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Lautlos fällt der Schnee, während die Seele schreit Neue Scandi-Crime für alle Schweden-Krimi-Fans Im beliebten Skiort Åre ist Hochsaison, als in den nahen Wäldern eine entstellte Männerleiche gefunden wird. Das Opfer wurde schwer misshandelt. Doch der Mord gibt Rätsel auf: Weltklasseskifahrer Johan Andersson hatte offenbar keine Feinde. Gleichzeitig verschwindet in einem Nachbardorf Rebecka, die junge Ehefrau von Pastor Nordhammar. Hanna Ahlander und Daniel Lindskog geraten unter Druck. Rebecka ist schwanger. Und sie braucht Medikamente ... »Bestsellerautorin Sten hält bei viel Schnee und Temperaturen um minus 20 Grad die Spannung hoch und macht Lust auf mehr Ahlander-Fälle.« Gong über Band 1, ›Kalt und still‹ »Dass Viveca Sten so erfolgreich ist, hat einen einfachen Grund: Sie ist eine der Besten in ihrem Genre.« Swedish Crime Academy Der zweite Teil der ›Polarkreis-Krimi-Reihe‹ von Viveca Sten: Band 1: Kalt und still Band 2: Tief im Schatten Alle Bände sind unabhängig von einander lesbar und in sich abgeschlossen.
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Seitenzahl: 527
LAUTLOS FÄLLT DER SCHNEE, WÄHREND DIE SEELE SCHREIT
Im beliebten Skiort Åre ist Hochsaison, als in den nahen Wäldern eine entstellte Männerleiche gefunden wird. Das Opfer wurde schwer misshandelt. Doch der Mord gibt Rätsel auf: Weltklasse-Skifahrer Johan Andersson hatte offenbar keine Feinde. Gleichzeitig verschwindet in einem Nachbardorf Rebecka, die junge Ehefrau von Pastor Ekvall. Die Ermittler Hanna Ahlander und Daniel Lindskog geraten unter Druck. Rebecka ist schwanger. Und sie braucht Medikamente …
Von Viveca Sten ist bei dtv außerdem erschienen:
Kalt und still. Ein Polarkreis-Krimi
Blutbuße. Ein Polarkreis-Krimi
Viveca Sten
Der zweite Fall für Hanna Ahlander
Ein Polarkreis-Krimi
Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt
Für meinen Vater
Tord Bergstedt
1933–2020
Es sind minus zwölf Grad draußen, als Anna Larsson den schmalen Tångbölevägen entlangfährt. Auf der Rückbank sitzt der siebenjährige Hugo in seinem Schneeanzug. Sie sind unterwegs zum Slalomtraining in Duved, das samstags um acht Uhr beginnt.
Der Morgen dämmert langsam herauf, aber noch ist es ziemlich dunkel.
Ein Stück voraus bewegt sich etwas, und Anna nimmt den Fuß vom Gas. Neulich stand ein Rentier in der Kurve, hier heißt es aufpassen. Dann sieht sie, dass es nur ein kleiner Hase ist, der angehoppelt kommt. Er hält inne, macht kehrt und verschwindet zwischen den Bäumen.
»Mama«, ruft Hugo mit dünner Stimme. »Ich muss mal.«
»Kannst du es noch aushalten?«, erwidert Anna über die Schulter. »Wir sind bald da.«
»Ich muss aber jetzt.«
Anna seufzt, bis Duved ist es nur noch eine Viertelstunde und draußen ist es schweinekalt. Aber Hugo neigt dazu, einzunässen, wenn die Blase drückt.
Als die Straße breiter wird, fährt sie an den Rand.
»Dann mach schnell«, sagt sie zu ihrem Sohn, der bereits seinen Sicherheitsgurt löst.
Hugo klettert aus dem Auto und stapft zu einem Gebüsch ein paar Meter abseits vom Straßenrand. Nur einen Augenblick später ist er zurück und reißt die Tür auf.
»Da liegt ein Mann auf der Erde«, sagt er aufgeregt.
»Was meinst du?«
»Er liegt da«, beharrt Hugo. »Er hat sich wehgetan.«
Es ist sicher nichts, will Anna denken. Sie hat keine Zeit, um nachzusehen, sie müssen weiter. In einer halben Stunde muss Hugo fertig umgezogen am Lift in Duved stehen. Er ist nicht der Schnellste, und Anna hasst es, ihn anzutreiben.
Aber für gewöhnlich lügt Hugo nicht.
Was, wenn da wirklich jemand liegt?
Im Rückspiegel sieht sie, wie verändert ihr Sohn ist. Seine Augen sind aufgerissen und er wirkt geschockt. Ein Gefühl, dass sie aussteigen und nachsehen sollte, nur zur Sicherheit, macht sich immer stärker breit.
»Okay«, sagt Anna. »Bleib hier, ich bin gleich zurück.«
Als sie die Tür öffnet, springt die Kälte sie an. Ihre Nasenlöcher gefrieren, und der Atem steht wie eine weiße Wolke vor dem Mund. Die Birken sehen aus wie Statuen aus Raureif.
Anna folgt Hugos Spur durch den hohen Schnee, entfernt sich ein paar Meter vom Auto. Sie rutscht aus, bekommt einen Ast zu fassen und begreift im selben Moment, was sie vor sich sieht.
Zwischen den Büschen liegt ein Mann. Die nackten Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Das Gesicht ist blutig.
Anna starrt auf den Körper.
Der Schnee liegt wie eine pudrige Decke über dem Toten, aber das klaffende Loch am Hinterkopf ist nicht zu übersehen.
Die weiße Natur schluckt alle Geräusche.
Übelkeit steigt in ihr hoch, sie muss mehrmals schlucken, um sie zurückzudrängen. Dann stolpert sie zurück zum Auto, um den Notruf zu wählen.
Ein gellendes Signal weckt Polizeikommissarin Hanna Ahlander am Samstagmorgen.
Schlaftrunken tastet sie nach dem Telefon. Das Laken ist schweißnass nach einem bösen Traum von der Vergewaltigung in Barcelona. Das verfolgt sie immer noch, obwohl es dreizehn Jahre zurückliegt und sie inzwischen Spezialistin für Gewaltdelikte an schutzlosen Frauen ist.
Wer ruft so früh an?
Es ist kaum acht Uhr und Wochenende. Nach dem feuchtfröhlichen Abend gestern hat sie sich darauf gefreut, ausschlafen zu können. Morgen kommt ihre Schwester Lydia samt Familie, um die Sportferien in Åre zu verbringen, und dann ist Trubel hier im Haus. Dafür werden Lydias Kinder schon sorgen.
Hoffentlich ist nicht im letzten Moment etwas passiert.
Aus Sorge um ihre Schwester nimmt sie den Anruf an.
»Bist du wach?«, sagt Daniel Lindskog an ihrem Ohr.
Daniel ist derjenige ihrer Kollegen, mit dem sie am engsten zusammenarbeitet. Sie kennen sich gut, auch wenn sie privat keinen Umgang pflegen. Daniel ist ein Jahr älter als sie und eher der Senior. Rein formal gehören sie beide der Abteilung Schwerkriminalität in Östersund an. Er hat ihr den jetzigen Job in Åre besorgt.
»Hmm«, murmelt Hanna schlaftrunken.
Sie zwingt sich, die Augen aufzuschlagen, und rollt sich im Doppelbett auf den Rücken. Wie üblich hat sie das Rollo oben gelassen, um die herrliche Aussicht auf den Åre-See nicht zu versperren.
Heute wäre es egal. Es wird zwar gerade hell, aber das Renfjäll gegenüber ist in grauen, trüben Nebel gehüllt. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel, die Fichte vor dem Fenster trägt ein weißes Kleid.
Hanna blinzelt, sie kann kaum ihren Blick scharfstellen, geschweige denn einen klaren Gedanken fassen.
