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»Hält die Kunst ihrem Zeitalter den Spiegel vor? Oder jedes Zeitalter seiner Kunst?« Seine Analysen basieren auf einem bemerkenswerten, fast übernatürlichen Verständnis der menschlichen Natur und sind auch heute erschreckend aktuell. Aldous Huxley ist zu Recht ein prophetisches Genie und eine der wichtigsten literarischen und philosophischen Stimmen des 20. Jahrhunderts. Im vorliegenden Essayband beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Kunst und Religion und porträtiert die spanischen Meisterzeichner El Greco und Goya.
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Neuauflage einer früheren Ausgabe
Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka
ISBN 978-3-492-97666-4
© Piper Verlag GmbH, München 2017
© Mrs. Laura Huxley
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Themes and Variations«, Chatto & Windus, London 1950
© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1952
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Hält die Kunst ihrem Zeitalter den Spiegel vor? Oder jedes Zeitalter seiner Kunst?
Folgt der Künstler oder führt er? Oder geht er seinen Weg ganz allein und gehorcht nur den kategorischen Imperativen seiner Begabung und der immanenten Logik der Tradition, innerhalb deren er schafft?
Ist er der Repräsentant seiner Epoche? Oder vertritt er bloß einen Wahlkreis, der nicht größer ist als die besondere Gruppe begabter Menschen – seiner Vorläufer,Zeitgenossen und Nachfolger – der er, durch seine Erbmasse bestimmt, eben angehört?
Alle diese Fragen können, und zwar richtig, bald mit Ja, bald mit Nein, bald mit Ja und Nein beantwortet werden. Es gibt da keine allgemeinen Regeln, sondern nur besondere Fälle; und die meisten sind für uns in einen dichten Nebel des Nichtwissens gehüllt.
Nehmen wir zum Beispiel den Fall, der sich jedem nach Rom Kommenden darbietet – den fesselnd rätselhaften Fall des Barocks und des Katholizismus im 17. Jahrhundert. Auf welche Weise standen die beiden in Beziehung zueinander? Von welcher Art war der Zusammenhang zwischen den Kunstformen jener Zeit und den religiösen Erlebnissen derer, die in ihr lebten?
Dreihundert Jahre nachher ist das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, dass sich die von der religiösen Kunst des Barocks Dargestellten fast ausnahmslos in einem Zustand chronischer Gemütserregung befinden. Sie schwenken die Arme, rollen die Augen, drücken die Hände auf wogende Busen, und manchmal schwinden ihnen in einem Übermaß des Gefühls die Sinne bis zur Bewusstlosigkeit. Wir betrachten sie mit einer Mischung aus ästhetischer Bewunderung und ethischem Missfallen und beginnen dann Vermutungen über die Menschen anzustellen, welche ihre Zeitgenossen waren. War deren religiöses Leben so wild bewegt wie das Leben dieser Geschöpfe aus der Fantasie der Maler und Bildhauer? Und wenn das stimmt, hatte sich die Kunst solch ungestüme Bewegtheit zum Vorbild genommen oder war diese bedingt durch die Vertrautheit mit einer Kunst, die aus rein ästhetischen Gründen so wild bewegt geworden war? Oder war am Ende in der wirklichen Welt, die der gemalten und gemeißelten entsprach, gar keine solche aufgeregte Bewegtheit vorhanden? Die Künstler des Barocks waren dessen überdrüssig, dasselbe zu tun, was ihre Vorläufer getan hatten, und waren durch die ihrer Tradition innewohnende Logik dazu verhalten, das Ungewöhnliche und Übermäßige zu erforschen; daher mussten die Figuren über den Altären in einer ausgedachten Verzückung gestikulieren. Jedoch das religiöse Leben der Menschen, die vor diesen Altären ihre Andacht verrichteten – war das etwa kennzeichnend anders geworden als das religiöse Leben der Menschen früherer Zeiten? Oder gab es nicht damals wie zu jeder Zeit nur einige wenige eifrige Kontemplative und Aktive, die den großen Teigklumpen der Buchstabengetreuen und der Überschwänglichen, der Heuchler und der Lauen durchsäuerten?
