This Vicious Grace - Die Verbannten - Emily Thiede - E-Book

This Vicious Grace - Die Verbannten E-Book

Emily Thiede

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Beschreibung

Drei Verbindungen, drei Beerdigungen - eine letzte Hoffnung

Alessa ist die magische Auserwählte ihrer Generation. Doch sie scheint ihre Kräfte, die eigentlich ihr Volk vor einem Angriff schützen sollten, nicht unter Kontrolle zu haben - alle, die sie berührt, sterben. Um niemanden mehr zu gefährden, lebt Alessa daher vollkommen isoliert im Palast. Bis der Leibwächter Dante in ihr Leben tritt. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto größer wird die Anziehungskraft zwischen ihnen und um so stärker sehnen sie sich danach, sich nahe sein zu können. Aber als ihr Wunsch in Erfüllung geht, und Dante überlebt, muss er erklären, wer oder was er wirklich ist. Und die Wahrheit könnte eine viel größere Bedrohung für ihn sein, als Alessas Berührungen ...

»Dieses Buch ist unglaublich! Das Knistern, die Romantik, die Spannung! Ich konnte nicht genug bekommen!« LAUREN BLACKWOOD, NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin über THIS VICIOUS GRACE - DIE AUSERWÄHLTE

Zweiter Band der LAST-FINESTRA-Dilogie

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Seitenzahl: 588

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

1

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Epilog

Danksagungen

Die Autorin

Die Romane von Emily Thiede bei LYX

Impressum

Emily Thiede

This Vicious Grace

DIE VERBANNTEN

Roman

Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold

Zu diesem Buch

Die Finestra Alessa hat ihre Pflicht erfüllt. Divorando, der Angriff der feindlichen Macht, ist überstanden – ihre Heimat Saverio ist fürs Erste in Sicherheit. Doch dieser Sieg hat Spuren hinterlassen. Auch sechs Monate nach den Ereignissen plagen Alessa noch Albträume, die sie die Momente durchleben lassen, in denen sie Dante beinahe verloren hätte und die ihn seine Kräfte gekostet haben. Nun will Alessa nur noch eins: ihre Rolle als Finestra an den nächsten erwählten Menschen weitergeben und dadurch einen Weg finden, mit Dante zusammen sein zu können. Doch ohne seine Kräfte könnte ein Kuss von Alessa ausreichen, um ihn zu töten. Und dann ist da noch die Vision einer alles entscheidenden Schlacht, die selbst Divorando in den Schatten stellen wird. Dante ist sich sicher, dass sie es nur mit Hilfe der verbannten Ghiotte schaffen werden, diesen letzten Kampf zu gewinnen – und dass er nur dort einen Weg finden kann, seine Gabe zurückzugewinnen, die es ihm erlaubt, Alessa nahe zu sein. Doch wie werden sie sich entscheiden, wenn der Preis für den endgültigen Sieg über die Dunkelheit ihre Liebe ist?

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Themen und Inhalte, auf die wir euch hinweisen möchten. Deshalb findet ihr hier eine Contentwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für das Licht meines Lebens, Lyla und Cora.

1

Jeden Tag ließ Dantes Körper ihn im Stich.

Deshalb bestrafte er ihn.

Schweiß brannte in seinen Augen, ließ den rotgesichtigen Hafenarbeiter, der ihm gegenüberstand, ebenso verschwimmen wie die Menge, die sie in die enge Gasse drängte.

Dante lockte seinen Gegner mit einem Fingerschnipsen, und dieser hob zwei fleischige Fäuste.

Der Schwinger, mit dem der andere den Kampf eröffnete, war zögerlich. Schwach. War es nicht wert, ihm auszuweichen.

Früher waren die Schläge härter gewesen.

Eine kurze Gerade, ein paar weitere Beleidigungen, und der Raufbold reagierte entschlossener.

Endlich.

Kurze Gerade. Parade. Einen Treffer landen. Finte. Erneut zuschlagen.

Dante duckte sich unter einem Schlag weg, der seinem Gesicht galt, ließ einen Treffer gegen die Rippen zu. Nahm ein paar weitere Schläge hin, traf selbst mehrmals. Er hätte den Kerl binnen Minuten erledigen können, aber dann wäre es vorbei gewesen. Und das hätte keinen Spaß gemacht.

»Der Kampfrichter ist da!« Der Koch schwang sich die zehn Jahre alte Addie auf die Schultern, damit sie besser sehen konnte, aber sie hatte nicht viel zu tun. Dantes Gegner stieg ein paar Minuten später aus dem Kampf aus, wedelte die freundliche Hänselei der Menge weg, und die Hafenarbeiter machten sich wieder an die Arbeit, rollten Fässer und hoben Kisten mit deutlich besserer Laune dank der kurzen Abwechslung.

»Der Wolf gewinnt wieder!«, krähte Addie.

Dante streckte die Hand aus und tat so, als würde er zusammenzucken, als sie ihm einen Schlag auf die Handfläche verpasste. Es war kein richtiger Sieg, wenn der Gegner sich weigerte, zu kämpfen.

»Das Schiff kommt näher, Signore.«

Er hockte sich hin, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Ich habe dir gesagt, dass du mich Dante nennen sollst.«

»Und mein Onkel hat mir gesagt, dass ich Respekt vor Älteren haben soll.«

»Älteren?« Dante verzog das Gesicht. »Hast du jemanden an Deck sehen können?«

»Vielleicht eine Lady in einem schicken Kleid?« Sie klimperte mit den Wimpern. »Könnte sein, aber zusätzliche Informationen kosten auch zusätzlich.«

»So viel zu deinem Respekt vor Älteren.«

»Ich arbeite nicht für lau.«

»Na schön.« Er machte eine Schau daraus, vier schimmernde Münzen abzuzählen und sie ihr zu geben.

Addie zählte nach – nur, um sicherzugehen –, ehe sie antwortete. »Es war immer noch zu weit weg, um irgendjemanden zu sehen, aber ich habe gespürt, dass da eine Lady war, und sie hat geschmachtet.«

»Du hast es gespürt, ja?«

»Ja. Und Signor Adrick hat gesagt, dass ich einen ganzen Kuchen bekomme, wenn ich es danach den Bäckern erzähle.«

»Einen ganzen Kuchen?« Dante tat schockiert. »Dann solltest du dich besser ranhalten.«

Das Kind huschte davon, um Alessas Eltern über die bevorstehende Ankunft ihrer Tochter zu informieren, und Dante blieb allein in der Kühle des späten Vormittags zurück.

Er zog sein Hemd hoch, um den Schaden zu begutachten: ein paar blaue Flecken. Ein oberflächlicher Kratzer. Nichts, das er nicht verbergen konnte. Ein paar Prellungen mochten vielleicht sogar ein bisschen schneller heilen als üblich. Vielleicht.

Niemand wusste genau, ob seine Kräfte für immer weg waren. Normalerweise kamen Menschen auch nicht von den Toten zurück, und er war zurückgekommen. Vielleicht galt das auch für alles andere an ihm.

Er schüttelte die Arme aus und verzog das Gesicht, als er in der einen Schulter einen stechenden Schmerz spürte. Es war leichter gewesen, die Nachwehen eines guten Trainings zu würdigen, als sie noch nicht so lange angehalten hatten.

Schmerzen waren ihm egal. Mit Schmerzen konnte er umgehen. Schmerzen waren jahrelang seine einzigen Begleiter gewesen, während er gefährliche Aufträge angenommen und brutale Bestrafungen hingenommen hatte, um zu überleben, mit dem Wissen, dass seine Heilkräfte ihn schon über Wasser halten würden. Darum waren es nicht die Schmerzen, die ihm Sorgen bereiteten. Nein, es war die ständige Erinnerung daran, dass er zwar am Leben, aber nicht heil war, seit Alessa ihn von den Toten zurückgebracht hatte. Das nagte an ihm.

Treidelleinen rissen an seiner Brust, zogen in unterschiedliche Richtungen. Sie würde bald zurück sein, und er vermisste sie auf beunruhigend schmerzhafte Weise, aber er konnte bereits sehen, wie die Mauern der Cittadella näherrückten und ihn in ihrem Innern in einem Labyrinth von Erinnerungen gefangen hielten – der Geruch von Adstringenzien und die durch Mark und Bein gehenden Geräusche des Leidens während der Monate nach Divorando, in denen das Gebäude als behelfsmäßiges Hospital gedient hatte … und überall Menschen, die ihn die ganze Zeit beobachteten. Im Hafen konnte er atmen. Manchmal sogar schlafen. Zwar verfolgten ihn nach wie vor die Erinnerungen und albtraumhaften Visionen, die Dea geschickt hatte, aber es war schwerer für sie, ihn einzuholen.

Er zog die Hintertür auf, die mit der teilweise abgeplatzten Farbe vieler Jahrzehnte verkrustet war, und trat ins Innere. Er hatte niemals erwartet, irgendetwas zu besitzen, erst recht kein ganzes Gebäude, aber nach einem Monat Renovierungsarbeiten hatte der Tiefpunkt seinen Namen nicht mehr verdient. Die Kneipe war nicht schick, passte aber besser zu ihm als hohe Mauern und seidene Bettlaken, auch wenn andauernd etwas repariert werden musste.

»Du bist immer noch hier?« Adricks überraschter Gesichtsausdruck wurde nachdenklich, als Dante den Hauptraum durchquerte. Diesem Jungen entging auch nichts.

»Offensichtlich.« Dante wich seinem Blick aus, indem er sich die Ärmel hochkrempelte und so tat, als würde das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen.