»Wir haben einen Leichenfund«, sagt Daniel mit angestrengter Stimme. »Verdacht auf Mord.«
»Was?«
Jetzt ist Hanna hellwach. Sie setzt sich auf und streicht die wirren braunen Haare aus dem Gesicht. Ein Mord? Seit ihrer letzten großen Ermittlung sind erst zwei Monate vergangen.
»Die Meldung ist vorhin reingekommen«, fährt Daniel fort. »Man hat einen Toten in der Nähe von Tångböle gefunden, an der Straße zur norwegischen Grenze.«
Hanna muss überlegen. Sie wohnt noch nicht lange in Åre, ihr sind nicht alle Ortsnamen geläufig.
»Was ist passiert?«
Ihre Stimme klingt eingerostet. Gestern war sie mit Karro, ihrer neuen Bekannten aus Åre, essen, im Vinbaren. Es ist nicht superspät geworden, aber jetzt wäre ihr lieber, sie hätte auf den letzten Drink verzichtet. Sie weiß nicht mal, ob sie sich um diese Zeit schon ans Steuer setzen sollte.
Sie will Daniel nichts davon sagen.
»Die Leiche ist ziemlich übel zugerichtet, wenn ich es richtig verstanden habe«, sagt er. »Regelrecht abgeschlachtet. Die Sache sieht nicht gut aus.«
Sie arbeiten zwar erst seit wenigen Monaten zusammen, aber Hanna hört, wie gestresst er ist.
Im Hintergrund schlägt eine Tür zu, Wind rauscht in Daniels Mikrofon.
»Kannst du in fünfzehn Minuten fertig sein? Ich hol dich ab.«
Aus dem freien Wochenende wird nichts, so viel steht fest. Wenigstens braucht sie nicht selbst zu fahren, das ist schon mal eine Erleichterung.
»Klar«, sagt sie und greift nach Jeans und Pullover, die vor dem Bett auf dem Fußboden liegen. »Bis gleich.«
Sie wäscht sich rasch das Gesicht, setzt die Haare zu einem lockeren Knoten auf und zieht sich an. Dann geht sie hinauf in die Küche im Erdgeschoss. Das luxuriöse Ferienhaus gehört Lydia und ihrem Mann. Hanna wohnt hier, seit sie Stockholm im Dezember verlassen hat.
Ihre Gedanken überschlagen sich. Schon wieder ein Kapitalverbrechen in Åre.
Es läuft ihr kalt über den Rücken.
Sie schaltet die Kaffeemaschine ein und drückt den Knopf für »extra stark«. Durchs Küchenfenster sieht sie Daniels Wagen auf den breiten Parkplatz fahren. Er hupt ein paarmal, und mit einem letzten Blick auf die vollgestellte Spüle – sie muss wirklich aufräumen, bevor Lydia kommt – greift sie nach ihrer Jacke und öffnet die Tür.
Die Kälte lässt sie nach Luft schnappen. Draußen ist es eisig. Sie hätte einen Pullover mehr anziehen sollen, aber weil Daniel wartet, will sie nicht zurücklaufen. Also geht sie weiter.
Er beugt sich über den Beifahrersitz und öffnet die Tür für sie. Sein Gesichtsausdruck ist angespannt.
Trotz der ernsten Lage freut sie sich, ihn zu sehen.
Wie immer.
Im Licht der Einsatzfahrzeuge wechselt die Winterlandschaft zwischen Blau und Weiß, als Daniel und Hanna sich dem Fundort nähern. Daniels Blick schweift über die Polizeiautos, die entlang der Straße stehen, das Gebiet ist bereits mit gestreiftem Polizeiband abgesperrt.
Die Informationen aus der RLC, der regionalen Einsatzleitstelle in Umeå, sind besorgniserregend. Die Frau, von der der Notruf gekommen war, hatte von einer verstümmelten Leiche gesprochen. Die Beschreibung klang richtig übel.
Was geht hier vor? Daniel denkt sofort an den Fall im Dezember. Der hat ihn sehr mitgenommen. Er hat das Bild der leichenblassen Toten im Schnee neben dem Skilift noch gut in Erinnerung.
Er holt tief Luft und steigt aus dem Auto. Sofort schlägt ihm die Kälte ins Gesicht. In Momenten wie diesem ist er dankbar für seinen Vollbart, der das Kinn ein wenig schützt.
Zusammen mit Hanna geht er zu der Stelle, wo der schneebedeckte Körper in einem Gebüsch liegt. Um den Fundort nicht zu kontaminieren, versuchen sie, Abstand zu halten. Die Leute von der Spurensicherung sind noch nicht da, und die nächste Kriminaltechnikerin, Carina Grankvist, wohnt in Mattmar. Von lokalen Rechtsmedizinern können sie hier oben nur träumen, in der Polizeiregion Nord sind die Ressourcen streng zentralisiert. Die rechtsmedizinische Station ist in Umeå, dorthin wird die Leiche gebracht werden, nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit getan hat.
Inzwischen ist es hell genug geworden, um gut sehen zu können. Daniel versteht sofort, warum die RLC von einem schweren Verbrechen gesprochen hat. Der Mann auf dem Boden hat eine klaffende Wunde am Hinterkopf. Die Hände sind mit Kabelbinder auf dem Rücken gefesselt. Die Finger scheinen aneinander festgefroren zu sein.
Der Ehering aus Platin ist auf der erfrorenen blauweißen Haut kaum zu erkennen.
»Sieht aus, als wäre ihm der Schädel eingeschlagen worden«, sagt Hanna.
Sie zeigt auf die große Wunde im Schädelknochen. Das dunkelbraune Haar ist von geronnenem Blut verklebt. Trotz des Schnees kann man so etwas wie Knochenstücke in dem Brei erahnen.
»Da war jemand verdammt wütend«, fügt sie leise hinzu.
Es ist windig geworden. Eine Bö setzt die hohen Fichtenkronen in Bewegung. Von einem dicken Zweig rieselt Schnee herunter, ein Wirbelwind fegt die Straße entlang.
Der Tote liegt auf der Seite, sodass eine Wange nach oben zeigt. Daniel sieht deutliche Spuren von Gewaltanwendung. Die Nase ist auch verletzt, wahrscheinlich gebrochen. Aus den Nasenlöchern ist Blut über die Lippen und das Kinn und weiter den Hals hinuntergelaufen.
Ihm fallen kurze Bartstoppeln auf. Das könnte darauf hindeuten, dass der Mann am Abend oder in der Nacht überfallen wurde, etliche Stunden nach der letzten Rasur.
»Ich würde das Alter auf rund fünfunddreißig schätzen«, sagt Hanna. »Mittelgroß, ungefähr eins achtzig. Gewicht gute achtzig Kilo.«
Der Mann sieht aus wie ein durchschnittlicher Schwede, mit winterblasser Haut und kurz geschnittenem, hellbraunem Haar. Das da hätte er selbst sein können, denkt Daniel. Sie dürften etwa gleichaltrig sein.
So schnell kann es gehen.
Aus der Entfernung betrachtet er die Kleidung des Toten. Der Mann trägt einen Pullover und Jeans, aber weder Jacke, Stiefel noch Handschuhe. Die Kleidung deutet darauf hin, dass er sich im Haus befand, als er angegriffen wurde. Wäre er draußen getötet worden, hätte er Wintersachen anhaben müssen.
Irgendwie muss er an diesen Ort gekommen sein. Sie sind hier ein gutes Stück von der nächsten Ortschaft entfernt. Aber wenn er hier zusammengeschlagen worden wäre, müsste es in der Umgebung mehr Blut und mehr Schuhabdrücke geben, oder andere Zeichen von Tumult.
Andererseits hat der nächtliche Schneefall eine weiche Decke über das Waldstück gelegt. Die Welt ist in Weiß gehüllt.
Alles, was man sieht, sind frische Spuren von kleinen Hasenpfoten.
