Thirteen Days Of Christmas - Ky Berret - E-Book
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Thirteen Days Of Christmas E-Book

Ky Berret

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Beschreibung

***Ein Buch wie ein Weihnachtsfilm. Mit Schnee, Plätzchen und einer Extraportion Herzklopfen*** Für Leo läuft es... miserabel. Ihr frischgebackener Ehemann weckt sie mit den Worten "die Hochzeit war ein Fehler." Als wäre das nicht bereits schlimm genug, steht Weihnachten vor der Tür und damit ein Treffen mit der gesamten Familie. Diese weiß weder von der Hochzeit noch von der Trennung - und das soll auch so bleiben. Zum Glück wird sie schon nach drei Tagen in die Flitterwochen reisen. Allein. Aber alles ist besser, als länger mit ihrer anstrengenden Verwandtschaft im viel zu kleinen Hotel zu verbringen. Soweit der Plan. Für Ole könnte es nicht besser laufen. Leah hat ihn endlich geküsst. Jetzt muss er nur noch kurz seiner Mom in ihrem Hotel aushelfen, bevor er mit seinen Freunden - und Leah - in den Winterurlaub fliegen kann. Soweit der Plan. Beide Pläne geraten ins Wanken, als heftige Lawinen dafür sorgen, dass Leo und Ole gemeinsam feststecken und das Unwetter nicht nur Schnee, sondern auch die Gefühle ordentlich durcheinanderwirbelt.

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Foto: Ron Petraß

Ky Berret, Jahrgang 1996, wurde abseits großer Städte im Herzen Brandenburgs geboren. Trotz seiner Sehbehinderung entschied er sich nach seinem Abitur Film und Fernsehen zu studieren. Wobei er nicht nur in die Welt der TV- und Filmproduktion eintauchte, sondern auch seine Liebe zum Schreiben entdeckte.

Seine Leidenschaft für Musik und Theater führten ihn nach seinem Abschluss an ein Opernhaus, in dessen Tonabteilung er arbeitet.

Neben seinen Erlebnissen in der Theaterwelt fließen auch Erfahrungen aus seinem Studium regelmäßig in seine Geschichten ein.

Für L, damit du das versprochene Happy-End bekommst.

und
Für Dich

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

19. Dezember: 1. Tag

Leo

20. Dezember: 2. Tag

Kapitel 2

21. Dezember: 3. Tag

Ole

22. Dezember: 4. Tag

Kapitel 3

Leo

Kapitel 4

Ole

Kapitel 5

Leo

23. Dezember: 5. Tag

Kapitel 6

Ole

Kapitel 7

Leo

Kapitel 8

Ole

Kapitel 9

Leo

Kapitel 10

Ole

Kapitel 11

Leo

Kapitel 12

24. Dezember: 6. Tag

Ole

Kapitel 13

Leo

Kapitel 14

Ole

Kapitel 15

Leo

Kapitel 16

Ole

Kapitel 17

Leo

Kapitel 18

Ole

Kapitel 19

Leo

Kapitel 20

Ole

Kapitel 21

Leo

25. Dezember: 7. Tag

Kapitel 22

Ole

Kapitel 23

Leo

Kapitel 24

Ole

Kapitel 25

Leo

Kapitel 26

Ole

Kapitel 27

26. Dezember: 8. Tag

Leo

Kapitel 28

Ole

Kapitel 29

Leo

Kapitel 30

Ole

Kapitel 31

Leo

Kapitel 32

Ole

27. Dezember: 9. Tag

Kapitel 33

Leo

Kapitel 34

Ole

Kapitel 35

Leo

Kapitel 36

Ole

Kapitel 37

Leo

Kapitel 38

Ole

Kapitel 39

Leo

Kapitel 40

Ole

28. Dezember: 10. Tag

Ole

Kapitel 41

Leo

Kapitel 42

Ole

Kapitel 43

Leo

Kapitel 44

Leo

Kapitel 45

Ole

Kapitel 46

Leo

Kapitel 47

Ole

Kapitel 48

Leo

Kapitel 49

Leo

Kapitel 50

Leo

Kapitel 51

29. Dezember: 11. Tag

Ole

Kapitel 52

Leo

Kapitel 53

Ole

Kapitel 54

Leo

Kapitel 55

Ole

30. Dezember: 12. Tag

Kapitel 56

Leo

Kapitel 57

Ole

Kapitel 58

Leo

Kapitel 59

Ole

Kapitel 60

Leo

Kapitel 61

Ole

Kapitel 62

Leo

Kapitel 63

31. Dezember: 13. Tag

Ole

Kapitel 64

Leo

Kapitel 65

Ole

Epilog

24. Dezember: 371. Tag

Leo

1

19. Dezember 1. Tag

Leo

Wahrscheinlich denkt ihr gleich, das passiert doch nicht wirklich. Tja, was soll ich sagen, das dachte ich auch. Bis zu diesem beschissenen Tag, dem 19. Dezember, keine vierundzwanzig Stunden, nachdem wir auf dem Standesamt, in diesem kleinen, mit dunklem Holz vertäfelten Raum, vor einer mit monotoner Stimme sprechenden Frau ›Ja, ich will‹ gesagt haben.

Dann wurde ich eines Besseren belehrt.

»Die Hochzeit war ein Fehler«, waren seine Worte. Heute morgen, als ich noch nicht mal richtig wach war. Wir lagen noch im Bett. Nein, ich lag noch im Bett. In dem Bett, in das er mich gestern nicht schnell genug bekommen konnte. Mein Hochzeitskleid, das er mir mit vor Verlangen glühenden Fingern vom Körper gezerrt hat, liegt daneben, als wolle es mich nun verhöhnen.

»Die Hochzeit war ein Fehler«, sind die einzigen Worte, an die ich mich noch erinnern kann. Sein übriges Geschwafel, mit dem er zu erklären versucht hat, was nicht zu erklären ist, habe ich nicht mehr mitbekommen. Immer wieder nur diese fucking fünf Worte, die jetzt in Endlosschleife durch meinen Kopf dröhnen. Ehrlich gesagt habe ich ihn auch ziemlich schnell aus der Wohnung geworfen. Ihn durch die Tür, seine Klamotten durch das Fenster. Für einen kurzen Moment hat es mir Genugtuung verschafft, wie er da auf dem Bürgersteig seine Hemden aus den Pfützen gesammelt hat. Bevor ich auf dem Bett – ja, dem Bett, in dem er mich gestern Abend noch zum Höhepunkt gebracht hat – zusammengebrochen bin und angefangen habe zu heulen. Rotz und Wasser. Richtig würdelos mit allem Drum und Dran. Schluchzen. Schreien. Schnodder, der sich über das gesamte Gesicht verteilt. Wie tief bin ich nur gesunken?

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geweint habe. Das muss lange her sein... mit ziemlicher Sicherheit als meine Eltern ums Leben gekommen sind. Aber da war ich noch klein, schwach und hilflos. Da war das okay und es waren immerhin meine Eltern. Seither sollte mir nichts mehr weh tun.

Eines Typen wegen zu schluchzen, als gäbe es kein Halten mehr, dem am Morgen nach der Hochzeit einfällt, dass alles ein riesiger Fehler war, obwohl besagter Typ zuvor auf diese verdammte Ehe bestanden hat, ist beschämend. Und trotzdem kann ich grade nicht anders, als in das Kissen zu flennen, weil ich keinen Schimmer habe, wie es weitergehen soll. Die nächsten Tage waren durchgeplant. Erst Weihnachten, dann Flitterwochen und Silvester. Alles mit ihm. Mein ganzes Leben. Und jetzt? Tränen, Rotz und Schmerzen. Diese Art von Schmerzen, bei denen einem klar ist, dass keine Tabletten dagegen helfen werden. Schmerzen, die einen von innen heraus zerreißen, auf die qualvollste Art und Weise.

Keine Ahnung, wie lange ich jetzt schon hier liege inmitten der vom Sex zerwühlten Laken. Mein Kopf tut weh, meine Augen brennen und mein Mund ist staubtrocken. Habe ich heute überhaupt schon was getrunken? Ich glaube nicht. Egal. Mein Verstand rät mir dennoch, dass ich das ändern sollte. Mühevoll hebe ich meinen dröhnenden Kopf und weil diese beschissene Situation nicht schon schmerzvoll genug ist, fällt mein Blick als Erstes auf das Foto auf meinem Nachttisch. Das Foto, das den Mann zeigt, der mein Mann sein sollte, sein wollte, bis ihm heute Morgen plötzlich auffiel, dass die Hochzeit... Ihr wisst schon.