»Warum bist du immer noch hier? Du weißt, dass sie direkt zur Cittadella gehen wird, um dich zu finden.«

»Ja, ich weiß.« Er ignorierte Adricks betonten Seufzer und ging nach oben.

Als Alessa nach Altari aufgebrochen war und ihren Bruder damit beauftragt hatte, seinen Babysitter zu spielen, war Dante fest entschlossen gewesen, den Kerl nicht zu mögen. Die Paladino-Zwillinge waren jedoch auf eine fast schon störrische Weise entschlossen, andere Menschen für sich zu gewinnen. Wenn sie erst einmal einen potenziellen Freund ausgemacht hatten, konnte sie nichts aufhalten.

Nicht dass er und Adrick jetzt wirklich Freunde waren, aber das Schweigen war nicht mehr so tröstlich, wie es einmal gewesen war, und Adrick ließ es nie zu lange andauern, füllte die Stille mit Witzen und Geplauder, um die Dinge gar nicht erst aufkommen zu lassen, über die keiner von ihnen nachdenken wollte. Monatelang hatte Alessas Bruder nach Divorando verwundete Soldaten versorgt und viel zu viele von ihnen sterben gesehen; jetzt hielt er die Schultern straffer, und hinter seinen Augen lauerte eine Andeutung von Dunkelheit, die zu der von Dante passte.

Also, nein. Es störte ihn nicht, wenn Adrick hier herumhing. Zumindest meistens nicht.

In seinen Räumen im oberen Stockwerk musterte er das auf seinem Schreibtisch liegende Päckchen und rang innerlich eine Minute mit sich, ehe er es unters Bett schob. Sie würde kein zerschlissenes altes Buch haben wollen.

Während er so dastand, landete ein dicker Wassertropfen auf seinem Kopf. Noch ein verdammtes Leck.

Alessa war an Luxus gewöhnt. Er konnte nicht erwarten, dass sie sich an einem Ort wie diesem aufhalten wollte. Schon gar nicht, wenn das Dach undicht war.

Er riss das Fenster auf und lehnte sich hinaus, um Richtung Hafen zu spähen. Die Spitzen weißer Segel zerschnitten den Himmel über der Dachlinie.

Eine Stunde. Vielleicht mehr. Er hatte Zeit.

Am Gebäude lehnte bereits eine Leiter, und wenige Minuten später begab sich Dante aufs Dach. Der erste Ziegel, den er herauszog, war gesprungen, und unter ihm waren Anzeichen von Schimmel, etwas, das – wie er vermutete – möglicherweise für den größten Teil des Gebäudes galt. Das Ganze war wie eine Metapher seines Lebens, über die er jetzt nicht nachdenken wollte.

Ein Stäubchen landete in seinen Wimpern, und er blinzelte, um den Blick zu klären, aber es war kein Staub.

Dante legte den Kopf in den Nacken und beobachtete, wie fluffige weiße Flocken durch die Luft tanzten. Alessa war zurück, und sie hatte den Winter mitgebracht.

Er hatte Schnee nur ein einziges Mal gesehen, vor vielen, vielen Jahren. Sein Vater hatte ihn aus dem Bett gezerrt, und sie waren durch das Schneegestöber gerannt, hatten Schneeflocken mit der Zunge aufgefangen.

Er streckte eine Hand aus, und eine einsame Flocke trieb auf seine Handfläche; sie schmolz sofort.

Ein Hauch von Wärme, und sie starb.

Alessa umklammerte die Reling des Schiffs, beugte sich vor wie eine geschnitzte Meerjungfrau. »Ist das Schnee?«

»Sieht so aus«, sagte Kaleb gedehnt. »Ich hoffe, du kannst gut schwimmen, denn ich habe nicht vor, unsere Ankunft zu verzögern, um dich zu retten.«

Ihr »kurzer« diplomatischer Abstecher nach Altari hatte letztlich zwei Monate beansprucht, und je länger es gedauert hatte, desto größer waren Alessas Sorgen geworden, was sie wohl bei der Heimkehr vorfinden würde.

Kaleb kniff die Augen gegen den frischen Wind zusammen, der seine kastanienbraunen Haare zerzauste. »Wir hätten Saida mitschleppen sollen. Meine Kräfte eignen sich eindeutig ambesten für den Kampf – herzlichen Glückwunsch für deine hervorragende Wahl des Haupt-Fonte –, aber leider ist Elektrizität nicht so nützlich wie Wind, wenn man Schiffe bewegen will.«

»Könntest du daran arbeiten? Ein von Elektrizität angetriebenes Schiff bauen oder so was?«

»Sehe ich aus wie ein Ingenieur?« Er verdrehte sein sichtbares Auge. Das andere wurde von einem Stück Seidenstoff bedeckt. »Ich habe mich nicht als dein persönlicher Erfinder verpflichtet.«

»Divorando ist vorbei. Welchen Nutzen hast du jetzt noch für mich?«

Kaleb warf ihr einen entrüsteten Blick zu. »Ich weise dich auf deine Fehler hin, damit du demütig bleibst, und bei offiziellen Anlässen bin ich ein atemberaubender Begleiter.«

»Dafür habe ich Dante.« Vor sechs Monaten hätte sie sich geschämt, als ihr bei diesen Worten ein liebeskranker Seufzer entschlüpfte, aber ihr Stolz war ein würdiges Opfer, wenn sie dadurch Kaleb ärgern konnte.

»Dante würde in diesem Ensemble nicht einmal halb so gut aussehen.« Kaleb behauptete, sein farbenfroher Post-Divorando-Stil wäre für einen Retter standesgemäßer, und für diesen Anlass hatten sie sich aufeinander abgestimmt, sodass ihr Kleid die gleiche kräftige purpurne Farbe hatte wie sein Hemd und seine Augenklappe, während ihre rosafarbenen Unterröcke perfekt zum Seidenfutter seines Jacketts passten.

»Dante wäre sogar in einem Jutesack unwiderstehlich«, sagte Alessa.

»Äh. Nicht mein Typ.«

Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

»Nicht, weil er ein Mann ist.« Kaleb strich sich die kastanienbraunen Haare glatt. »Der Teil ist in Ordnung. Ideal, genauer gesagt.«

»Das dachte ich mir. Du hast zumindest nie irgendein Interesse an mir gezeigt.«

»Wer ist jetzt arrogant?«, fragte Kaleb und stieß sie mit dem Ellbogen an. »Glaubst du, alle, die auf Frauen stehen, wollen automatisch unter deine Röcke schlüpfen?«

»Kaum.« Alessa pustete, als ihr eine dunkle Locke vor den Mund geweht wurde und an ihrem Lipgloss hängen blieb. »Fast fünf Jahre lang sind praktisch alle Menschen vor mir geflohen, sobald sie mich zu Gesicht bekommen haben – und zwar ganz unabhängig davon, welches Geschlecht oder welche romantische Ausrichtung sie hatten. Ich unterliege keinesfalls dem Irrglauben, dass ich unwiderstehlich bin.« Der Wind war eifrig dabei, ihre sorgsam arrangierten Locken in ein wirres Durcheinander zu verwandeln.

Immer noch war im Hafen nichts von Dante zu sehen.

»Verrenk dir nicht den Hals. Er wird da sein.« Kaleb zupfte seine Manschetten zurecht. »Die ganze Stadt wartet darauf, uns zu Hause willkommen zu heißen.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Vielleicht ist er noch nicht so weit.« Ihre Hoffnung, dass Kaleb recht hatte und Dante sich vollständig erholt hatte – körperlich, mental, seelisch –, war schneidend genug, um eine blutende Wunde zu verursachen.

»Es ist zwei Monate her. Er ist wahrscheinlich gesund und munter und wieder damit beschäftigt, Menschen niederzustechen.« Kalebs Sarkasmus konnte seine Zweifel nicht ganz verschleiern.

Sie war nicht die Einzige, die mit Schuldgefühlen kämpfte, weil sie Dante verlassen hatte, als er … noch nicht wieder er selbst gewesen war. Während seine körperlichen Verletzungen geheilt waren, hatte er mehr und mehr zu grübeln begonnen, besessen davon, die anderen Ghiotte zu finden. Er wollte sich auf den Kampf gegen eine mysteriöse Bedrohung vorbereiten, von der er so beharrlich überzeugt war, dass die Götter sie schicken würden, bis seine Befürchtungen sich für sie genauso real angefühlt hatten. Aber seit sie seinen gehetzten Blick nicht mehr täglich sehen musste, hatte sich ihr eigener geklärt.

Saverios Muster blieb immer gleich: Einmal in jeder Generation krönte die Göttin Dea eine neue Finestra mit der Gabe, die Kräfte anderer Menschen zu verstärken, und fünf Jahre später kam Divorando, wenn Crollo die Scarabei schickte, gegen die die Finestra und ihr erwählter Fonte – oder in Alessas Fall mehrere – die Insel verteidigen sollten. Nach einer Ruhepause von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten – das hing davon ab, wie schnell die Götter sich langweilten – gingen die Kräfte der Finestra dann auf eine andere Erwählte über, und der Zyklus begann von Neuem. Und wenn dieser Tag kam, würden Alessa und Kaleb das nächste Duo Divino anleiten, genau wie Renata und Tomo es bei ihnen gemacht hatten.

Dantes Paranoia war verständlich, nachdem er dem Tod begegnet war, aber das bedeutete nicht, dass seine Befürchtungen real waren. Er würde darüber hinwegkommen. Sie würde ihm dabei helfen.

»Warum werden wir langsamer?«, jammerte Alessa beinahe.