Hanna blickt auf. Ihr Gesicht ist blass.
»Wie es aussieht, stehen wir vor einer neuen Mordermittlung«, sagt sie leise.
Daniel erwidert den Blick der Kollegin. Er weiß, woran sie denkt. Sie haben mit Mühe und Not den letzten Mordfall durchgestanden. Jetzt müssen sie schon wieder alle Kräfte aufbieten.
Hanna zeigt auf etwas, das unter einem der Zweige liegt, halb vom Schnee begraben.
»Was ist das da?«
Sie macht ein paar vorsichtige Schritte, sinkt auf die Knie und zieht den Gegenstand zu sich heran. Es ist ein abgenutztes schwarzes Portemonnaie aus Leder.
»Kein Raubmord, mit anderen Worten«, sagt Daniel.
Das kommt ganz automatisch. Denn sonst wäre die Geldbörse verschwunden.
Hanna kontrolliert den Inhalt und zieht einen rosa Führerschein heraus.
»Er heißt Johan Lars Andersson«, sagt sie. »Geboren 1985. Weißt du, ob er hier aus der Gegend ist?«
Daniel überlegt. Der Name klingt bekannt, aber sowohl Vorname als auch Familienname gehören zu den häufigsten in Schweden. Das Opfer ist so schlimm zugerichtet, dass seine Gesichtszüge kaum zu erkennen sind.
»Keine Ahnung«, muss er zugeben.
Hanna steht auf und klopft sich den Schnee von den Beinen. Ein paar Flocken segeln durch die Luft und schweben zu Boden.
»Ich frage mich, was er getan hat, dass der Angreifer so auf ihn losgeht«, sagt Daniel mehr zu sich selbst. »Das ist wirklich brutal.«
Es zieht durch das Fenster, an dem Rebecka Ekvall zusammengekauert in der breiten Fensternische hockt.
Das stört sie nicht. Es ist ihr Lieblingsplatz im Schlafzimmer, schon seit sie ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen war. Sie hat es immer geliebt, in der blauen Stunde hier zu sitzen, wenn das Abendlicht besonders weich ist.
Ein Auto kommt die Landstraße entlanggefahren. Zwei Scheinwerfer biegen auf den Hof und erleuchten die Beete mit letzten Astern. Es war ein kalter Sommer, und bald ist es Winter. So hoch im Norden fällt schon im Oktober Schnee.
Rebecka beugt sich vor, um besser sehen zu können.
Zwei Männer steigen aus dem Auto, der eine ist Pastor Jan-Peter Jonsäter, auf ihn hat sie ihr Leben lang gehört. Beim Anblick des anderen zuckt sie zusammen. Das ist Ole Nordhammar, der Hilfspastor, der mit der Jugendarbeit betraut ist. Dienstags leitet er die Bibelabende für die älteren Jugendlichen der Gemeinde. Rebecka verpasst sie nie, nicht ein einziges Mal.
Was macht er hier?
Ein leichtes Kribbeln geht durch ihren Körper. Ole ist jemand, den die Jungs bewundern und die Mädchen anhimmeln. Er ist gutaussehend und charismatisch und hat eine Art zu reden, die einem das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein, auserwählt sogar. Rebecka schwärmt insgeheim für ihn, sagt aber nie mehr als ein paar Worte in seiner Gegenwart. Sie ist viel zu schüchtern, wird gehemmt und rot, wenn er sie nur ansieht.
Ole geht mit langen Schritten auf die Haustür zu. Er trägt ein schickes Jackett aus dunkelblauem Tweed, das perfekt auf seinen breiten Schultern sitzt. Rebeckas Vater Stefan erscheint auf der Verandatreppe und schüttelt beiden Männern herzlich die Hand.
Rebecka kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ihre Neugier ist geweckt. Sie bekommen selten Besuch hier auf dem Hof in Storvallen. Er liegt nahe der norwegischen Grenze und ist ziemlich einsam. Der nächste Nachbar wohnt ein ganzes Stück entfernt. Seit sie im Juni das Gymnasium beendet hat, hilft sie bei den Schafen und in der kleinen Hofmolkerei mit und ist meistens zu Hause. Nur bei den Gottesdiensten oder den Bibelstudien in Snasadalen, wo das Gemeindehaus liegt, kommt sie unter Leute.
Das spielt keine große Rolle. Die Eltern haben immer streng darauf geachtet, mit wem sie Umgang hatte; in ihrer Kindheit war es wichtig, dass sie sich an die anderen Kinder in der Kirchengemeinde hielt. Als sie auf dem Gymnasium in Järpen mit dem Projektkurs »Kinder und Freizeit« begann, war sie bereits daran gewöhnt, den Kontakt zu den anderen zu meiden.
»Die Verlorenen«, wie ihr Vater sie zu nennen pflegt. Die Gottlosen.
Rebecka hat eher Mitleid mit ihnen. Sie haben sich hier auf Erden verirrt. Sie haben nicht begriffen, dass Gottes Liebe die Erlösung ist.
Sie selbst ist zutiefst dankbar, dass sie das Glück hatte, in der Glaubensgemeinschaft aufzuwachsen. Mutter und Vater waren schon Mitglieder von Licht des Lebens, bevor sie geboren wurde. Und deren Eltern ebenso.
Sie haben alle im Tal des Herrn wandern dürfen.
Aus dem unteren Stockwerk ist Stimmengemurmel zu hören. Rebecka geht zur Tür und lauscht vorsichtig. Vater sagt etwas, aber sie kann nicht verstehen, was. Dann scheinen sie in die große Stube zu gehen, denn die Stimmen werden leiser.
Rebecka setzt sich aufs Bett und überlegt, ob sie in der Heiligen Schrift lesen soll, für den Bibelabend mit Ole am nächsten Dienstag. Aber wenige Minuten später ruft ihr Vater vom Fuß der Treppe nach ihr.
»Rebecka, kommst du?«
Sie wird unsicher. Normalerweise will er sie oder Mutter nie dabeihaben, wenn Pastor Jonsäter hier ist. Es sind die Männer, die die Arbeit in der Gemeinde leiten, die Frauen kümmern sich um Heim und Familie. Das ist die natürliche Aufteilung, so steht es in der Bibel.
»Rebecka?«, hört sie Vaters Stimme wieder.
Sie sieht sich in ihrem Zimmer mit der gelben Streifentapete um. Einen Spiegel hat sie nicht, er könnte zur Eitelkeit verleiten. Aber sie richtet ihren Zopf und steckt die Bluse in den Rock.
Als sie nach unten kommt, sitzen die drei Männer im Wohnzimmer bei Kaffee und Gebäck. Ihre Mutter Ann-Sofie ist in der Küche beschäftigt. Sie lächelt Rebecka vorsichtig zu, als sie vorbeigeht.
»Guten Tag«, sagt Rebecka beim Eintreten.
Sie ist unsicher, ob sie knicksen oder die Hand ausstrecken soll.
Ihr Vater nickt aufmunternd.
»Komm her«, sagt er. »Setz dich.«
Er zeigt aufs Sofa, auf den Platz neben Ole, und Rebecka gehorcht.
Die Nervosität kribbelt in ihrem Körper, es sind nur wenige Handbreit, die sie beide trennen, so nah ist sie ihm noch nie gewesen.
Sie kann sein Rasierwasser riechen, ein männlicher Duft nach etwas Aufregendem und Weltläufigem. Oles dunkles Haar läuft im Nacken spitz zu, sein Hals ist breit und fest.
Kaum zu glauben, dass er fast fünfunddreißig ist.
Ole lächelt ihr zu. Rebecka errötet, sie kann nichts dagegen tun und muss wegsehen.
Ihre Mutter schaut zur Tür herein, in der Hand die Kaffeekanne.
»Darf ich nachschenken?«, fragt sie vorsichtig.
Vater runzelt die Stirn.
