Thomas Schumacher
Geschichte der Weihnachtsgeschichte
Ein historischer und theologischer Schlüssel
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© Pneuma Verlag - München 2012
ISBN 978-3-942013-12-3 (Printausgabe)ISBN 978-3-942013-13-0 (ebook)
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Einleitung
Die Weihnachtsgeschichte fasziniert viele Menschen – damals wie heute. Dabei stellt die Feier der Weihnacht in ihrer Beliebtheit selbst bei vielen gläubigen Christen sogar die Nacht aller Nächte, die Osternacht, in den Schatten. Zweifellos hat sich einiges an Kulturgut rund um das Weihnachtsfest verselbständigt. Ankerpunkt, wenn auch in vielen Fällen nur entfernt, bleibt das Bild vom Kind in der Krippe, um welches sich die vermeintlich „eine“ Weihnachtsgeschichte rankt, die dem Volksfest eine mutmaßlich historische Basis zu verleihen und zugleich irgendwie nach Mythos zu schmecken scheint. Fehlverständnisse sind vorprogrammiert.
Bei näherer Betrachtung wird sehr schnell deutlich, dass es eine einheitliche Weihnachtsgeschichte gar nicht gibt. Diese erweist sich als konsolidiertes Kunstprodukt, das diverse neutestamentliche Erzählungen und im Lauf der Geschichte zugewachsene Interpretationen in sich aufgenommen und harmonisiert hat. Der Evangelist des Matthäusevangeliums schreibt anderes und auf andere Weise als jener des Lukasevangeliums. Die Mt 2 erwähnten Magier werden mit Blick auf Ps 72 seit Tertullian als Könige vorgestellt, Origenes sieht ihre Dreizahl in der Dreizahl ihrer Gaben angezeigt. Ochs und Esel rahmen das Krippenbild, weil gemäß Jes 1,3a der Ochse seinen Besitzer kennt, und der Esel die Krippe seines Herrn. Was in den Texten ist historisch gemeint, was ist theologisch motiviert – wie zur Sprache gebracht und zu welchem Ziel?
Die biblischen Weihnachtserzählungen sind nicht die News von einst. Sie sind keine Protokollaufzeichnungen, über die sich mit der Zeit allenfalls etwas Patina angesetzt haben mag. Sie sind überhaupt keine Protokollauszeichnungen – das mag manchen Zeitgenossen mit einem modernen Verständnis, was Wahrheit bedeutet, noch immer verwundern. Die Weihnachtserzählungen sowie die Evangelienschriften insgesamt folgen eigenen Regeln. Diese sind geprägt von den Idealen antiker Geschichtsschreibung, nämlich die Wahrheit über jemanden literarisch kunstvoll zum Ausdruck zu bringen. Und sie sind zuinnerst geprägt und überstrahlt von dem einen Ziel, Jesus als den Christus zu verkündigen – auf Basis der überlieferten Zeugnisse vom auferstandenen und erhöhten Herrn.
Kapitel 1 stellt den Eigencharakter der Evangelienschriften dar, in deren Mitte die Osterbotschaft steht. Ausgehend vom Zeugnis der ersten Zeugen für den Auferstandenen erhält die urkirchliche Verkündigung eine sprachliche Gestalt, die an die Vollendungsgestalt des erhöhten Herrn nicht hinreichen kann, die nicht mehr von dieser Welt ist. Im Rückgriff auf Begriffe und theologische Konzepte aus der eigenen jüdischen Lebenswelt werden Hoheitstitel wie etwa Christus oder Kyrios auf Jesus angewandt. Aus frühen Osterbekenntnissen etwa bei Paulus entstehen schon bald ausgeschmückte Ostererzählungen, welche die Überlieferung vom „sich sehen lassen“ des auferstandenen Herrn bildhaft und erzählerisch zum Ausdruck bringen. Von Ostern her erscheint Jesu Leben, Lehren und Wirken in einem neuen Licht. Die neue Textgattung Evangelium schaut aus der Perspektive der Christus-Verkündigung auf das Leben Jesu und gestaltet diese Verkündigung in einer erzählerischen Form.
Kapitel 2 macht deutlich, welche Bedeutung den beiden ersten Kapiteln des Matthäusevangeliums in der Konzeption der gesamten Evangelienschrift zukommt. Das ganze Matthäusevangelium strebt hin auf das große Finale des erhöhten Herrn, dem „alle Macht im Himmel und auf Erden“ gegeben ist (Mt 28,18). Von diesem Fluchtpunkt aus erscheint die Christus-Verkündigung in das vorösterliche Wirken Jesu rückgespiegelt. Die beiden ersten Kapitel führen wie eine Ouvertüre in die Hauptmotive des Matthäusevangeliums ein und stellen Jesus als Abrahamssohn, Davidssohn und Gottes Sohn dar. Jesus ist der Messias, der von David abstammt. Er ist Nachkomme Abrahams, durch den alle Völker der Erde Segen erlangen sollen, und er stammt aus Gott. Kapitel 1 und 2 bieten eine kunstvolle theologische Grundlegung für die nachfolgenden Kapitel in erzählerischer Form, deren Ziel mit jenem des ganzen Matthäusevangeliums übereinkommt: Den Christus-Glauben plausibel von innen her zu begründen.
Kapitel 3 zeigt, wie der Verfasser des hellenistisch geprägten Lukasevangeliums gemäß seinem Ansatz das Christus-Bekenntnis in eine nachträglich eingetragene Vorgeschichte in Form einer illustrierten Glaubenserzählung spiegelt. Die Erfüllung der Heilsgeschichte in Jesus Christus wird ex post aus der Perspektive der Verheißung ausgeleuchtet. Das Christus-Kerygma wird auf diese Weise nicht verändert, nicht inhaltlich erweitert, sondern lediglich auf der Ebene der Erzählung variiert und illustriert. Dies aber geschieht unter vollem Einsatz der literarischen Kunst antiker Geschichtsschreibung in erzählerischer Weise. Die Erzählstücke der Vorgeschichte sind in Form eines Diptychons nach den Prinzipien der Parallelität und der Überbietung angelegt: Auf die Geburtsankündigung des Täufers folgt die Geburtsankündigung Jesu; auf die Erzählung von Geburt und Namensgebung des Täufers folgt die entsprechende Erzählung über Jesus. Die epochale Zeitenwende vom alten Bund im Gesetz auf den neuen Bund in Jesus Christus markiert Johannes der Täufer, der als Vorläufer und Herold für den Messias dem Anliegen der Verkündigung Jesu Christi vollständig ein- und untergeordnet wird. Das Lukasevangelium bietet weder historische Zusatzinformationen aus dem Leben Jesu rund um dessen Geburt noch eine Kindheitslegende: Die Vorgeschichte bietet eine einführende Ausleuchtung des Christus-Bekenntnisses, rückgespiegelt auf die Szenerie der Anfänge des Lebens Jesu.
Kapitel 4 zeichnet den Fortgang der Rezeption dieser Weihnachtserzählungen nach. Grundlegend für die nachfolgenden Entwicklungen ist ein verändertes Verständnis der Evangelientexte nach den Prinzipien vom mehrfachen Schriftsinn auf dem Hintergrund der Kanonbildung. Aufbauend auf den wörtlichen Literalsinn der Texte erschließt die Methode der Allegorese zusätzliche geistige Sinnebenen. Das wörtliche Verständnis vorausgesetzt, verrückt dieses die Mt-Ouvertüre und die Lk-Vorgeschichte in der damaligen Wahrnehmung auf die Ebene historischer Information.
Kapitel 5 zeigt den Zusammenhang zwischen dem wörtlichen Verständnis und dem historisierenden Interesse im 4. Jhd., als im Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende die Volksmassen zu Christen werden, und ein Paradigmenwechsel hin zum historisch Anschaulichen vollzogen wird. Die Ausgrabungen der heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem und die dortige historisierende Adaptierung der Liturgie führt zur Ausprägung eines Festes der Geburt Christi, das sich mit den Pilgerströmen in die Ortskirchen des Römischen Reiches ausbreitet. Vornehmlich die politischen Umstände führen dazu, dass sich der Dezembertermin für ein eigenes Geburtsfest losgelöst vom Epiphaniefest in den letzten beiden Jahrzehnten des 4. Jhd. etablieren kann.
Kapitel 6 skizziert die weiteren Entwicklungen im Abendland. Der theologische Paradigmenwechsel z.B. in der Eucharistielehre stützt die Wende zum historisch Anschaulichen zusätzlich, wie etwa die fränkische vulgärchristologische Vorstellung von Jesus als dem auf Erden wandelnden Gott-Sohn. Im Mittelalter wird eine inkarnatorisch akzentuierte Christusfrömmigkeit bestimmend, welche aus einer Perspektive der persönlichen affektiven Betroffenheit auf das Leben Jesu Christi blickt. Die Aufmerksamkeit zentriert sich auf Passion und Inkarnation als die Brennpunkte des Heils. Beides wird zum bevorzugten Gegenstand anschaulicher und sogar dramaturgischer Darstellung. Das Kind in der Krippe wird zum Ausdruck dafür, wie sehr Gott nahbar geworden ist.