Sein Lächeln habe ich bis dato für charmant gehalten, für unwiderstehlich, für seine ganz besondere Geheimwaffe, die nicht nur mich um den Verstand gebracht hat, sondern auch jeden seiner Klienten, die er als Versicherungsvertreter betreut. Und jetzt? Jetzt vertreibt es meine Trauer und verwandelt sie in Wut. Wut ist gut, denn damit kann ich umgehen. Wut treibt mich an, führt mich zu Höchstleistungen. Jetzt bringt sie mich dazu, nach einem meiner High Heels zu greifen, der irgendwann während mein Mann mich nahm, von meinen Füßen gerutscht ist. Wütend schlage ich mit dem Absatz auf dieses verdammte Foto ein. Dresche darauf ein wie eine Besessene bis der Rahmen in Einzelteilen auf dem Boden liegt. Dann klettere ich aus dem Bett und ziehe durch den Rest meines Appartements und reiße alles von den Wänden, das mit ihm zu tun hat. Bilder, seine Auszeichnungen zum Mitarbeiter des Monats. Ich zerschneide seine Lieblingskrawatten und schiebe jedes einzelne seiner teuren Fachmagazine in den Aktenvernichter. Die Wohnung sieht aus wie ein Schlachtfeld und es befriedigt mich. Er ist so verdammt penibel und alles muss klinisch sauber und aufgeräumt sein. Sogar eine Putzfrau lässt er zweimal pro Woche kommen. Zu guter Letzt nehme ich diese bescheuerten Pärchentassen mit den ›King‹ und ›Queen‹ Aufdrucken und schleudere sie auf den Küchenboden, wo sie krachend zerschellen, wie meine Welt heute Morgen, als er mit diesem angestrengten Blick, als hätte er Verdauungsprobleme, auf der Bettkante saß und davon ausging, ich würde verstehen, warum er jetzt auf einmal alles rückgängig machen wollte, obwohl er mich doch liebte.

20. Dezember 2. Tag

Am nächsten Tag gehe ich in die Mall, um Weihnachtsgeschenke zu besorgen, schließlich würde ich in zwei Tagen der gesamten Familie begegnen. Nicht dass ich großen Wert darauf lege, die gute Tochter/Enkelin/Cousine/ Nichte zu sein – das ist mir herzlich egal. Ich bin ohnehin nur das Findelkind, das das unheimliche Glück hatte, in einer überaus wohlhabenden Familie zu landen. Aber die Aussicht, für ein paar Stunden aus meiner Wohnung zu kommen, in der mich trotz meines gestrigen Tobsuchtsanfalls alles an ihn erinnert, ist es wert. Viel zu schnell war meine Wut verraucht und diese beschissene Traurigkeit wieder da, die mir auch jetzt wieder die Tränen in die Augen treibt. Wehe ihr erzählt jemandem, wie viel ich in den letzten Stunden geheult habe. Rasch schüttele ich den Kopf und streiche mir eine Strähne meiner blauen Haare hinters Ohr. Den Rest des Frisurenmassakers auf meinem Kopf habe ich unter meiner schwarzen Beanie versteckt, die er immer hässlich fand. Ich sähe damit aus, wie ein depressiver Teenie. Heute habe ich sie mit Trotz und reichlich Genugtuung aus dem Schrank genommen und bin in meine ausgelatschten, hohen, schwarzen Chucks geschlüpft, nachdem ich seit Langem mal wieder eine Ripped-Jeans aus den Tiefen meines Klamottenfachs gezerrt habe. Er würde fragen, ob ich wirklich so aus dem Haus gehen wollte. Selten wollte ich es so sehr wie jetzt.

Ich hetze von Laden zu Laden, um irgendwas zu finden, das als Geschenk durchgeht und nicht zu voluminös ist, schließlich muss es alles in den Koffer passen. In einer Buchhandlung suche ich etwas für meinen Opa – also nicht meinen richtigen, sondern meinen Stiefopa. Aber da ich zu faul bin, das jedes Mal aufs Neue zu betonen, könnt ihr einfach gedanklich vor jede familiäre Bezeichnung ein Stief hängen, okay? Prima. Opa liest einen Roman pro Woche und hatte bisher immer Freude an meiner Auswahl. Vor dem Regal mit den Brettspielen bleibe ich stehen und lasse meinen Blick über das Angebot schweifen. Gut zwei Drittel der Titel stammen aus dem Spieleverlag, der meinen Eltern – Stiefeltern... Ihr kennt das Spiel – gehört. Einige davon haben in den letzten Jahren diverse Preise abgeräumt, was den Umsatz ziemlich in die Höhe getrieben hat. Da ich mit unserem Sortiment vertraut bin, schaue ich, was sonst noch so im Regal steht. Irgendwann entwickelt man einen Blick dafür, wenn das ganze Elternhaus voller Spiele steckt und häufig schon am Frühstückstisch Prototypen getestet werden.

Kopfschüttelnd nehme ich einen Karton in die Hand, der ein Brettspiel enthält, das nur mit einem Smartphone gespielt werden kann. Ich könnte damit leben – schließlich muss man ja mit der Zeit gehen – aber nicht bei einem Spiel, dass sich an fünf- bis siebenjährige Kinder richtet! Es gibt so viele Ideen, Kinderspiele zu gestalten... dafür braucht es keine Bildschirme. Ich stelle den Karton wieder zurück, suche noch zwei Bücher für die Kinder meines Onkels und bezahle an der Kasse.

Und weil es kurz vor Weihnachten ist und mir das Universum – oder der Programmdirektor des Radios – noch einmal so richtig in die Fresse hauen will, beginnt dabei ausgerechnet Last Christmas aus dem Radio zu dudeln. Normalerweise schaffe ich es ganz gut, diesen fragwürdigen Klassiker gemeinsam mit dem restlichen Weihnachtskitsch zu ignorieren, doch meine Nerven sind strapaziert und die Situation so absurd zutreffend, dass ich am liebsten laut loslachen würde. Tja. Stattdessen beginne ich in aller Öffentlichkeit zu heulen. Verdammt!

2

21. Dezember 3. Tag

Ole

Leah hat mich geküsst. Sie hat mich wirklich geküsst und ich kann es immer noch nicht glauben. Gut, es war nur die Wange, aber das ist ein Anfang! Ihr Duft nach frischen Rosen hängt mir noch in der Nase, als ich mich abwende und mit dem breitesten Grinsen, zu dem meine Gesichtsmuskulatur im Stande ist, zu meinem Gate laufe. Am liebsten würde ich Freudensprünge machen, aber hier am Flughafen, von allerhand fremden Menschen umgeben... Ach was soll‘s, ein kleiner Freudenhüpfer ist drin.

Natürlich könnte ich mir die Laune von der Tatsache vermiesen lassen, dass ich jetzt nicht wie geplant neben Leah im Flieger nach Zürich, sondern allein nach Tromsø reise, aber warum sollte ich? Ja, klar wäre es wunderschön, mit ihr zu überlegen, welche Pisten wir uns morgen zuerst vornehmen würden oder für unser gemeinsames Uni-Projekt zu brainstormen. Und das werden wir ja auch, nur eben erst, wenn ich nach Weihnachten zu ihr und unseren Freunden stoße. Da bleiben uns immer noch genügend Tage, um St. Moritz zusammen unsicher zu machen. Und nur damit ihr jetzt keinen falschen Eindruck von mir bekommt: Ich schwimme nicht in Geld. Mein Kommilitone Jean-Peer hat uns in das Chalet seiner Familie eingeladen, die es vorzieht, Weihnachten in der Südsee zu verbringen. Wie auch immer. Jetzt geht es für mich erstmal nach Hause, um meiner Mom in ihrem Hotel zu helfen. Normalerweise ist es um die Feiertage immer etwas ruhiger.

Doch in diesem Jahr hat eine Unternehmerfamilie aus Deutschland alle Zimmer gebucht. Und da sich einer der Angestellten ein Bein gebrochen hat, Ersatz Nummer eins ein Baby bekommt und Ersatz Nummer zwei noch im Urlaub ist, muss ich einspringen.

Bin jetzt in Oslo, schreibe ich meiner Mom, als ich mir einen Platz suche, um die Wartezeit, bis der Anschlussflug geht, zu überbrücken. Ich setze mich und überlege, ob es noch zu früh ist, meinen Freunden – und mit meine Freunde meine ich eigentlich Leah – zu schreiben. Mein Grinsen ist seit unserer Verabschiedung nicht mehr aus meinem Gesicht gewichen. Leah ist einfach umwerfend.

