This Vicious Grace - Die Auserwählte - Emily Thiede - E-Book
SONDERANGEBOT

This Vicious Grace - Die Auserwählte E-Book

Emily Thiede

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Es ist schwer zu glauben, dass etwas so wunderschönes so tödlich sein kann, oder?"

Alessa ist verzweifelt. Als auserwählte Finestra ist es ihre Bestimmung, mit ihren Kräften das Land vor einem Angriff dämonischer Wesen zu schützen. Doch sie hat ihre magische Gabe nicht unter Kontrolle - alle Menschen, die sie berührt, sterben. Um niemanden mehr zu gefährden, lebt sie daher vollkommen isoliert im Palast. Als auch noch ein Attentat auf sie verübt wird, engagiert Alessa einen Leibwächter: Dantes Kennzeichnung als Verbrecher und sein dunkler Blick reichen normalerweise aus, um andere auf Abstand zu halten. Doch je mehr Zeit Alessa mit ihm verbringt, desto besser lernt sie den Mann hinter der abweisenden Maske kennen - und desto mehr sehnt sie sich nach seiner Berührung. Doch wie sollen sie sich jemals nahekommen, wenn ihre Gabe seinen Tod bedeuten könnte?

"Kennt ihr diese Bücher, die euch unter die Haut gehen? Das ist genau, was ich beim Lesen von THIS VICIOUS GRACE gefühlt habe." UTOPIA STATE OF MIND

Erster Band der LAST-FINESTRA-Dilogie

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 586

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Leser:innenhinweis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Emily Thiede bei LYX

Impressum

Emily Thiede

This Vicious Grace

DIE AUSERWÄHLTE

Roman

Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold

Zu diesem Buch

Alessa ist verzweifelt: Sie ist die Auserwählte der Götter, die »Finestra« ihrer Generation, doch sie hat ihre mächtige Gabe, die das Land vor einem Dämonenangriff schützen soll, nicht unter Kontrolle. Eigentlich müsste sie dazu in der Lage sein, die Fähigkeiten anderer magischer Menschen, der »Fontes«, zu verstärken. Doch jedes Mal, wenn sie eine andere Person berührt, geschieht etwas Schreckliches – sie raubt ihr jegliche Lebenskraft. Drei potenzielle »Fontes« hat sie bereits verloren und mit ihnen all ihre Hoffnung. Um niemanden mehr zu gefährden, lebt Alessa deswegen isoliert im Palast. Als dann auch noch ein Attentat auf sie verübt wird, engagiert Alessa einen Leibwächter: Dante, der als Verbrecher gekennzeichnet wurde und mit seiner abweisenden Art alle Menschen auf Abstand hält. Doch je mehr Zeit Alessa mit ihm verbringt, desto besser lernt sie den wahren Dante kennen – und desto stärker sehnt sie sich nach seiner Berührung. Aber wie sollen sie sich jemals nahekommen, wenn ihre Gabe seinen Tod bedeuten könnte?

Für die kleinen Mädchen, die »zu viel« reden und »zu intensiv« fühlen.

Bleibt, wie ihr seid.

Und in liebevoller Erinnerung an ein ganz besonderes Mädchen. Wir vermissen dich.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Benedizioni Della Dea

(L’originale)

Alla fine del principio,

la Dea creò isola santuario per i fedeli,

benedicendoli con tre doni:

Alcuni nacquero con la magia.

Un salvatore, per migliorare.

E quando venne il momento della battaglia,

i guerrieri sarebbero stati forti,

perché Lei diede loro una fonte di guarigione.

Deas Segen

(Übersetzung)

Am Ende des Anfangs

Schuf die Göttin Inseln der Zuflucht für die Gläubigen,

Sie segnete sie mit drei Gaben:

Mit Magie, mit der einige geboren wurden.

Mit einer Retterin, um die Magie zu stärken.

Und wenn die Zeit für die Schlacht kam,

würden die Kämpfer stark sein,

denn ihnen gab sie eine heilende Quelle.

übersetzt 242 D. I., Herkunft unbekannt

1

Attraverso la Finestra Divina, la luce riduce i demoni in cenere.

Durch die Göttliche Finestra verbrennt das Licht die Dämonen zu Asche.

Drei Hochzeiten.

Drei Begräbnisse.

Ein besserer Mensch wäre am Boden zerstört gewesen, aber Alessa senkte den Kopf, um die tränenlosen Augen zu verbergen, während sie vor dem Altar bei dem mit Juwelen verzierten Sarg kniete. Der Tempel unter der Cittadella roch nach Schimmel und Tod, und die Luft war voller Staubflöckchen, die wie geisterhafte Glühwürmchen dahintrieben.

Sie würde noch weinen. Später. Sie weinte immer. Schließlich war es tragisch, schon mit achtzehn Witwe zu werden, und niemand von denen, die mit ihr die Verbindung eingegangen waren, hatte es verdient, zu sterben. Trotzdem war es schwierig, zum dritten Mal die Tränen zum Fließen zu bringen.

Hugo, ihr dritter Fonte und der bedauernswerte Leichnam vor ihr, hatte es auf seine Nervosität geschoben, als seine Hand in ihrer zu zittern begonnen hatte. Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hatte es besser gewusst. Aber die Götter hatten sie auserwählt, und sie hatte ihn erwählt. Und daher hatte sie ein zweites Mal die Hand nach ihm ausgestreckt, obwohl sie gewusst hatte, dass dies möglicherweise die letzte Berührung sein würde, die er jemals spüren würde.

Alessa Paladino, die heilige Waffe der Götter.

Ihr letztes Hochzeitskleid war verstaut und gegen ein Morgengewand und kniehohe Stiefel eingetauscht worden, ihren Kopf bedeckte eine schwarze Mantilla. Und natürlich trug sie Handschuhe. Immerzu Handschuhe. Dennoch drang die feuchte Kühle ihr bis in die Knochen. Auch auf einer ausgedörrten Insel konnte die Sonne nicht erwärmen, was sie niemals berührte.

Alessa legte die Hände trichterförmig um den Mund, als würde sie beten, und erzeugte einen winzigen Windstrom zwischen ihren Handflächen. Das schwache Echo von Hugos Gabe hatte nur einen Augenblick Bestand, aber sie gab sie ihm dennoch zurück. Die Leere, die übrig blieb, fühlte sich wie eine Buße an.

Ihre Knie schmerzten, doch sie erhob sich erst, als auch die letzten Nachzügler ihren Platz gefunden hatten. Es war nicht leicht. Jede Minute, die sie trauernd verbrachte, konnte sie sich nicht damit beschäftigen, ihren nächsten Fonte zu wählen, und sie durfte keine Zeit verlieren. Oder womöglich noch weitere Fontes.

Auf der einen Seite des Gangs zum Altar saßen die zwölf Mitglieder des Consiglio und beobachteten sie mit unergründlichen Blicken. Das taten sie immer. Beobachten. Warten. Erst darauf, dass sie alt genug geworden war, um sich überhaupt einen Partner aussuchen zu können. Dann darauf, dass sie erneut einen wählte. Oder eine Partnerin. Und dann das Ganze noch einmal. Schon bald würden sie ihr nächstes Opfer herbeirufen.

Nein,Partner. Ihren nächsten Partner.

Dieses Mal musste sie es richtig machen. Der Consiglio würde die nächste von ihr erwählte Person, wenn nötig, mit vorgehaltener Klinge zur Cittadella zwingen, aber Alessa wollte, dass sie bereitwillig mitkam.

Auf dem Weg zu ihrem Platz blieb Alessa kurz stehen, um einen Knicks vor Renata Ortiz zu machen, der vorherigen Finestra, deren Macht an jenem Tag vor fünf Jahren erloschen war, an dem Alessas erblüht war. Renata nickte kühl und reserviert, während ihr Fonte Tomohiro Miyamoto ihr freundlich zulächelte. Die beiden waren eine gute Verbindung. Eine großartige Paarung. Genau das, was Finestra und Fonte sein sollten.

Als die beiden ihre Hände verschränkten, durchzuckte sie ein vertrauter Stich der Eifersucht.

Sie würde alles geben für eine Hand, die sie halten könnte. Oder für eine Umarmung.

Sie würde für eine Umarmung töten.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Alessa setzte sich auf ihren Platz und presste sich eine Faust gegen den Mund, bevor ein scharfes Einatmen zu einem Kichern oder – schlimmer noch – zu einem Schluchzen werden konnte. Als sie ihre Atmung beruhigte, spürte sie, wie sich der steife schwarze Stoff ihres Trauergewands über ihrem Brustkorb spannte. Wenn sie geahnt hätte, wie oft sie dieses Gewand brauchen würde, hätte sie nach dem ersten Tragen um ein neues gebeten.

Adrick schlüpfte neben sie; er zupfte an seinen Aufschlägen und gab sich alle Mühe, resigniert auszusehen. »Keine Tränen für den guten alten Hugo, kleine Schwester?«, murmelte er, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Was für ein Glück, dass neben dir ein Platz frei war.«

»Neben mir ist immer ein Platz frei.« Alessa drückte die behandschuhten Hände gegeneinander, versuchte vergebens, ihre Finger zu wärmen.

Von der anderen Seite des Gangs warf Renata ihr einen warnenden Blick zu.

Es war nicht ihr Fehler, dass Adrick sich nicht an die Regeln hielt. Er hätte sie möglicherweise sogar umarmt, aber sie hatte ihn niemals darum gebeten. Eine Finestra durfte erst nach Divorando wieder jemanden außer dem erwählten Fonte berühren. Und es war zu gefährlich, das Risiko einzugehen. Bei der Vorstellung, ihr Zwillingsbruder könnte da oben auf dem Altar liegen, drehte sich ihr der Magen um.