»Nicht jetzt«, sagt er. »Siehst du nicht, dass wir beschäftigt sind?«
Mutter blinzelt. Die Entschuldigung folgt umgehend.
»Verzeihung. Dann will ich nicht im Weg sein.«
Sie verschwindet wieder in der Küche.
Rebecka fragt sich, warum ihre Mutter nicht merkt, wenn die Männer ihre Ruhe haben wollen. Sie selbst würde sie nie auf diese Art stören, sie weiß es besser und sitzt stumm auf dem Sofa. Sie hat Vaters versteinertes Gesicht gesehen, wenn sie Besuch hatten und Mutter sich nicht benommen hat, sie hat das Weinen gehört, als er sie zurechtwies, nachdem die Gäste gegangen waren.
Die drei Männer setzen ihre Unterhaltung fort. Rebecka sitzt mit den Händen auf dem Schoß da, für sie ist keine Kaffeetasse gedeckt. Ab und zu bekommt sie ein warmes Lächeln von Ole, und jedes Mal werden ihre Wangen heiß. Einmal zwinkert er ihr zu, aber meist redet er mit Vater und Pastor Jonsäter.
Das macht nichts, Rebecka ist vollauf zufrieden, daneben zu sitzen, so nah. Sie kann es kaum erwarten, Lisen davon zu berichten, ihrer besten Freundin, dass Ole sie zu Hause besucht hat.
Schließlich erhebt sich der Pastor.
»Wie schön, dass die jungen Leute Gelegenheit hatten, sich kennenzulernen«, sagt er zufrieden.
Rebecka ist verwirrt. Ole und sie haben nicht gerade miteinander geplaudert.
Aber er lächelt so, dass ihre Knie weich werden.
»Du bist mir bei unseren Bibelabenden aufgefallen«, sagt er. »Wie fleißig du am Studium der Heiligen Schrift teilnimmst.«
Rebecka errötet noch mehr. Die Fragen brennen ihr auf der Zunge, als sie sich in der Diele verabschieden, aber sie wagt nicht, den Mund aufzumachen. Stattdessen geht sie zurück auf ihr Zimmer.
Worum ging es bei dem Treffen eigentlich?
Eine innere Stimme flüstert, was sie selbst kaum in Worte zu fassen wagt. Dass Gott einen Plan für sie hat. Dass Ole interessiert sein könnte, sie zu seiner Pastorenfrau zu machen.
Im November wird sie neunzehn, höchste Zeit, sich einen Ehemann zu suchen. Ihre Mutter hat mit achtzehn geheiratet, genau wie die meisten Mädchen in der Gemeinde. Wäre Rebecka nicht aufs Gymnasium gegangen, wäre sie vermutlich schon verlobt.
Sie weiß nicht, was sie glauben soll. Es erscheint ihr vermessen, den Gedanken auch nur zu denken. Dass ein Mann wie Ole Interesse finden könnte an ihr, der kleinen schüchternen Rebecka, die jung und unbedeutend ist.
Aber er hat sie so warm angesehen auf dem Sofa gerade eben.
Sie sinkt auf die Knie, schließt die Augen und faltet die Hände zum Gebet. Vor sich sieht sie Oles blaugraue Augen, die wohlgeformten Gesichtszüge und sein energisches Kinn.
Es kribbelt in ihrem Körper.
Gott wird ihr den Weg zeigen, davon ist sie überzeugt.
Daniel denkt an den toten Mann, während er vom Tatort wegfährt. Hanna sitzt schweigend neben ihm auf dem Beifahrersitz.
Sie sind unterwegs nach Staa. Der Ort ist so winzig, dass man ihn kaum auf der Karte findet, und in erster Linie für den kommunalen Recyclinghof bekannt. Das Opfer, Johan Andersson, wohnte dort zusammen mit seiner Frau, Marion Weiss Andersson. Wahrscheinlich weiß sie noch gar nicht, was mit ihrem Mann passiert ist.
Jetzt ist er weg, brutal ermordet mit einer Grausamkeit, die Daniel an seine Dienstjahre in Göteborgs problembehafteten Vorstädten erinnert. In der Großstadt war das Gewaltverbrechen ständig gegenwärtig. Hier in Åre ist die Kriminalität normalerweise nicht so roh und extrem.
Aus dem Grund hat er sich vor gut drei Jahren hierher versetzen lassen.
Aber den Anblick von Johan wird er lange nicht vergessen. Sein eingeschlagenes Gesicht, die tiefe Wunde im Hinterkopf, die auf dem Rücken gefesselten Hände. Weggeworfen wie ein Stück totes Fleisch.
Das gleicht einer Rache von beinahe biblischen Ausmaßen.
Was hat der arme Kerl sich zuschulden kommen lassen, dass ihm etwas so Grausames angetan wurde?
»Wie fühlst du dich?«, fragt Hanna und blickt von ihrem Handy auf.
Sie geht die Register durch, um sich ein Bild vom Mordopfer zu machen.
Daniel fröstelt und zieht den Reißverschluss der Jacke höher.
»So hatte ich mir das Wochenende nicht gerade vorgestellt«, sagt er.
»Ich weiß.«
Hanna lächelt matt.
»Zieht einen echt runter, eine neue Mordermittlung so kurz nach …«
Sie braucht den Satz nicht zu beenden.
»Johan hat als Klempner gearbeitet«, sagt sie stattdessen mit Blick aufs Display. »Er hatte eine eigene Firma, zusammen mit einem Partner namens Linus Sundin. Der Betrieb heißt Andersson Sundin Rör AB, und seine Ehefrau macht die Buchhaltung.«
Daniel weiß es zu schätzen, dass Hanna sofort damit begonnen hat, Johans Hintergrund zu recherchieren.
Sie scrollt weiter.
»Schau einer an«, sagt sie leise.
»Was ist?«, fragt Daniel.
»Da liegt ein ganz schöner Altersunterschied zwischen den Eheleuten, sie ist vierundvierzig und er war vierunddreißig.«
Zehn Jahre. Die liegen auch zwischen Daniel und seiner Freundin Ida. Er ist sechsunddreißig und sie sechsundzwanzig. Sie haben sich vor anderthalb Jahren im Nachtklub Bygget kennengelernt, voneinander angezogen wie zwei Magneten, und er hat sich Hals über Kopf leidenschaftlich verliebt.
Aber die Gesellschaft ist nachsichtiger gegenüber Beziehungen, in denen der Mann deutlich älter ist, als andersherum, hat er festgestellt.
»Wie es aussieht, haben Marion und Johan geheiratet, als sie vierunddreißig und er vierundzwanzig war«, fährt Hanna fort. »Das ist ziemlich jung für einen schwedischen Mann, vor allem, da sie anscheinend vor der Hochzeit schon eine ganze Weile zusammen waren.«
»Ja«, stimmt Daniel ihr zu. »Hatte er Kinder?«
»Nein«, erwidert Hanna. »Keine Kinder, trotz der langen Ehe.«
Sie stößt ein kurzes Lachen aus.
»Nicht wie bei dir und Ida.«
Sie kennen sich inzwischen gut. Daniel hat erzählt, dass Ida gleich am Anfang der Beziehung ungeplant schwanger geworden ist. Sie waren erst etwas mehr als ein Jahr zusammen, als die kleine Alice auf die Welt kam.
Er sieht seine Tochter vor sich. Alice ist jetzt fünf Monate alt. Sie wurde im September geboren und war heiß ersehnt, Daniel hatte schon seit Jahren von Kindern geträumt. In diesem Moment sitzt sie wahrscheinlich vergnügt brabbelnd in ihrem Babystuhl, während Ida frühstückt. Er empfindet noch dieselben starken Gefühle für seine Freundin, nur ist das Leben mit einem Kind deutlich anstrengender, als er gedacht hätte.