»Vermutlich, um zu verhindern, dass wir gegen den Kai krachen und katastrophale Verluste an Leben und Eigentum verursachen. Oder um dich zu ärgern. Schwer zu sagen.«

»Was wirst du als Erstes tun?«, fragte Alessa. Jede Ablenkung half, um die Sorge in Schach zu halten.

»Irgendwas essen, bloß keine Meeresfrüchte. Ich möchte nie wieder in meinem Leben einen weiteren Lutefisk riechen. Und du?«, fragte Kaleb. »Warte, antworte nicht darauf. Versprich mir einfach nur, dass du ihn zu irgendeinem abgeschiedenen Ort bringst. Nichts ruiniert meinen Appetit schneller als öffentliche Liebesbekundungen.«

Ihr Lachen klang ein bisschen hysterisch. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihn anfassen kann.«

»Wo ein Wille ist … oder genug aufgestaute … äh … Energie, ist auch ein Weg.«

Ihr Magen flatterte gleichermaßen vor Aufregung und Angst. Der unvorhersehbare Sturm ihrer Kräfte hatte sich seit Divorando abgeschwächt, und sie trug nicht einmal die Hälfte der Zeit noch Handschuhe. Aber ihre Magie hatte in der Vergangenheit zu viel Schmerz und Tod verursacht, als dass ihr zu trauen war.

Eine Umarmung? Eine Umarmung wäre ungefährlich genug. Vermutlich. Auch wenn sie so viel mehr wollte.

»Bitte sag mir, dass du in diesem Augenblick nicht mit offenen Augen träumst«, sagte Kaleb. »Willst du eine Minute allein sein?«

»Ich hoffe, ich lebe lange genug, um zu sehen, wie du von der Liebe zerstört wirst.«

»Dann solltest du viel Gemüse essen«, spottete Kaleb.

Schließlich näherte sich das Schiff dem Kai; Seeleute rannten hin und her, warfen Taue, ließen Gangways herunter und taten, was auch immer Seeleute zu tun hatten, um ein Schiff nach Hause zu bringen.

Ihre Kameraden von Tanp, der fernsten Zufluchtsinsel, standen an Deck ihres eigenen Schiffes und warteten darauf, an Land zu gehen. Ciro Angeles und Diwata Kapule waren beide groß und schlank, hatten glänzende schwarze Haare und braune Haut. Sie hatten sie nach Saverio begleitet, nachdem die beiden Paare sich auf Altari begegnet waren und dort über gemeinsame Peinlichkeiten angefreundet hatten. Sie alle hatten versucht, die Post-Divorando-Tradition des Reisens trotz der Tatsache aufrechtzuerhalten, dass Altari kein Duo hatte.

Altaris Retter waren tragischerweise noch vor Divorando umgekommen, weswegen die Bevölkerung auf Saverio Zuflucht gesucht hatte. Dank Alessas Schutz – und ihrem Team von Fonti – waren die Altarianer zurückgekehrt und konnten sich daran machen, ihr schwer mitgenommenes Zuhause wieder aufzubauen. Statt um Bälle und Bankette war es beim zeremoniellen Besuch der Duos von den anderen beiden Inseln allerdings darum gegangen, Spenden zu verteilen und den Schaden zu begutachten. Jetzt waren sie zurück auf Saverio, und es war an der Zeit zu feiern.

Alessa raffte ihre Röcke, als die Kapitänin ihnen mit einem Winken zu verstehen gab, das Schiff zu verlassen. Die Gangway schwankte bei jedem Schritt, was ihren Magen verrückt spielen ließ, und die Kapitänin stützte sie mit einem festen Griff um den Arm. Alessa zuckte zusammen, zog den Arm jedoch nicht weg. Sie konnte jetzt andere Menschen berühren, ohne dass sie vor Schmerzen aufschrien, solange sie gelassen und konzentriert blieb. Allerdings hatten die Menschen die Furcht vor ihr schneller verloren, als sie selbst es getan hatte.

»Danke –« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als sie dem Blick der Kapitänin begegnete. Noch nie hatte jemand sie so angesehen – kalt, ausdruckslos und hohl –, noch nicht einmal, als die halbe Stadt sie noch für ein Monster gehalten hatte.

Die Ränder ihres Verstandes wurden von einem seltsamen Beinahe-Geflüster gestreift, als der Blick der Kapitänin schärfer wurde. Verschlingende Dunkelheit. Eine endlose Leere. Eine unbändige Gier zu zerstören –

Die Kapitänin blinzelte, und ihr Blick klärte sich. »Vorsicht.«

Leicht benommen entzog Alessa ihr den Arm.

»Hast du wieder Kopfschmerzen?«, fragte Kaleb, als sie zu ihm auf den Kai trat.

Alessa wischte sich den Schweiß ab, der ihre Stirn benetzte. »Nur Seebeine.«

Sie hatte auf der Reise zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Zu viele Nächte, in denen sie sich mit der Vergangenheit befasst hatte, mit den Gesichtern ihrer drei Fonti, denen sie den letzten Lebensfunken gestohlen hatte. Ihretwegen hatte Emer, Ilsi und Hugo ein Stückchen ihrer Seele gefehlt, als sie in ihre Gräber gegangen waren. Kopfschmerzen waren ein kleiner Preis für das, was sie getan hatte. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass die Götter sie nicht mit Schlimmerem bestraft hatten.

»Wollen wir?«, fragte Kaleb und bot ihr seinen Arm an.

Alessa reckte die Schultern und schob die gespenstischen Augenblicke mit der Kapitänin beiseite. Jubel brach aus, als sie der Menge zuwinkten, und sie badete in der Bewunderung. Dies war richtig. Dies war das, was ihr versprochen worden war. Siegreich zu sein. Geliebt und gefeiert zu werden. Ihre Herrschaft war zu Ende, ihre Zeit auf der Finestraspitze vorbei.

Keine Dämonen mehr. Keine Kriege mehr.

Es war an der Zeit, mit dem Rest ihres Lebens zu beginnen.

Bis an.

Ihr seliges.

Ende.

2

Nachdem Alessa ein paar Minuten den Hals gereckt hatte, war sie gezwungen zu akzeptieren, dass Dante nicht in der Menge auf sie wartete. Oder sich irgendwo dahinter herumtrieb, was eher seinem Stil entsprochen hätte.

Diwata klammerte sich an Ciros Arm, während sie den Kai entlangschritten; der ihnen bereitete Empfang schien sie zu überwältigen.

»Was für eine schöne Insel«, sagte Ciro. »Das muss der Gipfel sein, auf dem du gekämpft hast – mit mehreren Partnern! Faszinierend. Werden wir morgen bei der Gala alle treffen? Selbst – Entschuldigung, ich habe vergessen, wie ihr sie hier nennt.«

»Ghiotte.« Alessas Lächeln bekam einen harten Zug.

Diwata wurde munterer. »Ist es immer noch hier?«

»Er«, sagte Kaleb entschieden.

Das Geschrei der die Straße säumenden Menge machte es schwierig, sich während ihres Gangs durch die Stadt zu unterhalten, aber Alessa wies auf bedeutende Sehenswürdigkeiten hin und ließ zu Ciros Begeisterung immer wieder etwas von Saverios Geschichte einfließen.

Ciro war leutselig und charmant, wenn auch ein bisschen spießig, und er schien ein Mensch zu sein, der sich aufrichtig für das interessierte, was andere zu sagen hatten. Als jemand, die anfällig für nervöses Geplapper war, schätzte Alessa das. Kaleb wiederum kam gut mit der schüchternen Diwata zurecht. Da er sich nicht bemühte, belanglos mit ihr zu plaudern, war auch sie nicht gezwungen, es zu versuchen.

Nachdem Alessa sie in Saverios bestem Gasthaus abgesetzt hatte, legte sie den Rest des Weges zur Cittadella in einem forscheren Tempo zurück. Aber auch dort an den Toren wartete Dante nicht auf sie.

Dafür aber Verpflichtungen in Form von Renata und Tomo. Die vorherige Finestra und ihr Fonte eilten sogleich herbei.

»Die siegreichen Helden!«, rief Tomo, der vor Gesundheit und Sonnenbräune nur so strahlte.

»Endlich!«, sagte Renata. »Wir haben schon befürchtet, dass ihr eure eigene Feier verpassen könntet und wir alle unseren Kummer im Prosecco-Brunnen ertränken müssten.«

»Ist Dante hier?«, fragte Alessa.

Tomo runzelte die Stirn. »Ich habe ihn nicht gesehen, seit wir angekommen sind.«

Alessas Füße zuckten in dem Bestreben, sich auf die Suche nach ihm zu begeben, aber der Lieferant für das Fest hatte Fragen, und anscheinend war es überaus wichtig, dass das Duo Divino die richtigen Servietten auswählte.

Alessa hätte beinahe die Wache umarmt, die sie unterbrach, um sie zu informieren, dass eine leichte Mahlzeit in der Bibliothek bereitstand und »der junge Herr« dort wartete.

»Oh, geht schon«, sagte Renata mit einem affektierten Seufzer. »Wir kümmern uns um den Rest.«

Alessa war nicht stolz darauf, wie schnell sie verschwand, aber es war auch nicht unter ihrer Würde, im Laufschritt zu gehen.

»Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich Kerzenständer aussuche, wenn es oben etwas zu essen gibt«, murmelte Kaleb, der ihr dicht auf den Fersen war. »Geh nicht so schnell. Verzweiflung lässt einen nicht gut aussehen.«

Sie kämpften beide darum, nach vorne zu gelangen, aber da Kaleb keine Röcke trug, die ihn langsamer machten, erreichte er den vierten Stock als Erster. Er sprang zur Tür der Bibliothek und hielt sie geschlossen. »Ich will dir nur helfen. Lass dir einen Moment Zeit, sonst verschreckst du den armen Kerl noch.«

Alessa starrte ihn finster an. »Mach die Tür auf.«

»Spring ihn bloß nicht an, um Deas willen.« Kaleb stieß die Tür auf, und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von hochmütig in verärgert. »Was machst du hier?«

»Du bist nicht Dante«, brachte Alessa hervor.

»Es ist auch schön, dich zu sehen, Schwester.« Adricks schlaksige Gestalt kämpfte sich aus einem Sessel.

»Tut mir leid. Es tut gut, dich zu sehen«, sagte Alessa. »Wenn es auch unerwartet ist.«

Kaleb schlüpfte an ihr vorbei, um die Wurstplatte inspizieren zu können. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte er Adrick hartnäckig ignoriert, wann immer ihr Bruder der Cittadella einen Besuch abgestattet hatte. Immer wieder hatte er die alte Leier angestimmt, dass Adrick Dante verraten und versucht hatte, Alessa zu vergiften. Sie vermutete jedoch, dass auch die lange Nacht, die Kaleb in einem kalten unterirdischen Grab verbracht hatte, nachdem er Dantes Platz eingenommen hatte, etwas damit zu tun hatte.

Adrick schüttelte sich die blonden Locken aus dem Gesicht. »Mama und Papa machen Nachtisch für deinen Empfang und stecken bis zum Hals in Zitronenschalen, aber sie schicken dir ihre Liebe.«

»Und Dante? Wo ist er? Wie geht es ihm?«

Adrick deutete auf die auf dem Tisch ausgebreiteten Speisen. »Prosciutto?«

»Adrick«, warnte Alessa ihn.

»Entspann dich. Er … es geht ihm gut. Körperlich.«

Alessa sah ihren Bruder mit zusammengekniffenen Augen an. »Aber ansonsten nicht?«

»Leg mir keine Worte in den Mund. Er hat eine Menge durchgemacht. Geh einfach vorsichtig mit ihm um, ja?«

»Das tue ich. Wenn ich ihn treffe. Was ich nicht kann, wenn ich nicht weiß, wo er ist.«

»Wo ist Dante? Siehst du, das ist eine Frage, die weitere Fragen aufwirft.«

»Am Ende muss ich dich doch noch töten.«

»Lass mich zumindest essen, bevor du einen Brudermord begehst. Ich sterbe vor Hunger.«

Kaleb knackte mit den Knöcheln. »Willst du, dass ich ihn schlage? Ich kann ihn schlagen.«

»Nein«, fauchte Alessa. »Adrick, wo ist Dante?«

Als Dante sich auf die Fersen hockte, um sein Werk zu betrachten, bemerkte er erschreckt, dass die Sonne tief über der Stadt hing. Ihm war die Zeit davongelaufen.

Er beeilte sich, seine Werkzeuge zusammenzupacken, aber eine Bewegung unten auf der Straße erregte seine Aufmerksamkeit – eine geschmeidige Gestalt kam auf ihn zugerannt. Sein Herz machte einen merkwürdigen kleinen Hüpfer.

Er hielt sich am Rand des Dachs fest und schwang sich nach unten, nutzte das Fenstersims und das Schild, um seinen Abstieg zu verlangsamen, und landete vor Alessa.

»Bei Dea!« Sie kam schlitternd zum Stehen und schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Kannst du vielleicht versuchen, dich nicht ausgerechnet in dem Moment umzubringen, wenn ich zurückkomme?«

Er lächelte leicht. »Ich versuche es immer, aber der Tod scheint entschlossen, mich zu finden.«

Alessa lachte, immer noch atemlos – ob vom Schock, dem Laufen oder aus Nervosität, konnte er nicht sagen. Ihre Nase war von der Kälte gerötet, und auf dem Nasenrücken tanzten Sommersprossen. Winzig und kaum wahrnehmbar, aber neu. Alles andere an ihrem Gesicht war genauso, wie er es in Erinnerung hatte, aber irgendwie vollkommener.

Ihr Blick zuckte von ihm zu dem Schild und zurück zu ihm, dann zur neu gestrichenen Außenverkleidung, flüchtig wie ein Vogel auf der Suche nach einer sicheren Stange. Dann war sie also doch nervös. Er breitete die Arme aus, und sie machte einen halben Schritt vorwärts … zögerte. Blieb stehen.

»Ernsthaft?« Er sagte es leichthin, nicht ohne Mühe. Sie biss sich auf die Lippe, und ihre Zähne blitzten dabei kurz weiß auf. Ihre Wangen röteten sich noch ein bisschen mehr.

Dante war so auf sie konzentriert, dass er nicht sah, wie Kaleb heranraste, bis er irgendetwas zwischen einem Schlag und einer Umarmung abbekam.

»Tut mir leid!« Kaleb klopfte ihm lachend auf den Rücken. »Ich arbeite immer noch an der Tiefenwahrnehmung. Fühlst dich gut an, Mann. Und du bist Unternehmer? Habe ich nicht mit gerechnet.«

»Ich hab versucht, ihn zu bremsen.« Adrick machte ein entschuldigendes Gesicht und schob Kaleb zur Tür. »Lass den beiden eine Minute, ja?« Kaleb fasste den Türgriff mit nur zwei Fingern an, und Adrick versetzte ihm einen Stoß in den Rücken. »Bei der Liebe von Deas linker Titte, der Dreck von gewöhnlichen Menschen wird dich nicht umbringen.«

Ihre Stimmen verklangen, als die Tür hinter ihnen zuschlug.

»Also …« Alessa wrang die Hände – ihre bloßen Hände, wie er mit einiger Überraschung feststellte. »Wie – wie geht es dir?«

Eine gewichtige Frage. »Gut. Besser.«

»Irgendwelche Anzeichen von …« Sie winkte in Richtung seines Körpers, als wenn das irgendeinen Sinn ergeben würde. Was es auf eine bestimmte Weise auch tat.

»Nein.« Sein Lächeln verblasste. »Ich bin immer noch einfach nur ein normaler Mensch.«

»Oh.« Sie kaute an ihrer Lippe. »Aber du hast all die Übungen gemacht, zu denen die Ärzte geraten haben?«

»Ja.«

»Nimmst du immer noch Adricks Tinkturen?«, fragte sie.

Dantes Augen wurden glasig. »Nein. Weil es mir besser geht.«

»Außer …«

Dante stieß die Luft aus. »Außer in Bezug auf diese Sache.«

»Nun, das hier läuft doch großartig«, sagte Alessa mit einem nervösen Lächeln. »Überhaupt nicht unangenehm.«

Er lachte schnaubend. »Dann hör auf, einen Wirbel zu machen, ja? Ich habe brav alles getan, was ich tun sollte. Habe mich auch jeden Tag gekämmt und mir die Zähne geputzt. Willst du überprüfen, ob ich mir die Hose ordentlich zugeknöpft habe?«

Alessa reckte das Kinn. »Damen untersuchen nicht mitten auf der Straße die Hose eines Mannes.«

»Das ist eine verdammte Schande.« Er streckte die Arme aus. »Sieh her, mir geht’s gut. Ich bin in Bestform.«

»Hm, ja, das kann ich sehen.« Sie strich ihm mit einer Hand sanft über die Brust und machte dabei ein anerkennendes Geräusch, das etwas tief in ihm aufhorchen ließ. »Ich kann nicht sagen, ob du tatsächlich gewachsen bist oder ob ich einfach nur vergessen habe, wie groß du bist.«

»Ich habe Kisten geschleppt und bin jeden Tag gelaufen.« Verwirrt sah er zu, wie sie seinen Bizeps drückte. »Hast du etwas gefunden, das dir gefällt?«

»Hmm?«

»Sieht so aus, als würdest du ein Stück Obst aussuchen.«

Sie drückte seinen anderen Bizeps. »Oh, ich könnte mich niemals für einen entscheiden. Ich liebe sie beide.«

»Wenn du mich auf der Straße abtasten kannst, kannst du mich auch umarmen.«

Alessa kreischte, als er sie von den Beinen riss, aber sehr schnell schlang sie ihre Arme fest um seinen Hals. Bei dem Geruch von Salz und Kälte und ihr löste sich ein Knoten in seiner Brust.

Die Pelzkrause ihres Mantels kitzelte ihn im Gesicht, als sie sich nach hinten neigte, um ihn anzusehen. »Ich kann nicht glauben, dass ich überall nach dir gesucht habe, und du auf einem Dach warst. Du hättest runterfallen können.«

»Bin ich aber nicht«, sagte er. Der honigfarbene Ring um ihre Iris zog ihn an wie das Licht eine Motte. Ihm war noch nicht einmal bewusst, dass er sich vorbeugte, um sie zu küssen, bis sie den Kopf leicht zurückzog.

Richtig. Er ließ sie auf den Boden sinken, schluckte die Hitze in seiner Kehle hinunter.

»Willst du’s dir ansehen?« Er deutete mit einem Nicken auf das Gebäude, schob dabei die Hände in die Taschen, damit er sie nicht wieder nach ihr ausstrecken würde.

Schön, sie war also in Panik ausgebrochen.

Dante war weder der verwundete Krieger, den sie zurückgelassen hatte, noch der beinahe unbesiegbare Leibwächter. Er hatte sich schon wieder verändert, und sie brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen.

»Ich kann nicht glauben, dass du eine Bar gekauft hast«, sagte sie, als sie ins Innere traten.