Adrick hätte irgendwo anders sitzen sollen. Von der Finestra wurde erwartet, dass sie alle Verbindungen zu ihrem früheren Leben kappte. Über allen stand und von allen getrennt war. Immer. Sie sollte noch nicht einmal von ihm als ihrem Zwillingsbruder denken, und sie sollte definitiv nicht mit ihm sprechen.

»Hast du schon jemanden ausgesucht?«, signalisierte Adrick, während der Chor sich raschelnd an seinen Platz bewegte. Er signalisierte es gewissermaßen. Ihr gemeinsamer Nonno war taub, daher beherrschten sie die Gebärdensprache fließend, aber die »geflüsterten« halben Zeichen, die er in seinem Schoß geformt hatte, verfälschten diese Sprache auf eine Weise, die nur sie deuten konnte. Papa wäre peinlich berührt gewesen. Aber Papa war nicht hier. Und er war auch nicht mehr ihr Vater.

»Überlege noch«, gestikulierte sie zurück.

»Beeil dich lieber«, sagte er dieses Mal im rauen Flüsterton. »Im letzten Monat sind ein Dutzend von Saverio geflohen.«

In ihrem Bauch sammelte sich Angst. Sie hatte den Überblick darüber verloren, wie viele wählbare Fontes noch auf der Insel waren, aber sie konnte es sich nicht erlauben, noch mehr zu verschrecken. Sie widerstand dem Drang, sich umzudrehen und nachzusehen, wer noch da war.

Alle Fontes wurden bei Geburt mit Schutzmagie gesegnet – Feuer, Wind, Wasser, Erde, Elektrizität und so weiter – und daher respektiert und verehrt. Ganz egal, ob sie erwählt wurden, um zu dienen oder nicht, sie galten als kostbare Ressource. Sie erhielten großzügige jährliche Bezüge, mussten keinen Wehrdienst leisten und wurden vor Schaden bewahrt.

Bis zu dem Punkt, an dem es aufhörte.

»Na, dann tschüss«, zischte Alessa. Zorn war sicherer als Panik, und sie kannte ihre Pflicht; sie durfte nicht für andere sichtbar zusammenbrechen. »Wer immer bereit ist, sein Volk im Stich zu lassen, ist es nicht wert, mein Fonte zu sein.«

Die Gabe der Fontes war ohne eine Finestra, die ihre Macht absorbierte und vervielfachte, ziemlich schwach, aber immerhin besaßen Fontes nützliche Kräfte. Im Gegensatz zu ihr, denn ohne jemanden, von dem sie zehren konnte, war ihre Kraft praktisch wertlos.

Und daher konnte sie auch nichts dagegen sagen, als Adrick antwortete: »Ein unwürdiger Fonte ist immer noch besser als gar keiner.«

Sie riskierte einen raschen Blick. Abgesehen von seinen Augen – die an einem guten Tag grün, meistens aber haselnussbraun waren – war ihr Bruder ganz anders als sie. Groß und schlaksig, mit gebräunter Haut und goldenen Locken, schlenderte Adrick mit müheloser Anmut durchs Leben. Sie dagegen hatte die dunklen gewellten Haare und die cremeweiße Haut ihrer Mutter und bekam schnell einen Sonnenbrand, und ihre Unbefangenheit und Anmut waren von Vorschriften und jahrelanger Isolation ausgelöscht worden.

»Du könntest mich ein bisschen mehr ermutigen«, flüsterte sie.

Adrick schien über diese Möglichkeit nachzudenken. »Irgendjemand muss darüber lachen.«

»Es ist nicht witzig.«

»Natürlich nicht.« In seiner Stimme war ein leichtes Zittern. »Aber wenn ich zu sehr darüber nachdenke, komme ich nicht mehr aus dem Bett.«

Alessa schluckte. Als Emer gestorben war, ihr erster Fonte, hatte Adrick am Fuß der Mauern der Cittadella gestanden und stundenlang mit seiner besten Piratenstimme derbe Seemannslieder geschmettert, bis ihr Schluchzen zu einem Schluckauf geworden war, weil sie so hatte lachen müssen. Adrick war niemals ernst, ganz egal, wie schrecklich etwas wurde. Aber nachdem sie sich jahrelang gewünscht hatte, dass er ihre Situation ernst nehmen würde, war sie sich jetzt nicht mehr sicher, ob sie damit würde umgehen können, wenn er es wirklich tat.

Eine Solistin begann den Canto della Dea in der Gemeinsprache, und bald stimmte eine zweite in der alten Sprache ein, dann andere, bis ein Dutzend Sprachen eine Harmonie woben, die so komplex wie die Gemeinschaft war.

Vereint beschützen wir. Gespalten wanken wir.

Nachdem der letzte Ton verklungen war, schlurfte der runzelige alte Padre Calabrese die Stufen hinauf und räusperte sich mehrmals, obwohl niemand etwas sagte.

»Die Götter sind grausam, aber barmherzig«, begann er.

Er hat leicht reden.

»Am Anfang schuf Dea die Menschheit, aber Crollo behauptete, dass wir zu fehlerhaft, zu selbstsüchtig sind, um fortzubestehen. Als Crollo Feuer schickte, schuf Dea Wasser, um es zu löschen. Er erzeugte Stürme, und sie gewährte Schutz. Und als Crollo schwor, die Erde zu säubern und noch einmal von vorn zu beginnen, forderte Dea ihn heraus, denn sie glaubte an uns. ›Ein Mensch allein‹, sagte sie, ›ist ein Faden, der leicht durchtrennt werden kann. Miteinander verwoben sind wir stark genug, um zu überleben.‹«

Alessa wand sich auf ihrer harten Bank. Bei ihrem Glück würde sie das Gefühl in den Beinen verlieren und prompt hinfallen, sobald sie aufstand. Dea hätte den Handel wirklich versüßen sollen, indem sie der großen, tödlichen Macht ein bisschen mehr Toleranz für Unbequemlichkeiten gegönnt hätte.

Als sie spürte, dass Padre Calabrese seine Aufmerksamkeit auf sie richtete, setzte sie sich aufrechter hin.

»Und so schlossen Dea und Crollo eine Wette ab: Crollo konnte seine alles verschlingenden Günstlinge schicken, aber Dea würde Inseln aus dem Meer aufsteigen lassen, auf denen die Getreuen Zuflucht finden und danach streben konnten, in Harmonie zu leben, um so ihre Würdigkeit zu beweisen und Crollos Zynismus zu trotzen. Und weil sie uns liebt, hat sie ihre Kinder mit Gaben gewappnet …«

Alessa versuchte, so mit Gaben gesegnet wie möglich auszusehen, als verstohlene Blicke in ihre Richtung huschten.

Obwohl all das wahr war und sie Dea ganz offensichtlich etwas schuldeten, hätte die Göttin sich durchaus für eine einfachere Lösung entscheiden können. Vielleicht einen undurchdringlichen Schild. Oder sie hätte die Inseln unsichtbar machen können. Vielleicht hätte sie Crollo auf eine einzige planetare Säuberung herunterhandeln können, dann wären sie mit diesem Unsinn vor einem halben Jahrhundert durch gewesen. Aber oh, nein, in ihrer unendlichen Weisheit hatte Dea beschlossen, ihre Kinder etwas über Gemeinschaft und Partnerschaft zu lehren, indem sie Retterinnen und Retter erschuf, die nicht allein retten konnten.

Die göttliche Paarung existierte als fortwährende Mahnung, dass gemeinsame Stärke der Pfad zur Rettung war. Und deshalb konnte eine Finestra nur die Gabe von jemand anderem verstärken.

Hand in Hand mit einer Opernsängerin konnte eine Finestra auch den härtesten Musikkritiker in die Knie zwingen. Nachdem eine Finestra einen Bogenschützen berührt hatte, konnte sie ein paar Minuten lang das Schwarze einer jeden Zielscheibe treffen. Und mit einem Fonte verbunden, konnte eine Finestra eine Dämonenarmee abwehren, die der Gott des Chaos geschickt hatte.

Zumindest war das der Plan, wie es funktionieren sollte.

Als Alessa zum ersten Mal vor dem Consiglio gestanden hatte, hatte die Gruppe aus runzligen Alten es so leicht klingen lassen, wie bis drei zu zählen.

Erwähle einen oder eine Fonte.Töte ihn oder sie nicht.Verstärke seine oder ihre Magie, um alle und alles auf Saverio zu retten – oder sei die Erste, die stirbt.

Alessas Blick huschte zu dem glitzernden Sarg.

Nun ja, nicht die Erste.

Selbst jetzt beharrten manche noch darauf, dass die Todesfälle ein gutes Omen waren. Furchtbar traurig natürlich, aber beruhigend. Eine Finestra, die so mächtig war, dass sie unabsichtlich ihren ersten Fonte tötete? Sie würden bei der Belagerung gut geschützt sein. Und ihre zweite Fonte? Nun ja, Unfälle passierten. Davon abgesehen war sie jung, und solche Dinge brauchten Zeit. Sicherlich würde Alessa das nächste Mal vorsichtiger sein. Aber nach drei Begräbnissen fühlte Alessas Stärke sich nicht mehr wie das Versprechen eines Sieges an, und ihnen lief die Zeit davon.