Eine Wiederentdeckung der ursprünglichen Bedeutung der Evangelienschriften wird erst möglich auf der Basis enormer Fortschritte der neu entstehenden Geschichtswissenschaften. Kritische Textausgaben auf Basis von Fundstücken sind die Basis, die Entstehung der aus Quellen redigierten Texte nachzuvollziehen und dabei die Gemeindesituation der Verfasser und ihre eigene theologische Perspektive in die Würdigung einzubeziehen. Insgesamt kennzeichnet die Anwendung derartiger Methoden, nach anfänglichen Vorbehalten auf katholischer Seite, jenen Ansatz, der als „historisch-kritische Methode“ die Bibelwissenschaft bis heute prägt.
Weder lässt sich die Offenbarung Gottes mit den Worten der Schrift fundamentalistisch identifizieren, noch können die kanonischen Schriften losgelöst von ihrer Christus-Verkündigung reduktionistisch verstanden werden. Die Exegese hat inzwischen einen Stand erreicht, der es möglich macht, den Evangelientexten in ihrer ursprünglichen Aussage angemessen zu begegnen: sowohl die historischen Bedingungen aus der Entstehung der Texte zu umreißen und theologiegeschichtlich zu würdigen, als auch all dies theologisch eigens zu reflektieren und für das Leben im Glauben fruchtbar zu machen. Auf Weihnachten fällt dann nicht nur ein historisch und theologiegeschichtlich geschulter Blick, sondern ein derart gereifter, dass Theologie und Glaube mit der liturgischen Feier eins zu werden vermögen.
Kapitel 2
Jesus als Abrahamssohn, Davidssohn und Gottes Sohn
Kapitel 3
Christus-Bekenntnis nach vorne gespiegelt
Die Vorgeschichte zum Lukasevangelium als illustrierte Glaubenserzählung (Lk 1,5-2,52) in Form eines Diptychons
Das Lukasevangelium stellt den ersten Teil eines Doppelwerks dar, bestehend aus der später nach Lukas benannten Evangelienschrift und der Apostelgeschichte. Beide „Bücher“ dieses Gesamtwerks sind aufeinander bezogen (Lk 1,1-4; 24,50-52; Apg 1,1-14) und wurden kurz nacheinander geschrieben. Das erste Buch (der Evangelist spricht von „Logos“: Wort, Rede) setzt am Übergang vom Alten Bund, charakterisiert durch Gesetz und Propheten, zur Epoche Jesu an und markiert diesen Übergang durch die Person Johannes des Täufers. Die Evangelienschrift erzählt vom Wirken Jesu in Tat und Lehre von seinem Anfang an bis zu seiner Aufnahme in den Himmel. Die Apostelgeschichte setzt ebenda erneut an, erzählt anschaulich von der Himmelfahrt Jesu und dem Kommen des Geistes, erzählt vom Leben der Urgemeinde in Jerusalem und von der missionarischen Ausbreitung der jungen Kirche von Jerusalem aus zunächst nach Judäa, Samaria und Antiochia. Nach der Autorisierung der Heidenmission durch den Apostelkonvent ist die zweite Hälfte der Apostelgeschichte dem missionarischen Wirken des Paulus gewidmet und endet mit dessen Aufenthalt in Rom. Eine Splittung dieses lukanischen Doppelwerks in Evangelienschrift einerseits und Apostelgeschichte andererseits erfolgte erst im 2. Jhd. im Zusammenhang mit ersten Festlegungen zu einem autorisierten Kanon neutestamentlicher Schriften. Dabei wurden die vier kanonischen Evangelien zu einer gemeinsamen Kategorie zusammengefasst, die Apostelgeschichte verblieb als gesondertes Buch im schließlich 27 Schriften umfassenden Kanon.
Als Abfassungszeit wird allgemein eine Spanne um das Jahr 80 angenommen. Die Entstehung des lukanischen Doppelwerks fällt somit in etwa in denselben Zeitraum wie jene des Matthäusevangeliums. Beide setzen das um 70 entstandene Markusevangelium voraus und beziehen dieses als wesentliche Quelle in ihr eigenes Werk ein. Beiden Evangelisten lag eine jeweils leicht voneinander abweichende schriftliche Fassung des Markusevangeliums vor, das bis dahin also eine gewisse Verbreitung erreicht haben musste. Beide nutzten darüber hinaus ähnliche schriftliche Fassungen der Logienquelle Q, einer Sammlung aus zahlreichen Worten und Redeteilen, die man Jesus zuschrieb. Hieraus erklärt sich eine weitreichende Übereinstimmung im Erzählstoff zwischen Mt und Lk (ohne einander gekannt zu haben), welche einen Bestand von ca. 4.500 Wörtern umfasst („Zwei-Quellen-Theorie“). Hinzu kommt zahlreiches Lk-Sondergut (gespeist aus vielen kleinen Quellen, möglicherweise sogar aus einer unbekannten größeren) wie z.B. die Täuferpredigt, der Stammbaum Jesu (der sich von jenem bei Mt völlig unterscheidet), die Antrittspredigt Jesu in Kapharnaum, Gleichnisse vom verlorenen Schaf und verlorenen Geld, vom barmherzigen Vater und vom barmherzigen Samariter, die Emmaus-Erzählung und die aus diversem Quellenmaterial eigens nachträglich kunstvoll gestaltete Vorgeschichte.
Das Lukasevangelium ist ein hellenistisches Werk: geschrieben inmitten der hellenistischen Lebenswelt, fernab von Palästina (welches Lk Judäa nennt), in einer eher wohlhabenden Stadt (Lk warnt wiederholt vor den Gefahren des Reichtums) – wo genau, ist unbekannt; möglicherweise ist es in Philippi/Makedonien entstanden. Der Verfasser ist hellenistisch gebildet, beherrscht gutes Koiné-Griechisch, die damalige Weltsprache insbesondere im östlichen Mittelmeerraum; er kennt aber auch die Septuaginta und den jüdischen Synagogengottesdienst und könnte daher ein hellenistischer Judenchrist gewesen sein. Durchweg ersetzt er semitische Begriffe aus den Quellen durch griechische. Vor allem aber ist er mit der Literatur antiker Geschichtsschreibung vertraut und macht sich deren methodische Prinzipien zueigen, wie das einleitende Proömium (Lk 1,1-4) zeigt.
Antike Geschichtsschreibung nach Herodot zeichnet sich vor allem durch die eigenen „Erkundungen“ (griech. „historia“) aus. Genau dieses Kriterium will der Evangelist erfüllen. Daher macht er im Proömium deutlich, dass er alles von Anfang an sorgfältig erkundet hat (Lk 1,3). Er hat sich mit den bekannten mündlichen und schriftlichen Quellen beschäftigt (V1) und beruft sich auf das Zeugnis der Zwölf, die von Anfang an dabei waren und alles gesehen haben (V2). Inhaltlich will der Evangelist über all das schreiben, was Jesus getan und gelehrt hat, einschließlich der Beweise, die Jesus nach seinem Tod und Auferstehen vierzig Tage lang den Aposteln gegeben hat dafür, dass er lebt (Apg 1,1-3). Inhaltlich geht es also um all das, was auch Gegenstand einer Gemeindekatechese ist, die durch das hier Vorgelegte nochmals fundiert erhärtet werden soll (V4). Sich von der Gewissheit dieser Katechese zu überzeugen, ist das Ziel der Schrift und beschreibt das Interesse des Verfassers. Dazu will der Evangelist alles geordnet, der Reihe nach aufschreiben (Lk 1,3).
Die Mittel, dies zum Ausdruck zu bringen, sind literarischer Art, so wie die antike Geschichtsschreibung ohne Zweifel zur Literatur gehört. Die Lk-Darstellung ist demgemäß gänzlich narrativ, kunstvoll erzählend, anschaulich porträtierend. Lk verkündigt, indem er illustriert. Der Evangelist erzählt die eine, große Geschichte über Jesus anhand vieler kleiner Episoden. Dabei hält er sich an seine Quellen, ordnet die Stoffe gezielt an, verbindet die Episoden zuweilen durch allgemeinere Summarien und schafft Übergänge. So reiht der Evangelist oftmals Blöcke aus einzelnen Quellen aneinander: Auf 3,1-4,30 nach Q folgt 4,31-6,20a nach Mk, 6,20b-7,50 nach Q, 8,1-9,50 nach Mk. Umfangreiches Sondergut fließt vor allem in den Reisebericht 9,51-19,27 ein. Erzählerisch soll die Wahrheit über Jesus zur Darstellung kommen und so die Christus-Verkündigung anschaulich fundieren.