Dante zuckte mit den Schultern. »Der Consiglio hat mich mit Geld zugeschüttet. Ich musste irgendwas damit tun.«

»Teure Kleidung, Geschenke für mich?« Gewiss hätte ihm etwas Einfacheres einfallen können, wofür er die Bezüge der Regierung hätte verwenden können.

Er tippte sich an die Stirn. »Richtig. Nächstes Mal werde ich daran denken.«

Es war noch zu früh fürs Abendessen, aber der Raum summte von geräuschvollen Gesprächen und offenem Lachen. Neue Holzdielen bedeckten, was früher einmal ein von Blutflecken übersäter dreckiger Boden gewesen war, und der Kampfkäfig war weg, ersetzt durch robuste Tische und nicht zusammenpassende Stühle.

»Wir haben Tische bekommen«, sagte er schroff.

Sie zog eine Braue hoch. »Schick.« Er war nervös, wie sie erfreut feststellte. Es war ihm wichtig, was sie von seinem Projekt hielt.

»Jetzt wird hier nichts mehr mit Wasser verdünnt.« Dante tätschelte die Theke. Die Oberfläche war immer noch mit Brandflecken übersät, die niemals mehr ganz verschwinden würden, aber sie glänzte vor Ölpolitur, und auf den Regalen dahinter standen Flaschen in allen möglichen Formen und Farben. »Und ich habe auch jemanden angeheuert, der für die Sicherheit sorgt.« Dante deutete mit einem Nicken auf einen stämmigen Mann, der den Innenraum bewachte. »Glaube es oder nicht, aber hier drin war sogar eine Küche versteckt. Hat eine Woche gedauert, sie von dem ganzen Müll zu befreien.«

»Es ist wunderbar.« Und das war es. Dante war nicht dahingesiecht oder von Paranoia erfasst. Das war gut. Sehr gut.

»Komm mit. Ich zeige dir das obere Stockwerk.«

Am Ende des holzvertäfelten Korridors hinter der Küche und dem Vorratsraum kam eine junge Frau die Treppe heruntergehüpft. »He, Chef.«

»Ich bin dein Vermieter, nicht dein Chef«, sagte Dante.

»Fast das Gleiche.« Sie reichte ihm eine kleine Geldbörse. »Hat vorhin da draußen ein bisschen eng ausgesehen. Wenn deine Schulter dir noch immer Ärger macht – meine Tür ist stets offen. Eine Stunde mit mir und du wirst dich wie neu fühlen.«

Alessa hustete.

Dante stopfte die Geldbörse in seine Tasche. »Katy, das ist die Fines-«

»Alessa«, unterbrach sie ihn. Zu spät. Das Mädchen machte bereits hastig einen Knicks. »Und du bist?«

»Katya, Saverios Beste in Massagen und Körperarbeit.«

Alessa zog die Brauen hoch. »Das Mädchen mit den magischen Händen?«

»Ihr habt von mir gehört?« Sie lächelte, wodurch sich Grübchen auf ihren Wangen bildeten. »Es tut mir leid, dass ich Euch nicht erkannt habe. Ich weiß, dass Dante für Euch gearbeitet hat, aber ich habe nicht erwartet, Euch jemals hier zu treffen.«

Alessas Lächeln schwankte. »Ich musste mir dieses neue Projekt ansehen.«

»Es ist so schön.« Sie warf Dante einen Blick zu. »Ich muss mich beeilen, aber es war mir eine Ehre, Euch zu treffen.«

Oben schloss Dante eine der beiden Türen auf und bedeutete Alessa, vor ihm einzutreten. »Es gibt nicht viel zu sehen.«

Es stimmte, der Raum war klein und sparsam mit ramponierten Möbelstücken ausgestattet, aber es war behaglich, roch schwach nach Whiskey und Leder. Die Regale waren voller Bücher, und neben dem mit rissigem Leder bezogenen Lehnstuhl waren noch mehr aufgestapelt. Auf dem schmalen Bett lagen eine sauber zusammengefaltete ausgeblichene Decke und ein Kopfkissen, dessen Bezug leicht verknittert war.

»Du bist aus der Cittadella ausgezogen?«, fragte sie.

»Ich bin nicht ausgezogen. Es ist nur einfacher, hierzubleiben, als jede Nacht zurückzugehen.« Dante legte die Geldbörse auf den Schreibtisch. »Davon abgesehen warst du nicht da.«

Sie widerstand der Versuchung zu fragen, ob es eine Rolle gespielt hätte, wenn sie da gewesen wäre. »Ist in Katyas Räumen nur ihre Praxis?«

Angesichts des Themenwechsels runzelte Dante die Stirn. »Sie lebt auch dort. Sie macht gute Geschäfte, und ich erhalte einen Anteil.«

Alessa sah sich im Raum um. »Nimmst du ihre Dienste oft in Anspruch?«

Dante lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Schreibtisch. »Was glaubst du – was genau Katyas Beruf ist?«

Alessa reckte das Kinn. »Massage und … Körperarbeit?«

»Du glaubst doch nicht …« Er stieß ein bellendes Lachen aus. »Doch, das hast du! Du hast tatsächlich geglaubt, ich hätte eine Geschäftsbeziehung mit einer Kurtisane, hätte mit ihr geschlafen und würde das so ganz nebenbei dir gegenüber erwähnen!«

Tja, jetzt kam Alessa sich lächerlich vor. »Sie wirkte ziemlich überrascht, uns zusammen zu sehen.«

»Weil ich nicht über mein Privatleben spreche.« Er lachte immer noch. »Du bist kaum eine Stunde zurück und hast mich bereits auf der Straße befummelt und mir vorgeworfen, ein Bordell zu führen. Mach mal langsam.«

Sie schnaubte. »In der gleichen Zeit habe ich dich von einem Dach springen sehen und herausgefunden, dass du eine Kneipe gekauft hast. Mach du mal langsam.«

Immer noch lachend schlüpfte er aus seinem mit Moos verdreckten Hemd und warf es in einen Korb.

Alessa keuchte auf, als sie das Mosaik aus Prellungen und Schittwunden sah, das seinen schönen Oberkörper verunstaltete. »Was ist passiert?«

Dante erstarrte. »Kisten fallen um, Männer boxen gerne. Keine große Sache.«

Sie atmete durch die Nase aus. Tiefe, beruhigende Atemzüge. Na schön, dann hatte er seinen Körper also wie einen Sandsack behandelt. Sie würde dafür sorgen, dass er sich weniger zerstörerischen Hobbys zuwandte.

Sie schlenderte zum Schreibtisch, um auf beiläufige Weise neugierig zu sein, aber das oberste Buch auf dem Stapel ruinierte diesen Plan. »Eine Abhandlung über das Jagen von Ghiotte? Was ist das?«

Dante drehte sich um, knöpfte dabei sein neues sauberes Hemd zu. »Scheußlich, was? Allerdings sind da drin Hinweise verborgen, das weiß ich. Vor allem heißt es, man soll Ghiotte voneinander trennen, denn in Gruppen kämpfen sie besser und heilen schneller. Wenn ich die anderen finden könnte, kehren meine Kräfte vielleicht zurück.«

Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Du hast immer noch Albträume?«

Er spannte den Kiefer an. »Das sind keine Albträume. Das sind Visionen. Warnungen.«

»Tut mir leid. Natürlich.« Noch ein Thema, das sie am besten vermieden. Ihr Blick landete auf einem Farbklecks unter seinem Bett. Ein in Papier gewickeltes Päckchen, mit einem Band zugebunden. »Ist das für mich?«

Dante sah kurz hin. »Äh … ja. Ist nichts Besonderes. Hab’s bei einem Pfandleiher gefunden.«

Sie wickelte es aus und brachte ein schäbiges kleines Buch zum Vorschein, das von zahllosen Händen abgegriffen war. »Ein Lehrbuch in der alten Sprache? Das ist so aufmerksam von dir.«

Dante zuckte mit den Schultern. »Du wolltest sie lernen.«

»Ich liebe es.« Sie hätte ihrer Freude gerne mehr Ausdruck verliehen, aber er wand sich immer, wenn sie ihre Dankbarkeit zeigen wollte. In den kommenden Tagen würde sie viele weitere üppige Geschenke bekommen, aber keins davon würde so kostbar sein wie die wachsende Sammlung alter Bücher von Dante. »Ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen, dass ich die Feier meines eigenen Namenstags verpassen könnte«, sagte sie, während sie in dem Lehrbuch blätterte.

»Wann ist die noch mal?« Dante sah sie augenzwinkernd an.

»Morgen. Und du musst da sein. Unsere Kleidung ist aufeinander abgestimmt.«

»Soll mich das etwa überzeugen?«

»Es ist mein großer Tag!«

»Du hast eine Menge großer Tage.« Er zählte sie an den Fingern ab. »Hochzeiten, Schlachten, Zeremonien –«

Sie hüpfte hoch, um sich auf den Schreibtisch zu setzen, und landete mit einem lauten Hmm auf der Tischplatte, woraufhin er lachen musste. »Bitte sag mir, dass du den Schneider hast Maß nehmen lassen, bevor du aus der Cittadella geflohen bist.«

»Hast du Angst, dass ich splitterfasernackt auftauchen könnte?«

»Das wäre sogar noch besser«, sagte sie mit einem frechen Lächeln. »Angezogen oder nicht – du wirst morgen mein Begleiter sein, oder?«

»Si, luce mia. Ich werde dich zum Ball begleiten.« Das spöttische Funkeln in seinen Augen wurde dunkler, als er auf sie zukam, und seine Stimme wurde sanft und leise. »Und jetzt werde ich dich küssen.«

Sie schluckte, hypnotisiert von seinem wölfischen Lächeln, als er sie dicht an sich zog und sie seinen festen Körper spürte. Der Geruch nach Seife und Whiskey und etwas, das unbestimmbar, aber typisch Dante war, überflutete ihre Sinne, und in dem Augenblick, in dem seine Lippen ihre berührten, verflog jeder Tag, den sie getrennt voneinander verbracht hatten.