Obwohl sie erst zum Beginn des Semesters an unsere Kunsthochschule gewechselt ist, wurde sie sofort Teil der Clique. Sie ist nicht nur wunderschön, mit ihren langen, blonden Haaren, die ihr in zarten Wellen über die Schultern fallen und den großen grauen Augen, sie ist auch klug und unglaublich witzig. Wo sie ist, wohnt das Lachen, da lebt die Freude und miese Laune hat keinen Zutritt. Gestern auf der Weihnachtsparty der Hochschule hat Leah dann das erste Mal mit mir getanzt. Ich habe das Gefühl, ich kann ihre zarten, langen Finger, an denen immer Farbreste kleben, in meinem Nacken spüren, wie sie weich über meine Haut streifen. Umhüllt von ihrem Rosenduft drehten wir uns langsam über die Tanzfläche, während im Hintergrund ein langsamer Song lief, an den ich mich nicht mehr erinnere. Wäre es nach mir gegangen, hätte dieser Moment niemals enden sollen. Ich hätte kein Problem damit, stünden wir noch immer auf der von unten beleuchteten Tanzfläche, meine Hände an ihrer Taille, mein Kopf leicht in den Nacken gelegt, um ihr trotz unseres Größenunterschieds in die Augen sehen zu können.

Um mich davon abzuhalten ihr zu schreiben, hole ich mein Skizzenbuch heraus und beginne meinen Reisebleistift über die Seiten tanzen zu lassen. Noch weiß ich nicht, was ich zeichnen soll, aber der Stift und meine Hand werden schon wissen, was auf diese Seite gehört. So ist es oft bei mir. Wenn meine Gedanken laut und wüst sind, dann brauche ich nur Stift und Papier und schon kehrt wie von selbst Ruhe und Ordnung ein. Das wirre Treiben um mich herum, all die Menschen die zu ihren Familien reisen, um mit ihnen die Feiertage zu verbringen, blende ich aus, genau so wie die Weihnachtsmusik, die aus einem Café auf der anderen Seite des Gangs schallt. Ich sitze hier in meiner Blase, in der nur mein Stift und dessen Kratzen auf dem Papier Bestand haben.

Drei Stunden später, als es Zeit wird wieder in ein Flugzeug zu steigen, erstreckt sich eine winterliche Schneelandschaft über die aufgeschlagene Seite. Schnell schieße ich ein Foto davon und sende es an Yana.

Das ist immer noch nicht das Bild, um das ich gebeten habe, antwortet sie prompt.

Ich will endlich das Gesicht der Schönheit sehen, an die du dein Herz verloren hast, beschwert sie sich in einer weiteren Nachricht.

Die Zeichnung zeigt eine Frau, die mit wehenden Haaren einen Berg hinabfährt. Ich hatte nicht vor, Leah zu zeichnen, und genau genommen habe ich das auch nicht. Dennoch erzeugen die verschiedenen Schraffuren auf dem Papier eindeutig eine Person, die Leah sein könnte. Mit einem Brummen, das so viel heißt wie schön, dass du endlich wieder da bist, begrüßt mich Krista, der als Frühstückskoch im Hotel arbeitet, als ich zu ihm in den SUV steige. »Ich war doch den ganzen Sommer hier«, antworte ich.

Wieder ein Brummen.

»Ich weiß. Ich vermisse es ja auch. Aber das Studium in Berlin ist nunmal genau das Richtige für mich.

Kurz sieht er zu mir. Ein wissender Ausdruck liegt in seinen von der Zeit gezeichneten Zügen.

»Wirklich gut. Bald wird es auch Zeit, dass ich mir ein Projekt für die Bachelorarbeit überlege. Aber erstmal müssen Leah und ich das Semester-Projekt in Angriff nehmen.«

Leah... Ob ich ihr jetzt schreiben sollte? Tomo hat vorhin in unsere WG- Gruppe geschrieben, dass sie die Fahrt von Zürich nach St. Moritz gut hinter sich gebracht haben, auch wenn er sich dabei über Neos Fahrkünste beschwert hat, was sofort in eine hitzige Diskussion ausgeartet ist. Ich tippe ein »Hej« in den Chat mit Leah, lösche es wieder, nur um es erneut zu schreiben und dann doch nicht abzuschicken. Nach beinahe drei Stunden biegen wir um eine Kurve. Und obwohl ich weiß, was mich erwartet, lässt mich der Anblick der weihnachtlich geschmückten NordlysLodge staunen. Überall funkeln Lichterketten, sodass unser kleines Hotel in der ständigen Dunkelheit erstrahlt. Die große Fichte, die schon die Vorbesitzer vor dem Eingang gepflanzt haben, ist geschmückt und das Herzstück der gesamten Dekoration. Nur, wenn die Chance besteht, dass Polarlichter über den Himmel ziehen, löschen wir die Beleuchtung, damit unsere Gäste das Naturschauspiel ohne Lichtverschmutzung genießen können.

»Danke, dass du mich abgeholt hast«, sage ich, bevor ich aussteige und meinen Koffer aus dem Wagen nehme. Krista schnaubt und beginnt die Einkäufe nach drinnen zu tragen. Offenbar hat er meine Ankunft genutzt und Besorgungen in der Stadt erledigt. »Hej«, begrüßt Mom mich. Sie wartet bereits in der Tür. Obwohl es mitten in der Nacht ist, strahlt sie über das ganze Gesicht. »Schön, dass du da bist. Ich weiß, du hast dir das anders gewünscht...« Sie schließt mich in ihre Arme.

»Keine Ursache. Du weißt doch, dass ich immer gern hier bin«, versichere ich. Ich trete in den Eingangsbereich und lasse meinen Blick schweifen. Mom hat das Dekorieren schon immer ernst genommen, doch dieses Jahr hat sie sich selbst übertroffen. Überall ist weihnachtlicher Schmuck verteilt. Mit Lichterketten umwickelte Tannenzweige säumen jede Oberfläche, die nicht von, herrlich duftenden Lebkuchenhäusern belegt ist. In den Ecken verstecken sich kleinere und größere Figuren vom Julenissen – dem norwegischen Weihnachtsmann. Und sofort fühle ich mich wieder wie ein kleiner Junge. Schon immer hat Mom es geliebt, die Figuren zu verstecken. Auch als wir noch in Deutschland gelebt haben. Ich muss gar nicht erst an die Decke schauen, um zu wissen, dass dort ein Mistelzweig hängt.

»Kann ich dir noch was helfen?«, frage ich, nachdem die üblichen wie-wardie-Reise- und wie-geht-es-dir-Themen besprochen sind.

»Quatsch. Jetzt ruh dich erstmal aus. Morgen setzten wir uns beim Frühstück mit Yana und Krista zusammen und überlegen uns, was wir noch alles erledigen müssen, bis Familie Grahl hier eintrifft.«

22. Dezember 4. Tag

»Dann los, an die Arbeit«, beendet Mom unser gemeinsames Frühstück, bei dem wir die restlichen Aufgaben unter uns aufgeteilt haben.

Gemeinsam mit Yana, die trotz zwei Tassen Kaffee kaum aus ihren müden Augen sehen kann, verlasse ich unsere Küche im Dachgeschoss. Wir bereiten die Zimmer für die neuen Gäste vor, während Mom und Krista sich um das Kaminzimmer beziehungsweise um die Vorbereitungen für das Abendessen kümmern.

Obwohl ich gerade dabei bin, das Bad zu putzen, und ihre Weihnachts-Playlist auf der kleinen Bluetooth-Box erklingt, höre ich, wie Yana herzhaft gähnt. Sie war noch nie ein Morgenmensch, doch so schlimm ist es eigentlich nur, wenn ihre Freundin hier ist. »Ich dachte zwischen Milla und dir herrscht gerade mal wieder Funkstille?«, wundere ich mich. Mit Lappen und Glasreiniger trete ich ins Zimmer und säubere den Spiegel.

»Das heißt nicht, dass es nicht noch andere Frauen auf diesem Planeten gibt.« Etwas heftiger als nötig, stopft sie das Laken unter die Matratze. Die On-Off-Geschichte zwischen den beiden geht schon so lange, dass ich aufgehört habe, mitzuzählen. »Außerdem bin ich so lange wach geblieben, weil ich auf dich gewartet habe, du Trottel.«

Schuldbewusst zucke ich mit den Schultern. »Das tut mir leid, ich dachte wirklich, du würdest schon schlafen«, sage ich, bevor ich im Bad weitermache und mich der Toilette widme. »Schon vergessen. Erzähl mir lieber von deinen Leah-Fortschritten. Ich brauche dringend eine positive Love-Story in meinem Umfeld.«

Also erzähle ich ihr in allen Einzelheiten von der Weihnachtsparty und der Verabschiedung am Flughafen. Unterdessen arbeiten wir uns von Zimmer zu Zimmer. Wir haben das schon so oft gemeinsam gemacht, dass wir kein einziges Wort mehr über die Handgriffe verlieren müssen. Stattdessen bringen wir uns auf den neusten Stand. Klar schreiben und telefonieren wir fast täglich, aber sich nach etlichen Monaten wieder persönlich zu sehen, ist doch was anderes.