Die lk Erzählung von Jesus und seinem Wirken in Tun und Lehre lässt sich in drei Hauptteile gliedern: Deren erster ab Lk 3,1 handelt vom Anfang Jesu, den sein Wirken von Galiläa aus nimmt. Der zweite Hauptteil erzählt von Jesu öffentlichem Wirken als Wanderprediger, wobei 9,51-19,27 als Reisebericht hin nach Jerusalem gestaltet wird, worin zahlreiches Sondergut eingearbeitet ist. Der dritte Hauptteil 19,28-24-53 stellt Jesu Vollendung in Jerusalem dar, wobei Jesu Tod als Durchgang hin zu seiner Erhöhung erscheint. Nach vierzig Tagen mit Erscheinungen, die kundtun, dass er lebt, fährt Jesus in den Himmel auf (Lk 24,50-51). An dieser Stelle setzt das zweite Buch, die Apostelgeschichte, mit einer bildhaft-anschaulichen, facettenreich ausgemalten Darstellung der Erhöhung Jesu im Sinne einer Aufnahme in den Himmel erneut ein (Apg 1,4-14). Mit der Himmelfahrt endet lukanisch die Zeit Jesu inmitten der Seinen, und es schließt sich, initiiert durch die Herabkunft des Geistes unter Feuerzungen und lautem Getöse, die Geschichte der Kirche an, wovon die Apostelgeschichte mit offenem Ende erzählt.
Nicht nur das Ende des Wirkens Jesu auf Erden, welches in seiner Himmelfahrt dargestellt ist, bleibt mit der nachfolgenden Epoche verwoben. Mit dem Anfang Jesu beginnt eine neue heilsgeschichtliche Epoche, die mit der vorausgegangenen Bundesgeschichte vermittelt wird. Den Übergang markiert Johannes der Täufer: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes; von da an wird die Basileia Gottes verkündigt“ (Lk 16,16). Den Anfang Jesu zu erzählen, erscheint als ein gedehnter Prozess, dem das dritte und vierte Lk-Kapitel gewidmet sind. Das Lukasevangelium setzt mehrfach an, um diesen Anfang zu erzählen. In der Synagoge von Nazareth beginnt Jesus zu reden (Lk 4,21) und startet so sein öffentliches Wirken im eigentlichen Sinn. Auf diesen Anfang Jesu, den sein Wirken von Galiläa aus nimmt, sind jedoch verschiedene hinführende Erzählungen bezogen: Person und Predigt Johannes des Täufers, der in direkte Beziehung zu Jesus gesetzt und als Vorläufer Jesu dargestellt wird; die kurze Notiz zur Taufe Jesu; ein (von Mt völlig abweichender) Stammbaum Jesu, der über Adam bis auf Gott hin reicht und der zudem ausdrücklich auf das erste öffentliche Auftreten Jesu bezogen ist (Lk 3,23); die vierzigtägige Versuchung in der Wüste, worin sich Jesus bewährt. Voll des Geistes (Lk 4,1.14.18; vgl. 3,22) beginnt Jesus sein öffentliches Wirken als eine satansfreie Zeit; dieser hatte nach Jesu Bewährung in den Versuchungen von ihm abgelassen (Lk 4,13), und taucht erst beim Verrat durch Judas wieder auf (Lk 22,3). Jesu erstes Auftreten in der Synagoge von Nazareth macht deutlich: Auf ihm ruht der Geist, Gott der Herr hat ihn gesalbt, in ihm ist die messianische Verheißung erfüllt (Lk 4,16-21). In diese Anfänge Jesu erscheint die Wucht und die Bedeutung seines ganzen Wirkens bereits eingetragen.
Am Wendepunkt der Heilsgeschichte vom Alten Bund zu Jesus steht personifiziert die Prophetengestalt Johannes der Täufer. Bis zu diesem reichen das Gesetz und die Propheten; von da an wird die Basileia Gottes verkündigt (Lk 16,16). Damit ist heilsgeschichtlich ein Epochenwechsel hin zur Zeit Jesu markiert. Der Täufer wird als Prophet in der Wüste dargestellt; er wird durch das an ihn ergehende Wort Gottes (Lk 3,2) analog wie die früheren Propheten in Israel (vgl. Jer 1,4-10) für seine Aufgabe berufen. Das Lukasevangelium legt keinerlei Gewicht auf die asketische Gestalt des Täufers oder seine Wassertaufe; der lk Fokus liegt ganz auf seiner Verkündigung. Diese aber ist eine durch und durch endzeitliche Predigt, ganz im Charakter der Logienquelle Q: „Otternbrut, wer hat euch gezeigt zu fliehen vor dem kommenden Zorn“ (Lk 3,7). Dies ist das erste Wort, das Johannes bei Lk spricht. „Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum also, der keine gute Frucht bringt, wird ausgeschlagen und ins Feuer geworfen“ (Lk 3,9). Der Täufer mahnt mit Blick auf das endzeitliche Gericht, vor dem man nicht entkommen kann. So mahnt er „Früchte der Umkehr“ an (Lk 8,3) und konkretisiert dies, indem er Handlungsempfehlungen abgibt (Lk 3,10-14). Das Volk war voller Erwartung, und man mutmaßte, ob vielleicht Johannes selbst der Messias sei (Lk 3,15).
Das Lukasevangelium nimmt die namhafte Gestalt Johannes des Täufers auf und bezieht diesen ganz und gar auf Jesus, indem er Jesus als den Heilsbringer, Johannes aber als dessen prophetischen Herold qualifiziert. Darin folgt er im Prinzip der Vorlage aus Mk, baut jedoch das beschriebene Verhältnis zwischen Jesus und Johannes weiter aus. Neben die Gerichtspredigt des Täufers tritt die Verheißung des Heils; diese aber bezieht sich auf den Messias, welcher nicht Johannes, sondern Jesus ist. Der Evangelist legt dazu ein Zitat aus Jes 40,3-5 in den Mund des Johannes. Dieser nämlich verkörpert aufs beste die bei Jesaja genannte „Stimme des Rufenden in der Wüste“. Jes 40 steht als Inbegriff der Hoffnung des Volkes im Exil, das seine Rückkehr erwartet auf einem Weg durch die Wüste (Jes 40,3), der zum Zion führt (Jes 40,9). Johannes verneint, dass er der Messias ist: Er selbst tauft nur mit Wasser; doch nach ihm kommt ein Stärkerer, der mit Feuer und Heiligem Geist tauft (Lk 3,16; vgl. Apg 2,3-4).
Der Täufer wird dargestellt wie ein Herold für den Messias Jesus. Seine Gerichtspredigt tritt sogar hinter die Ankündigung des Heils zurück. Seine eigene Wassertaufe der Umkehr verblasst angesichts der Feuer- und Geisttaufe, die der erwarteten Endzeit einen anderen Charakter verleiht als gedacht. „Alles Fleisch wird die Rettung durch Gott sehen“ (Lk 3,6). Das Lukasevangelium kontrastiert Jesus gegenüber Johannes und es synchronisiert den Anfang des Wirkens Jesu mit Johannes. Die ausführliche, geschichtlich einordnende Zeitangabe Lk 3,1-2 datiert nicht nur das Wirken des Täufers, sondern markiert zugleich den Anfang des Wirkens Jesu. Die Geschichte Jesu wird in der Lukaserzählung als wichtiger Teil der Weltgeschichte qualifiziert und in diese Geschichte eingetragen. Der Anfang Jesu ist heilsgeschichtlich epochal.
Vor diesen Anfang stellt der Evangelist im nachhinein noch eine Vorgeschichte. In dieser wird das Christus-Bekenntnis des Lukasevangeliums gleichsam nach vorn gespiegelt. Die Erfüllung der Heilsgeschichte in Jesus Christus wird ex post aus der Perspektive der Verheißung ausgeleuchtet (methodisches ex ante). Das Christus-Kerygma wird auf diese Weise nicht verändert, nicht inhaltlich erweitert, sondern lediglich auf der Ebene der Erzählung variiert und illustriert. Dies aber geschieht unter vollem Einsatz der literarischen Kunst antiker Geschichtsschreibung in erzählerischer Weise. Zur Erinnerung: Das literarisch geprägte Wahrheitsverständnis der antiken Geschichtsschreibungskunst ist vom protokollsatzartigen Wahrheitsverständnis heutigen Typs grundverschieden. Anders als bei den zahlreichen phantasievollen, apokryphen Kindheitsgeschichten wird bei Lk jedoch keine Legende ersonnen. Vielmehr lassen die Erzählungen der Vorgeschichte Lk 1,5-2,52 das Christus-Bekenntnis aus einer nochmals anderen Perspektive aufscheinen. Daher hat der Evangelist die Vorgeschichte in den ersten Teil seines Doppelwerks nachträglich eingetragen. Geeignetes Material hierfür stand ihm offensichtlich zur Verfügung.