Oh, ja. Dies war es, was sie wollte. Dies war es, was sie brauchte. Sie fasste ihm in die Haare, um ihn näher zu sich heranzuziehen. Sie hatte viele Stunden mit Tagträumereien verbracht, aber nicht eine war der Wirklichkeit nahegekommen.

Dante spannte sich an, sein Körper wurde starr. Voller Panik schob sie ihn von sich weg, und er stolperte rückwärts.

»Es tut mir leid!«, rief sie.

Er sog zischend die Luft ein. »Es geht mir gut.« Was offensichtlich nicht stimmte.

»Ich bin so viel besser darin geworden, meine Kräfte zu kontrollieren, das schwöre ich, aber wenn ich müde bin, ist es immer schwieriger.« Sie wrang die Hände. »Es tut mir leid.«

»Du musst dich nicht bei mir entschuldigen.« Dante sah sie nicht wirklich an, als er den letzten Knopf seines Hemdes schloss. »Ich muss nach unten.«

Alessa stellte sich auf die Zehenspitzen. »Ich hatte gehofft, dass du mich zurück zur Cittadella begleiten würdest.«

»Das tue ich auch.« Er krempelte einen Ärmel hoch. »Sobald ich hier weggehen kann, ohne dass alles auseinanderbricht. Wenn du willst, kannst du dich hier oben ausruhen, oder du kommst mit runter, und ich mache dir einen Drink.«

Sie summte förmlich vor Energie und hatte kein Interesse an einem Nickerchen, aber sie blieb trotzdem noch ein bisschen in seinem Zimmer, um sich umzusehen. Dann folgte sie ihm nach unten und nahm auf dem Barhocker neben Kaleb Platz. Als sie das letzte Mal hier gesessen hatte, war Dante ein Fremder gewesen, der gerade einen Kampf hinter sich gebracht hatte. Er hatte sie eingeschüchtert, und sie hatte ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen, um ihn um Hilfe zu bitten.

Dante schaute nicht auf, aber seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Vorsicht. Es könnte dich jemand erkennen.«

Er erinnerte sich also. Sie sah durch ihre Wimpern zu ihm auf. »Ich mache mir keine Sorgen. Ich habe einen sehr guten Leibwächter.«

»Der kann nicht so furchtbar gut sein, wenn er dich ohne Schutz hierhergehen lässt.«

»Entschuldigung«, sagte Kaleb. »Ich bin ein Fonte. Außerdem versucht niemand mehr, sie zu töten. Noch nicht einmal ihre Familie.«

Adrick schlüpfte mit einem Stapel Trinkgläser an Dante vorbei. »Sie hat dich am Hals. Das ist Strafe genug.«

Kaleb ignorierte die Stichelei. »Füll mir ein Glas mit dem Teuersten, das du hast.«

»Du weißt, dass ich dich nichts bezahlen lassen würde«, sagte Dante, während er Flaschen vom obersten Regalbrett nahm.

»Dann will ich einen Doppelten.« Kaleb breitete eine Serviette wie ein Tischtuch aus. »Endlich zurück in Saverio, und wir verbringen unseren ersten Abend am Hafen. Wie tief die Mächtigen doch gesunken sind.«

Adrick knallte ein Wasserglas auf den Tresen. Wasser spritzte Kaleb auf den Schoß.

Alessa warf ihm eine Serviette zu. »Als ich das letzte Mal hier gesessen habe, hat mir ein sehr mürrischer Fremder gesagt, dass es ihm egal ist, ob ich lebe oder sterbe.«

»Ich war schon ein bisschen ein Arsch, was?« Dante stützte sich mit den Ellbogen auf die Bar. »Und doch bist du hier. Was willst du trinken?«

»Überrasche mich.«

Dante lächelte, als hätte er auf diese Antwort gehofft. Er mischte Limoncello, Prosecco und einen Spritzer Sirup aus einer Flasche, in der eine getrocknete Peperoni schwamm, goss das Ganze in ein mit einer Limonenscheibe dekoriertes Glas mit einem Rand aus einem Zucker-Meersalz-Gemisch und schob es ihr dann über den Tresen.

Sie nahm einen Schluck und hielt inne, um die sprudelnde Kombination aus süß und scharf zu genießen, der erst eine Andeutung von Salz folgte und dann noch ein nachklingender Hauch von Gewürz. Sie zog verzückt die Brauen hoch. »Wie heißt das?«

»Rate mal.«

»Bitte sag mir, dass es Luce Mia genannt wird.«

Er zwinkerte ihr zu, aber sie hatte kaum Zeit, in dem warmen, benommen machenden Gefühl zu schwelgen, als sie beinahe von ihrem Hocker gestoßen worden wäre.

»He!«, rief Dante. »Pass auf, wo du hingehst.«

»Nichts passiert«, sagte Alessa. »Mir geht’s gut.« Sie drehte sich um, um den Mann anzusehen, der gegen sie geprallt war. Seine blutunterlaufenen Augen waren zu nah, und sie konnte seine Wut spüren, als wäre es ihre eigene. Als würde ein Miasma aus greifbarem Hass aus ihm heraus und in sie hinein fließen.

Der verschwommene Blick des Mannes wurde schärfer – und irgendwie grausam. »Sie war mir im Weg.«

Dante setzte mit einem Sprung über die Bar hinweg. Er packte die Faust des Mannes, als dieser zu einem Schlag ausholte, wirbelte ihn herum, riss seinen Arm hinter dem Rücken nach oben. Der Kumpel des Mannes warf einen Tisch um, verstreute dabei Spielkarten auf dem Fußboden und schlug eine Bierflasche gegen den Rand. Den zackigen Flaschenhals wie ein Messer schwingend, kam er angerannt, um sich ins Getümmel zu stürzen.

Dante stieß den ersten Angreifer beiseite, riss dem anderen Mann die behelfsmäßige Waffe aus der Hand und streckte sie ihm entgegen, als der Rausschmeißer sie endlich erreichte.

»Und die Unterhaltung gibt’s gratis!«, sagte Adrick.

Alessa schluckte den sauren Geschmack von Furcht hinunter, als Dante und sein Helfer die Raufbolde vor die Tür setzten. Ihre Gabe diente dazu, die Kräfte der Fontes zu absorbieren, wenn sie sie berührt. Dabei spürte sie manchmal auch etwas von deren Emotionen, als wären es ihre eigenen. Das erforderte jedoch Hautkontakt, und den Mann gerade eben hatte sie nicht berührt. Unmöglich. Sie schüttelte sich. Sie musste müder sein, als es ihr bewusst war.

Alessa bückte sich, um eine klebrige Spielkarte von ihrem Fuß zu pflücken, und schnipste sie auf den Tresen. Ein Joker. Wie passend.

Dante kam zurück; er wischte sich die Hände ab. »Bist du in Ordnung?«

»Mir geht’s gut. Aber wieso heuerst du jemanden für die Sicherheit an, wenn du dich sowieso einmischen willst?«

Dante machte ein finsteres Gesicht. »Ich würde meine Angestellten niemals bitten, irgendetwas zu tun, was ich nicht auch selbst tun würde.«

»Der eine hätte dir fast die Kehle aufgeschlitzt!«

»Ich kann auf mich aufpassen«, knurrte Dante und zog sein völlig von Bier durchnässtes Hemd aus.

»Aber du musst es nicht tun. Die meisten Menschen bekommen im Leben nur eine Chance. Du hast bereits zwei erhalten. Fordere das Schicksal nicht heraus.«

3

Sie legte eine Karte auf die zerkratzte Tischplatte und stieß einen müden Seufzer aus. »Nach all dieser Zeit bestehst du immer noch darauf, dass die Menschen von Natur aus selbstsüchtig sind? Dein Zynismus ist beständiger als die Himmel. Du hast das Opfer gesehen-«

»Wenn man stirbt, um jemanden zu retten, den man liebt, ist das kein Opfer«, spöttelte ihr Kontrahent. »Es ist Selbstschutz.«

»Unsinn. Es ist ein Akt der Liebe.« Sie mischte ihre Karten. Mit jedem zur Verfügung gestellten Beweis beharrte er mehr auf seinem Standpunkt. Es war zum Haareraufen.

»Liebe und Selbstlosigkeit sind nicht das Gleiche. Dein Beweis hat mich nicht veranlasst, meine Meinung zu ändern.«

»Dann also eine weitere Wette.« Sie legte zwei Herzkarten auf den Tisch. »Die gleichen Spieler.«

Er kicherte. »Und wenn du verlierst?«

»Das werde ich nicht«, sagte sie würdevoll. »Du hast deine Bedingungen; ich meine.«

Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Bist du dir sicher? Ganz egal, wie sehr du auch bettelst – aus der Sache wirst du nicht rauskommen, meine Teure.«

»Allerdings.« Sie fächerte ihre Karten auf. »Es ist an der Zeit, das hier ein für alle Mal zu klären.«

Er grinste, und seine Karten gingen in Flammen auf.

Die plötzliche Kälte des vorangegangenen Tages ließ nach, als Dante bei einer Felszunge am Strand stehen blieb, um zu Atem zu kommen. Die Hände in die Hüften gestemmt genoss er den Hauch von Salzwasser und Limone, das Prickeln der Gischt des Ozeans auf seiner nackten Brust.

