte es Jack zwar nicht, aber mir war klar, dass das sehr wohl möglich war. Die normalen Gesetze des Alters galten für Lamia-Hexen nicht. Wie im Bestiarium des Spooks beschrieben stand, gab es zwei Arten von Lamias und sie verwandelten sich langsam von einer Form in die andere. Mama veränderte wahrscheinlich ganz langsam ihre Gestalt zurück zu ihrem wilden Zustand. Das war eine verstörende und furchterregende Möglichkeit. Etwas, über das ich nicht allzu lange nachdenken wollte.
»Tom, du weißt doch durch deinen Beruf über so etwas Bescheid … könnte sie ein Wechselbalg sein?«, fragte Jack besorgt und voller plötzlicher Zweifel. »Seit sie in Griechenland war, könnte alles Mögliche passiert sein. Vielleicht wurde sie vom kleinen Volk entführt und durch einen der ihren ersetzt …«
»Nein, Jack, natürlich nicht«, versicherte ich ihm. »So etwas wie das kleine Volk gibt es nicht. Das ist Aberglaube. Also mach dir mal keine Sorgen. Bestimmt tut ihr nur das schöne Wetter in Griechenland gut. Ich gehe jetzt zu ihr und wir sprechen uns später. Wo ist James?«
»James ist beschäftigt. Er macht mit der Schmiede im Moment mehr Geld als ich mit dem Hof. Aber er hat bestimmt Zeit für seinen kleinen Bruder.«
James wohnte bei ihnen und half Jack bei der Arbeit, aber eigentlich war er Schmied. Und es klang, als sei er damit richtig erfolgreich.
»Wer sind denn die ganzen Leute, die auf der Südweide lagern?«, fragte ich, als mir wieder die Feuer einfielen, die wir auf dem Weg vom Henkershügel gesehen hatten.
Jack sah mich finster an und runzelte die Stirn.
»Das fragst du lieber Mama«, antwortete er. »Aber wenn du mich fragst, haben die da nichts zu suchen. Überhaupt nichts! Es sind Hexen aus Pendle. Dass die hier auf meinem Feld bleiben dürfen nach allem, was letztes Jahr passiert ist!«
Hexen? Wenn das so war, konnte ich verstehen, dass er wütend war. Die Pendle-Hexen hatten Jack und seiner Familie letztes Jahr das Leben zur Hölle gemacht. Wieso erlaubte Mama ihnen dann, so nah am Hof ihr Lager aufzuschlagen?
Ich zuckte nur die Achseln und ging über den Hof. Gleich hinter der Scheune, auf der Rückseite des Hauses, sah ich ein neues Gebäude – und James, der mit dem Rücken zu mir darin an der Schmiede arbeitete. Davor wartete ein Bauer, der sein Pferd am Zügel hielt und darauf wartete, dass es beschlagen wurde. Fast hätte ich James gerufen, doch ich konnte es nicht erwarten, meine Mutter zu sehen.
Als ich am Haus ankam, staunte ich, dass Mamas Kletterrosenbusch in voller Blüte stand. Als ich das letzte Mal da gewesen war, schien er tot gewesen zu sein. Die welken schwarzen Stämme waren von der Wand gerissen worden, als der Teufel das Haus angegriffen hatte, um mich zu töten. Jetzt schoben sich neue grüne Ableger die Steine hinauf und ein paar Rosen waren erblüht und leuchteten kräftig rot im Sonnenlicht.
An der Hintertür blieb ich stehen und klopfte leise an das Holz. Ich war hier geboren und aufgewachsen, aber es war nicht länger mein Zuhause, daher war es nur höflich, zu klopfen.
»Komm herein, mein Sohn«, rief Mama und der Klang ihrer Stimme ließ meine Augen feucht werden und in meinem Hals bildete sich ein Klumpen. Wie sehr ich sie vermisst hatte! Ich trat ein und stand ihr gegenüber.
Sie saß auf einem Schemel und rührte in einem großen Topf mit Lammeintopf, der über dem Feuer köchelte. Wie üblich waren die Vorhänge zugezogen, um das Sonnenlicht abzuschirmen, doch als sie aufstand und auf mich zu trat, konnte ich trotz des Dämmerlichts sehen, was Jack gemeint hatte, als er sagte, sie hätte sich verändert.