Die Analyse der Vorgeschichte zeigt deren schematischen Aufbau. Die Geburtsankündigung Johannes des Täufers und die Geburtsankündigung Jesu – jede für sich erzählt – folgen unmittelbar aufeinander. Beide Handlungsstränge werden in der Begegnung der beiden werdenden Mütter, Maria und Elisabeth, miteinander verbunden; indirekt werden auf diese Weise Johannes und Jesus in eine Relation zueinander gesetzt. Anschließend folgen Erzählstücke zur Geburt und Namensgebung des Täufers und zur Geburt Jesu wiederum nacheinander. Die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel beschließt die Vorgeschichte. Die prinzipielle Parallelisierung der Erzählstücke über den Täufer und über Jesus setzt beide Personen zueinander in ein heilsgeschichtliches Verhältnis: Herold – Heilsbringer. Diese Konzeption erfolgt analog zu Lk 3, erzählerisch jedoch zurückgespiegelt auf Szenen rund um Empfängnis und Kindheit. Durch diesen Vorbau wird die Erzählung vom „Anfang“ Jesu Lk 3-4 und seinem von Johannes verkündigten „Kommen“ um eine anschauliche Illustration erweitert. Die Erzählung ist kunstvoll arrangiert, und dennoch oder vielleicht gerade deshalb führt sie mystagogisch an das Christus-Bekenntnis heran, welches Lk unterfüttern will. Aufgrund der anscheinend vorausblickenden Perspektive auf den „späteren“ Jesus Christus, aus deren Warte die Vorgeschichte ex post komponiert ist, wird erzählerisch Interesse am weiteren Verlauf der Evangeliumserzählung geweckt.
Die Geburtsankündigung Johannes des Täufers (Lk 1,5-25)
5 Es geschah in den Tagen des Herodes, als er König von Judäa war: Ein Priester namens Zacharias aus der Priestergruppe Abija, und seine Frau aus den Töchtern Aarons mit Namen Elisabeth. 6 Beide waren sie Gerechte vor Gott, von untadeligem Lebenswandel in allen Geboten und Rechtssatzungen des Herrn. 7 Doch sie hatten kein Kind, denn Elisabeth war unfruchtbar, und beide waren vorgerückt an Tagen.
Die Erzählung beginnt mit einer einzigen, zudem recht allgemeinen Zeitangabe, da die Herrschaft des Herodes von 37 bis 4 v. Chr. dauerte. Die geschichtliche Einordnung der Erzählung bleibt dabei hinter der umfassenderen historischen Verortung in Lk 3,1-2a zurück. Dort erfolgt die eigentliche geschichtliche Einordnung der Lk-Erzählung, dort ist der eigentliche Anfang des Lukasevangeliums zu suchen, während 1,5 lediglich eine vorgeschaltete Vorgeschichte beginnt.
Zacharias ist als Priester mit dem Tempelkult verbunden. Die Priester waren als Nachkommen Aarons, unterstützt durch die Leviten, mit den kultischen Aufgaben im Tempel betraut. Von Aaron ging das Priestertum auf zwei seiner Söhne, Eleasar und Itamar über – die anderen beiden Söhne Aarons hatten keine Söhne und blieben außen vor. Aus den Nachkommen Eleasars stellten 16 Großfamilien jeweils eine Abteilung bzw. Priestergruppe, die Nachkommen Itamars 8 Priestergruppen (1 Chr 24,4). Welche Großfamilien eine Priestergruppe stellen durften, wurde durch Los bestimmt. Das 8. Los fiel auf Abija: Zu dessen Nachkommen zählte Zacharias und damit auch zur 8. Priestergruppe (1 Chr 24,10).
Die Einordnung des Zacharias in die Ordnung des kultischen Priesterdienstes ist nicht nur für den weiteren Fortgang der Erzählung von Bedeutung, da die Handlung beim priesterlichen Dienst während der Opferzeremonie spielt. Zugleich fällt von der aaronitischen Abstammung auch ein positives Licht auf Zacharias sowie auf seine Frau Elisabeth, welche ebenfalls aaronitischer Abstammung ist. Mit der ausgezeichneten Abstammung stimmt auch der tadellose Lebenswandel beider Eheleute überein. Sie stehen fest im Gesetz des Herrn und damit im Bund. Zu dieser Auszeichnung der Personen in Abstammung und Lebensführung erscheint deren Kinderlosigkeit in einer gewissen Spannung. Kinder galten als Gabe des Herrn; Kinder zu haben war ein Zeichen dafür, vom Herrn gesegnet zu sein. Umgekehrt wurde Kinderlosigkeit häufig als eine Strafe Gottes verstanden, normalerweise für persönliche Sünden (z.B. Lev 20,20-21; 2 Sam 6,23). Dieses gängige Erklärungsmuster greift im vorliegenden Fall jedoch nicht. Dass also Zacharias und Elisabeth keine Kinder haben, erscheint aus jüdischer Perspektive schwer vorstellbar.
Die judenchristlichen Leser (Heidenchristen assoziieren die Anspielungen eher nicht) sollen sich vor allem an die Situation von Abraham und Sara Gen 17-18 erinnert fühlen. Sogar sprachlich gibt es wörtliche Übereinstimmungen. Auch diese beiden, die am Anfang der Bundesgeschichte stehen, waren bereits im vorgerückten Alter, Sara blieb unfruchtbar. Analog zur Bundesweisung Jahwes an Abraham, „Ich bin El Schaddai, du wandle vor mir und sei ganz“ (Gen 17,1), so ging auch Zacharias seinen Weg vor dem Herrn und war rechtschaffen. Die Anspielung auf den Bund Jahwes mit Abraham, dass er ihn sehr fruchtbar mache und Völker aus ihm erstehen lasse, spielt in die Christologie und in die Kirchenauffassung des Lk mit hinein. Die Erfüllung dieses Bundes wird gemäß Gen 18 durch das aktive Eingreifen Jahwes getragen. Dass Zacharias und Sara bis ins hohe Alter kinderlos geblieben sind, unterstreicht nochmals die Wirklichkeit dieses aktiven Eingreifens. Gott selbst ist es, der für die Verwirklichung seines Bundes sorgt. Dies zeigt sich bei Abraham und in der Geschichte Israels, dies zeigt sich bei Johannes dem Täufer und in eminenter Weise bei Jesus Christus.
8 Und es geschah, als er mit seiner Priesterordnung den heiligen Dienst vor Gott versah, 9 da wurde er gemäß dem Brauch des Priestertums ausgelost, das Rauchopfer darzubringen, und er ging in den Tempel des Herrn, 10 und die ganze Volksmenge betete draußen in der Stunde des Rauchopfers.
Über Generationen hinweg ist die Anzahl der Zugehörigen zu den einzelnen Priestergruppen so stark angewachsen, dass die einzelnen Priester für die konkreten Dienste jeweils per Los bestimmt werden. Dass es an jenem Tag ausgerechnet Zacharias trifft, das Rauchopfer darzubringen, gehört zur großen Linie des heilsgeschichtlichen Eingreifens Gottes. Wer einmal ausgelost wurde, schied bei künftigen Losverfahren aus. Jeder der Priester kam also höchstens einmal im Leben zum Dienst im Heiligtum. In seinem Dienst an jenem Tag steht Zacharias also auf dem Höhepunkt seines Lebens: als Israelit im Bundeshandeln sowie als Priester im jüdischen Tempelkult, worin der Bund seitens des Volkes vollzogen wird. Dies wird dadurch zusätzlich unterstrichen, dass die ganze Volksmenge – stellvertretend für ganz Israel – draußen vor dem Heiligtum versammelt ist, und zwar im Gebet. Die Szene setzt also gewissermaßen am Gipfel des alten Bundes an. Nun folgt eine Weiterführung dieses Bundes in Form einer Überhöhung. Dies ist das heilsgeschichtliche Verständnis des Lk.
11 Da erschien ihm ein Engel des Herrn, wie er dastand zur Rechten des Rauchopferaltars. 12 Und Zacharias wurde erschüttert, als er ihn erblickte, und Furcht kam über ihn.
Im Bundesvollzug, bei der Darbringung des Rauchopfers am Abend, lässt sich ein Engel Gottes vor Zacharias sehen. Dieser ist Gabriel, wie er V 19 sagen wird. Gabriel ist aus der Erscheinung an den Propheten Daniel bereits bekannt (Dan 9,20-27). Diese Erscheinung, wie bei Zacharias ebenfalls zur Zeit des Abendopfers, folgte auf das Bekenntnis Daniels (Dan 9,1-19) der Treulosigkeit des eigenen Volkes, nicht auf die Propheten gehört zu haben und auf das Gebet und Flehen um Abwendung des Zornes Gottes: Gott möge um seiner selbst willen sein Angesicht über seinem Heiligtum leuchten lassen, welches verwüstet daliegt (Dan 9,17). Gabriel kündigt „70 Wochen“ an, bis ewige Gerechtigkeit eintritt und die Weissagungen besiegelt sind. Innerhalb dieser heilsgeschichtlichen Zeit wird nach 62 Wochen der Gesalbte umgebracht, ohne Richterspruch. Diese heilsgeschichtliche Anspielung aus Dan 9, freilich nur für Judenchristen verständlich, wird aufgrund der Personidentität des Engels in die Erzählung von der Geburtsankündigung des Täufers als Konnotation mit assoziiert. Im Kontext des Lukasevangeliums ist dabei der heilsgeschichtliche Bezug zu Jesus Christus klar angedeutet.