Neben Alessa zu liegen, war eine besonders exquisite Folter gewesen, jeder leise Seufzer und jedes Rascheln der Decken ein verweigertes Versprechen. Er hatte stundenlang wach gelegen, hatte sie im Schlaf betrachtet, voller Bedauern über jede vergangene Nacht, in der er darauf bestanden hatte, Distanz zu wahren. Und als er schließlich tatsächlich eingeschlafen war, hatte ihn eine andere verdammte Vision – kein Albtraum – gleich wieder aus dem Schlaf gerissen.

Eine Stunde zu laufen reichte nicht aus, um dem Schreckgespenst aus alles erstickender Asche, Straßen mit Strömen aus Blut, Horden lüstern blickender Augen und dem Geruch von verbranntem Fleisch zu entfliehen, aber zumindest hatte er die Stadt hinter sich lassen können.

Keine Mauern, keine Erwartungen, keine neugierigen Blicke von Fremden. Nichts als die Luft in seiner Lunge, der steinige Strand unter seinen Füßen und das Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte.

Irgendwo dort draußen wartete sein Volk darauf, gefunden zu werden, und dort lag auch seine Hoffnung, seine Kräfte zurückzubekommen und Crollos Drohung abzuwehren.

Sein Magen rührte sich unangenehm. Waren die Ghiotte immer noch sein Volk – nun, da er seine Kräfte verloren hatte?

Es schmerzte, wie Alessa dem Thema auswich, als würde man es erst dadurch wahrmachen, dass man es laut aussprach. Während er sich erholt hatte, war sie monatelang an seiner Seite geblieben und hatte seine Visionen oder die Mission, die Dea ihm aufgetragen hatte, niemals infrage gestellt – und jetzt, da er endlich gesund und bereit war, die Ghiotte zu suchen … jetzt hatte sie Zweifel? Ob sie es glaubte oder nicht, Crollo kam, und Dante würde da sein, um ihn zu begrüßen.

Aber zuerst musste er noch etwas erledigen.

Die Feierlichkeiten zu Alessas Namenstag waren eine Formalität – eine ziemlich archaische sogar. Allerdings kennzeichneten sie das Ende ihrer Knechtschaft, denn sie würde endlich ihren Namen wieder zurückbekommen oder sich einen neuen aussuchen können und nicht mehr länger gezwungen sein, als ein Idol, das nur mit seinem Titel angesprochen werden durfte, abseits vom Rest der Gesellschaft zu leben.

Das war wichtig für sie.

Also würde er es ertragen, einen Abend lang unbequeme Kleidung zu tragen, sich unter aufgeblasene Fremde zu mischen und sogar – er biss die Zähne zusammen – nett zu Saverios Elite zu sein.

Nett mochte ein bisschen übertrieben sein. Höflich würde genügen müssen.

Er seufzte unwillig und wandte sich wieder der Stadt zu. Inzwischen würde sie erwacht sein, und er hatte noch etwas zu erledigen, ehe er zur Cittadella zurückkehrte.

Es war ein großer Tag für Alessa. Menschen gaben anderen zu solchen Gelegenheiten Geschenke, oder?

Eine Stunde, nachdem Kamaria und Saida angekommen waren, um Alessa und Kaleb bei den Vorbereitungen für die Festivitäten zu helfen, verschlechterte sich die Stimmung in der Suite der Fonti zusehends.

»Liebe ist schrecklich. Männer sind schrecklich.« Saida streckte sich so theatralisch auf dem Sofa aus – die Kurven in kobaltblaue Seide gehüllt –, dass sie das perfekte Porträt einer Frau mit gebrochenem Herzen abgab. Selbst ihre schwarzen Locken waren dramatisch über einer Schulter drapiert.

»Guter Punkt«, meinte Kaleb und stopfte sich eine ganze Samosa in den Mund.

Saida hatte sich während ihrer Abwesenheit offenbar auf eine kurze, aber turbulente Beziehung eingelassen, und Kalebs Versuche, ein Date für die Party nach dem Fest zu finden, waren nicht gut gelaufen.

»Ich bin liebenswert«, sagte Saida störrisch. Ihre Armbänder glitzerten, als sie ihre kajal-umrandeten Augen betupfte. »Sogar Kaleb mag mich!«

Kaleb nickte, wirkte allerdings leicht alarmiert.

»Du bist die liebenswerteste Person, die ich kenne«, sagte Alessa. Sie zog ihren Morgenmantel fest zusammen und machte sich daran, Teller voller Krümel zusammenzustellen und halb volle Flaschen zu verstecken, während sie gleichzeitig sorgsam darauf achtete, ihre hoch aufgetürmten Locken nicht zu verstrubbeln.

Saida starrte düster auf die ungegessene Samosa in ihrer Hand. »Ich wünschte, ich würde an Frauen Gefallen finden.«

»Schlechte Nachrichten.« Kamaria tätschelte ihr den Kopf. »Die sind genauso schlimm wie Männer. Rate mal, woher ich das weiß.«

»Du auch noch?«, fragte Alessa. »Ist Liebeskummer ansteckend?«

Kamaria grinste. »Bei den Göttern, nein. Ich bin jung, berühmt und habe dabei geholfen, die Welt zu retten. Nicht mal für Geld würde ich mich binden. Nichts für ungut.« Sie wedelte mit der Hand zwischen Alessa und Kaleb hin und her. »Aber eure Hochzeit ist zumindest keine echte.«

»Dea sei Dank«, sagte Alessa und schob eine verirrte Locke zurück an ihren Platz.

»Was?« Kaleb griff sich mit gespielter Empörung an die Brust. »Du willst mir also sagen, dass sich aus dieser von den Göttern genehmigten Zweckehe keine Liebeseheentwickelt hat? Du weinst dich nicht jede Nacht wegen meiner herzlosen Gleichgültigkeit in den Schlaf? Und ich dachte, Dante wäre dein Trostpreis.«

Alessa winkte ihm mit einer Flasche zu. »Mach lieber keine Witze darüber. Du weißt, wie er ist.«

»Und ob ich das weiß.« Kaleb nahm Saida die Samosa aus der Hand. »Dante trägt eine größere Bürde als alle anderen, die ich kenne, und ich sammle Ballast.«

Kamaria nahm einen kräftigen Schluck aus einer Weinflasche, unbeeindruckt von der Lebensangst um sie herum. Ihre schwarzen Haare waren frisch geschnitten und an den Seiten kurz rasiert; nur auf dem Scheitel thronten feste Löckchen. Ihre ärmellose schwarze Tunika betonte ihre große Gestalt und ihre schlanken, muskulösen Arme. Sie würde kein Problem haben, jemanden zum Tanzen zu finden.

»Ich habe unten unsere Porträts gesehen. Deins ist atemberaubend, Saida«, sagte Kamaria. »Stell dich einfach den ganzen Abend daneben, dann wirst du die Ballkönigin sein.«

Alessa hatte sich dem Trend, nur die Finestra und ihren Fonte als Paar zu malen, widersetzt und stattdessen individuelle Porträts von ihr, Kaleb, Dante und den anderen Fonti verlangt. Schließlich waren auch Kamaria, Saida, Josef und Nina auf der Finestraspitze gewesen und hatten Alessa während Divorando ihre Kräfte zur Verfügung gestellt. Und schließlich sollten sie alle für ihre Leistungen Anerkennung erlangen.

»Hast du meines gesehen?« Kaleb nahm eine Pose ein, die zu der auf seinem Porträt passte. »Ich sehe aus wie ein Piratenkönig.«

»Ich will mit niemandem tanzen«, maulte Saida. »Liebe ist grausam.«

»Liebe ist nicht grausam.« Alessa schnappte sich den letzten Windbeutel vom Tablett, bevor er in Kalebs unersättlichem Schlund verschwand. »Du musst einfach nur die richtige Person finden.«

»Ha!« Saida warf ein Kissen nach ihr. »Du hast gut reden. Du hast deine wahre Liebe mit achtzehn gefunden.«

Alessas Husten schickte eine Wolke aus Puderzucker in die Luft. »Und er ist gestorben.«

»Ja, aber jetzt geht’s ihm wieder gut«, sagte Kamaria. »Ende gut, alles gut.«

»Ich kann ihn kaum anfassen!«

»Der Teil ist mies.« Saida nickte weise. »Das gebe ich zu. Aber du verlierst den Mittleids-Wettkampf immer noch, selbst wenn ihr mit einer Mauer aus Kissen zwischen euch schlafen müsst.«

Kamaria lachte laut auf. »Macht ihr das wirklich? Tut mir leid, ich sollte nicht so reagieren. Das ist nicht witzig.«

»Doch, ist es«, sagte Kaleb. »Wo ist er eigentlich?«

»Ich habe ihn vorhin die Treppe runterrennen sehen«, sagte Kamaria. »Scheint so, als müsste er ein bisschen Energie verbrennen, wenn ihr versteht, was ich meine.«

Mit lässig geöffnetem Hemd und immer noch schweißnassen Haaren schritt Dante durch die Tore der Cittadella, wo er abrupt stehen blieb. Tomo, Renata, Nina, Josef und zwei gut gekleidete Fremde sahen ihm entgegen.

»Und da ist er also.« Renatas Lächeln wirkte angestrengt. »Alessas Gefährte. Dante, das sind Ciro und Diwata, die Retter von Tanp.«

»Hallo«, murmelte Dante.

Nina winkte leicht, und Josef verbeugte sich, aber die Besucher starrten ihn an, als wäre er eine Ratte auf einer Hochzeitstorte.