Die Gedenkfeier endete mit: »Per nozze e lutto, si lascia tutto, però chi vive sperando, muore cantando.« Bei Hochzeiten und Trauerfeiern lässt man los, aber wer mit Hoffnung lebt, stirbt singend.

Das war möglicherweise das Traurigste, was sie jemals gehört hatte. Hugo hatte die Welt ganz sicher nicht singend verlassen.

Als die Sargträger den Gang entlangschritten, streckten die Gäste die Hände aus, um über die glatte, glänzende Oberfläche des Sargs zu streichen.

Alessa nicht. Was immer von Hugo noch übrig war – sein Geist oder nur ein Nachhall davon –, würde es gewiss bevorzugen, wenn sie Abstand zu ihm hielt.

Als der Sarg unter einem Torbogen aus in den Stein gehauenen Göttern hindurchgetragen wurde, murmelte die Menge: »Ruhe in der Gesellschaft von Helden«, und dann war er weg.

Held war vielleicht ein bisschen hoch gehängt – alles, was er getan hatte, war zu sterben – aber sie hatte nicht das Recht, dazu etwas zu sagen.

Die Menschen standen auf, zogen die Jacken glatt und rückten mit langsamen Bewegungen die Röcke zurecht, strichen sich unsichtbaren Staub von der Kleidung.

Alessa zuckte zurück, als Adrick ihr den Ellbogen in die Rippen stieß; bei der seltenen Empfindung eines körperlichen Kontakts begann ihr Herz zu rasen.

Oh. Alle zögerten. Sie hatte den Wink nur nicht mitbekommen.

Sie gestikulierte kurz in seine Richtung, dann stand sie auf und ging zu Deas Schrein vor dem Tempel. Alle konnten fliehen, während sie so tat, als würde sie beten.

Was für eine pflichtbewusste Finestra. So fromm. So gehorsam.

In dem Alkoven war Alessa vor neugierigen Blicken geschützt, und sie setzte sich neben der steinernen Dea auf den Altar und legte die Wange an die kalte Marmorschulter der Göttin. Ihre Brust schmerzte, fühlte sich leer an angesichts all dessen, was sie nicht hatte.

Familie – aufgegeben.

Freunde – keine.

Selbst die Festung, die in das Felsgestein der Inseln gehauen war, war nicht für sie gedacht. Wenn Divorando kam, würden sich andere Menschen – Menschen, die Familie und Freunde besaßen – dicht gedrängt in der Dunkelheit zusammenkauern und den Göttern dafür danken, dass sie nicht sie waren.

Als es so klang, als wäre das Tempelschiff leer, stieg Alessa allein die breiten Stufen zur Piazza hinauf, musste sich dabei in dem engen Gewand Mühe geben zu atmen. Mit jedem Schritt wurde es wärmer, und der schweißnasse Stoff klebte an ihrer Haut. Nachdem sie bei der letzten Mittsommergala fast einen Herzschlag erlitten hatte, war ihr vom Consiglio immerhin erlaubt worden, während privater Veranstaltungen den Schleier abzunehmen. Die gegenwärtig modernen Cape-Kleider, die im Rücken voll und lang waren, vorne aber aus sich überlappenden Stoffbahnen bestanden, die sich in Kniehöhe kreuzten, bewahrten sie täglich davor, in Saverios Hauptstadt, der Stadt der Tausend Treppen, hinzufallen.

Alessa trat auf die Piazza, blinzelte im Licht und nahm ihren Platz neben Tomo und Renata ein. Die rotgesichtigen Wachen, die die breiten Stufen zur Cittadella säumten und in ihren Uniformen schwitzten, salutierten, und die Wartenden verstummten, verbeugten sich und machten Knickse.

Wenn sie von ihrem Balkon im vierten Stock der Cittadella aus auf die Stadt hinunterblickte, sahen die modisch gekleideten jungen Frauen von Saverio, die in ihren juwelenfarbenen Röcken in Scharen herumschlenderten, oft wie Pfauen aus. Jetzt waren sie in Grau und Schwarz gekleidet und drängten sich wie schmutzige Tauben am Rand der Piazza zusammen.

Niemand sah Alessa direkt an, als wäre ihr Anblick zu entsetzlich, um sie mit bloßem Auge zu betrachten. Dennoch spürte sie ihre von allen Seiten kommenden Blicke wie eine erdrückende Last.

Macht schon. Verbeugt euch vor der gesegneten Retterin, die nicht aufhört, eure Freunde und Familien zu töten.

Renatas bohrender Blick ließ Alessa erröten, als hätte sie ihre blasphemischen Gedanken laut ausgesprochen. Auch wenn sie zwei Jahrzehnte trennten, sah Renata mit ihrer bernsteinfarbenen Haut, den goldenen Haaren und den tiefbraunen Augen jung genug aus, um Alessas Schwester sein zu können. Für Renata war Alessa jedoch eine Pflicht, die sie zu erfüllen hatte, denn sie gehörte weder zu ihrer Familie noch war sie ihre Freundin. In Augenblicken wie diesen wurde das immer wieder auf schmerzhafte Weise deutlich.

Tomos Gesichtsausdruck hingegen wirkte warmherzig und ermutigend. »Vergiss nicht, verängstigte Menschen sehnen sich nach Sicherheit.«

»Du bist zuversichtlich«, sagte Renata leise. »Du hast die Dinge unter Kontrolle.«

Alessa fletschte die Zähne zu einem »zuversichtlichen« Lächeln, das eine der Wachen zusammenzucken ließ. Daraufhin nahm sie das Lächeln etwas zurück.

Aber mal im Ernst. Wenn sie alle Beschreibungen auflisten müsste, die möglicherweise auf sie zutrafen, würden »zuversichtlich sein und Kontrolle haben« es sicher nicht auf eine solche Liste schaffen.

Als sie zum ersten Mal auf dieser Piazza vorgestellt worden war, hatten sich alle dicht um sie geschart, in ihren Augen hatte Hoffnung gestanden, und das Lächeln der Leute hatte verheißungsvoll gestrahlt.

Am Tag zuvor war Alessa noch ein gewöhnliches Mädchen gewesen, am nächsten Deas auserwählte Retterin. Geliebt, bedeutend und so beliebt, dass sie gar nicht gewusst hatte, wo sie zuerst hinschauen sollte.

Jetzt war alles anders. Niemand riss sich noch darum, ihr Fonte zu werden. Niemand wollte seine oder ihre Gabe mit ihr teilen. Auch wenn es gar kein richtiges Teilen war, oder? Teilen bedeutete, dass sie etwas zurückbekommen würden. Dass am Ende der Transaktion beide am Leben sein würden. Doch dieses Versprechen konnte sie nicht geben.

Aber sie hatte sich bemüht. Sie bemühte sich immer.

Selbst in einer so unruhigen Menge war es leicht, die Fontes zu finden, denn sie waren in ein sichtbares Miasma aus Schwermut gehüllt. Sie hatte sie viele Dutzend Male getroffen, und doch waren sie für sie noch immer nichts weiter als Fremde mit vertrauten Namen:

Kaleb Toporovsky, dessen Blicke ein wenig zu schnell davonhuschten, während er sich die glänzenden kupferfarbenen Haare mit einem Ausdruck immerwährender Langeweile glatt strich.

Josef Benheim, tadellos in Mitternachtsschwarz gekleidet, dessen Blick so unerschütterlich war, dass sie fast schon hören konnte, wie er sich ermahnte, nicht zu blinzeln. Er sah seiner älteren Schwester so ähnlich, dass es Alessa die Kehle zuschnürte. Familien hatten selten mehr als einen Fonte, aber wenn doch, wurde das als Zeichen der Stärke gesehen, als Zeichen göttlicher Gunst. Er hätte einer von Alessas bevorzugten Kandidaten sein sollen, aber sie hatte seinen Eltern schon ein Kind genommen.

Andere Fontes begegneten ihrem Blick zögerlich: Nina Faughn, Saida Farid, Kamaria und Shomari Achebe.

Die meisten versuchten, mit der Menge zu verschmelzen. Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Während sie diejenigen, die sie getötet hatte, kaum gekannt hatte, waren die Fontes alle zusammen aufgewachsen.

Und jetzt erwartete man von ihnen, dass sie so taten, als wollten sie unbedingt von einem Mädchen erwählt werden, dessen Macht ohne ihre nutzlos war.

Dea, gib mir ein Zeichen.

Was sie wirklich brauchte, war ein Anstoß. Stunde um Stunde beobachtete sie alles von hoch oben über der Stadt, sehnte sich danach, unter Menschen zu sein, aber wann immer sie ihrem goldenen Käfig entfloh, vergaßen ihre Flügel, wie man flog.

Sie schaffte nur drei Schritte, als eine plötzliche Unruhe in der Menge sie innehalten ließ.

Eine Frau schob sich durch die dicht gedrängt stehenden Menschen und trat auf die freie Fläche.

In ihrem leuchtend weißen Gewand fiel sie auf wie ein Stern in einer mondlosen Nacht. Was für ein Mensch drängelte sich bei einem Begräbnis so durch die Menge?

Alessa fing den lodernden Blick der Frau auf.

Einen bizarren Moment lang war sie peinlich berührt. Es war einige Jahre her, dass jemand in ihrer Gegenwart von religiösem Eifer überwältigt worden war, und dies war ein ungünstiger Moment für einen Anfall religiöser Verzückung.

Die Frau verzog das Gesicht, ihre Augen verdunkelten sich, und dann begann sie zu rennen.

Alessas Puls raste im Gleichklang mit den Schritten auf den steinernen Bodenplatten.

