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They call me Ernest Ein 16jähriger haut von zuhause ab. Aus dem Kohlenpott nach Paris. Im Kopf Flausen, im "Abhaurucksack" neben den üblichen Utensilien wie Thunfisch, Apfel und Brot, das Buch von Ernest Hemingway "Paris - ein Fest fürs Leben". Die Kluft zwischen seinem Leben in Duisburg - Hamborn und seine Erwartungen an Paris, stellt sich als eine durch viele Abenteuer führende Schlucht heraus. Die melancholisch-heitere Erzählung beschreibt einen Augenblick auf dem langen Weg zu sich selbst. Die Erzählung ist illustriert mit aktuellen Fotos aus Paris.
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Seitenzahl: 22
edition lichtblick oldenburg 2023
They call me Ernest
Mit zehn Jahren war ich Schriftsteller. Ich hatte bis dahin die Welt als Piratenkapitän umsegelt. Ich hatte verzweifelte Jungfrauen aus schaurigen Burgen von noch schaurigeren Bösewichten befreit. Ich wusste zwar nicht, was eine Jungfrau ist, gab mich aber damit zufrieden, dass sie alle nur auf mich gewartet hatten.
Unter meiner Bettdecke träumte ich davon, die Welt zu retten. Keine Lehrerin, kein Kaplan, kein Obermessdiener, kein Stammesführer der Pfadfinder in unserem katholisch organisierten Vorstädtchen vor Duisburg hatte den geringsten Schimmer von meinen Träumen. Sie griffen mir zwar zwischen die Beine, meine Gedanken erreichten sie nicht. Ich schwamm wie ein Öltropfen auf dem Wasser. Ich war da, aber getrennt von allem und allen.
Dann traf ich Karl May, Jules Verne, Dschungelboy. Das war es! Mein Leben. Oder wenigstens das, was man schreibend leben kann. Das Problem: Ich hatte noch nie eine Zeile geschrieben, war dieser Kunst auch nur mittelhalb fähig. Aber mein Selbstverständnis als Welterretter und Künstler war unerschütterlich.
Mit Paris hatte das alles nichts zu tun. Paris war ein flackerndes schwarz/weiß Bild im Fernseher: Georg Stefan Trollers Pariser Journal. Seine Reportagen entführten mich von Omas Sofa aus direkt in meine Träume. Nur Oma hatte einen Fernseher. Nur bei ihr traf ich Stefan Troller. Und der begleitete mich, weit weg vom staubigen, rußigen Ruhrgebiet; von in ordentlich aufgestellten zwei Reihen vor dem Schulunterricht;
von zynischen Lehrern (aus dir wird nie was, bleib wo du herkommst, bei deinen Mülltonnen); Langeweile an sommerlichen Wochenenden, wenn die Hitze den Staub über dem Asphalt flimmern ließ; von Geburtstagen, an denen die Verwandten dir über den Kopf streichelten („Mensch, bist du groß geworden“) und sich dann mit Zigaretten und Bier/Schnaps einnebelten (um nach den Schnittchen selig anzustimmen: So ein Tag, so wunderschön wie heute); von Eltern, die entweder nicht da waren oder sich nicht interessierten oder in ihren eigenen Querelen versackten oder „was hast du da schon wieder gemacht, kannst du nicht einmal was richtig machen?“. Stefan Troller nahm mich auf Omas Sofa an die Hand und wandelte mit mir durch Paris: Bücherwände, Straßencafés, immer Frühling, Duft, jenseits von Kokerei Abgas und Geburtstags Zigarettenqualm, ohne Schule. Troller flüsterte mir zu: Du bist ok. Ich verschmolz mit dem Fernsehbild auf Omas Sofa sitzend und Schnittchen zerkauend. Das Glück hatte einen Namen: Paris. Und ich glaubte, Stefan Troller würde mich leiten.