Thriller-Sammelband - Elias J. Connor - E-Book
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Elias J. Connor

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Beschreibung

Ein junger Mann lernt die Liebe seines Lebens kennen und verfällt seiner Angebeteten - ohne zu wissen, dass sie ein dunkles Geheimnis hütet. Ein junges Mädchen driftet immer weiter ab in ihre bizarre Traumwelt und weiß bald nicht mehr, was real ist und was nicht. Eine junge Frau erlebt mit ihrem neuen Freund die Hölle auf Erden und versinkt in einer Welt aus Drogen, Alkohol und Erniedrigung. Dieser Thriller-Sammelband bietet 3 Thriller aus der Feder von Elias J. Connor - spannend, bizarr und packend.

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Elias J. Connor

Thriller-Sammelband

3 Romane in einem Band

Inhaltsverzeichnis

BUCH 1

Widmung

Kapitel 1 - Stimmen in der Ferne

Kapitel 2 - Neonlichter

Kapitel 3 - Wer bist du?

Kapitel 4 - Das Ende vom Regenbogen

Kapitel 5 - Disput mit den Eltern

Kapitel 6 - Der heimliche Besuch

Kapitel 7 - Ich will tanzen

Kapitel 8 - Noemis kleine Schwester

Kapitel 9 - Diese flehenden Augen

Kapitel 10 - Sniper

Kapitel 11 - Der Flügelschlag des Schmetterlings

Kapitel 12 - Ich auch

Kapitel 13 - In anderen Welten

Kapitel 14 - In der Hölle

Kapitel 15 - Alleine in der Nacht

Kapitel 16 - Clean

Kapitel 17 - Wie Ferien

Kapitel 18 - Nacht und Nebel

Kapitel 19 - Wieder in der Hölle

Kapitel 20 - Auf der Suche nach Noemi

Kapitel 21 - In seiner Hand

Kapitel 22 - In Liebe, Leon

BUCH 2

Widmung

Kapitel 1 - Alleine

Kapitel 2 - Wann kommst du?

Kapitel 3 - Geheimnisvolle Luna

Kapitel 4 - Spieglein, Spieglein an der Wand

Kapitel 5 - Wer ist Joey?

Kapitel 6 - Woran denkst du?

Kapitel 7 - Seelenverwandte

Kapitel 8 - Die Krieger der Finsternis

Kapitel 9 - Neveas kleines Buch

Kapitel 10 - Die Schattenkinder

Kapitel 11 - Der Psychiater

Kapitel 12 - Die geheime Türe

Kapitel 13 - Zwei Welten

Kapitel 14 - Gehe nicht hinein

Kapitel 15 - Neveas Tod

Kapitel 16 - Unerwartete Hilfe

Kapitel 17 - Der Schwur

Kapitel 18 - Ich bin nicht tot

Kapitel 19 - Verschwommen

Kapitel 20 - Lunas Vermächtnis

Kapitel 21 - Zurück im wirklichen Leben

BUCH 3

Widmung

Prolog - So finster die Nacht

Kapitel 1 - Freundinnen

Kapitel 2 - Der Fremde

Kapitel 3 - Erste Zärtlichkeiten

Kapitel 4 - Hausparty

Kapitel 5 - Nichts mehr ist heilig

Kapitel 6 - Auf der Suche nach Reue

Kapitel 7 - Verzweifelte Nacht

Kapitel 8 - Der Brief

Kapitel 9 - Verzeihen

Kapitel 10 - Voller Rosen

Kapitel 11 - Der Geburtstag

Kapitel 12 - Verzweifelte Suche

Kapitel 13 - Aufwachen

Kapitel 14 - Selbstvorwürfe

Kapitel 15 - Die Party

Kapitel 16 - Der Schlag ins Gesicht

Kapitel 17 - Wenn es sonst nichts gibt

Kapitel 18 - Im Milieu

Kapitel 19 - Der Beschützer

Kapitel 20 - Eine verhängnisvolle Nacht

Kapitel 21 - Alleine im Nirgendwo

Kapitel 22 - Lillis Rache

Kapitel 23 - Neuanfang

Kapitel 24 - Die wahre Liebe

Über den Autor Elias J. Connor

Impressum

BUCH 1

VON ANFANG AN

Widmung

Für Jana.

Meine Wegbegleiterin und treue Seele.

Danke, dass es dich gibt.

Kapitel 1 - Stimmen in der Ferne

Ich sitze auf dem Stuhl und bin ziemlich nervös. Natürlich würde ich es zu Hause nicht sagen, so viel ist klar. Meine Eltern sind sehr integer. Alles muss seine Richtigkeit haben, alles muss am rechten Platz sein. Das Leben muss in geordneten Bahnen verlaufen. Da habe ich einfach keinen Bock auf den Ärger, der mir blühen könnte.

Na ja, aber ich habe seit einer Woche unentschuldigt gefehlt. Und dass das an meinem Chef nicht unerkannt vorbeigeht, das hätte ich mir auch denken können. Jetzt sitze ich hier auf diesem Stuhl und warte darauf, dass er zur Tür reinkommt und mir mein Disziplinarverfahren auferlegt.

Der Job ist ja eigentlich gar nicht so schlecht. Ich bin seit drei Monaten im Zivildienst, hier im Altenheim, und eigentlich sind die Leute hier ganz cool drauf. Manchen von ihnen sieht man ja gar nicht an, dass sie schon 70 oder 80 Jahre alt sind. Die sind so voller Lebensfreude. Sie fühlen sich ganz und gar nicht abgeschoben. Ja, manche von ihnen blühen hier erst richtig auf. Ich denke oft bei mir, Mensch, wenn ich mal so alt werde, dann möchte ich auch so voller Lebensfreude sein.

Aber ich war letzte Woche irgendwie auf Achse, da hatte ich zum Arbeiten keine Zeit. Ich bin morgens nicht raus gekommen. Und mittags hatte ich dann vergessen, anzurufen. Vielleicht auch absichtlich, das weiß ich nicht genau. Als ich dann abends wieder dran gedacht habe, hing ich aber schon wieder in der Kneipe oder in der Disco. Ich trinke mir gerne mal einen. Nicht übermäßig viel, aber so zehn, zwölf Gläser sind es schon. Darf ich ja auch mit meinen 18 Jahren. Aber letzte Woche hatte ich wohl etwas übertrieben, und jetzt habe ich das Disziplinarverfahren am Hals.

Ich hole aus meiner Tasche gerade die Flasche Wasser raus, um meinen Brand zu löschen, den ich noch vom Vorabend habe. Da kommt Herr Schrödel dann rein.

„Guten Tag, Leon, wie geht es dir?“, fragt er super höflich. Man kann ihn hinter seinem Rauschebart fast nicht verstehen. Würde man ihn beschreiben wollen, käme die Figur des Catweasel ihm wahrscheinlich am nächsten.

„Ja, es geht“, antworte ich.

„Nun, dann nehmen wir mal deine Personalien auf“, beginnt er.

Ich bin genervt. Ich stoße einen lauten Atemzug aus und blicke Herrn Schrödel finster an.

„Sie kennen meine Personalien", sage ich. „Sie haben mich vor drei Monaten an die Dienststelle überwiesen, ich war hier bei Ihnen im Büro zum Erstgespräch.“

Herr Schrödel tut so, als hätte er mich gar nicht gehört.

„Name?“, fragt er.

„Leon“, sage ich angenervt.

„Der volle Name.“

„Leon Ludwig“, antworte ich.

„Adresse?“, will er wissen.

Die kennt er auch, dennoch fragt er mich.

„Villa Kunterbunt 7003“, flüstere ich.

„Nochmal, bitte, ich habe dich nicht verstanden.“

Ich stoße einen lauten Seufzer aus.

„Hahnenweg 7 in Düsseldorf“, antworte ich dann.

„Nun, Leon, du weißt, warum du heute hier bist?“

Ich nicke stumm.

„Seit letzter Woche Dienstag bist du in deiner Dienststelle nicht erschienen. Vor drei Wochen hattest du im Altenheim schon einmal einen Tag unentschuldigt gefehlt, und jetzt hast du dich in der ganzen letzten Woche nicht einmal dort gemeldet.“

„Wissen Sie, ich darf zu meiner Verteidigung sagen, dass ich eigentlich vorgesehen war für einen Job im Büro des Bundesamtes für...“, beginne ich, werde aber dann von Herrn Schrödel unterbrochen.

„Der Zivildienst ist eine sehr ernste Angelegenheit, die man heute, Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends, schon alleine deshalb ernst nehmen sollte, weil er bald schon wegfallen könnte. Und dann sind erst recht Menschen wie diejenigen, die du betreust, angewiesen auf Menschen wie dich. Da kann man sich einen solchen Lapsus nicht mehr erlauben. Wer dann ein freiwilliges Jahr macht, der ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft.“

„Das heißt ja aber auch, dass man heute Menschen wie mich noch ersetzen kann“, werfe ich ein.