Die Frau in dem weißen Gewand wurde weder langsamer noch zuckte sie zusammen, und sie achtete auch nicht auf die Wachen, die von allen Seiten auf sie zueilten. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, holte sie mit einem Arm aus.

Und warf etwas.

Etwas, das mit einem schmerzhaft schrillen Geräusch an Alessas Kopf vorbeipfiff.

Wachen packten die Frau, rangen sie zu Boden, und ihre Körper erstickten die Worte, die die Fremde zu schreien versuchte.

Alessa griff sich mit einer Hand an den Hals, und die Fingerspitzen ihres Handschuhs wurden warm und feucht von Blut.

»Dea«, keuchte sie. Nicht so ein Zeichen.

2

Chi cerca trova.

Suche und du wirst finden.

Alessas Atemzüge waren schnell und flach, während sie das heiße Rinnsal an ihrem Hals abwischte. An ihren Handschuhen würde kein Blut zu sehen sein und in ihrem Gesicht keine Furcht. Das war unmöglich.

Ihr Blick folgte der Spur aus roten Tropfen auf dem Boden, die zu einem Dolch führte, der im Sonnenlicht glänzte. Hätte sie einen Schritt weiter links gestanden, würde die Klinge, die ihr Ohr gestreift hatte, jetzt in ihrem Schädel stecken.

Der Hauptmann der Wache bellte Befehle, und seine Soldaten bildeten einen Schutzwall um sie herum. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach dem Schutz, den die hohen Mauern der Cittadella boten.

»Wartet«, sagte Renata. »Sie müssen sehen, dass sie unverletzt ist.«

Alessa ballte die Fäuste. Sich zu verstecken war keine Option. Nicht für sie. Niemals für sie. Die Pflicht rief, daran änderte auch das bisschen Blut nichts.

»Kopf hoch, Finestra«, murmelte Renata. »Zeige ihnen, dass du keine Angst hast.«

Alessa kämpfte gegen den entsetzlichen Impuls zu lachen an, während sie das Kinn reckte und dafür sorgte, dass niemand die Tränen sehen konnte, die in ihren Augen brannten.

Als sie beruhigend winkte, lief eine Woge der Erleichterung durch die Menge – zumindest hoffte sie, dass es Erleichterung war. Renata gab schließlich das Zeichen, dass sie sich zurückziehen sollten.

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie, sobald sich die Tore dröhnend hinter ihnen geschlossen hatten.

»Könnte schlimmer sein.« Alessa betastete ihre Verletzung und zuckte zusammen. »Warum tut jemand so etwas?«

Das Ganze ergab keinen Sinn. Es war unvorstellbar, dass eine Finestra vor Divorando starb. Oder zumindest hatte sie es immer für unvorstellbar gehalten. Einige waren in der Schlacht verwundet worden, aber sie alle hatten lange genug gelebt, um zur Finestraspitze emporzusteigen. Ohne Finestra und Fonte wäre Saverio gegen die Dämonen vollkommen schutzlos.

»Wer kann schon die Entscheidungen einer verwirrten Person erklären?«, sagte Tomo, während er Renata den Ellbogen anbot. Sie wechselten einen angespannten Blick.

»Wenn ihr etwas wisst, sagt es mir.« Alessa folgte ihnen durch den Korridor mit der gewölbten Decke zum Innenhof. Neben Tomo, der ungeachtet seiner gesundheitlichen Probleme immer noch groß und athletisch war, wirkte Renata noch zierlicher als sonst.

»Du kannst sie nicht für immer beschützen, Tomo.«

»Renata«, bat Tomo, und seine gebräunte Haut färbte sich ein bisschen grau. »Wir wissen noch nicht einmal, ob er etwas damit zu tun hat.«

Er? Das Messer hatte eine Frau geworfen.

»Wer?«, fragte Alessa. Sie antworteten nicht. In Augenblicken wie diesen wurde sie unsichtbar.

»Ich habe dir gesagt, wir hätten ihn verhaften lassen sollen.« Renatas Stimme knisterte förmlich vor Wut. »Wir hätten ihn an die Finestraspitze binden und dem Tod überlassen sollen.«

Tomo seufzte, als hätte er diese Worte bereits unzählige Male gehört. »Weil er an Straßenecken Reden schwingt?«

»Weil er zur Gewalt aufhetzt!«

»Wer denn?«, fragte Alessa, dieses Mal lauter, und sie drehten sich um und sahen sie an, als wäre sie plötzlich wieder existent geworden. »Wer hat nichts damit zu tun? Wer sollte dem Tod überlassen werden? Sagt es mir. Ich bin die Finestra, kein verängstigtes Kind.« Wenn sie es nur nachdrücklich genug sagte, konnte sie vielleicht sogar sich selbst davon überzeugen.

Tomo wedelte mit einer Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Irgendein lächerlicher Straßenprediger, der sich Padre Ivini nennt. Er schürt nur Ängste, um sich die Taschen zu füllen.«

»Und was sind das für Ängste?« Alessa schlang die Arme um sich; ihr war plötzlich kalt. Sie wusste, was sie fürchtete – Schwärme dämonischer Insekten, die vom Himmel herabstießen, während alle darauf zählten, dass sie sie aufhielt. Denn es war die Bürde der Finestra, dem Schrecken zu trotzen, damit die anderen es nicht mussten.

»Närrisches Geschwätz. Alle, die ihre Sinne beisammen haben, beachten ihn nicht weiter.« Tomo sah Renata um Unterstützung heischend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern.

Alessa deutete auf ihr Ohr. »Alle?«

»Alle bis auf ein paar verzweifelte Seelen, die nach Sicherheit in einer unsicheren Welt suchen. Genug davon.« Tomos Lächeln war freundlich, aber bestimmt. »Wir haben uns um Wichtigeres zu kümmern.«

Wichtigeres als ihr Leben? Alessa runzelte die Stirn. Sie hatte es zwar geschafft, ihnen eine Antwort zu entringen, aber das hieß nicht, dass sie auch die richtigen Fragen gestellt hatte.

Renata seufzte. »Es wird nicht noch einmal vorkommen. Denk nicht mehr drüber nach.«

Richtig. Die vielen Dinge, die Alessa in Erinnerung behalten sollte, hatten die Tendenz, ihr zu entschlüpfen, wie Sand, der einem durch die Finger rinnt. Aber es war unwahrscheinlich, dass sie einen Dolch vergaß, der auf ihren Kopf zugeflogen war.

Renata rieb sich die Schläfen. »Je eher sie ihren Fonte erwählt, desto besser.«

»Ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, mit irgendjemandem zu sprechen«, sagte Alessa. »Ich muss eine fundierte Entscheidung treffen. Dieses Mal muss es klappen. Bitte.«

Bitte lasst nicht zu, dass ich wieder jemanden töte. Sie hätte es genauso gut laut sagen können. Sie wussten, was sie meinte.

Tomo machte eine Bewegung, als wollte er ihren Arm drücken, doch dann strich er sich stattdessen unbeholfen über den Ärmel. »Wie wäre es mit einer Vorführung? Einer Gala, bei der alle wählbaren Fontes ihre Gaben zeigen können. Dann hättest du die Möglichkeit, mit ihnen allen zu sprechen.«

Unter Alessas Brustbein rührte sich so etwas wie Vorfreude. Sie hatte angenommen, dass sie die nächsten Tage in völliger Abgeschiedenheit verbringen und Dea um ein Zeichen bitten würde, bevor sie die Person erwählte, an die sie sich binden würde. Möglicherweise war aber eine Vorführung genau das, was sie brauchte, um wenigstens einmal die richtige Wahl treffen zu können.

»Morgen.« Renata nickte. »Und sie muss überweltlich aussehen. Je mehr Juwelen, desto besser. Ich möchte, dass sie vor Deas Gunst regelrecht trieft.«

Alessa verdrehte innerlich die Augen. Früher einmal mochte sie Reichtum und Juwelen mit dem Wert einer Person gleichgesetzt haben, aber inzwischen kannte sie die Wahrheit: Die Götter gaben und nahmen aus ihren eigenen unverständlichen Gründen, und nur Narren versuchten, einen Sinn darin zu erkennen.

Sie. Sie war die Närrin. Weil sie immer noch verstehen wollte.

»Perfekt«, sagte Tomo. »Wenn unsere Gäste von hier weggehen, werden sie von ihrer gesegneten Retterin schwärmen, die bereit ist, ihren endgültigen wahren Partner zu wählen. Das wird die Schwarzseher zum Verstummen bringen.«

Alessa wusste immer noch nicht, was genau zum Verstummen gebracht werden musste, aber sie war wieder zurück in die Unsichtbarkeit geglitten, daher überließ sie Tomo und Renata ihren Plänen und stieg mit bleischweren Beinen die Treppe hinauf.

Adrick würde wissen, was dieser Ivini gesagt hatte – er sammelte Gerüchte wie Kinder hübsche Steine –, aber sie hatte keine Ahnung, wann sie ihn das nächste Mal sehen würde.

Von außen wirkte die Cittadella wie ein massiver Felsblock, aber innerhalb der nüchternen Fassade war das Gebäude eine Mischung aus militärischer Festung und elegantem Anwesen, mit einem exquisiten Atrium im Zentrum und üppigen Gärten weiter hinten. In den beiden unteren Stockwerken befanden sich ausschließlich funktionale Räume wie eine Kantine, Unterkünfte für die Wachen, eine Waffenkammer und Übungsräume, während der zweite Stock als militärische Kommandozentrale diente.