Als es Nachmittag wird, treffen nach und nach die Gäste ein. Die Anreisetage mag ich hier am liebsten. Die staunenden Gesichter zu sehen, wenn sie das erste Mal aus dem Wagen steigen und den Blick erst über die Landschaft und dann durch die Räumlichkeiten schweifen lassen, ist wunderbar. Wenn man es gewohnt ist, vergisst man schnell, wie besonders dieser Ort ist. Im Sommer, wenn die Sonne niemals untergeht, scheint die Landschaft schier unendlich, man kann Wandern oder Mountainbike fahren oder – wenn man die Kälte nicht scheut – im Fjord schwimmen gehen. Im Winter gibt es einfach nichts Schöneres. Schnee, so weit das Auge reicht, Nordlichter am nächtlichen Himmel und dann einen warmen Tee im Kaminzimmer vor dem knisternden Feuer.

3

Leo

An den Bewegungen von Moms Lippen erkenne ich, dass sie redet. Offenbar mit mir, sonst würde sie mich wohl kaum so ansehen. Mit so meine ich: besorgt und mitleidig. Obwohl ich mir denken kann, was sie will, ziehe ich meine Bluetooth-Kopfhörer, aus denen in ungesunder Lautstärke Go your own way von Fleetwood Mac dröhnt, von meinen Ohren.

»Ist alles okay mit dir, Maus?«

»Ja, Mom«, antworte ich knapp und will meine Kopfhörer wieder aufsetzen. Seit wir uns gestern am Flughafen in München getroffen haben, sieht sie mich so an.

»Du siehst müde aus... Hast du nicht gut geschlafen?«

»Alles bestens.« Seufzend sperre ich die Welt wieder aus, indem ich mich wieder der Musik widme, dem Einzigen, das mich gerade davon abhält, schon wieder in Tränen auszubrechen. Das habe ich schon die ganze Nacht getan. Also nein, ich habe nicht gut geschlafen. Ich habe gar nicht geschlafen, um die Frage mal zu beantworten. Aber Mom das zu sagen, kommt nicht in Frage. Dann müsste ich schließlich alles erzählen und das ist ausgeschlossen. Sie schauen mich jetzt schon an, als wäre ich ein bemitleidenswertes Häufchen Elend. Ich will gar nicht wissen, wie das aussieht, wenn sie erfahren, was vorgefallen ist.

Draußen zieht die Landschaft im tiefblauen Tageslicht vorbei. Obwohl die Uhr auf meinem Telefon 12:20 Uhr anzeigt, ist es draußen beinahe dunkel. Herzlich willkommen über dem Polarkreis.

Noch zwei Stunden, dann sind wir da, und ich kann endlich die Hotelzimmertür hinter mir schließen und mich im Bett verkriechen und am besten nicht mehr rauskommen, bis es an der Zeit ist, abzureisen. Vermutlich werde ich die Tage bis dahin hauptsächlich mit heulen verbringen, mich fragen, warum es soweit gekommen ist, dass ich dem ganzen Mist überhaupt zugestimmt habe und wieso... Scheiße. Es tut so weh, verdammt. Und es sollte nicht weh tun. Er hat sich dazu entschieden, alles rückgängig zu machen. Er sollte leiden. Nicht ich. Aber was ist schon gerecht? Jetzt sitze ich hier, versuche meinen Eltern die heile Welt vorzuspielen, damit sie sich keine Sorgen machen müssen, versuche diese beschissenen Tränen mühsam zurückzuhalten, versuche durchzuhalten. Funktioniert übrigens wun-der-bar.

Und dann erwacht da wieder diese Wut in mir. Wut darauf, dass ich mich habe von ihm verletzen lassen, dass ich traurig bin, dabei hat er es nicht verdient, dass ich ihm hinterherweine. Ich dachte, ich hätte mein Leben im Griff, dachte, ich wäre erwachsen geworden. Pustekuchen. Wie ein Kleinkind sitze ich mit bebender Unterlippe auf dem Rücksitz des Mietwagens mit dem wir zu unserem Familientreffen zweieinhalb Stunden durch die norwegische Ödnis fahren.

Wie oft sich dieser Gedankenkreisel nun schon gedreht hat, weiß ich nicht, als mich etwas am Knie berührt. Erschrocken zucke ich zusammen.

»Verdammt«, fluche ich, »musste das sein!?«

»Wir sind da, Mäuschen. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagt mein Vater mit schuldbewusster Miene. »Schon gut«, erwidere ich und meine eigentlich entschuldige, dass ich dich so angefahren habe. Tatsächlich steht unser Auto vor einem großen lichterkettenbehangenen Holzhaus. Ich öffne die Tür und steige aus. Augenblicklich versinke ich im Neuschnee, der sofort in meine Schuhe rieselt. Es war nicht die klügste Entscheidung, meine Air Max 90 zu tragen. Aber da ich in drei Tagen ohnehin gen Dubai aufbreche und bis dahin mein Hotelzimmer hier nicht verlassen werde... Fuck... Dubai, das hätten unsere Flitterwochen sein sollen. Zwei Wochen nur er und ich. Wir hatten uns geschworen, unsere Smartphones auszuschalten. Vor allem er, damit nicht wie sonst immer die Arbeit unserer Zweisamkeit im Wege steht. Jetzt fliege ich allein. Hoffentlich bekommt mein Herz es bis dahin auf die Reihe, mich nicht ständig wie ein Schlosshund heulen zu lassen.

»Wir sind auch traurig, dass Roshan nicht hier sein kann.« Moms mitfühlender Ton raubt mir den letzten Nerv. Sie denken, er wäre beruflich eingespannt und könne deswegen nicht da sein. Ja, ja, ich weiß. Aber was hätte ich ihnen denn sonst sagen sollen? Dass ihr Lieblingsschwiegersohn mich für einen Fehler hält? Ganz. Sicher. Nicht.

»Er ist eben ein vielbeschäftigter Mann«, pflichtet Dad ihr bei, der gerade unsere Koffer aus dem Wagen hievt. »Wie du es bist. Und trotzdem findest du Zeit für deine Frau«, erwidert Mom. Auch nach zwanzig Jahren Ehe sehen sie sich immer noch verliebt in die Augen. Glaubt mir, ich freue mich wirklich für sie und irgendwie lässt es mich auch hoffen, dass es die wahre Liebe tatsächlich gibt. Aber gerade jetzt treibt es mir die Tränen nur noch mehr in die Augen. Irgendwas in mir hat wohl geglaubt, ich würde sowas auch erleben. Und jetzt stehe ich hier und bin… eifersüchtig auf meine Eltern? Verdammt. »Ich… kann meinen Koffer nehmen«, biete ich an, als mein Dad versucht, die vier großen Teile durch den weichen Schnee zu bewegen, hauptsächlich um der Situation schneller entfliehen zu können.

Sobald ich mein Gepäck in den Händen halte, beeile ich mich ins Warme zu kommen.

»Nun gib schon her, das kann sich ja niemand mit ansehen, wie du versucht den Gentleman zu spielen«, höre ich Mom hinter mir.

»Ich spiele es nicht, ich bin es…«

Verdammt. Ich muss hier weg. Mein Sichtfeld wird verdächtig unscharf.

Mit etwas mehr Kraft als nötig stoße ich die hölzerne Eingangstür auf und betrete das Hotel, das unsere Familie komplett gebucht hat. Zeit, um das Etablissement genauer zu betrachten, nehme ich mir nicht. Zielstrebig trete ich auf die Rezeption zu, hinter der ein junger Mann steht, der nicht viel älter als ich selbst sein kann.

»Herzlich willkommen in der NordlysLodge …«

»Leonie Grahl«, unterbreche ich seinen Begrüßungssermon. »Welches Zimmer wurde für mich reserviert?« Normalerweise bin ich nicht so. Aber mein emotionaler Zusammenbruch in der Mall hat mir gereicht, nochmal passiert mir das nicht! Und deshalb muss ich schleunigst in mein Zimmer.