„Willst du deine Stelle unbedingt aufs Spiel setzen?“, fragt Herr Schrödel nach. „Weißt du, welches Strafmaß vorgesehen ist bei Nichteinhaltung der Richtlinien? Wären wir bei der Bundeswehr – die übrigens auch demnächst in eine Berufsarmee umgewandelt werden soll – käme das einer Fahnenflucht gleich.“

Ich stoße einen genervten Seufzer aus. „Herr Gott nochmal, dann sagen Sie mir doch, was Sie von mir erwarten.“

„Ich erwarte, dass du dir über die möglichen Konsequenzen in der Zukunft, sollte so etwas noch einmal vorkommen, im Klaren bist. Ich erwarte, dass du nicht mehr unentschuldigt fehlst und für jedes Fehlen ein ärztliches Attest anbringst. Du wirst dich bei mir, bei der Heimleitung und gesondert beim Bundesamt schriftlich entschuldigen. Verstanden?“

Das soll alles sein? Ein Schreiben machen, oder von mir aus mehrere, auf dem steht: Ich war ein unartiger, böser Junge? Das dürfte ja zu machen sein.

„War's das?“, will ich wissen.

„Fürs Erste, ja.“

Herr Schrödel packt mitten im Gespräch eine Banane aus, die er zu schälen beginnt.

„Und ich rate dir, lass den Alkohol weg. Ich rieche, dass du gestern getrunken hast.“

„Kommt nicht wieder vor“, gebe ich dann klein bei, unter der Hoffnung, dass dieses blöde Disziplinarverfahren bald zu Ende ist. Ich stehe bereits auf zum Gehen, dann dreht sich Herr Schrödel noch einmal zu mir und sieht mich aus seinem Chefsessel mit ernsten Augen an. „Ich werde deine Eltern benachrichtigen“, meint er dann.

So ein verfluchter Mist. Jetzt habe ich die Kacke richtig am Dampfen. Ich habe gehofft, dass die das nicht spitzkriegen. Aber jetzt wird er die anrufen, und was mir dann zu Hause blühen würde, daran mag ich gar nicht denken. Wäre echt besser, heute dort gar nicht aufzukreuzen, denke ich so bei mir. Meine Güte, ich bin 18. Ich darf machen, was ich will. Also heißt das für mich, ab in die nächste Kneipe und zwei, drei Alt trinken. Vielleicht auch etwas mehr.

Es ist mittlerweile Abend, so gegen zehn Uhr herum muss es sein. Ich sitze hier im Lokal und rede die meiste Zeit nicht. Ich döse so bei meinem Bier vor mich hin. Morgen habe ich eh frei… habe ich doch, oder? Es ist doch morgen Samstag, oder nicht? Ich bin schon so benebelt, dass ich nicht mehr genau weiß, welcher Tag heute ist. Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht.

Ich weiß nicht mehr, welche Musik gerade läuft, als ich das erste Mal diese Augen sehe. Ich weiß nicht mehr, was der Typ neben mir sagt, als sie hereinkommt. Ich höre ihn nur irgendetwas sagen, aber seine Worte gehen unter meinem Herzschlag total unter. Ich sehe eigentlich auch nicht mehr, was um mich herum passiert. Aber dieses Mädchen setzt sich dann auf einmal neben mich. Als ich zu ihr rüber schaue, sehe ich dieses lila Kleid, das sie trägt. Ich sehe ihr in die Augen, und ohne etwas zu sagen, streife ich über den oberen Ärmel dieses Kleides.

„He", macht sie nervös.

„Entschuldigung“, sage ich, unter der Hoffnung, dass sie nicht merkt, dass ich schon einen im Tee habe. „Ist das Seide?“

„Muss wohl“, meint das Mädchen. „Wenn es sich so anfühlt.“

„Ja, tut es“, gebe ich zu verstehen. Ich weiß nicht mehr, was sie sich bestellt. Aber ich sage dann dem Kellner, dass er ihr Getränk auf mich schreiben soll.

Sie sieht mich an.

„Denkst du, ich hätte es nötig, mich einladen zu lassen?“, fragt sie. „Sehe ich so aus?“

Ich schnaufe aus. So war das nicht geplant. Eigentlich war es gar nicht geplant. Aber sie geht mir von der ersten Sekunde an nicht mehr aus dem Kopf. Ich beschließe, ihre Einwände schlicht zu überhören.

„Morgen ist eine Party in der Disco im Zentrum“, beginne ich. „Du kennst doch diese riesige Diskothek in der Altstadt, wie heißt die noch gleich?“

Sie sieht mich mit großen Augen an. Dann lacht sie freundlich.

„Hör zu, wenn du mich schon anbaggern willst, dann solltest du dich vielleicht etwas besser vorbereiten, wenn du mich in eine Disco einladen willst. Den Namen solltest du schon wissen.“

Sie trinkt ihr Getränk dann leer und gibt dem Ober dann einen Fünfer. Schließlich steht sie auf, lächelt mir noch mal nett zu und verlässt genauso geheimnisvoll wie sie hereinkam das Lokal wieder.

Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Es ist mir noch nicht einmal gelungen, wenigstens aus ihr herauszubekommen, wie sie heißt. Ich spüre, dass ich nichts mehr richtig mitbekomme.

Alles, was ich auf dem Nachhauseweg in meinem Kopf habe, ist der Duft ihres Parfüms, ihre langen Haare und ihr lila Kleid aus Seide.

Zu Hause setze ich mich aufs Bett. Ich verschränke die Arme hinter mir und liege rücklings auf meiner Bettdecke. Den Ärger vom heutigen Tag habe ich bereits vergessen, und meinen Eltern bin ich erfolgreich aus dem Weg gegangen, die hatten schon geschlafen, als ich kam.

Wer war dieses geheimnisvolle Mädchen? Ich will sie wiedersehen. Das will ich um jeden Preis.

Kapitel 2 - Neonlichter

Ich warte.

Aber statt mit mir zu schimpfen, sieht mich mein Vater einfach nur stumm an. Er weiß genau, dass ich das noch weniger ertragen kann, als wenn er was sagt, ich dann zurück schreie, ihm sage, dass es doch mein Scheiß Leben ist und es ihn nichts angehe, ob ich auf der Arbeit schwänze oder warum auch immer fehle.

Aber er sitzt einfach da am Küchentisch unserer Prachtvilla und sieht mich an. Sehr ernst mustert er mich.

„Also, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“, fragt er.

Ich schnaufe aus und will ansetzen, ihm etwas zu sagen, aber er unterbricht mich zugleich.

„Du hast letzte Woche ein Disziplinarverfahren gehabt. Du musstest dich bei allen möglichen Stellen entschuldigen, und das schriftlich. Und jetzt hast du schon wieder zwei Tage gefehlt, weil du nichts Besseres zu tun hast, als dein Geld in die Kneipe zu tragen?“

„Ich war beim Arzt, ich habe ein Attest“, werfe ich ein.

Mein Vater kratzt über seine Halbglatze. „Du bekommst 1000 Euro von uns, und das jeden Monat. Du musst nicht einmal arbeiten und kannst dich voll auf dein Studium, welches du hoffentlich nach dem Zivildienst beginnen wirst, konzentrieren. Dann ist das bisschen Arbeit im Altenheim doch nicht zu viel verlangt. Warum lässt du dich so hängen?“

„Ich lasse mich nicht hängen“, entgegne ich. „Ich hab mich nicht wohl gefühlt und war beim Arzt, ganz offiziell.“

„Junge, wir wissen doch beide, dass der Grund für deine Unpässlichkeit deine Sauferei war“, sagt er.

Gott, er kann sich immer so gewählt ausdrücken. Wie ich das hasse. Er benutzt nie Worte wie „Scheiße“, „Fuck“ oder „Kacke“.

„Mann“, gebe ich zu verstehen. „Ich hab nicht zu viel getrunken.“

„Du solltest mal überlegen, ob du nicht vielleicht ein Alkoholproblem haben könntest“, wirft er ein. „Es gibt Stellen, die dir da helfen können. Ganz gleich, was es kostet.“

Klar. Den guten Schein der Familie wahren. Den guten Schein wahren, dass man aus gutem Hause kommt. Darum geht es ihm. Mehr nicht.

„Ich brauche keine Hilfe“, sage ich dann sachlich. „Ich bin 18 und kann machen, was ich will.“

„So lange du die Füße unter meinem Tisch hast…“, fängt er an.

„Das interessiert mich nicht“, unterbreche ich ihn. „Jedes Mal kommst du mit der Leier, solange ich die Füße unter deinem Tisch habe. Meine Güte, ich habe ein Leben. Ich bin halt nicht so integer wie ihr, wo alles strickt nach Regeln abläuft und man sogar nach Stundenplan vögelt, wenn überhaupt.“

„Ich bitte mir solche Worte aus“, sagt der Vater streng. „In dieser Familie wird nicht so gesprochen, schon gar nicht über Mutter und mich.“

„Leck mich!“ Ich stehe auf und laufe in Richtung der Eingangstüre. „Ich bin dann mal weg. Hab keinen Bock auf solche Konversationen.“

Entnervt höre ich meinen Vater noch schnaufen und mir etwas hinterher brüllen, aber das nehme ich schon nicht mehr wahr.

Heute ist ein lauer Sommerabend. Ich setze mich in meinen Audi Cabrio, mache das Dach runter und stelle dann die Anlage auf ganz laut. Dann fahre ich los.