Die oberen Stockwerke hingegen waren dem Duo Divino vorbehalten, der göttlichen Paarung. Den Paarungen, Plural, da die vorangegangene Finestra mit ihrem oder ihrer Fonte zur Cittadella zurückkehren sollte, wenn eine neue Finestra aufstieg und dort für die Dauer von fünf Jahren blieb – der Zeit, die Dea ihnen gewährte, um ihre Nachfolger auszubilden.

Dea musste allerdings das Kleingedruckte in dem wie auch immer gearteten göttlichen Vertrag übersehen haben, den sie mit Crollo unterzeichnet hatte. Denn statt ihnen Divorando genau am fünften Jahrestag des Aufstiegs der neuen Finestra zu schicken, wählte er willkürlich irgendeinen Monat im fünften Jahr. Solange die Erste Warnung nicht kam, wusste niemand genau, wann er zuschlagen würde.

Von Alessas fünftem und letztem Jahr waren bereits sieben Monate verstrichen, und sie war nicht näher dran, ihren Partner für die Schlacht zu finden als an dem Tag, an dem der Consiglio sie bestätigt hatte.

Der offizielle Bankettsaal im dritten Stock lag leer und dunkel da, und Tomo und Renata waren noch nicht in ihre Suite zurückgekehrt. Alessa sah daher keine Menschenseele, bis sie den vierten Stock erreichte, der einzig und allein ihr zur Verfügung stand. Das würde auch so bleiben, bis sie jemanden fand, der oder die ihn mit ihr teilte. Die größte Bibliothek auf Saverio, eine Privatkapelle und zwei Suiten für ein einziges einsames Mädchen.

Als sie das obere Ende der Treppe erreichte, wurde Lorenzo, der junge Soldat, der dafür abgestellt war, ihre Räume zu bewachen, trotz seiner olivfarbenen Haut bleich. Eigentlich sollte er ihr die Tür öffnen und ihre Suite gründlich inspizieren, bevor sie diese betrat, aber wie die anderen Wachen vor ihm weigerte er sich, irgendetwas zu berühren, das zu ihr gehörte.

Weshalb sie die Tür jetzt selbst öffnete.

Sie hätte es niemals laut gesagt, aber wenn jemand vor ihr zurückschreckte, schmerzte es jedes Mal wie Eiswasser auf bloßer Haut. Vor allem bei Soldaten. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, um sich einem Schwarm Dämonen entgegenzustellen, aber sie verhielten sich, als wäre sie etwas weit Schlimmeres.

Lorenzo tat so, als würde er oberflächlich den Blick schweifen lassen, und zog sich dann auf seinen Posten zurück. Sie hörte, wie er leise etwas vor sich hin murmelte, das verdächtig nach Ghiotte klang.

Gierige.

Alessa versetzte der Tür mit dem Absatz einen Tritt, so dass sie zuknallte.

»Benimm dich nicht wie eine Ghiotte«, hatten ihre Eltern immer mit ihr geschimpft, wenn sie mehr als den ihr zustehenden Anteil an Süßigkeiten hatte haben wollen. Sie hatten das Wort weich ausgesprochen, sodass es fast zärtlich geklungen hatte, aber damals hatten sich Visionen von Crollos Dieben in ihre Gedanken geschlichen. Selbst jetzt träumte sie noch manchmal, dass ihr Klauen und Hörner wuchsen.

Alle Kinder auf Saverio wuchsen mit den Geschichten über die Ghiotte auf. Wie Crollo als Menschen getarnte Dämonen geschickt hatte, um vor dem ersten Divorando Deas dritte Gabe zu suchen. Als es den Ghiotte gelungen war, La Fonte di Guarigione zu finden – die Heilquelle, die für die Soldaten geschaffen worden war –, hatten sie ihre Kraft gestohlen und waren dadurch fast nicht mehr zu töten gewesen, während sie für die Truppen nichts übrig gelassen hatten. Ertappt und verdammt wegen ihrer Sünde waren sie zur Strecke gebracht oder ins Meer getrieben worden, und nichts war von ihnen mehr übrig geblieben als eine Warnung über die Folgen von Gier und Selbstsucht.

Manche Skeptiker glaubten, dass die Geschichte eine Metapher war, eine Moralgeschichte, die die Menschen auf Linie halten sollte, aber die Kirchenältesten beharrten darauf, dass jedes Wort in der heiligen Verità vergangene Geschichte war, die Dea selbst diktiert hatte.

Die Finestra war Deas erster Segen.

Die Ghiotte hatten den dritten gestohlen.

Und Alessa tötete immer wieder den zweiten.

Sie streifte die Handschuhe ab und warf sie zu den anderen, die sich neben ihrem Bett stapelten.

Eine warme, intensiv nach Zitronen duftende Brise vom Balkon wehte ihr die dunklen Locken in die Augen, als sie barfuß zu einem kleinen Tisch ging, auf dem sich verschiedene Sorten Brot, Käse und Früchte befanden. Der Käse hatte eine Fettschicht, die im ersterbenden Sonnenlicht schimmerte, und das Brot war alt. Kein Festmahl, das einer Finestra würdig gewesen wäre, aber sie konnte schlecht anderen vorwerfen, irgendwelche Erwartungen nicht zu erfüllen.

Auf der Oberfläche des Ozeans unter ihr spiegelte sich das Sonnenlicht und tauchte die Stadt, die sich als Ansammlung sonnengebleichter pastellfarbener Gebäude den ganzen Hügelhang hinunterzog, hier und da in einen rotgoldenen Schimmer. Es sah so aus, als würden die Stadtmauern alles in Schach halten, sodass sie nicht mit der Finestraspitze zusammenstoßen würden, die hoch über dem schwarzen Sandstrand aufragte und wo sie und ihr erwählter Partner ihren Platz an der Spitze der Armee von Saverio einnehmen würden. Immerhin hatte sie von ihrem Gefängnis aus eine hervorragende Aussicht.

Sie hätte baden sollen, um das Blut und den Angstschweiß abzuwaschen, aber stattdessen rollte sie sich in einem Lehnstuhl zusammen und zog eine Wolldecke bis zum Kinn hoch. Der Stoff war viel zu warm, aber er ließ Alessas Nerven, die den ganzen Tag geschlummert hatten, zum Leben erwachen, als er sich auf ihre bloßen Arme und den Hals legte. Es war zwar keine menschliche Berührung, aber trotzdem eine Berührung.

Nach einer Kindheit mit jeder Menge vergessener Hausaufgaben, verbrannter Brotlaibe und immer wieder nicht geleerter Mülleimer hatte Alessa ihre Mutter an dem Tag, an dem sie Finestra geworden war und damit aufhören musste, sie »Mama« zu nennen, endlich stolz gemacht. Aber selbst als jemand, die von den Göttern auserwählt war, enttäuschte sie alle. Natürlich hatte sie immer fest entschlossen versucht, andere zufriedenzustellen. Sie hatte ihre Aufgaben erfüllen wollen, hatte sich an die Einkaufsliste erinnern oder nach dem Brot sehen wollen. So wie sie jetzt ihre gottgegebenen Kräfte kontrollieren wollte. Aber ihr Versagen bedeutete jetzt nicht einfach nur, dass sie noch einmal mehr zum Markt gehen musste, sondern dass sie für tote Fontes und getrocknetes Blut auf ihrer Haut verantwortlich war.

Papa hatte immer gesagt, dass bei Tageslicht alle Probleme weniger schlimm aussehen würden. Um ihre nicht so schlimm aussehen zu lassen, war allerdings ein schrecklich heller Sonnenaufgang nötig.

Sie schloss die Augen und zupfte an der Unterseite der Decke, zwickte die Knoten, strich mit den Fingerspitzen über die Steppung.

Du bist nicht allein. Du bist am Leben. Du wurdest auserwählt.

Du bist einsam. Du wirst sterben. Vielleicht hat Dea die Falsche auserwählt.

Das alles war nutzlos. Sie konnte es sich nicht leisten, sich in einer niemals endenden Spirale aus Sorgen zu verfangen. Die einzige Möglichkeit, da herauszukommen, bestand darin, Antworten zu bekommen.

Alessa setzte sich auf, ließ die Decke auf den Fußboden gleiten.

Wenn niemand in der Cittadella bereit war, ihr zu sagen, was los war, musste sie jemanden finden, der es tun würde.

3

Dio mi guardi da chi studia un libro solo.

Traue niemals einem Mann, der nur ein einziges Buch studiert.

Alessa hatte nicht viele Möglichkeiten gehabt zu rebellieren, seit sie von zu Hause weggegangen war, aber jetzt würde sie das Versäumte nachholen. Sie hatte sich einen leichten Mantel unter den Arm geklemmt, trug in der einen Hand Stiefel und in der anderen eine grobe Zeichnung der Tunnel, die bereits vom Schweiß weich wurde. Als sie an den Küchen vorbeischlich, versuchte Lorenzo gerade, mit wenig beeindruckten Küchenmädchen zu flirten.

Sie blieb vor dem Bankettsaal stehen, lauschte der an- und abschwellenden Unterhaltung im Innern. Sie war nur eine halbe Gefangene und konnte sich innerhalb der Cittadella frei bewegen, allerdings würde sie sich verraten, wenn Renata die Schuldgefühle in ihrem Gesicht sah. Als sie Silber über Keramik kratzen hörte, hielt sie den Atem an und rannte auf den Zehenspitzen rasch vorbei.

»Wo sollen wir morgen nur anfangen?« Bei Renatas Worten spannte Alessa sich an.