»206«, sagt er, nachdem er in einer Liste nachgesehen hat. »Deine Begleitung ist noch draußen?«, fragt er und lächelt dabei so offen und herzlich, dass ich beinahe neidisch werde, zumindest bis ich realisiere, was er gerade gesagt hat. »Die kommt nicht«, würge ich mühevoll beherrscht hervor, damit er nicht bemerkt, dass der nächste Heulkrampf kurz bevorsteht. Meine Sicht verschwimmt. Verdammt. Die Zeit rinnt mir davon. Einzig mein Stolz, nicht vor einem Fremden loszuflennen, hält mich noch auf den Beinen.

»Oh. Na dann zeige ich dir mal dein Zimmer. Wenn du mir deinen Koffer…«

»Das schaffe ich schon alleine. Ist ja schließlich kein Labyrinth hier, oder?«

Ich lasse ihm keine Zeit zum Antworten, sondern rausche davon. Blindlings rase ich den Flur entlang, Treppe hoch, noch eine Treppe hoch, wieder ein Flur… 204, 205… da endlich… 206. Aufschließen… Koffer in die Ecke.

Ich mache mir nicht die Mühe, Mantel und Schuhe auszuziehen, sondern werfe mich einfach auf das Bett und schluchze drauflos. Ich zittere am ganzen Körper. Scheiße Leute, ich kann nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Weihnachtstage überstehen soll, ohne mir anmerken zu lassen, was für einen dummen Fehler ich gemacht habe.

So ein Mist.

Erschöpft rolle ich mich auf den Rücken, wische mir über die Augen und bin froh darüber, kein Make-Up zu tragen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich schon über eine Stunde lang hier bin. Ich schließe die Augen, als könnte ich so die Realität ausblenden. Stattdessen sehe ich wieder seinen Blick vor mir. Sehe, wie er mir erklärt, dass er mich nicht verlassen will, aber die Hochzeit ein… Meine Zimmertür wird aufgestoßen. Klopfen wird offenbar vollkommen überbewertet. Hastig wische ich mir über die Augen, um die letzten Tränen zu verbannen.

»Leo, wo bleibst du denn?«, fragen meine kleinen, viel zu schnell in die Pubertät kommenden Cousinen Echo und Eden, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen. »Wir warten schon eeeewig mit dem Spiel auf dich.«

»Später, okay?«, antworte ich und merke, wie rau meine Stimme dabei klingt.

»Oh ja… dann können wir dich endlich wieder richtig fertig machen«, freut sich Echo… oder Eden, so sicher bin ich mir da nie. Wenn ich die zwei länger als ein paar Wochen nicht gesehen habe, brauche ich immer eine Weile, bis ich sie auseinanderhalten kann. »Wo ist eigentlich dein Freund?«, möchte die andere wissen, ohne zu ahnen, dass sie damit nur Öl in die grade erloschenen Flammen gießt.

»Der muss arbeiten«, sage ich kurz angebunden. »Wollt ihr nicht schon mal runtergehen? Ich muss noch etwas erledigen.« Ich stehe auf und schiebe die kleinen Wirbelwinde aus dem Zimmer. Noch eine Weile höre ich das Gelächter leiser werden, während ich tief durchatme und überlege, was ich jetzt mit mir anfange. Ich will gerade meine noch immer nassen Sneakers ausziehen und auf die Heizung stellen, als sich die Tür erneut öffnet.

»Leonie, wie schön, dass du auch hier bist«, flötet Charlott, Dads jüngere Schwester. »Herrje, wie siehst du denn aus? Alles in Ordnung mit dir? Ich habe schon gehört, dass dein Herzblatt nicht abkömmlich war. Wie schade, dass ihr die schönsten Tage des Jahres nicht zusammen verbringen könnt. Ich erinnere mich noch genau an die ersten Weihnachtstage mit meinem Eberhard. Da waren wir ja auch noch so jung und alles war besonders und aufregend und...«

Wie versteinert lausche ich ihrem endlosen Redeschwall, in der Hoffnung, die Fassung zu wahren. Mitfühlend streicht sie mir über die Wange. Eine Geste, die ich nur mühsam ertrage. Mit jedem ihrer Worte ziehe ich mich mehr in mich zurück, damit ich meine Gefühle im Zaum halten kann. Versuche, meinen Körper zu einer leeren Hülle werden zu lassen. Doch mir gelingt es nicht. Charlotts Worte dringen immer noch zu mir. »Du wirst sehen, Weihnachten wird wie im Fluge vergehen und dann seid ihr wieder zusammen.«

Schön, wie sie mir Wort für Wort das Messer weiter in die Brust rammt, ohne es zu merken. In der Tasche meines Hoodies balle ich meine Hand zur Faust, bis meine Fingernägel unangenehm in die Handfläche schneiden. Irgendwas brauche ich, um nicht laut loszuschreien, dass sie einfach ihre verdammte Klappe halten soll. Diese beschissene gute Laune ertrage ich nicht. Klar, ich könnte ihr und allen anderen erzählen, was passiert ist. Aber Mitleid ertrage ich noch viel weniger. Und wer weiß, womöglich kommt dann auch noch die Häme dazu. Schließlich war er der Traumschwiegersohn. Alle haben ihn geliebt. Bis vorgestern konnte ich es ihnen ja nicht einmal verübeln.

»Ich bin müde«, presse ich hervor, als Charlott kurz Luft holt, »außerdem muss ich noch was für die Uni machen«, lüge ich, wissend, dass dieses Argument immer zieht.

»Ach Gottchen, dann will ich dich gar nicht weiter abhalten. Du siehst auch aus, als könntest du ein paar Stunden Schlaf gut gebrauchen. Die Anreise war ja auch wirklich kein Pappenstiel. Also dann…«

»Ja, also dann. Bis später«, unterbreche ich sie bemüht lächelnd.

Ich schließe die Tür hinter ihr. Seufzend sinke ich mit dem Rücken zur Tür auf den Boden, umschlinge meine Beine und lege meinen Kopf auf meine Knie. Zitternd atme ich ein und aus. So kann es nicht weitergehen. Ich muss irgendwas tun. Meine Muskeln schmerzen, als ich mich wieder erhebe, um meinen Koffer auszupacken. Eigentlich habe ich mich nach all den Jahren des Hockeyspielens für ziemlich fit gehalten. Wie es scheint, bereitet einen der Sport jedoch nicht auf einen derartigen Heulmarathon vor.

Zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit, das Zimmer anzusehen. Es wirkt ziemlich gemütlich mit seinen Holzwänden. Wie aus einem dieser kitschigen Netflix-Weihnachtsfilme.

Ich schlüpfe gerade in meine Chucks, die ich zuletzt aus dem Koffer genommen habe, als es an der Tür klopft, bevor sie auffliegt.

»He, Roshan, alte Socke.«

»Könnt ihr nicht wenigstens warten, bis ich herein gesagt habe?«, fahre ich Conrad an. Conrad, mein älterer Cousin. Conrad, Liebling der ganzen Familie. Conrad, der später mal den Verlag von meinem Vater übernehmen wird. Conrad, der mit der hübschen Cassidy verlobt ist. Cassidy, die auch nach einem Zwölf-Stunden-Flug über den Atlantik aussieht, als käme sie gerade aus dem Beauty-Salon. »Oh. Ist er gar nicht da?«

»Doch«, antworte ich, »er testet nur gerade seinen Tarnumhang.«

Cassidy lacht, und natürlich lacht Cassidy auf eine niedliche, süße Art und Weise und klingt dabei nicht wie eine hustende Seekuh, wie ich. »Du bist echt witzig, Leo.« Ihr britischer Akzent ist deutlich wahrnehmbar. »Sagst du ihm, dass wir uns um zwanzig Uhr zu einer Herrenrunde Billard im Kaminzimmer treffen?«

»Nun, da wird er sich wohl etwas verspäten. Sonst noch was?«

»Nein. Das war‘s schon.«

4

Ole

»Ole…«, Yana winkt mich zu sich, »… wir haben die Handtücher für die 206 voll vergessen. Kannst du das noch schnell erledigen?«

Ich schnappe mir ein Set aus der Wäschekammer, bevor ich in den zweiten Stock gehe. Weich und flauschig liegen die Tücher in meinen Händen. Ich habe keine Ahnung, was die Wäscherei anstellt, damit es sich so anfühlt. Aber das ist etwas, dass ich in Berlin wirklich vermisse. Am Ende des Flurs klopfe ich an die Tür und warte kurz. Als keine Reaktion kommt, klopfe ich nochmal, Rufe das obligatorische Room Service und trete ein.

Im selben Moment schwingt die Tür zum Badezimmer auf.