Das Erscheinen des Engels – wörtlich eigentlich: er ließ sich sehen – wird mit jenem Wort ausgedrückt, mit dem die alte Kirche die Selbstbekundung des auferstandenen Herrn an die Seinen bezeichnet hat (vgl. 1 Kor 15,5-8). Da Lk 24,26 eine andere Ausdrucksform wählt, mag die Wortwahl an dieser Stelle der Quelle geschuldet sein, die der Evangelist verwendet. Gleichwohl erscheint die Bezugnahme auf den auferstandenen Herrn offensichtlich.
Der Engel gehört zum Bereich Gottes. Seine Worte sind die Worte Gottes. Da jedoch kein Mensch die Herrlichkeit Jahwes schauen, das Angesicht Gottes sehen und am Leben bleiben kann (Ex 33,20) – dies ist erst in Jesus Christus der Fall, aber selbst jener wird in der Erzählung der Himmelfahrt verhüllt bis zur Wiederkunft – dient der Engel als Mittler. Weil dieser aber für Gott steht, wird Zacharias beim Anblick des Engels erschüttert, und es befällt ihn Furcht – wie die Jünger Lk 24,37, als der Auferstandene in ihre Mitte tritt.
13 Da sagte der Engel zu ihm: Fürchte dich nicht, Zacharias, denn erhört worden ist dein Gebet: Deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihn beim Namen Johannes nennen. 14 Und Freude und Wonne wird sein für dich, und viele werden sich freuen über seine Geburt. 15 Denn er wird groß sein vor dem Herrn, Wein und Berauschendes darf er nicht trinken, noch von Mutterschoß an, er wird mit dem Heiligen Geist erfüllt werden, 16 und viele der Söhne Israels wird er bekehren zum Herrn, ihrem Gott. 17 Und er selbst wird hergehen vor ihm in Geist und Kraft des Elija, zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungehorsamen in Besonnenheit der Gerechten, um dem Herrn ein bereitetes Volk zu schaffen.
Der Gruß „Fürchte dich nicht“ (so auch Gen 15,1 Jahwe an Abraham; Dan 10,12 die leuchtende Gestalt an Daniel) soll von oben her die Erschütterung angesichts der Herrlichkeit Gottes überbrücken, die nicht von dieser Welt ist. Der Adressat wird gewissermaßen emporgehoben und befähigt, die Weisung von Gott zu empfangen. Das Seinige hat Zacharias erfüllt: Er ist von aaronitischer Abstammung, Priester im Tempelkult, im Bund verankert, gerecht und untadelig in seinem Leben. Und dennoch blieben er und seine Frau Elisabeth kinderlos. Dass Elisabeth nun einen Sohn bekommen soll, verdankt sich gänzlich dem Eingreifen Gottes. Dieses aber hat eine herausragende heilsgeschichtliche Bedeutung.
Nicht nur der Gruß gleicht jenem bei Daniel. Auch die Mitteilung der Gebetserhörung ist den Erscheinungs-Begegnungen sowohl bei Daniel als auch bei Zacharias gemeinsam. Darüber hinaus stellt das Stummwerden und das nachfolgende Lösen der Lippen (bei Daniel) bzw. der Zunge (bei Zacharias) eine weitere Entsprechung dar (vgl. Lk 1,20.64). Die Geburtsankündigung und Weisung zur Namensgebung erfolgt nicht nur analog zu Abraham, sondern ist sogar wörtlich nach Gen 17,19 (LXX) formuliert. Der Name Johannes (= Gott ist gnädig) wird vorgegeben – wie bei Ismael und Isaak sowie Jes 7,14 der Name Immanuel. Das Namensgebungsrecht, das seit alter Zeit zunächst bei der Mutter, in späterer Zeit beim Vater lag, wird somit Gott reserviert, der in seinem Heilsplan die Bestimmung des Kindes festgelegt hat.
Ob des Sohnes wird Johannes Freude zugesagt. Das Motiv der Freude wird bei der Geburt Jesu Lk 2,10 erneut aufgenommen. Die Freude über Johannes steht damit in Relation zu jener großen Freude, die der Engel als Folge aus der Geburt Jesu verkündet und welche dem ganzen Volk zuteil werden soll. Johannes wird „groß sein vor dem Herrn“, während Jesus „groß sein und Sohn des Höchsten genannt“ wird (Lk 1,32). Dass Johannes groß sein wird vor dem Herrn, rückt ihn in die Nähe von Jesaja, der als groß gilt (Sir 48,22), sowie in die Nähe der übrigen großen Propheten wie etwa Daniel. Seine heilsgeschichtliche Bedeutung ist sogar größer: Während die Propheten erst zu einem gewissen Zeitpunkt ihres Lebens zu ihrer Aufgabe berufen werden, ist Johannes bereits von Mutterleib an voll des Heiligen Geistes, seine herausragend große prophetische Bestimmung steht über seiner Empfängnis.
Die Verbindung zum Propheten Elija unterstreicht seine Größe. Elija wird geschätzt als ein Prophet wie Feuer, seine Worte waren wie ein brennender Ofen, auf sein Wort hin fiel Feuer vom Himmel. Elija hat einen Toten erweckt, hat Könige gesalbt und den Propheten Elischa als seinen eigenen Nachfolger. Elija steht da für die Endzeit, um den Söhnen das Herz der Väter zuzuwenden (Sir 48,1-11). All diese prophetische Größe wird auf Johannes übertragen. Dieser rückt zugleich in die Rolle des wiederkommenden Elija, dessen erneute Ankunft vor dem großen Tag des Herrn, der das Gericht bringt, verbreitet erwartet wurde (Mal 3,23-24). Bei alledem ist Johannes dennoch nur der Wegbereiter (Mal 3,1) für einen anderen, der sogar noch größer ist als er selbst. Auf dieses noch größere Sinnganze ist sein Tun hingeordnet, wenn er als Erwachsener durch seine Predigt und sein Täuferwirken das Volk bereitet. Auch auf seinen bekanntermaßen asketischen Lebensstil wird angespielt, dem jedoch bei Lk keine besondere Bedeutung zukommt. Dies alles ist der Geburtsankündigung eingeschrieben, welche die Bestimmung des Menschen darstellt, wie sie ihm in Gottes Plan zukommt. Die prophetische Größe des Täufers wird ins unvergleichliche gesteigert, und dabei bleibt er selbst ja lediglich der Wegbereiter für den noch größeren, der nach ihm kommt.
18 Da sagte Zacharias zum Engel: Woran mag ich das erkennen? Denn ich bin alt, auch meine Frau ist in ihren vorgerückten Tagen. 19 Und der Engel antwortete und sagte zu ihm: Ich bin Gabriel, der im Angesicht Gottes steht, gesandt, zu dir zu reden und dir dies zu verkünden; 20 Und siehe, du wirst stumm sein und sollst nicht mehr reden können, bis zum Tag, da dies geschieht, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die erfüllt werden zu ihrer Zeit.
Zacharias entgegnet mit einer Frage nach der Vergewisserung für all das, nach einem Beleg oder Argument für die Gültigkeit dieser Verheißung. Sein auf den ersten Blick plausibles, rational scheinendes Gegenargument ist – wie bei Abraham und der über die Ankündigung lachenden Sara – das vorgerückte Alter der beiden. Die Antwort auf die Frage nach dem Argument liegt in der Nennung des Namens dieses Engels. Erst jetzt wird der Name Gabriel ausdrücklich genannt. Waren zuvor bereits die zahlreichen Bezüge zum Propheten Daniel angedeutet, so werden diese jetzt ausdrücklich deutlich; denn Gabriel ist jener, der zum Propheten Daniel geschickt worden war. Auch die Frage nach der Einsicht, nach einem Argument zur Vergewisserung wird auf diese Weise aufgenommen und auf ihre Weise beantwortet. Bereits zu Daniel ist Gabriel gesandt worden, um ihm „klare Einsicht“ zu vermitteln (Dan 9,22), den Heilsplan betreffend, von dem die dort genannte 70-Wochen-Prophetie handelt.
Allerdings liegt diese Einsicht auf einer anderen Ebene als erwartet: Sie betrifft den Glauben. So besteht die Antwort auf die Frage nach der Vergewisserung in einem Person- bzw. Autoritätsargument. Die Gültigkeit und Vernunft dieser Worte ist daran festzumachen, dass es Gabriel ist, der sie an Zacharias verkündet (das griech. Wort für „verkünden“ ist die bei Lk oftmals wiederkehrende Bezeichnung für die Verkündigung Jesu und die Verkündigung des Evangeliums). Gabriel ist ein Engel und steht im Angesicht Gottes. Zudem ist er explizit von Gott gesandt, um Zacharias diese Botschaft zu verkünden. Die Verheißung ist also Gottes eigenes Wort. Eine stärkere Legitimation für die Gültigkeit der Verheißung gib es nicht als dass all dies in Gott selbst begründet, von ihm selbst zugesagt ist. Allerdings ist es eine Plausibilität, die nicht vordergründig zu haben ist, sondern der man nur im Glauben begegnen kann, weil dies der Modus ist, in dem man Gott und seinem Werk überhaupt nur begegnen kann.