Sie sackte gegen die Wand, bis ihre wackligen Knie sich nicht mehr ganz so wacklig anfühlten und sie weiterschleichen konnte. Hinter einem Bogengang, der vom Innenhof wegführte, verband eine Wendeltreppe die Cittadella mit der Fortezza darunter. Die uralten Steinstufen waren schmal und schlecht beleuchtet, und sie senkten sich zur Mitte hin, im Verlauf der Jahrhunderte von zahllosen Füßen abgetreten.

Die Cittadella war beeindruckend, aber sie war nichts, verglichen mit der Festung darunter. Das Labyrinth aus Tunneln und Höhlen, die in die Insel gehauen worden waren, stammte aus der Zeit der ursprünglichen Siedler, die die natürlichen vulkanischen Tunnel erweitert hatten, um die ganze Insel in eine Festung zu verwandeln.

Eine Finestra erkundete die Gegend von Natur aus nicht. Normalerweise betrat Alessa die Fortezza nur, um mit Tomo und Renata den Tempel zu besuchen, aber der Hauptschlüssel, den sie noch nie zuvor benutzt hatte, glitt leicht ins Schloss.

Sie zitterte eher vor Nervosität als vor Kälte und zog den Mantel an, dann trat sie durch das erste Tor hinaus, über die unsichtbare Linie, die die Mauer der Cittadella über ihr bildete.

Draußen hing die Süße der Rosen aus den Gärten der Cittadella in der warmen schweren Luft, aber sie wandte sich von den hohen Mauern ab und folgte den bescheidenen Gerüchen ihres ursprünglichen Zuhauses. Die Sonne ging über stillen Straßen unter, und Läden schlossen für den Feierabend.

Jede Terrasse quoll vor Geräuschen und Gerüchen über, die so eindeutig und unterschiedlich waren, dass sie sich mit geschlossenen Augen hätte durch die Stadt bewegen können. In einem Bereich, der stark nach Paprika und Kumin roch, spielten flinke Finger eine Melodie auf einer Gitarre, während stampfende Füße das Tempo vorgaben. Im nächsten Bereich brutzelten Klöße aus Knoblauch und Frühlingszwiebeln in heißem Öl, während jemand mit einer Stimme, die so zärtlich klang, dass sie einer Mutter gehören musste, ein Schlaflied sang, das sich wie auf ein Dach fallender Frühlingsregen anhörte.

Nahezu jedes Haus besaß einen Zitronenbaum, der häufig allein auf einer winzigen Insel aus Erde inmitten der Steinplatten stand. Getrocknete Zweige hingen über Türschwellen, befleckten ansonsten saubere Fenstersimse mit zähflüssigen Tropfen aus getrocknetem Saft. Es hieß, damit könnte man Crollos Dämonen abwehren – die aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit gehörnten Käfern »Scarabeo« genannt wurden –, aber wenn das tatsächlich so war, hätte Saverio keine Finestra gebraucht.

Als sie an einem Fenster mit blauen Läden vorbeikam, ermahnte sie sich, weiterzugehen und so zu tun, als wäre dies das Zuhause einer Fremden. Dennoch blieb sie kurz stehen.

In der kleinen Küche machte ihre Mutter sich an einem Topf auf dem Herd zu schaffen. Sie griff nach dem Salz, ließ die Hand kurz darauf ruhen, als hätte sie vergessen, was sie vorgehabt hatte. Der kleine Tisch mitten im Raum war nur für zwei Personen gedeckt. Vielleicht wollte Adrick nicht mehr mit ihnen essen. Vielleicht fühlte sich das Abendessen im Kreise der Familie ohne sie nicht mehr richtig an.

Es war Wunschdenken. Wahrscheinlich arbeitete er einfach nur lange.

Das Abendessen roch nach etwas Herzhaftem, das stundenlang auf dem Herd gebrutzelt hatte, mit Lamm und Rotwein. Erinnerungen verhedderten sich um sie. Ein voll besetzter Tisch, Geschichten, die so viele Male erzählt worden waren, dass sie jede Bedeutung verloren hatten, zu Poesie geworden waren, Kinder, die im weichen Schoß von jemandem einschliefen –

Alessa wischte sich über die Augen und ging weiter.

Vielleicht würde sie niemals wieder ein normales Mädchen sein, das Rosmarin zum Abendessen klein schnitt, aber sie mussten überleben.

Je weiter sie nach unten stieg, desto enger wurden die Straßen, bis die Gebäude sich berührten und die Insel sich zeigte, als Wildblumen sich durch Spalten in den Pflastersteinen schoben und Ranken an den Hauswänden emporkletterten.

Als Alessa an den Wachen bei den Stadttoren vorbeiging, zog sie die Kapuze hoch, aber niemand beachtete sie. Die Wachen hielten nach Bedrohungen Ausschau, die von außen kamen, nicht nach Mädchen, die zum Hafen liefen, wo die Menschen lange aufblieben und in Schwierigkeiten gerieten.

Auf Saverio wurden Verbrecher für ihre Verbrechen gezeichnet, und jene, die Delikte begangen hatten, die als nicht wiedergutzumachen galten, wurden auf den Kontinent verbannt. Dort würden sie ohne jeden Schutz durch das Duo Divino und seine Armee beim nächsten Divorando umkommen. Die übrigen wurden nur gezwungen, ihre Schande öffentlich zur Schau zu stellen, allerdings mussten die Gekennzeichneten außerhalb der Fortezza bleiben und sich alleine durchschlagen, während die Saveriones sich darin verbarrikadierten. Nach der Sperrstunde war es niemandem mit einer Kennzeichnung gestattet, sich ohne einen von der Cittadella ausgestellten offiziellen Pass im Innern der Stadt aufzuhalten.

Auf der unbefestigten Straße, die zu den Hafenanlagen führte, war außer ihr niemand unterwegs, aber die Geräusche der Nacht dehnten sich aus, füllten die Leere mit dem Trippeln winziger Kreaturen und dem Surren von unsichtbaren Flügeln im Gras.

Als die Straße breiter wurde und mehr und mehr Menschen und Händlerzelte zu sehen waren, wurden die Geräusche der Insekten vom Ächzen der Schiffe überdeckt. Wenn die Stadt ein Vier-Gänge-Menü für die Sinne war, war der Hafen ein herzhafter Eintopf. Das Gemurmel unzähliger Sprachen war berauschend, und in dem Gedränge von so vielen Menschen war ein einzelnes Mädchen in einem Mantel praktisch unsichtbar.

Als größte der vier ursprünglichen Zufluchtsinseln hatte Saverio vor dem ersten Divorando das breiteste Spektrum an Menschen aus den nahe gelegenen Regionen angezogen, und selbst jetzt, fast ein Jahrtausend nachdem Crollos erste Belagerung auf den Kontinenten nur noch Gestein und Erde übrig gelassen hatte, prahlten die Saveriones damit, die ganze Welt im Miniaturformat zu sein. Das war ganz offensichtlich übertrieben, aber es war niemand mehr da, der diese Aussage hätte bestreiten können.

Alessa wurde langsamer, als sie Gesang hörte und ein Dutzend mit Umhängen bekleidete Gestalten aus einer Gasse auftauchten; ihre weißen Roben hoben sich deutlich vom dunklen, schmutzigen Hintergrund ab. Sie kniff die Augen zusammen, um die purpurnen Worte erkennen zu können, die ihre Rücken zierten. Fratellanza della Verità.

Passanten sammelten sich, von dem Spektakel gefesselt. Es war nicht schwer zu erkennen, warum. Der kaum hörbare Gesang der Gruppe sorgte dafür, dass sich auf Alessas Armen die Haare aufstellten, und die Kapuzen, die ihre Gesichter beschatteten, verliehen ihnen eine Aura unirdischer Anonymität.

Alessas Kopfhaut zog sich vor Angst zusammen, als eine der Gestalten sich von den übrigen entfernte und die Kapuze zurückschlug; ein eindrucksvolles Gesicht und vor der Zeit ergraute Haare wurden sichtbar. Der Mann lächelte wohlwollend, und ein paar Menschen begannen zu klatschen, obwohl er noch kein einziges Wort gesagt hatte.

Er trat in den grellen Schein einer Straßenlaterne und hielt ein großes Buch in die Höhe. Es war keine offizielle Ausgabe der Heiligen Verità – den Unterschied zwischen dem echten Buch und einer Fälschung konnte gerade sie nur zu gut erkennen –, aber die Schriftzeichen auf dem Deckblatt waren ähnlich genug, um die meisten Menschen zu täuschen.

Im vorderen Teil der Menge rangelten Frauen um die beste Position, sahen den Mann mit verzückter Hingabe an, und Alessa konnte endlich den Namen verstehen, der immer wieder geflüstert wurde. Ivini.

»Unsere Götter sagen uns, dass wir glauben und vertrauen sollen«, sagte er mit tiefer, hypnotischer Stimme. »Dass wir mit heiligen Rettern und Retterinnen gesegnet sind.«

Einer Retterin, deren Tod du heute fast herbeigeführt hättest.

»Aber wir sind selbstgefällig geworden. Vertrauensselig. Naiv.« Seine Gesichtszüge wurden weicher, zeigten eine sorgsam berechnete Traurigkeit, aber seine scharfen Augen schätzten die Reaktion der Menge ab. »Ich frage euch, seid ihr euch sicher, dass unsere hochgeehrte Finestra uns retten wird, oder überlegt auch ihr, ob die Götter uns vielleicht prüfen?«

Ein Kind in einem fleckigen Kleid schob sich durch die immer noch größer werdende Menge. Das Mädchen hielt einen Bettlerhut in der Hand, aber die meisten beachteten sie nicht, hielten vielmehr ihre Geldbörsen fest und mieden jeden Blickkontakt.