Ich selbst neige eher zu der zweiten Ansicht. Die Umwelt ist nie das einzig Bestimmende, und die Vererbung ist stets am Werk und bringt in jeder Periode der Geschichte jede mögliche Art und Abart des Körperbaus und Temperaments hervor. Alle Anlagen der menschlichen Natur sind zu allen Zeiten vorhanden, und zu allen Zeiten werden (trotz einer Umwelt, die einigen von ihnen ungünstig sein mag) so gut wie alle diese Möglichkeiten in einigem Ausmaß verwirklicht.
Man braucht nur Salimbenes Chronik und William Laws Ernste Mahnung zu lesen, um zu begreifen, dass es in den Zeiten der Gläubigkeit ebenso viele irreligiöse Menschen gab, wie Pietisten in Zeiten des Rationalismus und der Aufklärung. Die Byzantiner, die sich über die Trinitätslehre bis zum Wahnsinn ereifern konnten, waren dieselben Byzantiner, die bei den Wagenrennen in Raserei gerieten. Und unser eigenes Zeitalter der Atomphysik ist zugleich ein bemerkenswertes Zeitalter der Sterndeuterei und des Zahlenglaubens. In keiner Epoche gibt es eine Synthese, sondern nur ein bloßes rohes Nebeneinander von Gegensätzen und Unvereinbarem. Und doch gibt es in jeder Epoche nur einen einzigen vorherrschenden, Kunststil, in dessen Ausdrucksformen Maler und Bildhauer eine streng begrenzte Zahl von Vorwürfen behandeln. Die Kunst lässt sich in diesem Zusammenhang als einen Vorgang des Auswählens und Umwandelns definieren, durch den eine nicht zu bewältigende Vielheit auf zumindest einen Anschein von Einheit reduziert wird. Daher dürfen wir niemals erwarten, in der Kunst eine Spiegelung der gleichzeitigen Wirklichkeit zu finden, wie sie von den Menschen in allen ihren angeborenen und erworbenen Verschiedenheiten erlebt wird. Wie könnte jemand sonst aus einem Studium der verhaltenen und formalisierenden Kunst des italienischen Trecento auf das Vorhandensein der ungezügelten religiösen Wiedererweckungen schließen, welche ein so charakteristischer Zug jener Zeit waren? Und, umgekehrt, aus den Verzückungen des Barocks auf die Tatsache der Mystik im 16. und 17. Jahrhundert? Wer vermöchte bei der Betrachtung von Carlo Dolcis Magdalena zu ahnen, was der hl. Johannes vom Kreuze über wahre Barmherzigkeit gesagt hat – dass sie nicht eine Sache des Gefühls, sondern des Willens sei? Oder wer könnte, Berninis hl. Teresa vor Augen, vermuten, dass Berninis Zeitgenosse Charles de Condren die Schwäche beklagte, welche Ekstatiker dahin bringe, Gott so animalement zu empfangen? Die Wahrheit scheint zu sein, dass es, während die große Masse des Volks, wie stets, gleichgültig und dann und wann abergläubisch blieb und während die Meister des geistlichen Lebens eine Verehrung des Geistes im Geiste predigten, den Künstlern der Zeit beliebte und gefiel, ein Christentum des Nervenkitzels und der eingeweidlichen Sehnsüchte bald heftig leidenschaftlich, bald übersättigend sentimental zu verherrlichen. Und sie wählten diese Darstellungsweise nicht aus Gründen, welche mit den Problemen des Lebens zu tun hatten, sondern mit denen der Kunst. Ihre Bilder und Skulpturen spiegelten nicht das vielfältige religiöse Erleben ihrer Zeit, ja konnten das gar nicht; und ebenso wenig spiegelte das religiöse Erleben der meisten ihrer Zeitgenossen die vorherrschende Kunst. Kunst und Religion gingen ihre getrennten Wege, wobei die Künstler die Religion als erwünschte Gelegenheit benützten, einen barocken Expressionismus zu entwickeln, und die Religiösen sich dieser Kunst als Mittel bedienten, um zu den verschiedenen Arten religiösen Erlebens zu gelangen, für die ihre Temperamente sie geeignet machten. Und genau dieselben Beziehungen zwischen Religion und Kunst waren vorhanden gewesen, als die »Primitiven« einen vielgestaltigen Katholizismus als Gelegenheit benützten, eine besondere Art statischer Komposition zu schaffen, und die Religiösen diese Werke als Hilfsmittel, sei es bei der Glaubenserweckung, bei der Kontemplation oder beim Praktizieren von Magie.