»Ist denn heute Tag der offenen Tür, oder was? Roshan ist nicht da verdammt! Und er kommt auch…«

Kurz hält die junge Frau mit den blauen Haaren inne, als wäre ich nicht die Person, die sie erwartet hat, fährt dann jedoch unbeirrt fort.

»Kann man denn nicht mal fünf Minuten lang seine verdammte Ruhe haben? Ist es zu viel verlangt, einfach mal ins Bad zu gehen, ohne dass hier jemand reinplatzt? Da ist man schon am Arsch der Welt und dann geht es trotzdem zu wie im Taubenschlag.«

»Entschuldige. Ich wollte nur…», vielsagend – zumindest hoffe ich das – halte ich die Handtücher hoch, doch das scheint sie gar nicht zu merken.

»Ich wollte auch so vieles. Aber soll ich dir was verraten? Man bekommt selten, was man will. Tja, Pech gehabt.«

»Ähm…» Ich habe absolut keine Ahnung, was hier vor sich geht. Wir haben eigentlich immer Glück mit unseren Gästen. Nur ganz, ganz selten echauffiert sich mal jemand, weil es keinen Spa-Bereich gibt, und wir auch sonst kein Fünf-Sterne-Luxusresort sind – obwohl wir das auch nirgends versprechen. »Ähm… Was?« Wütend starrt sie mich aus ihren braunen Augen an, ihre Arme hat sie vor der Brust verschränkt. »Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen? Ist deine heile, rosafarbene Zuckerwattewelt jetzt kaputt? Tja, gewöhn dich besser dran. Offenbar gehört das dazu, wenn man erwachsen ist.«

Während sie sich weiter in Rage redet, beginnt sie auf und ab zu laufen. Im Zimmer ist es dunkel. Einzig die beiden Nachttischlampen spenden warmes Licht, das in krassem Kontrast zu der eisigen Stimmung steht, die Leonie verströmt.

Ich bleibe ruhig stehen, denn ich befürchte, jede Regung würde sie nur noch mehr aufputschen. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, frage ich mit ruhiger Stimme. Es nützt niemanden was, wenn ich mich von diesen Aggressionen, die mit Sicherheit nicht mir gelten, anstecken lasse.

»Hmm... lass mich nachdenken«, in übertriebener Geste legt sie ihre Hand ans Kinn. »Wie wäre es, wenn du einfach verschwindest? Ist es so unmöglich in diesem Haus einfach mal schlechte Laune zu haben? Gibt es ein Verbotsschild? Falls ja, muss ich das wohl übersehen haben. Tut. Mir. Leid.«

»In Ordnung. Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend und eine…« Mit einem lauten Knall schließt sie die Tür. Erst jetzt merke ich, dass ich gar nicht mehr im Zimmer stehe. Wie die Druckwelle einer Explosion hat mich ihr Ausbruch nach draußen befördert. Was ist da gerade passiert? Diese Energie, die aus ihr herausströmt, hinterlässt ihre Spuren bei mir. Der Ausdruck auf ihrem wutverzerrten Gesicht, das Feuer, das in ihren braunen Augen lodert, beides begleitet mich auf dem Weg zurück in die Wäschekammer.

Klar, mich geht das gar nichts an, dennoch frage ich mich, was sie so aufgewühlt hat. Hat sie Streit mit ihrer Familie, will sie gar nicht hier sein? Ich weiß, ich sollte mich auf andere Dinge konzentrieren, aber mit solchen Spannungen kann ich nicht gut umgehen, seit die Ehe meiner Eltern den Bach runterging. Ich versuche, für jeden Streit irgendwie eine Lösung zu finden, einen Kompromiss, der für alle gut ist. Meistens gelingt mir das auch. Wenn Tomo und Neo sich mal wieder in den Haaren liegen, weil der eine ein Ordnungsfanatiker ist und der andere das Chaos liebt, bin ich es, der zwischen meinen Mitbewohnern vermittelt. Nachdem ich die verschmähten Handtücher zurück in die Wäschekammer gebracht habe, gehe ich in mein Zimmer und lege mich aufs Bett. Ich liebe es, dass ich von hier aus den Himmel beobachten kann, sehe, wie die grünen Schlieren der Nordlichter am Firmament entlang tanzen. Und obwohl ich weiß, dass es ein schlichter physikalischer Vorgang ist, hat es dennoch immer wieder etwas Magisches. Vielleicht sind es doch nicht die Handtücher, die ich am meisten vermisse, wenn ich in Berlin bin. Gerade bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass es die Nordlichter sind.

Wie schön wäre es, wenn Leah das sehen könnte, denke ich. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn sie neben mir liegen würde, ihre mit Farbe bespritzten Finger mit meinen verflochten. Wie ihr lieblicher Rosenduft meine Nase kitzelt, wenn ihr Kopf auf meiner Schulter ruht. Ob sie ja gesagt hätte, wenn ich sie gefragt hätte, ob sie mich begleiten will? Ach Leah… Sie hat meine Nachricht inzwischen gelesen, geantwortet hat sie noch immer nicht. Der leicht panische Mitarbeiter im Großraumbüro meines Kopfes will schon wieder alles zerdenken und zum Telefon greifen, um eine Nachricht zu schreiben. Wie automatisch nehme ich stattdessen den Skizzenblock, der immer auf meinem Schreibtisch liegt. Ich knipse meine Leselampe an, nehme meinen viel zu schnell kleiner werdenden Lieblingsbleistift und beginne ihn über das Papier tanzen zu lassen. Nach und nach entstehen ganz verschiedene Darstellungen des Julenissen – irgendwie muss ich der Jahreszeit ja Rechnung tragen. Ich versuche mich an verschiedenen Zeichenstilen. Die Linien, die die erste Figur bilden, sind fein und sauber. Danach werde ich etwas experimentierfreudiger und übertreibe mit den Proportionen. Der Kopf ist übergroß und wird beinahe vollständig von einer Mütze verdeckt. Der Rest des Körpers ist winzig klein. Die Formen sind rundlich. Ein anderer Julenissen ist eher kantig angelegt. Je mehr ich zeichne, je länger ich den Stift über das Papier bewege, desto ruhiger werde ich. Mit jedem Strich, jeder Schraffur kommen meine Gedanken zur Ruhe, als würden sie sich von allein aufräumen. Jeder Gedanke in die Schublade, in die er gehört. Alles an Ort und Stelle, um zu rechter Zeit bearbeitet zu werden. In meinem Zimmer ist es ruhig, nur das Kratzen der Miene auf dem Papier ist zu hören. Ab und an dringt Yanas Lachen durch die Wand. Milla hat sich vorhin gemeldet. Ich kann nur hoffen, dass sie es diesmal ernst meint und meine beste Freundin nicht wieder verletzt wird. Jede Linie, jede Schraffur sorgt dafür, dass die Bilder, die sich in meinem Kopf befinden, auf dem Papier Gestalt annehmen. Etwas, das ich jedes Mal auf neue überwältigend finde, dass ich dank meiner Fähigkeiten die Möglichkeit habe, meine Gedankenbilder auf einem realen Medium für andere sichtbar zu machen.

Bei der zehnten Figur schrecke ich auf, als mir der Bleistift aus der Hand fällt. Wie müde ich auf einmal bin, habe ich bis dato gar nicht realisiert. Aber verwunderlich ist es auch nicht. Ich bin seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Also beschließe ich es für heute gut sein zu lassen. Morgen wird es auch nochmal anstrengend. Schließlich steht dann, am Dreiundzwanzigsten, der kleine Weihnachtsabend ins Haus.

5

Leo

Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, noch bevor die Tür richtig ins Schloss gefallen ist. Ich habe verbal um mich geschlagen, bin explodiert wie ein Ballon, der mit einer Nadel gepikt wurde, nur das Mr. Handtuch nicht einmal wusste, dass er eine Nadel in den Händen hielt. Er wollte nur nett sein. Keine Ahnung, wie er so ruhig bleiben konnte. Er stand einfach da, in seinem Holzfällerhemd, für das ihm eindeutig die muskulösen Oberarme und der Vollbart fehlten, hat mich angesehen mit einem Blick, der so offen und aufmerksam war, dass es mir Gänsehaut bereitet. Ich weiß nicht, wieso sich ausgerechnet das so sehr in meiner Erinnerung festgesetzt hat. Bestimmt hat er es wirklich nur gut gemeint. Das Schlimmste ist, dass er nicht mal mitleidig ausgehen hat. Einfach nur so, als würde er tatsächlich ernst meinen, als er fragte, ob er was für mich tun könne.