Ivini verfiel in eine unheilvolle monotone Sprechweise, und die Menge wurde still. »Die verlorenen Texte warnen vor dem Tag, an dem eine falsche Finestra sich erheben wird. Eine, die die Gläubigen erkennen werden, sobald sie sie sehen.«

Sein Blick streifte durch die Menge, blieb aber nicht länger an Alessas Gesicht hängen als an irgendeinem anderen. So viel zu seiner Behauptung. Allerdings war er ein überzeugender Lügner. Er schüttelte den Kopf, als würde er bedauern, was er als Nächstes sagen musste, und legte eine Hand auf sein Herz. »Dort oben sitzt sie, in unserer Cittadella, schlachtet unsere kostbaren Fontes ab, wird trotz ihrer Boshaftigkeit verhätschelt. Von Dea gesandt? Das erzählen sie uns. Aber würde Dea uns eine Mörderin schicken, die uns retten soll? Ich glaube nicht. Nein, das alles trägt die Handschrift von Crollo.«

Ein junger Mann mit zerzausten dunklen Haaren und sonnengebräunter Haut schritt an der Menge vorbei und warf einen verächtlichen Blick auf sie, und Alessas Schultern entspannten sich. Zumindest einer kaufte dem heiligen Mann seine Lügen nicht ab.

»Ich frage euch«, sagte Ivini, und sein Blick wurde schärfer, »wenn die Dämonen über uns kommen, um alles Leben auf Saverio zu verschlingen, wird unsere teure Finestra dann wenigstens so tun, als würde sie kämpfen? Oder wird sie einfach nur lachend zusehen, wie unsere tapferen Soldaten abgeschlachtet werden? Wird sie den Kreaturen zujubeln, wenn sie an den Toren der Fortezza nagen, oder wird sie sie ihnen sogar öffnen? Und wer wird als Erstes sterben? Wer wird am meisten leiden, wenn nicht diejenigen von euch, die keinen Zutritt zur Fortezza haben?«

Das Bettlermädchen stolperte, und die Münzen verteilten sich auf dem Boden. Ihr spitzer Schrei übertönte Ivinis Rede, und er verstummte mit einem lauten Seufzen, bedeutete einem seiner Gefolgsleute, sich um das Mädchen zu kümmern.

Alessa konnte sich nicht durch die Menge drängen, um dem armen Mädchen zu helfen, aber offensichtlich würde das jemand anderes tun.

Der weißgewandete Mann bückte sich, um das Mädchen am Kleid zu packen, und zwang sie, sich hinzustellen. »Gesegnet seien die Elenden, denn sie wissen nicht, was sie tun. Du würdest keine Münzen brauchen, wenn du klug genug wärst, auf die Autoritäten zu hören.«

Stirnrunzelnd machte Alessa unwillkürlich einen Schritt vorwärts.

»Lass sie los.« Die Menge teilte sich wie Butter unter einem heißen Messer, als der junge Mann vortrat. Sein verächtliches Lächeln war jetzt dunkler, geradezu furchterregend. Er konnte nicht mehr als ein paar Jahre älter als Alessa sein, aber er schritt mit der Autorität von jemandem vorwärts, der davon ausging, dass andere ihm Platz machten.

Ivinis Jünger richtete sich auf, bis die Zehen des Mädchens, das er fest im Griff hatte, kaum noch die Pflastersteine berührten. »Gehört sie zu dir? Wenn ja, musst du ihr ein paar Manieren beibringen. Die Götter schätzen es nicht –«

»Lass sie los, oder ich schicke dich auf der Stelle zu deinen Göttern.« Der junge Mann bewegte sich kaum, nur seine breiten Schultern verlagerten sich in der vagen Andeutung eines Sprungs. Trotzdem wich Ivinis Jünger stolpernd zurück, zog das Mädchen dabei unabsichtlich mit sich.

Er kam nicht weit. Der junge Mann packte sein Handgelenk und verdrehte es brutal, sodass sich seine Finger abspreizten.

Das Mädchen kam frei und schoss hinter ihren Retter, um ihn als Schutzschild zu nutzen. Mit aufgerissenen Augen sah die Kleine zu, wie der Rüpel vor Schmerzen wimmernd auf die Knie gezwungen wurde.

Schließlich ließ der junge Mann ihn los und wischte sich mit angeekelter Miene die Hände an der Hose ab.

Der Jünger hielt seinen verletzten Arm und blickte sich um, aber niemand sprang ihm bei, noch nicht einmal sein Anführer. Es schien, als würde der religiöse Eifer der Fratellanza nicht so weit reichen, dass er bereit war, sich selbst in Gefahr zu bringen.

»Bruder«, sagte Ivini mit kalter Stimme und brennender Wut in den Augen. »Lassen wir Gnade walten. Selbst die Boshaftesten werden vielleicht das Licht sehen können. Irgendwann.«

Der dunkelhaarige Fremde kniete sich hin, um dem Kind dabei zu helfen, die verstreuten Münzen einzusammeln. Er fügte ein paar aus seiner eigenen Tasche hinzu, ehe er aufstand und sich wieder auf den Weg machte. Er schritt an leeren Läden vorbei, dorthin, wo die Straße zu einer schmalen Gasse wurde. Er blieb unter einem verblichenen Plakat stehen, auf dem Tiefpunkt stand, und zog die Tür auf; ein Schwall lärmender Stimmen drang heraus. Dann drehte er sich um, als würde er Alessas Blick spüren, und sah sie an, zog in stummer Herausforderung eine Braue hoch.

Sie errötete und schaute weg.

Ivini redete weiter, ließ seine Wut in seine Worte fließen, und die Menge reagierte wie Feuer auf trockenen Zunder. Sie entflammte rasch und stürmisch.

Alessa stand kalter Schweiß auf der Stirn. Bei Renata und Tomo hatte es so geklungen, als ginge es um ein paar vereinzelte Abweichler, aber das hier war eine im Entstehen begriffene Revolte.

»Wer hat den Mut?«, fragte Ivini. »Wer ist tapfer genug und zerschmettert die falsche Prophetin?«

»Ich tue es«, rief eine Frau, und die Menge grölte zustimmend.

Alessa glitt zurück in die Schatten.

Der Tod rückte näher, aber dies war nicht der Ort, an dem sie vorhatte, ihm zu begegnen.

4

Chi ha fatto il male, faccia la penitenza.

Wie man sich bettet, so liegt man.

Eine Glocke klingelte über der Tür, als Alessa die Apotheke betrat. Glücklicherweise war Adrick der Einzige, der hier unten arbeitete. Er blickte auf, und seine wilden Locken hüpften, als er an dem Krug herumfummelte, den er einer älteren Frau gab.

Alessa signalisierte ihm, dass sie mit ihm sprechen musste.

Er signalisierte zurück, wobei er seine Bewegungen verbarg. »Willst du, dass ich verbannt werde?«

»Messer. Mein Kopf«, gestikulierte sie und schob die Haare zurück, sodass er den Verband sehen konnte.

Seine Nasenflügel bebten, und er bedeutete ein kurzes »Draußen, in zehn Minuten«, ehe er sich wieder der Kundin zuwandte und laut sagte: »Das hier ist mit getrockneten Kräutern aufgegossen, aber wenn Ihr mich fragt …«

Alessa tat so, als würde sie sich die Waren im Laden ansehen; sie entkorkte eine kleine Flasche und hüstelte angesichts des widerlich riechenden Inhalts.

Adrick warf einen eindringlichen Blick zur offenen Ladentür, und sie trat nach draußen, um dort auf ihn zu warten.

Als er eine Viertelstunde später aus dem nun dunklen Gebäude kam, hob er eine Hand, um sie daran zu hindern, etwas zu sagen, und deutete mit einem Nicken in Richtung der Hauptstraße. Dann setzte er sich in Bewegung, ohne sich zu vergewissern, ob sie ihm folgte. Seine Beine waren deutlich länger als ihre, aber er machte keine Anstalten, seine Schritte ihren anzupassen.

»Hast du das gewusst?«, fragte sie und bemühte sich, mit ihm mitzuhalten. »Dass dieser Ivini behauptet, ich wäre eine falsche Finestra?«

Adricks Schweigen war Antwort genug.

»Adrick! Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Ich wusste, dass es dich beunruhigen würde.«

»Fremde werfen Messer nach mir. Ich sollte beunruhigt sein.«

»Und warum bist du dann hier?«, versetzte er. »War dein Tag mit dem einen nach dir geworfenen Messer nicht aufregend genug?«

Sie wurde bleich. »Ich trage den Schleier erst seit Kurzem nicht mehr. Kaum jemand weiß, wie ich aussehe.«

»Signor Arguelles weiß es.«

»Nun, er hat mich nicht gesehen.«

Als Kinder hatten sie Stunden damit zugebracht, für ihren Nachbarn Kräuter zu zerstampfen, bevor Adrick sein Lehrling geworden war, und auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass der freundliche alte Mann sie verraten würde, wäre es nicht das schockierendste Ereignis der letzten Zeit.

»Erzähl mir, was du gehört hast.« Alessa blieb stehen und zwang ihren Bruder, sich zu ihr umzudrehen.