Von Rom und dem Barock wollen wir uns für einen Augenblick Toskana und dem Rokoko zuwenden. Ein paar Kilometer von Siena steht inmitten der Weinberge ein großes Kartäuserkloster, Pontignano genannt, das heute von einem Dutzend oder mehr Bauernfamilien bewohnt wird. In den alten Zeiten hatte jeder Mönch eine Wohnung von drei Räumen – eine Küche, eine Schlafzelle und eine winzige Gebetzelle. Die Türen zu diesen Appartements gingen auf den Kreuzgang, und nach hinten hinaus lagen kleine ummauerte Gärtchen, wo ein Mann Gemüse ziehen und sein eigenes Grab graben konnte. Jeder Klosterbruder lebte unabhängig von allen übrigen, ein Einsiedler in einer Gemeinschaft von Einsiedlern, ein Schweigender unter Schweigenden. Die meisten Baulichkeiten in Pontignano stammen aus dem 14. Jahrhundert, wurden aber von einem Innendekorateur des 18. aufgefrischt. Unter seiner Leitung wurde die Kirche mit einem riesigen Hochaltar aus Holz geschmückt, so bemalt, dass es wie Marmor aussah, und die kleinen Oratorien, in denen die Mönche ihre privaten Andachten verrichteten, wurden mit Rokokoschnörkeln in Stuckarbeit ausgekleidet, bis sie den Boudoirs ebenso vieler Provinz-Pompadours ähnelten. Uns, mit unserem unverbesserlichen Geschichtssinn, erscheint diese Verbindung des hl. Bruno mit Ludwig XV. irrsinnig ungereimt. Aber welchen Eindruck machte sie auf die Mönche, die tatsächlich in diesen Räumen beteten? Begannen sie etwa plötzlich zu denken, zu fühlen und sich zu gehaben wie jene libertinösen Abbés, die wir uns in diese Art von Dekoration hineinzudenken pflegen? Gewiss nicht. »Nie reformiert, weil nie deformiert«, blieb der Kartäuserorden auf seinem Weg, ungeachtet der veränderten ästhetischen Mode. In ihren neu stuckierten Oratorien meditierten die Brüder über den Tod genauso, wie ihre Vorgänger das getan hatten, als die Ausschmückung einen Barock- oder Renaissance-, einen gotischen oder romanischen Stil aufwies. Stilarten ändern sich, Weltreiche entstehen und gehen zugrunde: der Tod aber bleibt sich gleich, eine früher oder später in der Erfahrung eines jeden Menschen auftretende nackte Tatsache – eine Tatsache, die keine Geschichte hat und für die daher alle geschichtlichen Veränderungen, ob politischer oder wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder künstlerischer Art, völlig unwesentlich sind. Die pompadourische Kunst in den Oratorien von Pontignano sagt uns gar nichts über die zeitgenössische Kartäuserreligiosität, die wie stets ihren Mittelpunkt in der Betrachtung des Todes hatte. Wir lernen nichts weiter aus ihr, als dass die Mönche des 18. Jahrhunderts es für nötig hielten, die alten Gebäude renovieren zu lassen, und dass die Einzigen, die das in einem Zeitalter, das noch nichts von Stilimitation und Antiquitätenfälschung wusste, zu tun verstanden, Männer waren, welche in der zeit- und landläufigen Kunsttradition erzogen waren.