Dass es um den Glauben geht, wird im Zusammenhang mit der Stummheit ausdrücklich gesagt, als diese Zacharias auferlegt wird. Das Verstummen dient als ein äußeres Zeichen für die Zeit zwischen Verheißung und dem Kairos der Erfüllung, welcher die Zeit des erfüllten Heils markiert. Stummheit und erneutes Lösen der Lippen ist ein Motiv, das ebenfalls bereits bei Daniel begegnet (Dan 10,15-16). Die Geburtsankündigung stellt eine Verheißung dar, mit der späteren weisungsgemäßen Namensgebung wird die Erfüllung dieser Verheißung angezeigt, und Zacharias wird seine Zunge wieder gebrauchen können. Damit wird zugleich unterstrichen, dass die ganze Verheißung erfüllt ist, die heilsgeschichtliche Rolle des Johannes betreffend. Und so wird zugleich die Erfüllung der Verheißung in Jesus Christus unterstrichen, des Größeren, der nach ihm kommt. Zu diesem Zweck ist ja die Johanneserzählung mit der Christuserzählung bei Lk parallelisiert. Immer wieder wird also auf indirekte Weise Christologie dargeboten.
21 Und das Volk wartete auf Zacharias und wunderte sich, dass er so lange im Heiligtum war. 22 Als er nun herauskam, konnte er nicht mehr mit ihnen sprechen, und sie erkannten, dass er eine Erscheinung gesehen hat im Heiligtum; und er selbst gab Handzeichen und blieb stumm. 23 Und es geschah, als die Tage seines Tempeldienstes erfüllt waren, kehrte er in sein Haus zurück. 24 Nach diesen Tagen empfing seine Frau Elisabeth; sie hielt sich fünf Monate zurückgezogen und sagte: 25 So hat der Herr an mir gehandelt in den Tagen, als er meine Schmach unter den Menschen angesehen hat.
Das Volk, das die ganze Zeit über vor dem Heiligtum im Gebet ausharrte, wundert sich, warum Zacharias länger als gewöhnlich ein Priester für das Rauchopfer im Heiligtum zubringt. Das Volk selbst ist mehr als nur Kulisse; es erscheint in die Handlung einbezogen, und zwar im Gebet verharrend am Rande der Handlung eingezeichnet. Sowohl die lange Zeitdauer als auch die Tatsache, dass Zacharias beim Herauskommen nun nicht mehr mit den Leuten sprechen kann, unterstreichen die tatsächlich geschehene Begegnung mit dem Engel. Die eingetretene Stummheit bewahrheitet die Gültigkeit der Engelsworte und deutet auf die Erfüllung der ganzen Verheißung hin.
Die Rückkehr des Zacharias aus dem Tempel nach Hause folgt dem wöchentlichen Turnus der für den Tempeldienst zuständigen Priestergruppen. Nach diesen Tagen empfängt Elisabeth einen Sohn – genaueres hierüber wird nicht verlautet, während im Fall Marias gesagt werden wird, dass der Heilige Geist über sie kommt, und die Kraft des Höchsten sie überschattet (Lk 1,35). Auf dieses Ereignis hin verweist die Szene, da Johannes von seiner Bestimmung her auf den nach ihm kommenden Stärkeren bezogen ist. Die Erzählung von der Geburtsankündigung des Johannes enthält insofern bereits indirekt eine komparative Christologie, weil Johannes bei aller Größe, die ihm Gottes Heilsplan zugedacht hat, mit seinem ganzen Wesen auf den nach ihm kommenden Größeren verweist.
Elisabeth hält sich fünf Monate lang zurückgezogen, im sechsten Monat folgt die Geburtsankündigung Jesu an Maria. Und nochmals zeigt sich, wie sehr die beiden parallel erzählten Handlungsstränge aufeinander bezogen sind. Erst dabei erfährt Maria aus dem Mund des Engels von der Empfängnis bei Elisabeth; sie macht sich daraufhin auf ins Bergland von Judäa, und in der Begegnung beider Mütter schließt sich der Kreis der Erzählung, indem die beiden aufeinander bezogenen Handlungsstränge in dieser Begegnung – und nur in dieser einen Begegnung – explizit zusammenlaufen. Von hier aus in der Rückschau wird das Erzählstück von der Geburtsankündigung des Johannes um so deutlicher verständlich.
Die Geburtsankündigung Jesu (Lk 1,26-38)
26 Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazareth gesandt 27 zu einer Jungfrau, die mit einem Mann namens Josef aus dem Hause Davids verlobt war, und der Name der Jungfrau war Maria.
Die neue Szene wird durch eine Zeitangabe eröffnet. Bereits dadurch wird die Erzählung von der Geburtsankündigung Jesu in Relation zur vorausgegangenen Szene, der Geburtsankündigung des Johannes, gesetzt. Die beiden Erzählstücke erscheinen durchgängig aufeinander abgestimmt, wobei die Vorlage zur Geburtsankündigung des Johannes wohl die ältere von beiden ist. Fünf Monate hält sich Elisabeth im verborgenen, im sechsten Monat kommt der Engel zu Maria. Beide Erzählungen sind also sowohl zeitlich als auch inhaltlich aufeinander abgestimmt.
Über die inhaltliche Entsprechung hinaus fällt der formal gleiche d.h. parallelisierte Aufbau beider Geburtsankündigungserzählungen auf. In beiden Fällen tritt der Engel Gabriel auf, sowohl Zacharias als auch Maria reagieren zunächst erschüttert. Beide Male spricht der Engel „fürchte dich nicht“. In beiden Szenen folgt die eigentliche Geburtsankündigung, zudem eine Weisung zur Namensgebung sowie eine Weissagung über das Kind: Beide werden „groß“ sein, Jesus aber wird als der unvergleichlich größere dargestellt. Neben das Stilmittel der Parallelität tritt die Überbietung. Sowohl Zacharias als auch Maria stellen eine Rückfrage, woraufhin der Engel antwortend seine Verkündigung fortsetzt und mit einem „und siehe“ abschließt. Beide Erzählungen schließen mit einem Erfüllungswort: Elisabeth wird schwanger, Maria spricht das „mir geschehe“.
Wiederum also ist es der Engel Gabriel, der von Gott gesandt ist. Schon daran wird neben der Zeitangabe der Zusammenhang der beiden Handlungsstränge deutlich. Die Szene wird in Nazareth verortet, weil Jesus als Galiläer bekannt ist (Lk 23,6; 22,59), und auch seine Jünger allesamt Galiläer sind (Apg 2,7). Nazareth als eine Art Stadt, eine „Polis“ d.h. als ein organisiertes Gemeinwesen hellenistischen Typs vorzustellen, erscheint als Euphemismus, um den Ort an die Bedeutsamkeit des Ereignisses anzupassen. Für hellenistisches Empfinden dürfte irgendein kleines Nest, irgendein Winkel der Welt (vgl. Apg 26,26) als Rahmen für ein derart großes Geschehen unpassend gewirkt haben. Also wird Nazareth auf ein mutmaßlich akzeptables Niveau gehoben und als Polis bezeichnet.
Maria wird als Verlobte des Josef in die Erzählung eingeführt, welcher von David abstammt. Hierdurch wird die messianische, königliche, davidische Abstammung Jesu bereits angedeutet. Im Unterschied zum Matthäusevangelium nimmt der Gedanke der Davidssohnschaft bei Lk jedoch keinen so breiten Raum ein. Er liegt allerdings der volkszählungsbedingten Wanderung von Josef und Maria nach Bethlehem zugrunde, auf dass Jesus in der Davidstadt geboren wird (Lk 2,1-7).
Gleichsam im Vorübergehen wird Maria als Jungfrau bezeichnet, noch vor der Erwähnung ihrer Verlobung mit dem Daviden Josef und der Nennung ihres eigenen Namens. Auch bei Lk ist das Wort „parthenos – Jungfrau“ über das übersetzte Jesaja-Zitat aus der Septuaginta aufgenommen. In der Septuaginta aber wird das originale hebräische „’almah“, welches soviel wie jugendliche, junge Frau bedeutet, statt durch das bedeutungsähnliche „neanis“, was eine angemessene Übersetzung wäre, durch „parthenos – Jungfrau“ interpretiert. Für diese Übersetzungs-Interpretation dürften hellenisierte Vorstellungen aus der ägyptischen Mythologie maßgeblich gewesen sein.
Die altägyptische Königsmythologie betrachtete den Pharao als Sohn des Gottes Re. Über die Jahrhunderte hin tritt die Bedeutung dieses Gedankens in den Hintergrund. Die Vorstellung vom Königskind, das vom Gott Amun aus einer menschlichen Mutter gezeugt wird, verschiebt sich in den Götterhimmel. Amun, der mehr und mehr als lebensspendender Geist vorgestellt wird, erzeugt in einem pneumatischen Akt ein Götterkind aus einer Muttergottheit. Einmal jährlich wird die Geburt dieser Kinder kultisch begangen. Zu diesem Zweck werden eigene Geburtshäuser errichtet, sogar noch bis in das Rom der Zeit Neros.