Ein Schild mit dem Schriftzug »Staa« taucht auf, und Daniel biegt nach links auf eine schmale Landstraße ein, ganz ähnlich wie die, an der sie vor ein paar Stunden Johan Andersson vorgefunden haben. Davon, dass der Schneepflug hier war, ist kaum etwas zu merken. Daniel ist dankbar, dass der Wagen Allradantrieb hat, hier oben ist das ein Muss.
Die Anderssons wohnen im Dalövägen.
Hanna streicht sich mit der rechten Hand ein paar dunkelbraune Haarsträhnen aus dem Gesicht. Auch sie ist mitgenommen von der Situation. Um ihren Mund liegt ein angespannter Zug, die Schultern sind hochgezogen.
»Ich hasse solche Gespräche«, sagt sie. »Ich wünschte, wir hätten es schon hinter uns.«
Daniel nickt. Todesnachrichten zu überbringen gehört zum Schlimmsten, was der Polizeiberuf mit sich bringt.
»Ich weiß«, sagt er. »Aber es muss getan werden.«
Hanna knabbert an einer Nagelhaut und schaut aus dem Fenster.
»Es ist trotzdem belastend.«
Obwohl Hanna erst seit Dezember bei ihnen ist, gibt es niemanden im Kollegenkreis, zu dem Daniel einen so engen Kontakt hat. Sie wohnen beide in Åre, fahren aber oft zusammen nach Östersund. Meist an zwei bis drei Tagen in der Woche, das ist zur Gewohnheit geworden. Die gemeinsamen Fahrten haben auch dazu geführt, dass sie sich besser kennengelernt haben. Oft plaudern sie nur über dieses und jenes, aber manchmal gehen die Gespräche auch tiefer. Daniel hat eine ganze Menge über Christian erfahren, Hannas Ex-Lebensgefährten, und über den Streit um die gemeinsame Eigentumswohnung, für die Christian sie nicht entschädigen will.
So offenherzig hat Daniel nicht erzählt, dass es in seiner Beziehung mit Ida manchmal knirscht, besonders wenn die Arbeit überhandnimmt. Dagegen spricht er oft über sie und Alice.
Allerdings ahnt Hanna wohl, dass zu Hause nicht immer eitel Sonnenschein herrscht. Es ist selten einfach, mit einem Polizisten zusammenzuleben.
Sie liest weiter auf dem Handy.
»Jetzt verstehe ich, wie das zusammenhängt«, sagt sie plötzlich. »Die Ehefrau ist aus Deutschland. Ihr Geburtsort ist Ramsau, ist das nicht ein Skiort in Bayern?«
Daniel hat nicht die leiseste Ahnung. Er ist in deutscher Geografie nicht sehr bewandert.
»Das erklärt ihren Vor- und Nachnamen. Ich dachte schon, dass er irgendwie deutsch klingt.«
»Was ist mit Johan?«, will Daniel wissen.
»Er ist in Duved geboren und aufgewachsen, hat das Skigymnasium in Järpen besucht. Offenbar war er als Jugendlicher und junger Erwachsener ein ausgezeichneter Skifahrer, er hat einige Jahre lang an Wettkämpfen teilgenommen. Vielleicht haben sie sich dadurch kennengelernt? In den Alpen?«
Daniel begreift, dass er das Opfer sehr wohl kennt. Es ist der Johan Andersson, der Skifahrer aus Duved, der in den Nullerjahren Mitglied der Nationalmannschaft war. Aber Vor- und Nachname sind so häufig, dass es ihm nicht gleich aufgefallen ist.
Jetzt wird ihm klar, wie das zusammenhängt. Irgendwie verschlimmert das die Sache noch.
Dieser Mord wird Schlagzeilen machen.
»Warum bringt man einen ganz gewöhnlichen Mann um, einen Klempner?«, sinniert Hanna düster. »Was für ein Motiv könnte es dafür geben?«
»Um das zu sagen, ist es zu früh.«
»Könnte es um Geld gegangen sein?«, fährt sie fort. »Eine Art von Rache? Vermutlich ist der Täter aus dem Bekanntenkreis, wie meistens.«
Sie seufzt halblaut.
»Frauen werden von Männern ermordet und Männer von anderen Männern.«
Daniel weiß, dass die Statistik Hanna recht gibt. Außerdem kennt sie sich nach sieben Jahren bei der Citypolizei in Stockholm damit aus. Sie hat in der Abteilung Gewalt in engen sozialen Beziehungen gearbeitet und weiß viel über diese Thematik.
Hanna brennt dafür, betroffenen Frauen zu helfen. Ihre Kompetenz war eine große Hilfe bei der Lösung des Falls im Dezember.
Wenig später taucht Johan Anderssons Villa vor ihnen auf, ein dunkelbraunes Haus mit einer Garage in derselben Farbe. Der Hof ist gepflegt, ein VW Passat steht in der Einfahrt.
Auch Daniel spürt Widerwillen in sich aufsteigen.
Das hier ist die schlimmste Art von Gespräch.
Die Haustür geht fast im selben Moment auf, als Daniel anklopft. Eine Frau in Jeans und schwarzem Rollkragenpullover steht in der Öffnung. Ihr nussbraunes Haar wird an den Schläfen grau, unter den Augen sind dunkle Ringe.
Das muss Marion sein, Johans Frau.
Die Ärmste.
Daniel bemüht sich, vorsichtig zu erklären, warum sie hier sind, ohne sie zu erschrecken. Aber kaum hört Marion, dass sie von der Polizei sind, schlägt sie die Hand vor den Mund.
»Ist was passiert?«, sagt sie keuchend mit deutlich deutschem Akzent.
»Dürfen wir reinkommen?«, fragt Hanna sanft. »Vielleicht sollten wir uns erst mal setzen?«
Daniel wirft ihr einen dankbaren Blick zu. Sie ist gut in solchen Situationen.
Marion ist weiß im Gesicht.
»Wir können in die Küche gehen«, sagt sie und geht voraus.
Sie folgen ihr in eine weiß gestrichene Küche mit Schränken und Arbeitsplatten, die ihre beste Zeit offenbar schon einige Jahre hinter sich haben. Der Raum hinter der Küche scheint das Wohnzimmer zu sein, eine halbe Treppe tiefer in einem Anbau.
»Wir haben traurige Nachrichten«, sagt Daniel gleich, als sie an dem ovalen Esstisch Platz genommen haben.
Er holt tief Luft und sieht, wie Marions Augen sich mit Tränen füllen. Natürlich begreift sie, dass etwas Schlimmes passiert ist. Daniel hat Mitleid mit ihr. Aber sie muss erfahren, wie die Dinge liegen.
»Ihr Mann ist tot«, fährt er fort. »Mein aufrichtiges Beileid.«
Marion starrt ihn wortlos an. Dann steigt ein Wimmern aus ihrer Kehle. Sie presst die Hand fest auf den Mund. Aber der gequälte Laut dringt trotzdem durch.
Daniel wirft einen Seitenblick auf Hanna, die neben der Anrichte sitzt.
»Möchten Sie einen Schluck Wasser?«, fragt sie und nimmt ein Glas aus dem Geschirrständer.
Sie füllt es und stellt es auf den Tisch. Marion betrachtet das Glas einen Moment, dann führt sie es mit zitternden Händen zum Mund.
»Johan kann nicht tot sein«, sagt sie mit brüchiger Stimme, als hätte sie nicht richtig begriffen, was Daniel gerade gesagt hat. »Wir wollen heute in Trillevallen Ski fahren.«
Sie hat einen Schock. Das ist kein Wunder. Daniel versucht, die richtigen Worte zu finden, aber in einer solchen Situation gibt es keine.
Er kann ihren Schmerz nicht lindern, ganz gleich, was er sagt.
»Die Leiche Ihres Mannes wurde heute Morgen von einem Verkehrsteilnehmer am Tångbölevägen aufgefunden«, sagt er.
Es ist schwierig, die Wahrheit zu verpacken.