In der Disco soll heute viel los sein. Es ist zwar nicht Wochenende, aber sie haben ja immer mal auch unter der Woche irgendwelche Veranstaltungen. Meist spielen dann dort Bands, oder sie machen irgendwelche Mottopartys mit süßen Studentinnen, die ich dort kennen lernen könnte. Ja, das wäre was. Dann könnte ich mir vielleicht heute eine abschleppen und mit nach Hause nehmen. Auf das Gesicht meiner Eltern am nächsten Morgen würde ich mich freuen. Die denken ja sowieso, dass ich nicht in der Lage bin, eine richtige Beziehung zu führen, bei meinen wechselnden Sexualpartnerinnen, wo keine Beziehung länger als drei Monate hält.

Ha. Andere haben One Night Stands. Ich habe wenigstens Beziehungen von drei Monaten, denke ich so bei mir, und sehe im Geiste schon meinen Vater dieses betreffende Mädchen mit zahlreichen Fragen bombardieren.

What the fuck, kommt es mir in den Sinn, als ich mein Auto parke. Wollen doch mal sehen, was heute Abend so läuft.

Ich muss zwar morgen wieder raus, aber das interessiert mich jetzt nicht.

Als ich die Anlage ausstelle und meine Haare noch mal bürste, kommen auch schon drei, vier Mädels an meinem Auto vorbei gerauscht.

„Coole Karre“, sagt eine.

„Netter Sound“, sagt eine andere.

Ich grinse sie an.

Tja, manche Situationen erfordern nicht mal irgendwelche Vorbereitungen oder besondere Kenntnisse. Meine Kunst zu flirten ist, dass ich die Dinge einfach auf mich zukommen lasse und gar nicht größer drüber nachdenke, was ich eventuell sagen könnte oder sie eventuell sagt. Es ist eigentlich wie automatisch, dass aus mir im passenden Moment immer der passende Spruch heraus kommt.

Ich betrete die Disco, und ungeachtet dessen, dass mein Auto draußen auf dem Parkplatz steht und ich ein echtes Problem habe, wenn ich nachher wieder nach Hause fahren muss, bestelle ich mir gleich ein großes Bier und einen Klaren dabei. Unverzüglich kippe ich das dann in mich rein und fühle mich gleich noch besser, noch größer als ich es ohnehin schon bin.

„Noch mal das Gleiche“, sage ich dann zum Kellner.

Kaum eine Sekunde später rauscht das Mädchen, das eben draußen am Auto vorbei ging, um die Ecke.

„Na, wie geht’s?“, frage ich sie. Sie sieht mich freundlich an. „Wo sind deine Freundinnen?“, will ich dann wissen.

„Tanzen“, antwortet sie. „Hast du auch Lust?“

„Na, sicher“, gebe ich zu verstehen. Und dann lege ich galant die Hand auf die Schulter des Mädchens und führe sie zur Tanzfläche.

Wenn einer weiß, wie abhotten geht, dann ist sie es. Meine Güte, die kann tanzen. Und ich stehe fast bewegungslos neben ihr, aber in meinem fortgeschrittenen alkoholisierten Zustand fühle ich mich wie ein großartiger Tänzer.

Nach einer Weile kommt dann so ein Typ und kommt mit ihr ins Gespräch. Ich nicke ihr freundlich zu und verkrümele mich wieder an die Theke.

Ich beobachte einige der Mädchen, die hier sind, während ich immer mehr trinke und immer mehr die Tatsache außer Acht lasse, dass ich morgen arbeiten muss und mit dem Auto hier bin.

Aber keine kommt an sie ran.

Keine von ihnen hat mir den Zauber geben können, den ich fühlte, als ich sie zum ersten Mal sah. Ihre langen, blonden Haare gehen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Der Duft ihres Parfüms klebt noch immer in meiner Nase, so als säße sie jetzt neben mir und ich könnte sie riechen. Und dann erst ihre tiefblauen Augen – Mann, oh, Mann, so etwas hat die Welt noch nicht gesehen.

Es ist jetzt fast eine Woche her, dass ich sie damals in der Kneipe getroffen habe. Und ich habe mir Gedanken gemacht, wer sie sein könnte, oder wo ich sie finden könnte. Aber ich fand sie nicht.

Ich weiß nach wie vor nicht mal ihren Namen.

Scheiße, denke ich bei mir. Mit ihr, das könnte ich mir echt vorstellen. Nicht nur, weil sie hübsch ist. Vielleicht sogar eine Ecke zu hübsch. Sie ist so anders als die Anderen. Ihr Auftreten, ihre ganze Art, jedes ihrer Worte – sie ist so… ich kann es nicht beschreiben und finde kein Wort dafür. Aber irgendetwas macht, dass sie mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Wenn mich jemand fragen würde, was ich an ihr schätze, dann würde ich antworten: Einfach alles.

Ich bin schon stark alkoholisiert und habe schon mindestens zehn Bier und zehn Kurze intus, als dann eine Band auf die Bühne kommt. Ich weiß nicht einmal, welche Band das ist. Aber ich fühle mich dann auf einmal berufen, mich zum Aufgang der Bühne zu schleichen, hinter den Kulissen herumzugeistern und schließlich auf der Bühne zu landen.

Jetzt sieht mich jeder an. Ich stehe hier oben, und jeder sieht mich an.

„Wir haben einen Gast hier“, höre ich den Sänger der Band sagen. „Wie ist dein Name?“

„Leon“, lalle ich.

„Okay, Leon, dein Publikum“, macht der Sänger. „Publikum, das ist Leon.“

Die Menge klatscht.

Entweder sind sie genau so besoffen wie ich, oder sie denken wirklich, ich würde jetzt etwas machen.

„Leon, hast du Bock, bei unserem nächsten Titel mitzusingen?“, fragt mich der Sänger.

„Klar“, stammele ich. „Bin ein Klasse Sänger.“

Und dann geht das Lied los. Ich weiß nicht, ob ich es kenne, aber im besoffenen Kopf trällere ich einfach mit und stammele die Worte nach, die der Sänger singt, in der völlig falschen Tonlage natürlich.

Es wird mir schon in den ersten Sekunden, als der Track läuft, total dämmrig, und ich gerate ins Wanken.

Ich höre die Menge grölen. Ich weiß nicht, ob sie mitsingen, oder ob sie mich auslachen und mich sogar weg applaudieren.

Das Flackern der Neonlichter dringt an meine Augen, aber schon bald ist es nur noch ein Flackern. Ich merke nichts mehr, bekomme nichts mehr mit. Und dass ich über nichts mehr nachdenke und mir über keine Konsequenzen dessen, was gerade passiert, Gedanken mache, ist jetzt gerade egal. Ich stehe einfach torkelnd da oben und sehe das Flackern des Neonlichts, welches pulsiert.

Auf einmal steht sie vor mir. Sie steht im Publikum, in der Mitte der grölenden Menge, und sieht mir fest in die Augen.

Kein Zweifel, sie ist es. Ich könnte diese Augen nie vergessen. Und jetzt steht sie da und sieht mich an. Und sie lächelt.

Das ist das Letzte, was ich sehe, bevor ich zusammenklappe.

Das Licht ist hell und weiß. Es scheint durch meine Augen durch, obwohl ich sie noch geschlossen habe.

Mann, mir ist so kotzübel.

Wo bin ich?

Ich spüre, dass ich weich liege. Wo immer ich jetzt bin, ich liege auf irgendeinem weichen Untergrund. Und es riecht komisch hier, so nach Medizin und so steril.

„Er hat keine schwerwiegenden Verletzungen, nur ein paar Prellungen“, höre ich jemanden sagen.

„Was ist geschehen?“, sagt eine Stimme, die mir bekannt vorkommt.

„Eine junge Frau hatte ihn gestern Nacht hergebracht. Sie wollte uns ihren Namen aber nicht sagen“, sagt wieder jemand.

Komisch, ich bin ganz geistesabwesend, aber die einzelnen Wortfetzen des Gesprächs bekomme ich sehr gut mit.

Allerdings fühle ich mich nicht in der Lage, irgendwie auf das Gehörte zu reagieren.

„Können wir ihn mit nach Hause nehmen?“, höre ich wieder die bekannte Stimme von eben.

„Wir wollen ihn noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung hier behalten, wenn Sie nicht eine Entlassung fordern.“

Der, der das sagt, muss offenbar Arzt oder so sein. Und ich muss offenbar in einer Praxis, oder schlimmer noch, in einem Krankenhaus liegen.

Warum? Was ist bloß geschehen?

Ich denke krampfhaft nach, aber irgendwie gelingt es mir nicht.

Was ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann? Was nur?

Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

Sie.

Dieses unbekannte, fremde Mädchen, das ich schon zweimal sah. Letzte Woche in der Kneipe, und gestern muss ich sie in der Disco gesehen haben. Aber was ist geschehen?

Ich öffne vorsichtig meine Augen und sehe dann in das verdutzte Gesicht meines Vaters.

„Junge, wie geht es dir?“, fragt er mich gleich.

Aber ich bringe kein Wort heraus. Ich stammele nur irgendwelche Kraftausdrücke, glaube ich, die meine Schmerzen beschreiben sollen. Er sieht mich einfach an und fragt Gott sei Dank nicht weiter.

„Wir nehmen ihn mit“, höre ich ihn dann sagen.