»Alessa und die anderen sind oben und machen sich fertig«, sagte Tomo. »Wir wollen dich nicht aufhalten.«

Dante nickte steif. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er die Treppe hinauf und murmelte dabei leise Obszönitäten vor sich hin.

Im Hafen kümmerte es niemanden, ob er staubig oder verschwitzt war. Zur Hölle, er würde dort mehr auffallen, wenn er aussah wie ein modischer Schnösel.

Nicht dass es eine Rolle spielte, was er trug. Ihre Reaktionen wären kaum anders gewesen, egal, wie er gekleidet gewesen wäre. Menschen merkten, wenn jemand nicht dazugehörte.

Oben angekommen folgte er dem Gelächter, das ihn empfing. In der Fonte-Suite sah es aus, als wäre ein Sturm durch ein Kleidergeschäft, eine Bäckerei und einen Weinkeller gefegt. Kaleb, Kamaria und Saida lungerten inmitten überall herumliegender Kleidungsstücke, fast leeren Tabletts mit Süßigkeiten und angesichts so weniger Personen zu vielen geöffneten Weinflaschen herum.

Mitten im Chaos saß Alessa und unterdrückte ein entsetztes Lachen. »Könnten wir bitte damit aufhören, über Dantes Sexleben zu sprechen?«

»Wie bitte?« Dante blieb im Türrahmen stehen, die Augenbrauen hochgezogen.

»Wir wetteifern um den Anspruch auf die tragischste Liebesgeschichte«, verkündete Kamaria, vollkommen verblüfft, ihn zu sehen. »Tut mir leid, dass ich schlechte Nachrichten für dich habe, aber du schaffst es nicht einmal auf den zweiten Platz.«

Dante blinzelte. »Ich bin gestorben.«

Alessa warf die Arme in die Luft. »Genau das habe ich auch gesagt!«

»Nur kurz«, sagte Saida und starrte das letzte klebrige Teilchen an. »Das zählt nicht.«

Dante schüttelte den Kopf. »Komischer Haufen.«

Kamaria sah wenig mitfühlend aus. »Es gibt auch keine Bonuspunkte für erzwungenes Zölibat. Saida hat einen Korb bekommen, Kaleb wurde abgeschossen – schon wieder – und ich habe drei, ja, drei Mädchen, die in diesem Augenblick verrückt nach mir sind. Ich weiß noch nicht einmal, warum.«

»Wahrscheinlich, weil es drei sind«, sagte Dante trocken.

Alessa nahm ein großes glänzendes Buch in die Hand und stolzierte damit zur Tür. »Entschuldigt uns. Mein Gefährte und ich müssen uns aus der Ferne anschmachten, während wir uns fertig machen. Wir sehen uns nach der Zeremonie.«

Dante schloss Alessas Suite auf und verschaffte sich schnell einen Überblick über eventuelle Bedrohungen, ehe er sie eintreten ließ. »Was ist das?«, fragte er und deutete mit einem Nicken auf das Buch, das sie bei sich trug, während er seine Stiefel auszog.

»Ist es nicht wunderschön?« Sie hielt es leicht schräg, sodass der vergoldete Schriftzug im Licht gut zur Geltung kam. »Es ist ein altes Buch mit saverionischen Gedichten. Es befand sich seit dem ersten Divorando auf Tanp. Ihre Retter haben es uns als Geschenk zurückgegeben.«

Er brummte. »Hab die beiden beim Reinkommen gesehen und einen großartigen ersten Eindruck gemacht.«

»Tut mir leid«, sagte sie und zuckte dabei leicht zusammen. »Ich wollte dich warnen, aber du warst nicht da, als ich aufgewacht bin.«

Alessa legte den Gedichtband auf ihren Beistelltisch, neben das Lehrbuch, das er ihr gegeben hatte. Es sah im Vergleich zu dem anderen jetzt noch schäbiger aus.

Dante tätschelte das Gewicht in seiner Tasche. Er würde es ihr später geben, wenn sie unter den Geschenken anderer Leute nicht mehr förmlich ertrank.

Während sie sich daran machte, ihre Kleidung auf dem Bett zurechtzulegen, ging er ins Badezimmer, zog sich aus und warf seine Sachen in den Wäschekorb. Er drehte das Wasser auf und trat unter die Dusche, noch bevor es warm wurde, dann legte er den Kopf in den Nacken und ließ es über sein Gesicht laufen.

Gefährte. Als Leibwächter hatte er seine Rolle gekannt. Seine Aufgabe. Jetzt war er irgendwie zu einer Art Accessoire geworden.

Alessa dachte immer noch darüber nach, ob es besser war zu riskieren, ihre Frisur zu ruinieren, indem sie ihr Kleid über den Kopf zog, oder es zu zerknittern, indem sie hineinstieg, als Dante die Badezimmertür aufriss und eine Dampfwoge in den Raum strömen ließ. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen und hielt ein Rasiermesser in der Hand. Jetzt wischte er den Spiegel ab und betrachtete sie anschließend darin, als sie ihr Morgengewand auszog.

Sie ließ sich Zeit, die voluminösen Stofflagen des Kleides zusammenzuraffen, sodass er sie genau anschauen konnte. »Du wirst dich schneiden, wenn du nicht aufpasst.«

»Nein, werde ich nicht.« Sein Zusammenzucken verriet etwas anderes. Er mochte nicht in der Lage sein, sie zu berühren, aber zumindest wusste sie, dass er es wollte.

Es war wahrscheinlich entsetzlich von ihr, zu hoffen, dass der nächste Divorando rascher kam, damit sie ihre Kräfte an die nächste Finestra abtreten konnte.

Schwankend hob sie einen Fuß – die Höhe der Schuhe war möglicherweise etwas zu gewagt –, und trat in die Mitte des gerafften Stoffs, bevor sie ihn um sich herum hochzog.

Ja, es war definitiv unmoralisch, sich eine Dämonen-Invasion zu wünschen, um die Gelegenheit zu bekommen, einen Mann zu küssen. Sie würde sich einfach darauf konzentrieren müssen, ihre Kräfte unter Kontrolle zu halten, ehe sie beide in Flammen aufgingen.

Der Ausschnitt ihres Kleids reichte fast bis zum Nabel und war mit einem durchsichtigen Stoff hinterlegt, der auch ihren Rücken und die Arme bedeckte. Da er mit kleinen schwarzen Kristallen gesprenkelt war, sah es so aus, als würden Mitternachtssterne auf ihrer Haut glitzern. Im Tempel wartete ein filigranes Diadem auf sie, das mit den gleichen schwarzen Juwelen besetzt war – Fragmente des Panzers eines Scarabeos, der während Divorando in winzige Stückchen zerschmettert worden war, als sie ihn mithilfe von Josefs Gabe hatte gefrieren lassen.

Als Bezwingerin von Dämonen trug sie die Ausbeute des Sieges auf ihrer Haut.

»Kannst du mir das Kleid zumachen?«, fragte sie, während sie sich das Mieder an die Brust drückte.

Dantes Atem strich leicht wie eine Feder über ihre Haut an Nacken und Schultern und ließ Verlangen in ihr aufsteigen, während er betont langsam die Knöpfe schloss. Als seine Arbeit getan war, beugte er sich vor und drückte seine warmen Lippen auf ihren Hals. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Ein langer atemloser Moment folgte, dann riss sie sich los, klammerte sich an ihr letztes bisschen Selbstbeherrschung.

»Atemberaubend, findest du nicht auch?« Sie wiegte leicht die Hüften, was ihr Kleid wie eine Glocke schwingen ließ. Die winzigen Kristalle, die als glänzende Wirbel eingewoben waren und Windböen, tanzende Flammen, zuckende Blitze und schäumende Wogen repräsentierten, glitzerten bei jeder Bewegung im Licht.

Dante brummte zustimmend.

Die Mode war so ungerecht wie das Leben, deshalb war er in einem Bruchteil der Zeit angezogen, die sie gebraucht hatte. In seinem mitternachtsblauen Anzug, der so dunkel war, dass er fast schwarz wirkte, sah er unverschämt gut aus. Glänzende Scheiden bewahrten seine Dolche, und die feuchten Haare hatte er zurückgekämmt, sodass sie die scharfen Linien seines Gesichts unterstrichen.

Er starrte sein Spiegelbild düster an. »Ich sehe aus wie ein Scarabeo.«

»Du siehst zum Anbeißen aus.«

Er zog eine Braue hoch. »Hast du Hunger?«

»Total. Aber leider, leider ruft die Pflicht.« Sie nahm seinen Arm und strahlte so sehr, dass er wider Willen zurücklächelte. Viel besser. »Komm, mein Prachtkerl, lass uns ihnen den Atem rauben.«

Im Korridor war Kaleb damit beschäftigt, an seiner juwelenbesetzten Augenklappe herumzufummeln. »Das verdammte Ding verrutscht andauernd.« Die Scarabei-Kristalle auf seiner Augenklappe und dem Revers glitzerten und erstrahlten in Winterweiß mit goldenen Akzentuierungen, verbanden das Ganze auf subtile Weise.

Dante hielt Alessa fest im Griff, um ihr das Gehen auf den schmalen Absätzen zu erleichtern. Als sie unten auf dem Hof ankamen und Alessa wieder sicher auf ebenem Boden stand, fand sie sich … sich selbst gegenüber. Selbstsicher. Strahlend. Mutig. Es war sie, aber auch mehr. Sie trug Scharlachrot und lächelte geheimnisvoll, während sie etwas – jemanden – im Garten hinter der Künstlerin ansah.