»Wie es aussieht, wurde er schwer misshandelt. Die Nase ist gebrochen und er hat eine tiefe Schädelfraktur am Hinterkopf.«
Marions Gesicht zieht sich zusammen. Die Tränen fließen hemmungslos.
»Heißt das, er wurde erschlagen?«, stottert sie.
»Es tut mir wirklich leid«, sagt Hanna. »Aber vieles deutet darauf hin.«
»Ich verstehe, dass das hier schwer für Sie ist«, fügt Daniel hinzu. »Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?«
Marion senkt den Kopf. Daniel nimmt das für ein Ja.
»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«, fragt er.
»Gestern Abend, er ist gegen sieben weggefahren. Danach ist er nicht mehr zurückgekommen, und das Auto ist weg. Ich habe die ganze Nacht versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Marion schluchzt und begräbt das Gesicht in den Händen. »Aber ich dachte, vielleicht ist es so spät geworden, dass er nicht mehr fahren konnte … und dass er bald auftaucht.«
Daniel wechselt einen Blick mit Hanna, es wird nicht leicht sein, etwas aus Marion herauszubekommen. Aber als Polizisten brauchen sie Informationen.
Er versucht es weiter: »Wissen Sie, wohin Ihr Mann wollte, als er weggefahren ist?«
»Er … er wollte mit seinen Kumpels ein paar Bier trinken gehen. Das machen sie freitags oft.«
»Und wo gehen sie dann hin?«
Marion weint. Daniel hat das Gefühl, dass sie jeden Moment zusammenbricht.
»Ich weiß nicht genau«, sagt sie mit brüchiger Stimme. »Ins Pigo vielleicht? Oder ins Jemten?«
Daniel kennt die Namen, es sind zwei Lokale in Duved.
»Wie heißen seine Freunde?«, fragt Hanna. »Wir müssten mit ihnen reden.«
»Calle war sicher dabei«, murmelt Marion und faltet die Hände auf dem Schoß. »Carl Willner, das ist einer von Johans ältesten Freunden.«
Hanna macht sich Notizen.
»Erzählen Sie uns von Ihrem Mann«, bittet Daniel. »Wissen Sie, ob er Feinde hatte, jemanden, der ihm Böses wollte?«
Marion sitzt da wie gelähmt.
»Warum sollte er?«, sagt sie schließlich.
»Das ist eine Routinefrage«, erwidert Hanna beruhigend.
Marion schüttelt verständnislos den Kopf.
»Alle haben Johan gemocht. Er war so ein Lieber … durch und durch sympathisch.«
Sie lächelt schwach durch die Tränen.
»Johan war immer fröhlich, sobald er morgens die Augen aufgeschlagen hat, hatte er gute Laune. Das war das Erste, was ich gedacht habe, als wir uns kennenlernten, wie positiv er auf die Welt schaut. Er hat das Leben geliebt.«
Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer. Als sie zurückkommt, hat sie ein gerahmtes Foto in der Hand. Darauf steht Johan im Skianzug auf einem Siegerpodest und hält eine Bronzemedaille hoch.
Das Glück ist unübersehbar.
Marion streicht mit den Fingerspitzen über das Bild.
»Das ist mein Lieblingsfoto von Johan«, sagt sie mit herzzerreißender Trauer in der Stimme. »Da ist er Dritter beim Super-G in Val d’Isère geworden. Bei der Weltmeisterschaft 2009. Das war … ein fantastischer Tag … Wir waren seit einem Jahr zusammen, und ich war so stolz auf ihn.«
Sie macht einen zittrigen Atemzug.
»Wie lange hat er an Wettkämpfen teilgenommen?«, will Daniel wissen.
Er erinnert sich nicht mehr genau, wie es für Johan weiterging. Zu der Zeit stand der Frauenski im Fokus. Anja Pärson war der große Star.
Marion schüttelt bekümmert den Kopf.
»Er hat sich im Trainingslager für die Olympischen Spiele 2010 das Bein gebrochen, direkt nachdem wir geheiratet hatten, und die Verletzung ist nie richtig ausgeheilt. 2011 musste er seine Karriere beenden, und wir sind hierhergezogen.«
Sie schaut wieder auf das Foto und liebkost den Rahmen mit den Händen. Die Tränen tropfen auf das Bild, kleine Rinnsale breiten sich auf dem Glas aus.
»Gab es niemanden, mit dem er sich überworfen hatte?«, versucht Hanna es.
Marion scheint die Frage kaum zu hören.
»Tut mir leid«, flüstert sie. »Ich kann nicht.«
Sie werden an einem anderen Tag wiederkommen müssen, sieht Daniel ein. Die arme Frau ist im Moment nicht ansprechbar.
Marion wendet sich von ihnen ab und sagt: »Ich möchte jetzt allein sein.«
Alle Augen sind auf Rebecka gerichtet, die zusammen mit Ole auf dem Ehrenplatz sitzt. Die Gäste können nicht aufhören zu applaudieren. Ole hat vor der Gemeinde gerade eine ergreifende Rede über ihre gemeinsame Zukunft gehalten, wie sie Hand in Hand im Tal des Herrn wandern werden.
Anschaulich hat er die Liebe zu Ihm beschrieben, wie gesegnet die Verbindung mit Rebecka ist, und inbrünstig davon gesprochen, wie er sich danach sehnt, ihre gemeinsamen Kinder in Jesu Namen zu erziehen.
Nicht nur Rebecka hat Tränen in den Augen.
Ole nimmt den Beifall der Gäste mit einem entwaffnenden »Amen« entgegen. Rebecka lächelt schüchtern mit rosigen Wangen. Sie ist es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, hat Mühe, nicht verlegen zu werden. Für Ole ist das ganz natürlich. Er ist Aufmerksamkeit gewohnt, ist kraftvoll auf eine Art, die die Blicke auf sich zieht.
Als seine frischgebackene Ehefrau muss sie lernen, damit zu leben.
Rebecka spürt, dass der eine oder andere weibliche Gast neidisch in ihre Richtung blickt.
Es fühlt sich immer noch unwirklich an, dass sie eine verheiratete Frau ist. Dass Gott sie erwählt hat, Oles Braut zu sein. Das ist eine große Ehre, hoffentlich kann sie seinen Erwartungen gerecht werden. Sie hofft, dass er ebenso glücklich ist wie sie. Glücklich darüber, dass sie soeben zu Mann und Frau getraut wurden.
Dass sie gut genug ist.
Er hat sich gerade für sie entschieden, versucht sie zu denken. Dann muss sie seiner würdig sein, auch wenn sie selbst nie gewagt hätte, sich ein solches Glück zu erträumen.
Mutter und Vater sind sehr stolz. Lisen, ihre beste Freundin, ist auch gerührt. Wer hätte gedacht, dass Rebecka einen so wichtigen Mann wie Ole heiratet, den Hilfspastor, der in Umeå studiert hat und eine gute Anstellung bei einer Wirtschaftsprüfungskanzlei hat.
Die Leute lachen und plaudern. Das vielsagende Lächeln der Gäste lässt Rebecka nur noch mehr erröten. Verschiedene Gerichte werden hereingetragen.
Ole sagt etwas zu seinem Tischnachbarn, Rebecka betrachtet die schön geschwungenen Lippen. Sie fragt sich, wie sie sich wohl anfühlen, wenn sie heute Nacht auf ihre Lippen treffen. Werden sie warm oder kalt sein? Trocken oder feucht von Speichel?
Der Gedanke macht sie erwartungsfroh und gleichzeitig ängstlich. Heute Nacht werden sie zum ersten Mal zusammen sein. Er wird ihre intimsten Körperteile berühren, sie werden sich als Mann und Frau vereinigen.