Um die ausschließliche Vaterschaft Amuns zu unterstreichen, gewinnt die Jungfräulichkeit der Mutter an Bedeutung. Die Hohepriesterin im Amun-Kult musste daher Jungfrau sein. Auch in Babylonien galten die Göttin Ischtar sowie ihre Priesterinnen als Jungfrauen. Aus dem griechischen Olymp gelten Athene, Artemis und Hestia als Jungfrauen. Mithras soll von einer Jungfrau geboren worden sein. Mit der Zeit hat sich das Motiv der Jungfräulichkeit im hellenistischen Kulturkreis verselbständigt und eine eigene Aura geschaffen. Im diesem interkulturellen Kontext erfolgt bei der Übersetzung der Schrift aus dem Hebräischen ins Griechische die Übertragung von „’almah“ durch „parthenos – Jungfrau“. Über den Weg des Septuaginta-Zitats gelangt der Begriff schließlich auch in den Text von Mt und in den Text von Lk, der bei der Begriffsverwendung über das reine Zitat hinausgeht. Der theologische Sinn des späteren Mariendogmas wird bei Lukas noch nicht dargestellt.
Während Mt lediglich das Jesaja-Zitat aus der Septuaginta aufnimmt, bezeichnet Lk Maria an dieser Stelle direkt als eine Jungfrau. Dabei steht auch hier Jes 7,14 im Hintergrund, welches kurz darauf V 31 in der Geburtsankündigung zitiert wird. Diese Bezeichnung korrespondiert mit der Antwort des Engels auf Marias Frage nach dem „wie“ ihres Mutterwerdens (V 35). Doch dabei geht es nicht um eine Art pneumatische Empfängnis à la Amun, sondern um die Erzählung der göttlichen Abstammung Jesu. Während Elisabeth bereits in vorgerücktem Alter und unfruchtbar war, also aus sich heraus keine Kinder bekommen konnte, und Johannes nur deshalb geboren wurde, weil Gott es geschehen ließ, findet sich bei Maria eine Überbietung auch in der Art des Eingreifens Gottes: Dass Jesus direkt von Gott stammt, wird dadurch unterstrichen, dass Maria keinen Mann erkennt, sondern dass der Heilige Geist über sie kommt, und die Kraft des Höchsten sie überschattet. Freilich steht der lukanische Text den hellenistischen Erzählmotiven literarisch näher. Lukas ist der am meisten hellenistische unter den Evangelisten. Zugleich aber grenzt der Evangelist seine Erzählung gegen hellenistische Mythologien ab. Lukas schreibt keine apokryphe Jesus-Legende. Er bewegt sich in der hellenistischen Geisteswelt, ohne darin aufzugehen. Sich in der hellenistischen Vorstellungswelt bewegend, verkündigt er Jesus als den Christus. Diesen zu profilieren, dienen die mit Johannes parallelisierten und überbietenden Erzählungen der Vorgeschichte.
28 Er kam zu ihr herein und sagte: Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr mit dir. 29 Sie aber erschrak über das Wort und überlegte, was für ein Gruß dies wohl sei. 30 Und der Engel sagte zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott. 31 Und siehe, du wirst empfangen im Schoß und du wirst gebären einen Sohn und du sollst seinen Namen Jesus nennen. 32 Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten gerufen werden und Gott der Herr wird ihm geben den Thron seines Vaters David, 33 und er wird König sein über das Haus Jakob auf ewig, und seiner Basileia wird kein Ende sein.
Anders als bei Zacharias führt nicht schon die Begegnung Marias mit dem eintretenden Engel zur Erschütterung, sondern erst das Grußwort. Maria wird als Begnadete ausgezeichnet, mit der der Herr ist. Bei Zacharias wurde lediglich gesagt, dass sein Gebet erhört worden ist. Maria erscheint derart über Zacharias erhöht, der Herr ist derart in ihr, dass es nicht schon beim Eintreten des Engels zur Erschütterung kommt. Diese tritt erst ein angesichts des erweiterten Grußes, da weniger die Person des Engels per se (≠ Übermensch), sondern vielmehr das von Gott kommende, durch den Engel zu verkündende Heil in Christus Anlass zur Erschütterung angesichts der Größe Gottes gibt. Im griechischen Wort „sei gegrüßt“ schwingt zudem das „freue dich“ mit, welches gemäß der Sacharja-Prophetie der Tochter Zion, der Tochter Jerusalem gilt angesichts der Ankunft des messianischen Königs (Sach 9,9). Nach der Not wird Jerusalem errettet, nach dem Exil kehrt das Volk aus Babel zurück (Sach 6,10), ja kehrt der Herr selbst nach Jerusalem zurück, um auf dem nunmehr heiligen Berg zu wohnen (Sach 8,3). Der messianische Friedenskönig zieht auf dem Jungen einer Eselin reitend ein (Sach 9,9). Diese messianische Ankunft und die damit anbrechende Heilszeit ist im Gruß des Engels an Maria assoziiert.
Erst jetzt folgt das „fürchte dich nicht“ angesichts des Erschüttertseins Marias über die Größe Gottes, die sich im anbrechenden Heil zeigt. Die folgende Verkündigung des Engels führt aus, worin die zugesagte Gnade besteht: Es ist die Geburtsankündigung Jesu mit der Weisung zur Namensgebung, analog zu Jes 7,14 sowie analog zur Verkündigung an Zacharias formuliert. Die Überbietung gegenüber Johannes setzt sich in der Bestimmung Jesu fort. Wie bereits von Johannes gesagt, wird auch Jesus „groß sein“, doch zugleich ist er der größere: Sohn des Höchsten, messianischer König, und seiner Basileia wird kein Ende sein. Es ist dies zugleich die Erfüllung der Verheißung an David (Ps 132,11), dass einer von seinen Nachkommen auf dem Thron sitzen wird, dass sein Haus, sein Thron, sein Königtum in diesem Nachkommen auf ewig Bestand haben (Ps 89,4-5). Das lukanische Doppelwerk sieht dies im auferstandenen und erhöhten Herrn erfüllt, wie die Pfingstpredigt des Petrus über die Davidprophetie ausdrücklich bemerkt (Apg 2,29-36; 13,34).
Um diese Verkündigung Jesu Christi geht es; alles übrige Erzählgut, prophetische und literarischen Motive, werden zu diesem Zweck in Dienst gestellt. So mag neben den Motiven des davidischen Königtums, der erfüllten Prophetie, des ankommenden Messias literarisch auch das hellenistisch-interkulturelle Motiv vom wundertätigen Heilbringer mitschwingen, der Frieden und Gerechtigkeit aufrichtet. Bei der mythisch vorgestellten pneumatischen Zeugung durch Amun aus der Jungfrau gilt das Kind, dessen Geburt in den eigens errichteten Geburtshäusern einmal jährlich kultisch begangen wird, als Heilbringer, seine Geburt als großes Ereignis des anbrechenden Heils. Das Kind bringt Frieden und Gerechtigkeit. Auch bei Jesaja findet sich in der Verheißung von der Geburt des Kindes das Motiv des Friedensfürsten: Er herrscht auf dem Thron Davids, stützt das Reich durch Recht und Gerechtigkeit, seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende (Jes 9,5-6). All diese Motive spielen literarisch in die jüdisch-hellenistische Gestalt der Lk-Vorgeschichte hinein. Gleichwohl stellen sie nichts anderes dar als einen zusätzlichen Modus der Christus-Verkündigung; denn der Evangelist bezieht all dies auf den auferstandenen, erhöhten Herrn, wie die Pfingstpredigt des Petrus ausdrücklich deutlich macht. Die bei Lk assimilierten Motive dienen lediglich als Ausdrucksformen der Christus-Verkündigung; keineswegs stellen sie deren Basis dar.
34 Maria sagte zu dem Engel: Wie wird dies sein, da ich einen Mann nicht erkenne? 35 Und der Engel antwortete und sagte zu ihr: Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; deswegen auch wird das gewordene Heilige Sohn Gottes genannt werden. 36 Und siehe: Elisabeth, deine Verwandte – auch sie hat empfangen einen Sohn in ihrem Alter, und dieser ist ihr im sechsten Monat, ihr, die sie unfruchtbar genannt wurde; 37 denn nicht unmöglich ist bei Gott jegliches Wort.
Sowohl Zacharias als auch Maria stellen auf die Ankündigung des Engels eine Rückfrage. Während Zacharias nach einer Plausibilisierung fragt, woran er die Wahrheit der Verheißung erkennen könne, was ihm als Unglaube ausgelegt wird, fragt Maria einzig nach dem „wie“ des verkündigten Heilsgeschehens. Dass sie keinen Mann erkennt, unterstreicht, dass Jesus aus Gott stammt und ganz dem Bereich Gottes zugehört – dies entspricht der Erfahrung vom auferstandenen, erhöhten Herrn. Die Vorgeschichte spiegelt diese Gewissheit in die Erzählung über die Abstammung Jesu aus Gott hinein.