Ich muss dann vom Bett aufstehen. Ich muss mechanisch meine Sachen zusammenklauben und mich anziehen. Diesen weißen Kittel, den ich trage, will ich so schnell wie möglich loswerden. Man sagt ja solche Dinge über Menschen, denen ein weißer Kittel angezogen wird. Ich weiß nicht einmal, wer ihn mir angezogen hat.

Ich muss dann mit meinem Vater zum Auto laufen. Dann muss er mich einladen, und wir fahren dann wohl nach Hause.

Zu Hause muss ich mich auf mein Bett legen, nachdem ich etwa eine gefühlte halbe Stunde auf dem Klo verbracht habe, um dort in Ruhe zu kotzen.

Plötzlich höre ich die Haustürklingel. Ich registriere es nicht, aber ich höre sie.

Ich höre, dass jemand die Haustüre geöffnet haben muss.

Und plötzlich klopft es an meiner Zimmertür. Und dann geht die Türe auf.

„Leon?“, höre ich die süßeste aller je gehörten Stimmen fragen.

Und ich sehe ihr in die Augen, diesem engelsgleichen Mädchen. Lächelnd sieht sie mich an, während sie sich zu mir auf den Bettrand setzt.

„Leon, bist du wieder okay?“, will sie dann wissen.

Ich bin nicht mächtig, ein Wort zu sagen. Meine Traumfrau sitzt hier bei mir auf dem Bett. Ich kann mein Glück gar nicht fassen.

Und mit einem Mal vergesse ich, wie schlecht ich mich eben noch gefühlt haben muss.

„Du bist gestern zusammengeklappt“, erklärt sie. „Ich hab dich ins Krankenhaus gebracht.“

Ich sehe sie an.

„Hast du noch Schmerzen?“, sagt sie mit zarter Stimme. „Kannst du reden?“

„Glaub, schon“, stammele ich. „Wer bist du?“

Und sie streichelt mir über den Kopf und sieht mir tief in die Augen. Dann lächelt sie.

„Ich heiße Noemi.“

Jetzt hat sie einen Namen, die Fremde, die Unbekannte. Jetzt kenne ich ihren Namen. Noemi.

Hätte ich gewusst, dass dies mein Leben so sehr verändert, dann hätte ich mir gewünscht, dass heute gestern wäre. Oder letzte Woche.

Kapitel 3 - Wer bist du?

Während sie sich stumm in meinem Zimmer umsieht, kralle ich mir schnell die Jogginghose, die auf der Lehne meines Stuhls neben meinem Bett liegt, und ziehe sie mir rasch über.

„Entschuldige, wie es hier aussieht…“, bringe ich nur hervor.

„Nein, nein, ist schon okay“, meint sie dann. „Ihr wohnt sehr schön.“

Sie holt ein Haargummi aus ihrer Hosentasche, bindet sich die lange, blonde Mähne zu einem hübschen Pferdeschwanz zusammen. „Noemi…“, sage ich. „Wie hast du mich gefunden?“

Sie grinst nur.

„Ich hab deine Brieftasche dem Arzt gegeben, als ich dich gestern Nacht ins Krankenhaus gebracht habe.“

Sie steht auf und sieht sich meine CDs durch.

„Du stehst auf coole Musik.“

„R'n'B und Rap, das ist so mein Ding. Aber kein Aggro Berlin.“

Ich laufe zur Anlage und lege eine CD von Beyoncé ein.

„Wow“, macht Noemi. „Das ist Halo. Kenne ich.“

Ich nehme Noemi an die Hand und führe sie zu dem Tisch, der bei mir im Raum steht. Dann hole ich aus einem Kühlschrank in meinem Zimmer zwei Energy Drinks und gebe Noemi einen davon.

„Magst du die?“, frage ich.

„Ja“, antwortet sie.

Eine Weile sitzen wir einfach nur da und lauschen Beyoncés Worten.

Ich kann es immer noch nicht fassen. Sie ist da. Das Mädchen, über das ich die ganze letzte Woche nachgedacht habe. Das engelsgleiche Wesen, dessen Anblick ich seit unserem ersten Treffen nicht vergessen konnte – sie sitzt hier bei mir am Tisch und hört Musik mit mir. Ich muss ihr keine Fragen stellen. Ich muss nicht wissen, wer sie ist oder woher sie kommt. Ich muss nichts über sie wissen. Es ist nur wichtig, dass sie jetzt mit mir hier ist, mit mir zusammen in diesem Zimmer sitzt und mich mit ihren blauen Augen so lieb ansieht.

Habe ich mich verliebt?

Es ist nicht wie bei den anderen Frauen. Es ist nicht so, dass ich auf irgendetwas aus bin, was sowieso nicht lange dauern würde. Oder gar einen One Night Stand. Bei Noemi ist es anders. Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, aber es ist etwas, was ich so mit meinen achtzehn Jahren noch nicht erlebt habe, seit ich begonnen habe, mich in Mädchen zu verlieben. Ich wusste immer, was ich sagen sollte. Ich wusste immer, mich bei den Mädchen, mit denen ich in Kontakt trat, auszudrücken und ins rechte Licht zu setzen. Bei Noemi weiß ich es nicht. Stumm wie ein Fisch schaue ich sie einfach nur an und lächle.

„Hey, du sagst ja gar nichts“, stellt sie dann fest.

„Bin wohl noch etwas benebelt…“, gebe ich zu.

Seltsam – vor jedem anderen Mädchen wäre es mir peinlich gewesen. Aber bei Noemi habe ich das Gefühl, dass sie mich nicht durch eine rosarote Brille sehen würde. Ich denke nicht, dass ich mich irgendwie verstellen muss, besonders cool rüber kommen oder jemand vorgeben muss zu sein, der ich nicht bin.

„Das war ja auch eine Hammeraktion gestern“, sagt sie zu mir. „Kannst froh sein, dass du dir bei deinem Sturz von der Bühne nicht irgendwas gebrochen hast.“

„Ich bin von der Bühne gestürzt?“, frage ich ungläubig.

„Aber volle Kanne“, meint sie. „Schon beim ersten Lied.“

„Was um alles in der Welt hab ich denn auf der Bühne gemacht?“, frage ich verdutzt.

Noemi lacht.

„Du hast versucht zu singen“, sagt sie zu mir.

Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen und halte sie mir vors Gesicht.

„Keine Sorge“, sagt Noemi. „Es hat keiner gemerkt, dass du nicht singen konntest. Als es richtig losging, lagst du schon unter der Bühne.“

Ich muss lachen.

„Passiert dir eigentlich so etwas öfters?“, will sie wissen.

„Manchmal“, gebe ich zu. „Ich bin mal nur in Unterhose mit dem Auto losgefahren und kam in eine Polizeikontrolle.“

Noemi muss lachen.

„Und als ich in Amerika im Urlaub war, hat mich mal eine Frau angesprochen, die mich dann mit auf eine öffentliche Toilette mitgenommen hat, um zu knutschen. Und wenig später war sie weg, und mein ganzes Geld auch“, werfe ich nach.

„Haha“, macht Noemi. „Selbst Schuld.“

Sie lacht laut.

„Es hat sich hinterher herausgestellt, dass sie wohl eine Prostituierte war. Ich hatte nie vor, mit ihr mitzugehen oder mit ihr was zu machen. Aber das musste ich dann den Bullen erklären, die mich für einen Freier hielten. Ist ja in Amerika streng verboten.“

„Und wie hast du dich herausgeredet?“, will sie wissen.

„Ich hab einfach gesagt, ich Tourist, ich keine Ahnung.“

Wir lachen beide.

„Wo in der Welt warst du noch gewesen?“, fragt sie schließlich.

Daraufhin laufe ich zum Schrank und hole eine Fotomappe heraus.

„In Amerika mehrmals“, antworte ich ihr. „Dann viel in Spanien, in Portugal, in England und einmal auch in Thailand.“

Noemi sieht sich die Fotos meiner Reisen an.

„Das sind tolle Bilder“, meint sie dann leise. „Ihr müsst ja ganz schön Kohle haben, wenn du so herumkommst.“

„Mein Vater ist Manager in einem Zeitungsunternehmen“, erkläre ich ihr.

„Ist nicht schlecht.“

„Und du? Was machst du so?“ Sie sieht mich an.

„Ich bin zurzeit Zivi in einem Altenheim.“

„Cool“, sagt sie. „Finde ich ganz schön mutig. Viele würden das nicht machen wollen.“

„Ich hab eigentlich kein Problem damit“, stelle ich klar. „Die Alten sind cool drauf. Und sie freuen sich, wenn ich mal ab und zu ein bisschen frischen Wind in die Bude bringe.“

„Und nach dem Zivildienst, was willst du dann machen?“, fragt sie.

„Ich will studieren“, meine ich. „Weiß aber noch nicht genau, was. Wahrscheinlich Medienwissenschaften oder so.“

„Interessant", stellt Noemi fest. „Ich hätte auch gerne studiert.“

Ich sehe sie an und lege einen fragenden Blick auf.

„Ich dachte eigentlich, du wärst eine Studentin von der Fachhochschule.“

„Wie kommst du darauf?“, will sie wissen.