Er kam zur falschen Zeit. Wie hätte er auch wissen sollen, dass ich mich aktuell in einem verdammten Ausnahmezustand befinde. Dass mein ach so toller Mann es vorzieht, die Ehe rückgängig zu machen, noch bevor sie richtig begonnen hat. Ich kann euch echt nicht sagen, ob das so ohne weiteres möglich ist. Ehrlich gesagt, ist mir das auch egal. Wenn er das so will, dann soll er sich bitte darum kümmern. Mich interessiert nur, wie ich die nächsten Tage überstehe, ohne noch mehr verbale Explosionen zu erleiden. Wie ich die Weihnachtsessen durchhalten und auf dem Familienfoto lächeln soll. Wie ich das ständige Geturtel des ach so tollen Conrads und seiner liebenswürdigen Verlobten ertragen soll.

Als ich in dem kleinen Bad in den Spiegel sehe, zucke vor Schreck zusammen. Herrje, sehe ich beschissen aus. Ich habe kein Problem mit meinem Körper. Ich mag meine leichten Kurven, wie sie sind, aber heilige Scheiße meine Augenringe geben meinen Mundwinkeln gerade einen High-Five. Von meinen Augen will ich gar nicht erst anfangen. Die sind so Blut unterlaufen, dass jeder Zombie panisch vor mir weglaufen würde. Meine Klamotten werfe ich achtlos auf den Boden, als ich in das alte, ausgeleierte Bandshirt von Huey Lewis & The News schlüpfe, das früher meinem Dad gehört hat... meinem richtigen.

Ich brauche dringend Schlaf. Leichter gesagt als getan. Stundenlang wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Schiebe Gedanken hin und her und komme doch nicht wirklich voran. Ich hätte einfach niemals herkommen sollen. Aber das hätte ich meinen Eltern nicht antun können. Und irgendwie freue ich mich ja auch, die beiden zu sehen. Seit ich in der Schweiz auf dem Internat zur Schule gegangen bin, waren die Ferien immer Familienzeit. Ich habe so ein Glück, in ihrer Familie gelandet zu sein. Aber grade ist es einfach schwer, das alles zu ertragen. Ich weiß, dass sie mich lieben, dass ich für sie die Tochter bin, die sie sich immer gewünscht haben. Aber verdammt, trotzdem ist da das nagende Gefühl, dass ich sie enttäuscht habe, dass ich Schuld an allem bin.

Vielleicht hat er ja recht und ich habe wirklich überreagiert, verhalte mich kindisch und viel zu impulsiv. Vielleicht sollte ich Mom doch einfach alles erzählen, von der spontanen Hochzeit und allem, was sich danach zugetragen hat. Bestimmt wüsste sie, wie ich damit umgehen kann. Seufzend stehe ich auf. Die Holzdielen sind kalt unter meinen Füßen und lassen mich zittern. Schnell ziehe ich meine Chucks an und trete ans Fenster. Am Himmel ist ein unglaubliches Farbenspiel zu beobachten. Nordlichter. Das habe ich noch nie gesehen. Also in echt. Wie gebannt starre ich auf das Wabern am nächtlichen Himmel und fühle mich auf einmal so, so winzig und unbedeutend. Ich bin ein kleines Häufchen Kohlenstoff irgendwo im Universum und heule rum, weil ein anderes kleines Kohlenstoffhäufchen mir mein Herz aus der Brust gerissen hat. Ich betrachte mein Spiegelbild in der Fensterscheibe, folge der einzelnen Träne, die wie so viele vor ihr über meine Wange rinnt und irgendwann von meinem Kinn auf meine Brust tropft. Scheiße, warum lasse ich mich von diesem anderen Kohlenstoffhaufen so aus der Bahn werfen? Warum gebe ich ihm die Macht dazu? Ich bin stark. Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Morgen ist ein neuer Tag. Ich werde mit Mom reden. Egal, wie sie reagieren wird, es muss raus aus mir, raus aus meinen Gedanken. Im Zweifel kann ich immer noch in den nächsten Flieger steigen und irgendwo hinfliegen. Ein weiterer Vorteil dieser Familie ist, dass die Kreditkarte kaum ein Limit kennt. Irgendwo auf diesem geschundenen Planeten wird es schon einen Platz für mich geben.

Mit etwas, das Zuversicht ziemlich nahekommt, lege ich mich wieder ins Bett, streife meine Schuhe ab und wickle mich in diese verboten gemütliche Decke. Es dauert nicht lange, bis ich in einen traumlosen Schlaf gleite.

23. Dezember 5. Tag

Das erste Mal, seit dem Ereignis – so werde ich es ab jetzt nennen – wache ich ausgeschlafen auf. Die Uhr meines Handys zeigt 7:30 Uhr. Perfekte Zeit zum Aufstehen. Nur leider ist das Bett so unfassbar bequem, dass ich mich am liebsten nochmal umdrehen würde. Doch ich kenne meinen Körper gut genug, um zu wissen, wenn ich jetzt einschlafe, bin ich den restlichen Tag unleidlich. Ja, Leute, ich weiß, ich habe bisher nicht wirklich den Eindruck vermittelt, es könnte jemals anders sein. Ich widerstehe dem Drang, einfach liegen zu bleiben, stehe auf, sammle meine Klamotten zusammen und husche ins Bad, wo mich eine angenehm warme Fußbodenheizung empfängt.

Heiß prasselt das Wasser über meine Schultern. Ich gehe nicht so weit und behaupte, dass es den kompletten Stress der letzten Tage von mir wäscht, aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl, mich ein wenig entspannen zu können. Viel länger als nötig verharre ich unter der Dusche, male mit meinem Finger Strichmännchen an die beschlagene, gläserne Duschwand und halte inne, als ich seine Stimme in meinen Gedanken höre, die sich über meine kindische Seite lustig macht. Danke Gehirn, seufze ich innerlich, bis eben hatte ich einen guten Morgen. Ich stelle das Wasser ab und erstarre, als ich realisiere, dass es keine Handtücher gibt. Verdammt! Nach meiner Verbalohrfeige hat Mr. Handtuch die Dinger wieder mitgenommen. Scheiße, scheiße, SCHEIßE!

Wieso hatte ich nicht vorher daran gedacht? Als ich gestern Abend im Bad war, habe ich meine Hände einfach an meinem Schlafshirt abgewischt, wie ich es immer tue, wenn mich niemand beobachtet. Hätte ich bessere Manieren, wäre mir eher aufgefallen, dass es nichts zum Abtrocknen gibt.

Schicksalsergeben zerre ich also meine Schlafshorts über meine nassen Beine und meinen schwarzen Hoodie über den Kopf. Sofort beginnt der Stoff unangenehm an meiner Haut zu kleben. Wun-der-bar. Meine triefnassen Haare tropfen munter auf den dicken Stoff und färben das ausgeblichene Schwarz dunkler. Zum Schluss steige ich in meine Chucks und begebe mich auf meinen ganz eigenen Weg der Schande, um zu sehen, wo ich Handtücher auftreiben kann.

Auf dem Flur ist es ruhig. Meine Schritte werden von einem dicken Teppich geschluckt. Zum ersten Mal seit meiner Anreise sehe ich mich hier um. Überall ist es weihnachtlich dekoriert. Tannenzweige verströmen ihren typischen Geruch. Hunderte kleiner Lämpchen bringen den Flur zum Strahlen. Auf kleinen Tischen stehen Lebkuchenhäuser und Figuren, die an eine Mischung aus Weihnachtsmann und Kobold erinnern. Ich schaffe es unbemerkt bis zur Treppe, da höre ich Schritte die sich von oben nähern. Und weil das Schicksal es heute so gut mit mir meint, ist es ausgerechnet er, der mich mit großen Augen ansieht.

6

Ole

Am Fuß der Treppe, die unseren Wohnbereich vom Bereich der Gäste abtrennt, treffe ich auf Leonie, der wohl gerade aufgefallen ist, dass sie noch immer keine Handtücher hat. Ich muss schon sagen, dass ich mir ein Grinsen nur schwer verkneifen kann. »Vermisst da jemand seine Handtücher?«, frage ich, woraufhin sie ihr Kinn in die Höhe reckt. Ein herausfordernder Ausdruck tritt in ihre braunen Augen.

»Quatsch. Ich lasse meine Haare nur an der Luft trocknen, das ist ohnehin gesünder.«

Nur mit Mühe kann ich ein belustigtes Schnauben unterdrücken. Aber gut, wenn sie ein Spiel spielen will, gern.