Die Antwort des Engels auf Marias Rückfrage führt weiter aus, dass Jesus der Sohn des Höchsten ist. Das Wort vom Heiligen Geist und jenes von der Kraft des Höchsten korrespondieren wiederum mit der Geburtsankündigung des Johannes. Während Johannes von Heiligem Geist erfüllt wird, und zwar von Mutterschoß an (was ihn über die Propheten erhebt, die erst im Lauf ihres Lebens berufen worden sind), Johannes also von Anfang an gänzlich im Dienst steht, den nach ihm Kommenden Stärkeren prophetisch zu verkünden, muss die Aussage bei Jesus überbietend gemeint sein. Voll des Geistes zu sein – vgl. die Antrittspredigt Jesu Lk 4,18-21 – lässt sich schwerlich übertreffen. Die Vorgeschichte wagt diesen Überstieg dennoch auf ihre eigene, literarische Art. Wenn hier Johannes voll des Geistes genannt wird, und zwar von Mutterleib an, so muss Jesus nochmals größer sein. Jesus ist mehr als nur von Mutterleib an voll des Geistes, er stammt sogar aus dem Heiligen Geist. Daher wird er selbst „heilig“ und „Sohn Gottes“ genannt. Da Gott allein der Heilige ist, kommt auch Jesus diese Bestimmung zu. Einmal mehr begegnet auch an dieser Stelle ein Stück erzählte Christologie.
Das Wort von der „Kraft des Höchsten“ korrespondiert mit der „Kraft des Elija“ (Lk 1,17), in der Johannes als der Vorläufer des Messias seine Berufung ausübt, und überbietet diese; denn Jesus stammt ganz aus Gott. Zur Erinnerung: Das lukanische Doppelwerk bewegt sich in der hellenistischen Geisteswelt, ohne darin aufzugehen. Sich in der hellenistischen Vorstellungswelt bewegend, verkündigt der Evangelist Jesus als den Christus. Der Evangelist schreibt keine apokryphe Jesus-Legende mit einer Geistzeugung à la Amun, auf Basis irgendwelchen geheimen Sonderwissens. Eine derartige Interpretation würde vielmehr an der Wahrheit Jesu Christi vorbeigehen. Auch handelt es sich nicht um eine Legende vom Königskind nach Art der ptolemäisch-ägyptischen Königsmythologie. Mit der Eroberung Ägyptens durch Alexander d. Gr. und unter den nachfolgenden makedonischen Ptolemäerkönigen ist die altägyptische Königsmythologie, nunmehr modifiziert, politisch motiviert wieder in den Vordergrund gerückt. Seit Alexander d. Gr. gelten die ptolemäischen Könige in Ägypten ausdrücklich als Göttersöhne, seit Augustus auch die Kaiser in Rom.
Tatsächlich drückt sich auch der am meisten hellenistische aller Evangelisten in der Sprache und Geisteswelt seiner Umwelt aus, welche zugleich seine eigene ist, um mit diesen Mitteln im Rahmen der Vorgeschichte über den erhöhten Herrn zu präludieren. Nicht anders als von diesem Evangelium her und auf dieses Evangelium hin ist die Vorgeschichte zu verstehen. Würde man etwas anderes (z.B. das „wie“ der Inkarnation, welche ihrerseits bereits ein Theologoumenon ist) daraus zu erheben suchen, würde man den Sinn des Textes verfehlen. Würde man die Christologie als von außen nachträglich herangetragen und von hellenistischem Gedankengut befruchtet ansehen, würde man am Sinn der Evangelien vorbeigehen. Ausgangspunkt christologischer Überlegungen ist vielmehr die Erfahrung des auferstandenen, erhöhten Herrn. Diese Verkündigung erzählerisch in Worte zu bringen, das unternehmen die Evangelienschriften auf ihre jeweils eigene Art. Die Christologie ist also kein geschichtlich-kontingentes Nebenprodukt einer Jesusbewegung, die in den Strudel von hellenistischem Gedankengut geraten ist. Die Christologie steht am Anfang der Verkündigung. Alle nachfolgenden sprachlichen Versuche sind von dieser Grundgewissheit her überhaupt erst motiviert. Als solche sind alle Formulierungsversuche stets erst ein zweites (Zum Problem der Sprache s.o. S.17 ff.).
Das Engelswort schließt mit dem Hinweis auf die nach menschlichem Ermessen eigentlich unmögliche, aber dennoch eingetretene Schwangerschaft der Elisabeth und mit dem Hinweis darauf, dass für Gott nichts unmöglich ist. Die Schwangerschaft Elisabeths wird so zum Zeichen für die Bewahrheitung der Verheißung; ein Zeichen, das zwar nicht erbeten, aber dennoch gegeben wird – wie in Jes 7,14. Eigentlich wäre ein Zeichen nicht notwendig. Die Verheißung Gottes wird ohnehin erfüllt. Außerdem fragt Maria, im Unterschied zu Zacharias, nach keinem Zeichen und keiner Plausibilisierung. Das Zeichen dient somit gänzlich der Anspielung auf das Jesaja-Zitat, nämlich dass dieses nun in Jesus erfüllt ist.
38 Da sagte Maria: Siehe, die Dienerin des Herrn. Mir soll es geschehen gemäß deinem Wort. Und der Engel ging fort von ihr.
Kapitel 4
Wandel im Verständnis der Weihnachtserzählungen
Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Leben und Sterben Jesu Christi und zu den Zeugen seiner Auferstehung und Verherrlichung verändert sich die Sichtweise auf die schriftlichen Zeugnisse, wie sie insbesondere in den Evangelienschriften vorliegen. Mit jeder weiteren Generation nimmt die Unmittelbarkeit zum Ursprungsereignis ab, und rücken dessen älteste Zeugen in weitere Ferne. Waren die Evangelienschriften von ihrer Entstehung her als Zeugnisse zur Verkündigung Jesu Christi niedergeschrieben, voll von theologischen Entwürfen und Anspielungen auf die Schrift, so verschiebt sich deren Rezeption mit größer werdendem zeitlichem Abstand hin zu feststehenden Zeugnissen, die im Sinne von objektiv-historischen Grundlagen des kirchlichen Glaubens verstanden werden.
Waren die Evangelienschriften von ihrer Entstehung her noch von einem lebendigen Theologisieren gekennzeichnet und brachten sie theologische Botschaften narrativ zum Ausdruck, verschiebt sich insbesondere aufgrund der Abgrenzung gegen spekulatives gnostisches Denken die Wahrnehmung im 2. und 3. Jhd. derart, als gelte es in erster Linie an einem wörtlichen Schriftsinn festzuhalten. Dieser wird als Aussage über das Faktische angesehen, auch wenn über den Literalsinn hinaus auf einer Metaebene zusätzlich ein allegorischer Schriftsinn angenommen werden kann. Aus den theologoumenal orientierten Zeugnissen, die das Christus-Bekenntnis zum Zweck der Verkündigung literarisch entfalten, werden in der Wahrnehmung authentische Faktenberichte gemäß einem wörtlichen Schriftsinn, zu dem ein allegorischer Schriftsinn, wenn auch auf mehreren Ebenen, allenfalls hinzutreten kann. Ersterer etabliert sich als maßgeblich unter den Gläubigen, letzterer bleibt auf intellektuelle Kreise z.B. in Alexandria begrenzt. Das ursprüngliche Verständnis der Evangelientexte aus der Zeit ihrer Entstehung geht jedoch verloren.
Hintergründe in der hellenistischen Kultur der Kaiserzeit
Abgrenzung einer christlichen Identität
Kapitel 5
Entstehung eines Festes der Geburt Jesu Christi
Kontext eines historisierenden Interesses im 4. Jhd.
Paradigmenwechsel hin zum historisch Anschaulichen
Ausprägung eines Festes der Geburt Christi:
Differenzierung von Termin und Festgehalt
Durchsetzung des 25. Dezember als Festtermin
Kapitel 6
Weitere Entwicklungen in Theologie, Spiritualität und Bibelverständnis
Theologischer Paradigmenwechsel
Weihnachten im Licht einer Christus-Mystik
Wiederentdeckung der ursprünglichen Bedeutung der Evangelienschriften
Literaturhinweis
Schumacher, Thomas
Geschichte der Weihnachtsgeschichte
Ein historischer und theologischer Schlüssel
220 S. ISBN 9783942013123 Printausgabe
ISBN 9783942013130 ebook
Schumacher, Thomas
Wort Gottes
hören - verstehen - verkündigen
15 exegesegerechte Bibelarbeiten zu ausgewählten Sonntagsevangelien
157 S. ISBN 9783942013086 (Print)
Schumacher, Thomas
Die Feier der Eucharistie
liturgische Abläufe - geschichtliche Entwicklungen - theologische Bedeutung
152 S. ISBN 9783942013000 (Print)
ISBN 9783942013147 (ebook)
Schumacher, Thomas
Bischof - Presbyter - Diakon
Geschichte und Theologie des Amtes im Überblick
224 S. ISBN 9783942013017 (Print)
ISBN 9783942013161 (ebook)