„Die Meisten, die in diese Disco gehen, kommen doch von der Fachhochschule.“

„Ich nicht“, sagt Noemi. „Ich bin in der Ausbildung.“

„Aha“, mache ich. „Würde ich auch lieber machen als zu studieren, aber meine Eltern erwarten das von mir.“

„Warum willst du eine Ausbildung machen? Studieren ist doch cool“, entgegnet mir Noemi.

Noemi legt dann die Fotos wieder zur Seite.

„Eigenes Geld verdienen“, meine ich daraufhin. „Aber irgendwie… weißt du, es ist manchmal schwer für mich, morgens aus den Federn zu kommen.“

„Aber du hast einen guten Job“, macht sie mir dann klar. „Weißt du, diese alten Menschen können so dankbar sein. Und wenn du sie im Stich lässt, wäre das nicht fair ihnen gegenüber.“

„Ja, da hast du sicher Recht“, pflichte ich ihr bei.

„Hast du öfters schon gefehlt?“, will Noemi wissen. „Du hättest doch sicher heute arbeiten sollen.“

„Ja, ich hatte letztens ein Disziplinarverfahren wegen meiner Fehlstunden.“

„Leon, du solltest echt regelmäßig zur Arbeit gehen“, gibt mir Noemi zu Bedenken.

„Erzählst du mir auch etwas über dich?“, frage ich Noemi dann fast beiläufig. Sie scheint es zu überhören.

„Komm, gehen wir in die Eisdiele, hast du Lust?“, sagt sie stattdessen.

Ich schnaufe aus.

„Ich versuche es“, meine ich dann.

Es ist heute ein sonniger Abend. Die Wespen und Hummeln schwirren um den Tisch herum, an dem Noemi und ich in der Eisdiele sitzen. Im Radio läuft italienische Musik. Höre ich nicht so gerne, aber hier klingt sie irgendwie schön. So beruhigend.

„Ich nehme einen Nussbecher“, bestellt Noemi beim Kellner, der dann kommt.

„Ich trinke nur etwas“, sage ich schließlich.

Ich bestelle mir ein Pils. Aber schon bevor ich die Bestellung aussprechen kann, nimmt Noemi meine Hand.

„Leon“, sagt sie. „Nach gestern… meinst du nicht…“

„Okay“, lächele ich. „Ich nehme den Schokoladenbecher.“

„Du trinkst gerne mal Einen“, stellt Noemi dann fest. Und irgendwie macht es mir gar nichts aus, dass sie danach fragt.

„Schon“, sage ich leise.

„Mehrmals die Woche?“, fragt sie.

Ich nicke.

„Regen sich deine Eltern deswegen immer wieder auf?“, will sie schließlich wissen.

„Kann sein“, meine ich, während ich sie einfach lächelnd anschaue.

„Leon“, flüstert Noemi, als sie meine Hand nimmt. „Was ist mit dir? Du siehst so geistesabwesend aus.“

Ich zucke mit den Schultern.

„Weißt du“, fange ich an, „ist dir das auch schon mal passiert? Du triffst auf jemanden, und plötzlich hast du das Gefühl, dass du diese Person seit Jahren kennst, dass du nichts vor ihr verheimlichen musst und ihr alles sagen kannst, und dass, egal was es ist, du das Gefühl hast, dass sie dich versteht und zu dir hält?“

Noemi nickt schwach.

„Mir geht es mit dir so“, gestehe ich ihr gegenüber dann. „Es ist so… ich weiß nicht… plötzlich ist alles so anders…“

„Ich habe auch irgendwie das Gefühl, ich würde dich schon Jahre kennen“, meint Noemi dann lächelnd.

„Aber trotzdem weiß ich nichts über dich“, stelle ich fest.

„Keine Fragen, keine Lügen“, sagt Noemi leise.

Ich schaue sie stumm an.

„Wir werden noch Zeit genug bekommen, mehr von uns zu erfahren“, sagt sie nachdenklich. „Findest du nicht?“

„Okay“, lächele ich. „Wobei ich wirklich das Gefühl habe, du kennst mich schon gut.“

„Ich werde dir mehr erzählen", sagt Noemi schließlich. „Beizeiten erzähle ich dir mehr über mich. Aber jetzt möchte ich noch nicht.“

„Kein Problem“, sage ich zu ihr. „Heißt das, dass wir uns wiedersehen?“

Noemi strahlt mich an. „Auf jeden Fall“, sagt sie.

Sie gibt mir heute noch keinen Kuss, als sie dann geht, nachdem sie mich wieder nach Hause zurückgebracht hat. Aber ihre Augen verraten mehr als tausend Worte. Ich fühle etwas. Ich fühle etwas, und das ist immens. Und ich glaube, ihr geht es genau so. Ich bin nicht so ganz sicher, dass sie mich auch liebt oder sich in mich verliebt hat. Alles war richtig schön heute. Ich könnte losrennen und die ganze Welt umarmen. Und sie lächelte, als ob sie das auch wollte. Jedenfalls bin ich verliebt. Und ich freue mich so sehr, dass ich sie bald wieder treffen würde.

Noemi. Fremdes, geheimnisvolles Mädchen, das mein Leben gekreuzt hat. Ich weiß nicht, warum sie geheimnisvoller ist, als ich denke. Aber in diesem Moment, als ich so da stehe, vor unserer Haustüre, und ihr nachschaue, als sie zur Bushaltestelle geht, ist es gar nicht wichtig, etwas über sie zu wissen.

Sie ist Noemi, mein unbekannter Engel. Und mehr braucht sie zu diesem Zeitpunkt nicht zu sein.

Kapitel 4 - Das Ende vom Regenbogen

Ich steuere den Wagen mit konstanten hundertzwanzig Stundenkilometern über die französische Autobahn. Der Fahrtwind weht uns in den Haaren, und Noemi legt ihre Füße auf die vorderen Armaturen, während ihre langen, blonden Haare hin und her wehen.

Schließlich bindet sie sich einen Zopf und sieht mich mit strahlenden Augen an.

„Hunger?“, frage ich sie.

Aber sie reagiert gar nicht auf meine Frage.

„Du, Leon, das kommt mir alles so vor wie in einem Traum“, sagt sie stattdessen. „Mit dir so einfach mal ein Wochenende wegfahren, einfach mal ins Grüne, irgendwo hin… das ist so der Wahnsinn.“

„Danke“, lächle ich ein bisschen stolz.

„Wann hast du das letzte Mal so etwas Verrücktes gemacht?“, will sie dann wissen.

„Ich glaube, etwas so Verrücktes noch nie“, überlege ich.

„Aber du hast doch schon jede Menge Unsinn gemacht“, stellt Noemi fest.

„Noch nie nüchtern.“

Ich lächle sie an.

„Du, ich habe jetzt seit gut zwei Wochen nichts mehr getrunken.“

„Mensch, das ist ja toll“, sagt Noemi stolz. „Siehst du, es geht ja auch ohne Alkohol.“

„Ja“, stelle ich fest. „Mit dir auf jeden Fall.“

Als das Hinweisschild für Straßburg kommt, nehme ich die Ausfahrt und biege, nachdem wir die Autobahn verlassen haben, in eine Straße ein, die in die Stadt hineinführt.

Wir landen wenig später in der Altstadt, und da gibt es ein kleines Hotel, das sehr urig aussieht. Es hat gerade mal drei Stockwerke. Die Fenster sind groß und im gotischen Stil gehalten, und das Mauerwerk ist fest wie das einer Kirche. Das Haus ist so gar nicht mein Stil. Aber alle Häuser hier in der Straßburger Altstadt sind so, und es erinnert mich an die Schlösser, die ich als Kind mit meinem Vater zusammen in der Provence und dem Loire-Tal ansah. Es gefällt mir irgendwie. Es ist anders, aber es gefällt mir.

„Wie findest du es?“, will ich von Noemi wissen.

„Ist doch sicher wahnsinnig teuer“, meint sie daraufhin.

„Maus“, sage ich. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich sehr gerne auf diesen Trip eingeladen habe. Geld spielt keine Rolle.“

Noemi schnaubt.

„Mach dir keine Gedanken, bitte“, sage ich zu ihr.

Noemi sieht mich einfach an und lächelt.

„Komm, bitte“, sage ich zu ihr. „Gehen wir rein und fragen?“

„Okay“, sagt Noemi.

Während ich zum Check-in gehe und unsere Taschen in das Haus hineintrage, sucht Noemi die Toilette auf und scheint sich ein bisschen frisch zu machen.

Wenig später haben wir bereits unser Zimmer. Es ist richtig schön gelegen, mit Blick auf den angrenzenden Garten. Überall duftet es hier nach Rosen und Lilien. Und im weiteren Bereich ist sogar ein Gewürzgarten angelegt, wie man ihn von den typischen Schlössern dieser Gegend her kennt.

Ich stehe am Fenster und sehe hinaus. Ich bemerke nicht, dass Noemi für eine Weile im Badezimmer verschwunden ist. Sie sagte zwar, dass sie auf die Toilette muss, aber das ist jetzt bestimmt eine Viertelstunde her.

Ich genieße die frische Sommerluft und zünde mir eine Zigarette an.

Als Noemi wiederkommt, lehnt sie sich an mich, und ich lege meinen Arm um sie.

„Es ist so wahnsinnig toll hier“, sagt sie leise.