Heutzutage sind die Religiösen übler daran als damals die Mönche von Pontignano. Nicht lebendiges Rokoko, sondern das schwindelhaft Mittelalterliche oder irgendein abscheuliches Stück massenerzeugter bondieuserie ist alles, was sie für ihre Zwecke finden können. Dennoch, trotz der Unwesentlichkeit der meisten modernen religiösen Kunst, blüht Religion in allen ihren Aspekten, vom fetischistischen bis zum kontemplativen, auch weiterhin und bringt ihre guten oder bösen Früchte hervor. Der Mensch ist ein Ganzes, und das ist vielleicht auch die menschliche Gesellschaft; aber sie sind Ganzheiten, welche wie Schiffe durch wasserdichte Zwischenwände abgeteilt sind. Auf der einen Seite eines Schotts ist die Kunst, auf der anderen die Religion. Es mag guter Wein in der einen und Spülicht in der anderen Abteilung sein. Die Verbindung zwischen den zweien besteht nicht in einer Röhre oder durch Osmose, sondern nur von oben her, nur im Verstand, der hinabblickt und beide gleichzeitig sehen und erkennen kann, dass sie (mehr in Gegenüberstellung als in Verschmelzung) demselben individuellen oder sozialen Ganzen angehören.
»Unsichtbar war«, wie wir alle wissen, »in den glücklichen Tagen heidnischer Kunst das Gerippe.« Und unsichtbar blieb es trotz Christentum während der meisten folgenden Jahrhunderte. Im Mittelalter liegen die gepanzerten Ritter, die Bischöfe mit Krummstab und Mitra, die Damen, die ihre Füße an den Rücken kleiner Hunde wärmen, alle beruhigend im Fleische und in voller Leiblichkeit da. Keine Totenschädel zieren ihre Grabmäler, keine gekreuzten Knochen, keine grausigen Schnitter. Künstler des Worts mögen rufen: »Mein Herz, es bricht entzwei, ach weh, Terribilis mors conturbat me«, aber Künstler des Steins begnügen sich damit, das Bildnis eines Schläfers auf einem Bett zu meißeln. Die Renaissance kommt, und noch immer dauert der Schlaf inmitten der skulptierten Träume von einem halb irdischen, halb himmlischen Paradies geruhsam fort.
Bacchanten, wie ihr solche kennt, vielleicht
Ein Dreifuß, Thyrsus oder eine Vase,
Der Heiland bei der Predigt auf dem Berg,
Sankt Praxedis im Strahlenkranz, und Pan,
Bereit, der Nymphe letzt' Gewand zu lüpfen,
Und Moses mit den Tafeln.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts aber ist bereits eine Veränderung erfolgt. Das Bildnis schläft nicht mehr; es hat die Augen geöffnet und sich aufgesetzt – idealisiert, veredelt wie auf den Mediceergräbern, oder ein nüchternes Porträt wie irgendeine dieser bewundernswerten Büsten in ihren runden Nischen zwischen den Pilastern eines klassischen Aufrisses. Und auf dem Sockel, unterhalb der lateinischen Inschrift, da gemahnt nicht selten (jedenfalls in Rom und nach 1550) ein kleiner Totenschädel aus knochenweißem Marmor den Beschauer daran, was er selbst bald sein wird, was das Urbild des Porträts bereits geworden ist.
Warum ist der Totenkopf gerade in diesem bestimmten Augenblick der Geschichte Mode geworden? Religiös Gesinnte könnten vermuten, dass er etwas mit der Gegenreformation zu tun hatte; medizinisch Gesinnte, dass ein Zusammenhang mit der im 16. Jahrhundert pandemischen Syphilis bestand, deren nasenlose Opfer eine dauernde Mahnung an das Ende des Menschen waren; künstlerisch Gesinnte, dass irgendein Grabsteinbildhauer der Zeit Geschmack an Knochen fand und eine glückliche Hand für sie besaß. Ich wage es nicht, unter den möglichen Alternativen zu wählen, sondern bin es zufrieden, die von jedermann, der in Rom gewesen ist, beobachtbare Tatsache zu verzeichnen, dass dort nach der Mitte des Jahrhunderts die Totenschädel unbezweifelbar vorhanden sind.
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