Rebecka kann den Blick kaum von ihrem neuen Ehemann abwenden. Von seinem charismatischen Lächeln, das er so großzügig verschenkt. Er sieht wirklich gut aus und ist größer als die meisten, fast einen Kopf größer als sie selbst. Außerdem hat er Zukunftsaussichten, das hat Vater oft gesagt. Er ist einer, der die Nachfolge von Pastor Jonsäter antreten könnte, wenn es einmal so weit ist. In dem Fall wird ihr Ehemann das Oberhaupt der Gemeinde sein.
Überall im Saal herrscht Stimmengewirr. Rund achtzig Personen haben sich im Festlokal neben der Kirche versammelt. Eine Hochzeit ist ein großes Ereignis. Mutter und Vater haben an nichts gespart.
Schweiß läuft ihr den Rücken hinunter. Rebecka setzt sich aufrechter hin. Es ist warm, trotz der Dezemberkälte, die Jämtland fest im Griff hat.
Alles ist schwindelerregend schnell gegangen. Sie fühlt sich berauscht, obwohl sie kaum an ihrem Wein genippt hat.
Schon am Tag nach dem ersten Treffen wollte Vater mit ihr reden. Ernst teilte er ihr mit, dass Ole Interesse daran habe, sie zu seiner Braut zu machen. Er sagte, Pastor Jonsäter habe ihrer Verbindung seinen Segen gegeben und es sei Gottes Gebot, dass eine junge Frau sich einen Ehemann suche.
Der Mensch soll die Erde bevölkern.
Rebecka hörte aufmerksam zu, wie sie es immer tut, wenn Vater etwas erklärt.
Am Abend kam ihre Mutter ausnahmsweise in ihr Zimmer und setzte sich auf die Bettkante.
»Stell dir vor, Ole wird dein Mann«, flüsterte sie und streichelte Rebeckas Wange. »Was für eine Ehre. Ich weiß es noch wie gestern, als dein Vater und ich geheiratet haben.«
»Warst du glücklich, Mama?«, traute sich Rebecka zu fragen, obwohl ihr die Worte fast im Hals steckenbleiben.
»Wir haben dich bekommen«, antwortete ihre Mutter. »Nichts hat mich glücklicher gemacht.«
Rebecka weiß, wie sehr es ihre Mutter betrübt, dass keine Geschwister gekommen sind, nicht zuletzt, weil die Gemeinde die Frauen lobpreist, die viele Kinder zur Welt bringen. Aber Rebecka war eine schwere Geburt, danach sind keine mehr gekommen.
Es ist Gottes Wille, pflegte ihre Mutter zu antworten, wenn die kleine Rebecka sie fragte, warum sie keine Brüder oder Schwestern hatte.
Nach diesem Abend ging alles ganz schnell. Sie verlobte sich mit Ole, und die Zeit flog dahin. Vor knapp drei Monaten war sie fast noch ein Kind, und jetzt sitzt sie hier als seine Ehefrau.
Rebecka wirft ihrem Mann einen bewundernden Blick zu.
Er ist immer noch im Gespräch vertieft. Der andere Mann hört ihm aufmerksam zu. Niemand unterbricht Ole. Er hat eine natürliche Autorität.
Rebecka will strahlen, damit er versteht, wie glücklich sie ihn machen wird. Er soll seine Wahl niemals bereuen müssen.
Ole ist so beeindruckend, er war es, der die gesamte Hochzeit geplant hat. Kein Detail war ihm zu gering. Er hat sogar ihr Brautkleid und die Frisur ausgesucht. Und die gemeinsamen Eheringe natürlich.
Es ist wunderbar, so umsorgt zu werden.
Jetzt hat sie vor Gott gelobt, ihm zu gehorchen und ihm zu dienen. Von diesem Moment an gehört sie ihm.
Für den Rest ihres Lebens.
Ein paar Stunden nach dem Besuch bei Marion hat Hanna im großen Besprechungsraum der Polizeiwache in Åre Platz genommen. Ihr knurrt der Magen. Sie hat den ganzen Vormittag nichts als eine kleine Banane gegessen.
Die weißen Wände des Raums verschmelzen mit dem dichten Schneefall draußen vor den Fenstern. Einziger Farbklecks sind die roten Stühle rund um den Tisch. Auf zwei davon sitzen ihre engsten Kollegen, Anton Lundgren und Rafael Herrera. Beide sind Ermittler in Åre und wurden wegen des Mordes dazugerufen.
Carina Grankvist, die Kriminaltechnikerin aus Mattmar, die den Fundort untersucht hat, ist auch hier.
Rafael, oder Raffe, wie er genannt wird, loggt sich gerade für die Videokonferenz mit Östersund ein.
Raffes dunkler Pferdeschwanz wippt, als er nach der Maus greift und den Code eingibt.
»Johan Andersson also.« Er schüttelt den Kopf. »Das ist ja ein Ding.«
»Kanntest du ihn?«, fragt Hanna.
»Hm. Er war auf dem Skigymnasium eine Klasse über mir. Verdammt feiner Kerl. Wirklich Pech, dass er sich so früh in seiner Karriere diese Verletzung zugezogen hat. Aber es hat ihn nicht verbittert, man hat nie eine Klage von ihm gehört.«
Raffe ist ein leidenschaftlicher Snowboarder und wohnt mit seiner Freundin zusammen in Kall. Er beherrscht immer noch eine Reihe von Tricks am Hang, bei denen die Jugendlichen vor Neid das Maul aufsperren.
»Wer hätte gedacht, dass Johan mal auf diese Art stirbt?«, seufzt er, während der Bildschirm aufflackert.
Die Chefin der Abteilung Schwerkriminalität erscheint, Polizeikommissarin Birgitta Grip. Einige der anderen Ermittler von Östersund sind auch da, ebenso ein Bereitschaftsstaatsanwalt. Grip leitet die Voruntersuchung, bis der Fall einem festen Staatsanwalt zugelost wurde.
Sie sieht bekümmert aus und streicht sich mit der Hand durchs kurze stahlgraue Haar.
»Wie sieht’s aus?«, fragt sie. »Haben wir die Bestätigung, dass es sich um Johan Andersson, den Skifahrer handelt?«
Daniel nickt.
Grip kennt Andersson natürlich, so wie wohl die meisten in Åre, nur Hanna sagte der Name nichts. Obwohl Daniel auch nicht gleich darauf gekommen ist, als sie heute Morgen am Fundort waren.
»Wurden die Angehörigen verständigt?«, fährt Grip fort.
Daniel bestätigt, dass sie bei Marion waren. Die Eltern, Tarja und Torsten Andersson, wurden von den Kollegen in Östersund unterrichtet. Johans Bruder Pär, der in Strömsund wohnt, ist ebenfalls informiert.
»Die Presse wird sich dafür interessieren«, konstatiert Grip. »Also achtet auf Diskretion.«
Vom Bildschirm blickt sie die Sitzungsteilnehmer auffordernd an. »Was wissen wir über die Vorgehensweise?«
Daniel blättert in seinem Notizbuch.
»Allem Anschein nach wurde Johan durch mehrere Schläge auf den Hinterkopf getötet«, sagt er. »Er hat seine Skikarriere 2011 beendet und zuletzt gemeinsam mit einem Partner eine Firma für Sanitärinstallationen betrieben. Nach Angaben seiner Frau hatte er keine Feinde.«
»Schwer zu begreifen, dass er tot ist«, sagt Raffe. »Johan, der so gut war.«
Hanna denkt an den schneebedeckten Körper, an die Blutspuren auf der bleichen Wange.
»Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, es besteht also kein Zweifel, dass wir es mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben«, fährt Daniel fort. »Er wurde mehr oder weniger hingerichtet.«
Daniels Beschreibung ist trocken, geradezu klinisch nüchtern, aber so muss es sein. Er hat sicher nicht die Absicht, den Toten herabzusetzen. Es ist nur schwer, wenn ein lebendiger Mensch, jemand, der gerade noch geweint und gelacht hat, zu einem Opfer in der Mordstatistik wird.
Auch Polizisten werden an die Zerbrechlichkeit des Lebens erinnert.