»Na dann ist ja alles bestens. Hab noch einen angenehmen Tag«, ich wende mich zum Gehen, als mir noch etwas einfällt. »Ich habe nochmal alles überprüft, ich konnte tatsächlich kein Hinweisschild finden, dass schlechte Laune verbietet.«

Etwas blitzt in ihren Augen auf. Was genau es ist, weiß ich nicht. Ich bin bereits eine halbe Etage weiter unten, da höre ich, wie sie mir mit schnellen Schritten folgt.

»Warte… Nur mal angenommen, es müsste mal schnell gehen… Also mit den Haaren. Wo fände ich dann Handtücher?«, will sie wissen und sieht dabei aus, als würde es ihr einiges abverlangen, diese Frage zu stellen. Ich komme nicht umhin mich zu wundern, warum sie sich lieber eine Erkältung einfangen würde, als um Hilfe zu bitten.

»Hmm. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einem Gast, dieses Betriebsgeheimnis einfach so verraten darf«, antworte ich, gespielt nachdenklich. Sofort verdreht sie ihre Augen, auf eine Weise, dass ich befürchte, sie könnten nicht mehr in ihre ursprüngliche Position zurückfinden. »Wieso? Bewahrt ihr etwa neben den Handtüchern auch euer Bargeld auf?«, abwartend verschränkt sie ihre Arme vor der Brust.

»Nein. Aber vielleicht möchten die Trolle, die sie nachts reinigen, nicht gestört werden. Vor allem nicht von Menschen, die heile, rosafarbene Zuckerwattewelten zerstören.« Wenn Blicke töten könnten, wäre mein Leben jetzt zu Ende. Würde ich Leonie in Comicform zeichnen, kämen Blitze aus ihren Augen und alles, um sie herum läge in Schutt und Asche.

Inzwischen sind wir im Erdgeschoss angekommen. »Dir macht das echt Spaß, oder?«, will sie wissen und klingt zunehmend genervt, was mein Grinsen nur verstärkt. »Wenn ich ehrlich sein soll, schon ziemlich…«, herrje, diese Frau ist einen Kopf kleiner als ich, aber trotzdem nicht weniger furchteinflößend. Keine Ahnung, ob sie eine Ausbildung macht, noch studiert oder schon arbeitet. Egal, ich bin mir sicher, mit diesem Gesichtsausdruck, bekommt sie gewöhnlicherweise, was sie will und das sofort. Ich dachte nicht, dass ich lebensmüde bin, aber irgendwie bereitet es mir ziemlich Freude, sie auf die Palme zu bringen. Ich trete noch einen Schritt auf sie zu, sodass sie ihren Kopf in den Nacken legen muss. Wassertropfen kleben an ihren Wimpern. Mit einer Stimme, als wäre ich von purer Freude erfüllt, fahre ich fort »… Aber man soll ja aufhören, wenn‘s am schönsten ist. Ich muss mich auch langsam an die Arbeit machen. Die Trolle unterstützen uns nämlich nur nachts, weißt du…«

»Herrje. Es tut mir leid, okay? Du hast mich gestern… ist ja auch egal. Kannst du mir bitte verraten, wo die verdammten Handtücher sind?«

Ich will gerade zu einer Antwort ansetzen, als ein Kichern aus dem Kaminzimmer ertönt. Auch wenn ich weiterhin Leonies Blick standhalte, erkenne ich, dass die beiden Zwillinge in unsere Richtung flitzen.

»Ihr müsst euch küssen«, beginnt eine der beiden. Bevor sie wieder kichern müssen.

»Oh ja. Aber nur auf die Wange. Alles andere wäre voll eklig«, fügt das andere Mädchen hinzu, bevor sie sich die Augen zu halten, als könnten sie den Anblick nicht ertragen.

Leonies Augen werden schmal. Herausfordernd ziehe ich eine Augenbraue hoch. Keine Ahnung, woher das gerade kommt. Aber ich kann nicht anders.

»Denk nicht mal dran«, zischt sie mit zusammengebissen Zähnen. »Auf diese kindische Scheiße habe ich echt keinen Bock!« Damit rauscht sie davon.

»Was für ein Sonnenschein«, murmle ich gerade so laut, dass sie es auch sicher versteht.

7

Leo

Das lief ja wirklich super. Wenigstens habe ich Ole eine schöne Show geboten, in meinen alten Schlafshorts und dem feuchten Hoodie. Frustriert reiße ich mir den nun von den Schultern und versuche damit, so viel Wasser aus meinen Haaren zu quietschen, wie möglich. Ole sah natürlich aus, wie das blühende Leben. Perfekt unperfekt sitzende Haare, etwas zu lang, aber irgendwie auch genau richtig. Heute mit rot kariertem Flanellhemd und einem eng sitzenden weißen Shirt darunter. Das dämliche Grinsen, als er mich erkannt hat, mit einem noch dämlicheren Grübchen in seiner rechten Wange.

Inzwischen sind meine Haare so trocken, dass ich sie mit dem Föhn bearbeiten kann. Dann sehe ich zwar aus, als hätte man mir ein Vogelnest auf den Kopf gesetzt, aber was solls. Zum Glück habe ich ja meine alte Lieblingsmütze dabei, die wird das Unheil schon verstecken.

Ich greife nach meiner schwarzen Jeans, in deren Löchern ich wie immer hängen bleibe. Mit dem linken Fuß reiße ich den Stoff ein kleines bisschen weiter auf. Danach streife ich mir ein dunkelgraues Shirt über, dessen unsymmetrischer Ausschnitt meine Schulter freilässt. Nachdem ich meine Haare unter die Beanie gestopft habe, befördere ich das Ersatzhandtuch auf die Heizung.

Draußen schneit es heftig. Von dem Ausblick, der mich in der Nacht irgendwie aus meinem Gedankenstrudel gerettet hat, ist nicht mehr viel zu sehen. Es ist bereits nach acht Uhr und trotzdem ist es noch stockdunkel. Nur die vielen Lichterketten erleuchten das Schneegestöber.

Ich schlüpfe in die noch heizungswarmen weißblauen Nikes und nachdem ich noch etwas dunklen Eyeliner aufgetragen habe, bin ich bereit, wieder unter Menschen zu treten. Als Erstes sollte ich Mom oder Dad suchen, ehe ich meinen Entschluss ihnen reinen Wein einzuschenken doch noch über den Haufen werfe. Meine Hand liegt auf der Türklinke, aber ich kann mich einfach nicht überwinden, sie zu drücken, mein Zimmer zu verlassen.

Ich atme tief durch, einmal, dann noch einmal. Das Ergebnis bleibt dasselbe. Ich stehe unbeweglich da. Verdammt.

Keine Ahnung, wie lange ich brauche, bis es mir gelingt, mit vor Anspannung zitternder Hand die Tür zu öffnen. Ich weiß, dass meine Eltern mich lieben, aber reicht das? Ist diese Liebe stark genug, um Verständnis für die Geschehnisse aufzubringen? Verdammt, Leo, jetzt reiß dich gefälligst am Riemen! Du bist erwachsen, was soll schon passieren? Etwas entschlossener mache ich einen Schritt nach vorn und stolpere über etwas, dass auf dem Boden liegt.

»Was zum...«, entfährt es mir. Überrascht entdecke ich einen weißen Stapel zu meinen Füßen. Na, geht doch, denke ich, kann mir aber ein kleines – und es wirklich nur ein kleines – Grinsen nicht verkneifen. Ich mache kehrt und deponiere die Handtücher, die unglaublich weich in meinen Händen liegen, im Badezimmer.

Als hätte Mom gespürt, dass ich mit ihr Reden will, steht sie plötzlich hinter mir. Und nicht nur sie, auch Dad ist mit ihr gekommen.

»Guten Morgen, Schätzchen«, begrüßt Mom mich und streicht mir dabei über die Schulter. Ohne drüber nachzudenken lehne ich mich in die Berührung. Irgendwie brauche ich das grade. »Du siehst erholt aus«, freut sie sich, auch wenn da immer noch etwas Wachsames in ihren Augen ist, als wüsste sie, dass ich etwas verberge. Ich nicke, weil sich meine Kehle plötzlich ziemlich eng anfühlt. Wie sagt man seinen Eltern, dass man den Traumschwiegersohn nach einer heimlichen Hochzeit, einfach abgesägt hat? Vermutlich genau so, trotzdem fehlen mir gerade die Worte.

»Mom...«, beginne ich, als Dad »Wir müssen mit dir reden« sagt.

»Oh, Okay?«, beunruhigt deute ich auf das Bett und den Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch am Fenster. Was wollen sie von mir. Ihre Gesichter sind ernst. Und auf einmal wirken sie mindestens so angespannt, wie ich mich fühle. Hat er sie angerufen und ihnen erzählt, was passiert ist, damit sie mir