Ich bemerke nicht, dass sie auf einmal gar nicht mehr so zufrieden aussieht. Ich sehe nicht, dass sie nicht mehr ihr Lächeln auf den Lippen hat, sondern nachdenklich zu Boden sieht, statt wie ich aus dem Fenster rauszuschauen und die Atmosphäre in sich aufzusaugen.

„Gehen wir nachher in die Stadt?“, frage ich sie. „Da ist eine Waikiki-Bar.“

„Ja“, sagt sie. „Das ist eine sehr schöne Idee.“

Ich sehe ihr in die Augen, und als ich den Blick auf sie erhasche, lächelt sie mich an.

„Ist alles okay, Noemi?“, frage ich dann leise.

Sie nickt. „Es ist nur… ich hatte irgendwie noch nie das Gefühl, dass ich je so verliebt war…“

Mein Herz klopft.

„Ich dachte schon, du würdest es nicht sagen“, lächle ich. „Ich bin auch sehr verliebt, Noemi. Und ohne Ende glücklich.“

Sie lehnt sich an mich.

„Leon, ich möchte deine feste Freundin sein“, haucht sie. „So richtig.“

Plötzlich holt sie etwas aus ihrer Tasche. Ich sehe erst nicht, was es ist, aber dann sehe ich ein kleines Etui. Sie gibt es mir schließlich. „Hier, das ist für dich“, flüstert sie. Ich öffne das Etui, und heraus kommt ein wunderschöner silberner Ring.

„Wow…“, entfährt es mir nur.

Und dann küsst sie mich. Innig und lange. Ich bin vielleicht jemand, der mit Mädchen nicht unbedingt ein schwieriges Spiel hat. Aber in dieser Beziehung, und gerade bei Noemi, bin ich doch ein bisschen altmodisch. Ich bin froh, dass dies erst jetzt unser erster richtiger Kuss ist. Das macht unsere ganz junge Liebe noch viel interessanter und wertvoller.

„Love you“, flüstere ich ihr dann anschließend zu.

„Ich dich auch“, sagt sie.

Und während unserem zweiten Kuss krabble ich mit meinen Fingern an ihrem Arm hinauf. Als ich an der Innenseite von ihrem Ellbogen angelangt bin, spüre ich plötzlich etwas, was ich nicht zuordnen kann.

Ich streiche ihr über den Kopf, als unser zweiter Kuss zu Ende geht, und dann sehe ich es: Einstichwunden. An der Innenseite ihrer Ellbögen hat sie mehrere Einstichwunden. Ich hätte dem keine besondere Bedeutung zugemessen. Hätte ich auch nicht getan, wenn sie nicht auf einmal so traurig geschaut hätte.

„Maus, was ist los?“, frage ich sie dann.

„Ich… mir ist grad nicht gut“, stammelt Noemi dann. Und wieder rennt sie zur Toilette. Als sie wieder herauskommt, scheint es ihr ruckartig besser zu gehen.

„Alles okay?“, frage ich dann.

„Ich bin glücklich, Leon", haucht sie nur leise.

Am Abend sind wir dann in der besagten Waikiki-Bar. Wir trinken beide keinen Alkohol, es läuft auch so perfekt. Wir fühlen uns großartig und reden den ganzen Abend bei unseren Cocktails ohne Alkohol.

Noemi ist, anders als vorhin, ganz ausgelassen, fröhlich und zufrieden. Und ich liebe es, sie so zu sehen. Später tanzen wir sogar noch Engtanz zur ruhigen Musik, die hier gespielt wird. Und so gegen ein Uhr nachts gehen wir dann wieder raus an die frische Luft.

Als Noemi tief einatmet, sehe ich sie an und mache es ihr nach.

„Spürst du das?“, frage ich.

„Was?“

„Das Glück“, meine ich.

„Ja“, sagt sie.

In dieser Nacht geschieht das erste Mal zwischen uns. Hier in Frankreich, in einem wahnsinnig schönen Hotelzimmer in einem alten, rustikalen Haus. Und es ist das Wahnsinnigste, was ich seit Langem erlebt habe. Kein Drink dieser Welt, kein Mädchen dieser Welt könnte mir das geben. Und es ist so echt, so neu und alles ist toll. Ich weiß in dieser Sekunde schon, dass ich alles tun würde, um dieses Glücksgefühl zu halten, was immer geschieht.

Als Noemi einschläft, betrachte ich sie noch eine Weile, wie sie neben mir im Bett liegt. Auf dem Stuhl liegen ihre Klamotten, und auf dem Nachttisch ihre Brieftasche. Ich will gerade ihre Brieftasche in ihren Rucksack tun, damit sie nicht verloren geht – und da fällt ihr Personalausweis heraus. Ich will mir kurz das Bild ansehen, und dann sehe ich die Adresse: Berliner Straße 15.

Berliner Straße? In Düsseldorf?

Das hätte jede andere Straße sein können, ich würde sie nicht kennen. Aber die Berliner Straße ist in der ganzen Stadt bekannt. Und diese traurige Berühmtheit erlangte sie, weil sie als die absolut schlechteste Wohngegend mit der höchsten Kriminalitätsrate bekannt ist. Sie ist so heruntergekommen, dass dort nur die Ärmsten der Armen leben, die besonders schwierigen Fälle sozusagen. Diese Menschen, die Leute wie meine Eltern als Asozial abstempeln würden. Gangster. Banden. Ghetto-Kids. Drogensüchtige…

Noemi macht ihre Augen auf, als sie merkt, dass ich mit ihrem Ausweis in der Hand an ihrem Bettrand sitze.

„Schatz, ich wollte ihn nur wieder zurücktun, er ist raus gefallen“, versuche ich mich zu entschuldigen.

„Nicht schlimm“, sagt Noemi leise. „Jetzt weißt du ja, warum ich nicht gerne etwas über mich erzählen wollte.“

„Maus, es ist mir egal, wo du herkommst“, versichere ich ihr. „Jetzt sind wir hier zusammen, das zählt.“

„Die Gegend, aus der ich komme, und in der ich lebe, ist nicht die Beste, ich weiß…“, beginnt Noemi. „Aber das ist auch für mich nicht leicht.“

„Ich habe keine große Vorstellung, wie das Leben dort ist“, sage ich dann zu ihr. „Aber glaube mir bitte, es ist nicht wichtig für uns.“

„Danke“, haucht sie. „Es ist mir sehr viel wert, dass du mich akzeptierst, wie ich bin. Aber ich bitte dich trotzdem, mich dort nicht zu besuchen.“

„Warum?“, will ich schließlich wissen.

„Es ist einfach eine schlimme Gegend, und ich möchte nicht, dass du mich dort so siehst.“

„Aber Maus, ich habe dir doch gesagt, dass das nicht wichtig ist.“ Ich sehe sie ernst an. „Aber okay, ich werde dich dort nicht besuchen, wenn du es nicht magst. Es gibt tausend andere Orte, an denen wir uns treffen können.“

„Tausend Orte, die schöner sind als der, von dem ich komme.“

Sie lächelt mir zu, und dann gibt sie mir einen Kuss. Ich lege mich neben sie und lehne meinen Kopf an ihre Schulter.

„Du, verrätst du mir, gegen was du eigentlich allergisch bist?“, fällt es mir dann plötzlich ein.

„Wie?“, sagt sie dann. „Gegen gar nichts, denke ich. Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Na, ich habe doch vorhin an deinem Arm die Einstiche gesehen, da dachte ich, du bekommst regelmäßig Allergie-Spritzen oder so. Ein Arbeitskollege von mir hat das auch, der hat es mit Pollen und Heuschnupfen und so.“

Noemi erschrickt. Sie sagt nichts.

Hätte ich dieses versteckte, vielleicht fast absichtlich offensichtliche Signal deuten können. Hätte ich es bloß deuten können. Aber das kann ich jetzt noch nicht. Da von ihr keine Erklärung kommt, frage ich nicht näher nach. Es ist nicht wichtig, wo sie herkommt. Es ist nicht wichtig, dass sie offenbar aus ärmlichen Verhältnissen kommt. Ich liebe sie, das zählt. Ich liebe sie, weil sie meine Freundin ist. Ganz offiziell. Und es sollte nichts geben, was uns wieder trennen würde.

Kapitel 5 - Disput mit den Eltern

Schade, dass es heute geregnet hat. Gerade an diesem Sonntag, wo ich wieder mal frei habe, würde ich gerne mit meinem Cabrio mit Noemi durch die Gegend brausen, Pampa-Power. Ab ins Grüne.

Aber na, ja, ich freue mich auch auf den schönen Fernsehabend. In meinem Zimmer habe ich schon alles vorbereitet. Ich habe Chips und Cola gekauft, und die Kerzen brennen schon. Da ist es auch nicht wichtig, dass wir heute einen typischen Frauenfilm ansehen – Dirty Dancing. Zum wievielten Mal lief der wohl schon im Fernsehen? Aber Noemi will ihn unbedingt sehen.

Bis sie kommt, lege ich schon mal unsere Lieblings-CD auf. Ich lümmele auf meiner Couch und rauche eine Zigarette, während ich auf sie warte.

Etwa eine halbe Stunde später geht die Türklingel. Aufgeregt und in meinen besten Sonntagsklamotten laufe ich das große Treppenhaus hinunter und gehe durch die Eingangshalle unserer Villa zur Tür.