»Hör zu.« Adrick atmete schwer. »Es war ein langer Tag. Die Apotheke war gerammelt voll mit Leuten, die nach Tinkturen gesucht haben, mit denen sie ihre Tätowierungen entfernen können – was natürlich unmöglich ist –, und Medizinern, die Mittel brauchten, mit denen sie Leute behandeln können, die versucht haben, sie auszubrennen oder herauszuschneiden. Die Leute sind in Panik, sie glauben …«

»Dass ich sie nicht beschützen kann.« Sie hatte gedacht, dass sie die Einzige war, die nachts wach lag und davor Angst hatte, dass sie alle im Stich lassen würde. Stattdessen wurden ihre schlimmsten Befürchtungen an jeder Straßenecke lauthals verkündet.

Er zupfte sich am Ohr. »Nun – kannst du es?«

»Könntest du bitte an mich glauben?«

»Das tue ich. Es ist nur –« Adrick warf einen Blick nach vorn, wo sich ein paar Leute um eine Frau in einem langen Gewand versammelten. »Die Leute sagen alle möglichen Sachen, etwa dass Crollo dich verflucht hat, oder dass du eine neue Art Ghiotte bist, die geschickt wurde, um die Magie der Fontes zu zerstören. Manche glauben sogar, dass du der Beweis dafür bist, dass Dea uns verlassen hat und Crollo es dieses Mal wirklich zu Ende bringen wird. Verdammt, es gibt einen ganzen Kult von Leuten, die glauben, dass wir es alle verdient haben zu sterben und Dea sich ihm niemals hätte widersetzen dürfen.«

Viele Hundert Jahre hatten die Saveriones allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt, hatten immer darauf vertraut, dass ihre Retterinnen und Retter sie beschützen würden, wenn die boshaften Geflügelten über sie kamen. Und jetzt gaben die Menschen auf. Ihretwegen.

Sie hatte sich niemals erkundigt, ob eines der selten vorbeikommenden Handelsschiffe Neuigkeiten über ihre wie auch immer bezeichneten Gegenstücke auf den anderen Inseln mitgebracht hatte. Es war durchaus denkbar, dass sie nicht allein auf diesem sinkenden Schiff war. Vielleicht fluchte jenseits des Meeres noch jemand anderes über die eigene Unfähigkeit, die Pflicht zu erfüllen. Es würde allerdings nichts daran ändern, dass sie im Fall ihres Scheiterns für den Tod allen Lebens auf Saverio verantwortlich sein würde. Wenn es den anderen Inseln besser erging, würden die Überlebenden eines Tages nach Saverio kommen und eine kahle Küste und leere Ruinen vorfinden. Und falls es noch irgendwelche Aufzeichnungen gab, würde Alessa in den historischen Aufzeichnungen als warnendes Beispiel weiterleben:

Alessa, die letzte Finestra.

Deas größter Fehler.

Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu, und sie schluckte. »Und du? Glaubst du, dass ich eine … eine neue Art Ghiotte bin?«

Adrick feixte. »Ich habe dich mit Krämpfen im Bett liegen sehen. Eine Ghiotte wäre zäher.«

Sie bleckte die Zähne. »Adrianus Crescente Paladino, wenn du Krämpfe hättest, würdest du schreien wie ein Säugling.«

Als Adrick seinen vollen Namen hörte, machte er ein Gesicht, als müsste er sich gleich übergeben. »Ich weiß, ich weiß. Du bist die göttliche Kriegerin, und ich bin der nutzlose Bruder, den du zurückgelassen hast. Was kümmert es dich, was ich glaube? Du bist diejenige mit dem direkten Draht zu Dea. Frag sie.« Seine Lippen kräuselten sich mit einem Hauch Verbitterung.

»So läuft das nicht.« Sie warf einen kurzen Blick zum dämmrigen Himmel hinauf.

»Du da!«, rief eine in ein langes Gewand gekleidete Frau.

Alessa zuckte zusammen, aber die Frau schaute an ihr vorbei.

Adrick begann zu laufen. »Zieh den Kopf ein und beeil dich.«

»Kennst du sie?«

»Natürlich nicht. Die sind alle so aufdringlich.«

Sie runzelte die Stirn. Es hatte so geklungen, als würde die Frau mit jemandem sprechen, den oder die sie kannte. Alessa warf einen Blick über die Schulter. Die Frau folgte ihnen nicht. Kein wütender Mob jagte sie. Noch nicht.

»Was soll ich tun, Adrick?«

»Beweise ihnen, dass sie Unrecht haben. Nimm dir einen Fonte und sorge dafür, dass er dieses Mal am Leben bleibt.«

»Das versuche ich ja.«

»Ich weiß.« Er warf ihr einen Blick von der Seite aus zu. »Das tust du immer.«

Sie gingen schweigend weiter, näherten sich den flackernden Lichtern der Stadt.

Sie zog den Kopf ein, zeigte den schläfrigen Wachen an der Stadtmauer ihre nicht gezeichneten Handgelenke. Adrick wünschte den Männern eine gute Nacht, und sie wechselten eine Art forschen Händedruck.

Nachdem Alessa sich vergewissert hatte, dass sich niemand in der Nähe befand, schloss sie den ersten Tunneleingang auf, auf den sie stießen, und sie gingen hinein. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass du mir nichts von Ivini erzählt hast.«

»Ich habe schon gesagt, dass es mir leidtut.« Die Gitterstäbe fragmentierten Adricks sich im Mondlicht abzeichnende Silhouette. »Schließ ab.«

Alessa drehte den Schlüssel herum, bis es klickte. »Zufrieden?«

»Nein. Ich sollte deine Schlüssel nehmen.«

»Es ist ein verbannungswürdiges Verbrechen, die Schlüssel zur Fortezza zu stehlen.«

»Oh, nein, nicht verbannungswürdig. Ich würde niemals etwas Verbannungswürdiges tun, wie etwa mich über die Erlasse der Kirche hinwegsetzen, um mich mit dir zu verbrüdern.«

»Sie würden dich nicht verbannen. Nur ein paar Tage lang einsperren.«

»Viel besser. Und jetzt, da ich meine Freiheit riskiert habe, sag mir, für wen du dich entscheiden wirst, damit ich ein paar Wetten abschließen kann.«

»Ich habe mich noch nicht entschieden, und wenn ich es hätte, würde ich es dir nicht sagen. Genau genommen hoffe ich, dass du der letzte Mensch auf Saverio sein wirst, der diese sehr wichtige Information bekommt.«

Er schnaubte. »Na schön. Ich hab’s verdient. Aber alle haben mich gefragt.«

»Wieso erwarten sie, dass du es weißt? Ich bin nicht mehr deine Schwester, schon vergessen?« Sie konnte ihre Verbitterung nicht verbergen. »Du hast mich den Göttern übergeben.«

»Aber, aber«, sagte er und warf einen Blick nach oben. »Die Verità sagt, die Eltern müssen ein auserwähltes Kind an die Gemeinschaft abtreten. Wie das mit den Geschwistern ist, darüber gibt es nichts Genaues.«

»Ach, deshalb sprichst du also noch mit mir, ja? Ein brüderliches Hintertürchen?«

»Ich sage nur, dass ich in Deas Augen hier nichts Falsches mache.«

Im Gegensatz zu Alessa, die tatsächlich die heiligen Regeln verletzte. Wie passend für Adrick, dem Ganzen mit dem Hinweis auf einen göttlichen Formfehler auszuweichen und sie mit der Schuld zurückzulassen. Er hatte immer gewusst, wie er sich aus Schwierigkeiten herauswinden konnte. »Na ja, Hintertürchen oder nicht, wenn Mama wüsste, dass du ihr heiliges Opfer befleckt hast, indem du mit mir in Verbindung geblieben bist, würde sie dir den Arsch versohlen, dass du nicht mehr sitzen kannst.«

»Ach, Lessa, das ist nicht fair. Sie liebt dich, aber sie liebt auch Dea, und sie kennt ihre Pflicht. Sobald du Saverio gerettet hast und sie dich wieder aus deinem goldenen Käfig rauslassen, wird sie als Erste zu dir gerannt kommen und dich umarmen.« Sein Blick war auf alles Mögliche gerichtet, nur nicht auf seine Schwester. »Na ja, sie wird dich vielleicht nicht gerade umarmen.«

»Wenn du es sagst.« Alessas Stimme war zu hoch, zu leichthin.

»Du solltest lieber nicht weinen. Göttinnen können nicht in der Öffentlichkeit rumlaufen und weinen.«

»Ich bin keine Göttin. Und ich weine nicht.«

»Gut. Und jetzt mach, dass du zurück in deinen Palast kommst, und befehle ein paar strammen Wachen, dir Luft zuzufächeln, während du Bonbons isst, oder was auch immer du den ganzen Tag tust.«

Alessa schnaubte. »Oh, ja, ich lebe die ganze Zeit nur im Luxus. Wenn du dich freiwillig melden willst, um meinen Platz zu übernehmen – nur zu.«

Adrick lachte trocken. »Das würde ich tun, wenn ich könnte, kleine Schwester. Dea hatte an dem Tag, an dem sie ihre Wahl treffen musste, wohl kein Zielwasser getrunken, was?«

»Hmm, mir kommt da gerade eine Idee. Bring mir am Morgen nach der Gala ein paar von Mamas Macarons, dann sage ich dir vielleicht, für wen ich mich entscheiden werde. Für die Hälfte deines Gewinns.«

»Die Hälfte?« Adricks Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück. »Keine Chance. Letzte Woche habe ich dir zwei Dutzend gebracht. Welche Normalsterbliche könnte so schnell so viele essen?« Seine Stimme wurde sarkastisch. »Ach ja, richtig, du bist ja keine Normalsterbliche.«

»Du bist furchtbar.«