„Das ist für mich“, sage ich meinen Eltern, die im Wohnzimmer sitzen und lesen.

Als ich öffne und sie so vor mir steht, klopft mein Herz. Wir sind jetzt schon über einen Monat zusammen, aber sie schafft es jedes Mal aufs Neue, dass es sich so anfühlt, als wäre es der erste Tag.

„Hey, Maus“, begrüße ich sie.

„Hey“, sagt sie, während sie mir einen Kuss gibt. Dann laufen wir ins Wohnzimmer. Meine Eltern schauen kurz auf.

„Mama, Papa, ihr kennt ja Noemi schon vom Sehen“, stelle ich sie ihnen vor.

„Guten Tag“, grüßt mein Vater sie höflich.

Schüchtern gibt Noemi ihm die Hand.

„Nun, was habt ihr für heute geplant?“, will mein Vater wissen.

„Wir sehen uns einen Film an“, sage ich zu ihm.

„Interessant“, meint mein Vater. „Noemi, erzählen Sie doch mal etwas über sich. Was machen Sie so? Wie wohnen Sie so?“

„Papa, bitte“, versuche ich, meinen Vater abzulenken.

„Sind Sie Studentin an der Fachhochschule?“, fragt dieser dann aber unbeirrt.

„Ich bin in der Ausbildung“, erklärt Noemi dann schließlich.

„Oh“, sagt mein Vater. „Unser Sohn wird ab kommendem Jahr sein Studium aufnehmen. In welcher Branche machen Sie Ihre Ausbildung?“

„Bäckereifachverkäuferin“, sagt Noemi nur knapp.

Ich spüre schon, dass sie eigentlich genauso genervt ist wie ich.

„Nun, das ist ja ein sehr solides Handwerk", stellt mein Vater fest. „Machen Sie die Ausbildung im Betrieb Ihrer Eltern? Dann stünde dem ja nichts im Weg, dass Sie eines Tages den Betrieb übernehmen.“

„Ja, vielleicht“, gehe ich dann dazwischen. „Können wir jetzt in mein Zimmer gehen?“

„Natürlich“, sagt mein Vater.

Gott sei Dank fragt er nicht weiter. Hätte er gewusst, wo Noemi herkommt, wo sie wohnt, dann hätte er sie achtkantig rausgeschmissen.

Wir bekommen vom Film nicht viel mit. Schon als sie anfangen, so eng zu tanzen und Baby auf der Party ankommt, wo sie den Lehrer trifft, sind wir mitten in eine wilde Knutscherei vertieft. Aber die Musik des Films ist ganz nett. Sie läuft im Hintergrund, ist eigentlich gar nicht so mein Stil, aber sie passt zur Situation.

„Leon“, flüstert Noemi dann, während sie ihren Kopf auf meine Schulter legt. „Ich liebe dich.“

„Ich dich auch, Noemi“, sage ich zu ihr.

Noemi atmet tief aus.

„Was ist?“, frage ich. „Ist alles okay?“

„Ja“, sagt sie. „Ich fühle mich bei dir so… so sicher…“

„Danke“, antworte ich, ohne groß nachzudenken.

„Es ist nur…“, sagt sie nach einer Pause. "Du hast so ein tolles Haus, du hast so viele Sachen. Und ich, ich bin nur so ein einfaches Mädchen…“

„Ach, Schatz“, meine ich. „Du bist kein einfaches Mädchen. Du bist ein ganz besonderes Mädchen.“

„Aber was habe ich dir denn schon zu bieten?“, sagt sie traurig.

„Noemi, du hast mir mehr zu bieten als es je irgendjemand anderes könnte“, gebe ich ihr zu verstehen. „Mach dir doch keine Sorgen. Es ist mir nicht wichtig, wo du herkommst oder was du machst. Ich finde es nur so endlos schön, mit dir zusammen zu sein.“

„Aber deine Eltern…“, wirft sie ein.

„Scheiß auf die“, antworte ich. „Ich weiß doch selbst am Besten, wen ich liebe, und mit wem ich zusammen sein möchte. Da haben die mir nicht reinzureden.“

Noemi sagt nichts mehr und legt wieder ihren Kopf auf meine Schulter, während ich sie über ihren Arm streichle.

Plötzlich klopft es an der Tür, und wenig später öffnet sich meine Zimmertür.

„Leon, kann ich dich kurz draußen sprechen?“

Mein Vater spricht in seiner super höflichen Art.

Widerwillig gehe ich mit ihm vor meine Zimmertür. Er drückt mir etwas in die Hand.

Noemi und ihre Sachen. Sie muss vorhin ihre Brieftasche verloren haben, als wir unten im Wohnzimmer waren.

Mein Vater gibt sie mir und sieht mich streng an.

„Oh, die hat sie wohl fallen lassen. Danke“, sage ich.

„Ich habe nachgeschaut. Weißt du, wo deine Freundin wohnt? Das ist mit Abstand die schlimmste Gegend in der Stadt, wenn die Adresse stimmt“, informiert mein Vater mich.

„Wieso spionierst du in der Brieftasche meiner Freundin?“, frage ich verärgert.

„Dann weißt du, wo sie herkommt. Ich möchte, dass du sie jetzt bittest zu gehen. Und ich möchte sie nicht mehr hier in meinem Haus sehen, darüber bin ich mir mit deiner Mutter einig“, sagt er bestimmt.

„Was? Was hast du dich eigentlich in meine Beziehungen einzumischen?“, sage ich und sehe ihn dabei streng an.

„Junge, du wirst schon bald, wenn du studierst, eine nette Kommilitonin finden, die wie du aus gutem Hause kommt“, sagt er.

„Scheiß auf dein gutes Haus. Ich bin mit Noemi zusammen. Sie ist meine Freundin, egal wo sie herkommt, und damit Ende“, erkläre ich.

„Ich warne dich“, sagt er lauter.

„Würdest du bitte leiser reden, das ist unhöflich meiner Freundin gegenüber“, ahme ich seinen Ton nach.

„In zehn Minuten ist sie aus der Tür draußen. Und du wirst sie nicht wiedersehen“, sagt er unmissverständlich.

Ich nehme die Brieftasche und mache, nachdem ich wieder in meinem Zimmer bin, die Tür fest zu.

„Was wollte er?“, fragt Noemi nachdenklich.

Aber ich möchte ihr nicht sagen, was mein Vater mir gesagt hat.

„Er hatte deine Brieftasche gefunden“, sage ich, als ich sie ihr gebe. Ich versuche, so unauffällig wie möglich zu wirken. „Du, sollen wir etwas ganz Verrücktes machen?“

Noemi schaut mich an.

„In Neuss ist heute Jahrmarkt. Da gibt es eine ganz verrückte Achterbahn. Traust du dich, sie zu fahren?“

„Es regnet“, stellt Noemi fest.

„Dann macht es umso mehr Spaß“, sage ich leise zu ihr.

„Was ist wirklich los?“, fragt Noemi dann.

Ich blicke sie schuldbewusst an.

„Deine Eltern wollen mich nicht hier haben, richtig?“, will sie wissen.

Mein Blick wandert auf den Boden.

„Ist schon okay“, meint sie schließlich. „Ich hab’s nicht anders erwartet.“

„Mein Vater hat in deiner Brieftasche herumspioniert. Er muss deinen Ausweis gefunden haben, wo drin steht, dass du in der Berliner Straße wohnst“, erkläre ich und nehme sie in den Arm. „Aber bitte glaube mir, das ist nicht wichtig. Ich lasse mir von meinen Eltern nicht sagen, mit wem ich zusammen bin, und mit wem nicht.“

„Leon, aber wo sollen wir uns denn treffen, wenn wir uns hier nicht mehr sehen können?“ Noemi weint fast.

„Das kriegen wir schon hin“, sage ich zu ihr. „Dann nehme ich mir eben eine eigene Wohnung. Das kann ich innerhalb von zwei, drei Monaten arrangieren.“

Noemi sieht mich an und atmet resigniert aus.

„Mach dir bitte nicht so viele Gedanken“, meine ich. „Komm, hauen wir ab von hier.“

Wir fahren dann auf den Jahrmarkt und fahren tatsächlich mit der Achterbahn. Anschließend gehen wir ins Festzelt, und obwohl es immer noch nieselt, haben wir Spaß ohne Ende.

Typisch meine Eltern. Wie gerne hätte ich ihnen an den Kopf geknallt, dass Noemi es geschafft hat, dass ich seit mittlerweile fast zwei Monaten nichts mehr trinke. Es ist ihnen nicht mal aufgefallen, dass ich wieder regelmäßig zur Arbeit gehe und dass ich die Abende nicht mehr in Kneipen oder Discos verbringe, es sei denn, Noemi ist dabei, und dann trinken wir auch nur Cola, Kaffee oder Energy Drinks.

Einen Abend später ist das Wetter wieder besser, und wir machen unsere Tour ins Grüne. Wir fahren einfach mit dem Auto los, irgendwo hin. Wir sehen uns ein kleines Dorf an, das überwiegend aus Fachwerkhäusern besteht, wir gehen an einem versteckten Marktplatz einkaufen und machen dann auf einer Wiese ein Picknick. Und am Abend besuchen wir noch einen Segelflughafen.

„Ich fand den Tag richtig schön“, sage ich zu ihr, während wir auf dem Rückweg nach Düsseldorf sind.

„Ich auch“, lächelt Noemi. „Ich muss jetzt aber leider langsam wieder nach Hause…“

„Ja“, sage ich. „Ich bringe dich natürlich. Sehen wir uns morgen wieder?“

Noemi sieht mich an.

„Kannst du mich bitte einfach an der Straßenbahnhaltestelle am Bahnhof rauslassen? Da fährt eine Bahn, die direkt vor meiner Haustür hält.“

„Ich kann dich doch nach Hause bringen“, überlege ich.

Und plötzlich sieht Noemi wieder so traurig aus. Das war schon manchmal der Fall, und ich habe es schon ein paar Mal bemerkt, dass sie manchmal solche Momente hat – in der einen Sekunde ist sie mit mir überglücklich, und in der nächsten Sekunde schaut sie dann ganz traurig, so als ob sie irgendetwas bedrücken würde.

„Was ist los, Schatz?“, frage ich sie, als ich bereits auf die Landstraße in Richtung Düsseldorf einbiege.

„Ich möchte nicht, dass du mich dort besuchst“, sagt sie nachdenklich. „Ich möchte nicht, dass du in meiner Straße vorbeikommst.“

„Ach, Maus…“, beginne ich.

„Es ist mir irgendwie peinlich, und ich möchte das, was wir haben, nicht dadurch gefährden.“

„Es muss dir nicht peinlich sein“, stelle ich klar.

„Ich will eigentlich gar nicht nach Hause“, haucht Noemi schließlich.

„Ich auch nicht“, sage ich lächelnd zu ihr.

Wir verbringen dann den Abend in einem Hotel irgendwo in einem Dorf. Ich bezahle es heimlich mit der Kreditkarte, die auf meinen Vater läuft. Ich denke in diesem Moment nicht nach, dass er es herausbekommen würde. Dieser Abend, diese Nacht ist zu schön, um sich darüber Gedanken zu machen. Und Noemi ist so glücklich und ausgelassen. Mein Herz geht mir auf, als ich sehe, welche Freude sie mit mir hat.

Am nächsten Morgen bringe ich sie dann zum Bahnhof nach Düsseldorf. Nachdem wir uns mit einem leidenschaftlichen Kuss verabschieden, fahre ich dann wieder zurück zu mir nach Hause.

Schon als ich parken will, steht mein Vater in der Haustür und betrachtet mich mit Argusaugen.

„Wo warst du gewesen?“, fragt er mich, als ich aussteige.

„Unterwegs“, sage ich.

„Warum mietest du dich in einem Hotel ein?“, sprudelt es gleich aus ihm heraus.

Scheiße. Er muss die Abrechnung schon bekommen haben.

„Na, hier dürfen wir uns ja nicht aufhalten“, werfe ich ihm verärgert entgegen. „Wenn ich mit Noemi eine Nacht verbringen möchte, dann muss ich das wohl künftig woanders machen.“

„Ich habe dir gesagt, du wirst sie nicht wiedersehen“, sagt er streng.

Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört, und gehe in Richtung der Eingangstüre unseres Hauses.

„Wenn du sie noch mal triffst, dann werden Mutter und ich dich enterben“, stellt mein Vater klar.

Enterben. Das ist krass.

Es war geplant, dass ich Medienwissenschaften studiere und später die Firma und das Haus meiner Eltern vererbt bekäme. Sie malten sich meine Zukunft in ihrem Kopf schon so schön aus.

Aber ich habe vielleicht ganz andere Pläne, das weiß ich doch jetzt noch nicht. Ich könnte genauso gut auch ohne das Erbe meiner Eltern leben. Das interessiert mich nicht. Ich lasse mir doch von meinen Eltern nicht vorschreiben, mit wem ich eine Beziehung führe.

Ich beschließe, egal was kommen würde, für mich und Noemi zu kämpfen. Das ist mir wichtiger als alles Andere. Und wenn meine Eltern das nicht verstehen, dann ist das ihr beschissenes Problem, nicht meins. Ich werde auch ohne das Geld meiner Eltern klar kommen, wenn sie mir den Geldhahn zudrehen. Das ist mir egal.

Die Beziehung zwischen Noemi und mir steht unter einem so guten Stern. Wir haben so viele Gemeinsamkeiten, und wir sind so gerne zusammen. Das will ich um keinen Preis aufgeben. Und ich werde einen Weg finden, wie wir trotz der Attacken meiner Eltern zusammen bleiben können. Ich weiß, für Noemi lohnt es sich zu kämpfen. Und das will ich.

Kapitel 6 - Der heimliche Besuch

Merkwürdig, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man etwas tut, was einem Spaß macht. Und wie langsam sie vergeht, wenn man auf etwas wartet, was dann letzten Endes doch nicht passiert.

Noemi meldet sich schon seit mehreren Tagen nicht. Ich habe sie zweimal angeschrieben, aber sie reagiert nicht. Ich gehe davon aus, dass sie wieder ihr Ladekabel vom Handy verlegt hat oder mit ihren Ausbildungsarbeiten so beschäftigt ist, dass sie keine Zeit hat zu antworten.

Merkwürdig finde ich es aber schon, denn erst vor drei Tagen hat sie mir gesagt, wie sehr sie mich liebt und dass sie froh ist, jemanden wie mich zu kennen. Was es wohl bedeuten mag, wenn jemand dir sagt, er ist froh, jemanden wie dich zu kennen?

Ich sitze schon seit drei Stunden auf meinem Sofa im Zimmer und höre Musik. Gott sei Dank sind meine Eltern heute nicht da, also können sie nicht an mir herumnörgeln oder mich sonst wie nerven.

Ich könnte ja mein Cabrio nehmen und einfach mal ein bisschen raus fahren, denke ich so bei mir. Das habe ich lange nicht mehr gemacht. Es ist zwar schon abends, so gegen sechs Uhr, aber die Nacht ist ja noch jung. Na ja, trinken würde ich nicht, das weiß ich. Obwohl ich manchmal einen Grund suche, um wieder trinken zu können. Aber ich habe es Noemi versprochen. Sie mag mich nicht, wenn ich Alkohol getrunken habe. Eigentlich mag mich niemand, wenn ich Alkohol getrunken habe. Ich habe mir dann immer nur eingebildet, ich wäre stark und bei allen beliebt. Erst jetzt, seit ich nicht mehr trinke, merke ich das voll. Ich merke, wie ich wirklich bin. Und das ist das, was Noemi an mir mag.

Ich nehme mir eine Cola aus meinem Kühlschrank und setze mich an den Fenstersims und schaue hinaus. Das Wetter ist heute nicht schlecht, dafür dass es fast Herbst ist. Die Sonne scheint, und nur einige Wolken sind am Horizont zu sehen. Ideales Wetter eigentlich, um raus zu fahren.

Aber wohin? Egal. Ich trinke meine Cola aus, packe meine Autoschlüssel ein und laufe runter zur Garage, wo mein Cabrio steht.

Mit offenem Dach brettere ich dann ziellos durch die Stadt. Ich fahre am Einkaufszentrum vorbei. Es hat noch auf, aber ich brauche nichts. Also fahre ich weiter.

Ich komme dann zum Stadtgarten. Während ich die Musik ausmache, stelle ich mein Auto ab und steige dann aus.

Im Stadtgarten spazieren einige Menschen mit ihren Hunden, andere joggen. Ich habe ja meine Sportsachen an, also laufe ich auch eine Runde.

Nach etwa einer halben Stunde komme ich wieder zum Auto und setze mich rein.

Noemi.

Immer muss ich an sie denken. Und ich weiß nicht, wieso, aber jedes Mal, wenn ich an sie denke, überkommt mich so ein ungutes Gefühl.

Als ich an der großen Kreuzung rechts abbiege, sehe ich in der Ferne eine Hochhausanlage. Ich muss unbewusst hierher gefahren sein, und eigentlich ist diese Gegend für ein Auto wie meins nicht so geeignet. Aber trotzdem fahre ich auf die Anlage zu.

Es ist die Berliner Straße. Die Straße, in der Noemi wohnt. Ohne es eigentlich zu wollen oder vorzuhaben, bin ich zu ihr gefahren.

Ich parke den Wagen in einer Ecke und laufe dann die paar Meter zum Haus. Als ich dort ankomme, sehe ich bereits ein paar finstere Gestalten. Sie sehen mich merkwürdig an, aber ich hoffe, in meinen Sportsachen hier nicht allzu sehr aufzufallen.

Ich suche Noemis Hausschild. Das stellt sich als sehr schwierig heraus, da es hier an der Klingelanlage so viele Namen gibt, und auf Anhieb habe ich ihren erst nicht gefunden. Im ersten Haus steht nichts, also laufe ich dann zum zweiten Haus.

Als ich dann auf einem Schild den Namen Kasperski lese, überlege ich eine Weile, ob ich klingeln sollte.

„Leon“, macht hinter mir plötzlich eine Stimme, die ich aus allen anderen heraus erkennen würde. Ich drehe mich ruckartig um.

Und Noemi sieht mir in die Augen.