»Carina«, sagt Grip und wendet sich an Carina Grankvist. »Was kannst du berichten?«
Die Kriminaltechnikerin sieht immer noch durchgefroren aus, trotz zwei Pullovern und einem dicken Schal um den Hals.
Sie ist einige Jahre jünger als Grip, die im Sommer sechzig wird. Im Unterschied zu Grip hat sie ihr Haar nicht grau werden lassen, sondern trägt es dunkelblond und zu einer weichen Pagenfrisur geschnitten, die ihr Gesicht umrahmt. Mit ihren runden Kurven hat sie eine fast mütterliche Ausstrahlung.
Hanna kann sich Carina eher umringt von Enkelkindern vorstellen als über einen toten, zerschundenen Männerkörper gebeugt.
»Ich wünschte, ich könnte mehr sagen«, beginnt sie, »aber der kräftige Schneefall in der Nacht erschwert die Situation.«
»Glaubst du, Johan Andersson wurde an der Stelle ermordet, an der man ihn gefunden hat?«, fragt Grip.
»Unwahrscheinlich.«
Carina richtet ihren Schal. Das sorgt für eine statische Aufladung, die ihre Nackenhaare abstehen lässt.
»Ich denke, dass Johan Andersson woanders getötet wurde«, sagt sie. »Es gab keine augenscheinlichen Anzeichen für einen Kampf, keine abgebrochenen Zweige oder andere Hinweise darauf, dass dort Gewalt angewendet wurde. Aber bevor ich eintraf, hatten sich schon etliche Leute durch den Schnee rund um die Leiche bewegt, es war unmöglich, irgendwelche Fußspuren zu sichern.«
Hanna denkt zurück an den Fundort. Vor den Polizisten war die Zeugin Anna Larsson zur Leiche und zurück gegangen. Auch sie selbst und Daniel haben Spuren hinterlassen, das war nicht zu vermeiden.
»Dann wurde er vermutlich mit dem Auto dorthin geschafft«, wirft Hanna ein. »Denn es gab wohl keine Scooterspuren, oder?«
Carina stimmt mit einer Kopfbewegung zu.
»Könnte der Täter das Auto des Opfers benutzt haben?«, spekuliert Anton. »Das scheint ja verschwunden zu sein.«
Da ist was dran. Nach Angaben der Ehefrau hat Johan am Freitagabend sein Firmenauto genommen, um sich mit ein paar Kumpels auf ein Bier in Duved zu treffen. Alle Polizisten in der Umgebung wurden bereits angewiesen, Ausschau nach dem weißen Lieferwagen mit dem Firmennamen an der Seite zu halten.
»Wäre möglich«, sagt Grip.
Sie wendet sich wieder an Carina.
»Besteht Hoffnung auf ein paar interessante Reifenspuren an der Stelle?«
Carina dreht eins ihrer Blätter um.
»Leider nicht. Wie gesagt, es hat heftig geschneit. Aber wir sollten beim Schneeräumdienst nachfragen, wann sie am Fundort vorbeigekommen sind. Für den Fall, dass sie etwas beobachtet haben.«
»Darum kann ich mich kümmern«, sagt Anton.
Er wohnt in Duved und kennt sich in der Gegend bestens aus. Soweit Hanna weiß, ist Anton der Einzige unter den Kollegen, der in Åre geboren und aufgewachsen ist.
Keiner findet sich in den Bergen so gut zurecht wie er. Keiner ist auch so durchtrainiert. Anton ist Fitness-Fanatiker und Stammgast im Trainingsstudio.
»Mal sehen«, fährt Grip fort. »Welche Schlüsse können wir zu diesem Zeitpunkt über den Täter ziehen?«
Hanna legt den Stift hin.
»Dass es sich entweder um eine Einzelperson handelt, die über genügend Körperkraft verfügt, um Johan Anderssons Leiche zu bewegen«, sagt sie. »Oder dass es mindestens zwei Täter gewesen sein müssen, die sich gegenseitig geholfen haben.«
»Wenn es eine Einzelperson war, deutet das auf einen Mann hin«, sagt Daniel. »Eine Frau allein wäre mit dem Gewicht wohl überfordert.«
Hanna wirft Daniel einen vielsagenden Blick zu. Manchmal hat sie die ganzen vorgefassten Meinungen einfach satt.
Er lächelt leicht und hebt abwehrend die Hände.
»Kannst du was zur Mordwaffe sagen, Carina?«, fragt Raffe.
»Das ist eher Sache des Rechtsmediziners«, erwidert sie.
»Du hast doch sicher eine Vermutung?«
Er lächelt sie strahlend an, halb ermunternd, halb herausfordernd. Hanna kann richtig sehen, wie er seinen Charme anknipst, dessen er sich durchaus bewusst ist.
Raffe hat chilenische Wurzeln, ist aber in Schweden geboren. Seine Eltern sind in den Siebzigerjahren vor dem Diktator Pinochet hierher geflohen. Er hat das Glück, selbst im hohen Norden immer leicht sonnengebräunt auszusehen.
»Das Opfer hat eine große Wunde am Hinterkopf«, antwortet Carina. »Die könnte von einem Vorschlaghammer oder einem Schlosserhammer stammen.«
Hanna überlegt, was ihnen das über den Täter sagen könnte. Die meisten Leute in der Gegend haben sowohl Vorschlag- als auch Schlosserhämmer, das gehört im nördlichen Jämtland fast zur Standardausrüstung eines Haushalts. Statistisch gesehen ist die häufigste Mordwaffe ein Küchenmesser. Mehrere kräftige Schläge mit einem Vorschlaghammer deuten auf etwas anderes hin. Dass Johan wirklich schwer verletzt werden sollte.
Wer würde ihm so etwas antun? Was hatte er getan, um eine solche Wut auszulösen?
Hanna denkt an das Foto, das Marion ihnen gezeigt hat, von Johan auf der Siegertreppe. Die Lebensfreude im Moment der Siegerehrung. Das Glück, das er ausstrahlte.
Durch und durch sympathisch, hatte Marion ihren Mann genannt.
Was war passiert?
»Also dann«, sagt Birgitta Grip. »Daniel, du kannst die PUG-Gruppe leiten. Das lief im Dezember ja gut.«
Die PUG-Gruppe ist das Team, das für Ermittlungen dieser Art zusammengestellt wird und den Fall nach einem speziellen Handbuch bearbeitet, dem PUG, was für »Polizeiinterne methodologische Unterstützung bei der Aufklärung schwerer Gewaltverbrechen« steht.
Intern heißt es nur Mordbibel.
Außer Hanna und Daniel gehören zwei Ermittler aus Östersund zur Gruppe. Anton und Raffe, die für kleinere Straftaten in Åre zuständig sind, sollen auch mithelfen.
Hanna kommt es vor wie ein Déjà-vu. Es ist dieselbe Konstellation wie im Dezember, als Amanda verschwunden war. Zu der Zeit hat sie ihren Dienst in Åre angetreten, nach dem demütigenden Rauswurf in Stockholm.
Die tragischen Ereignisse vor Weihnachten stecken ihr immer noch in den Knochen.
Grip verteilt die Aufgaben. Sie müssen Johan Anderssons Leben genauestens ausleuchten. Seine finanziellen Verhältnisse, die Firma, wie sein Freundeskreis aussah und welche privaten und geschäftlichen Kontakte er in der letzten Zeit hatte. Da sein Handy fehlt, müssen sie die Liste mit den Verbindungsdaten von der Telefongesellschaft anfordern.
»Versucht, euch an die normalen Arbeitszeiten zu halten«, sagt Grip. »Wir wollen nicht, dass die Überstunden schon vor Ende des ersten Quartals durch die Decke gehen.«
Hanna saugt an ihrer Unterlippe. Sie hätte lieber ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg bekommen. Aber es ist vermutlich nicht Grips Schuld, dass sie das Team mahnen muss. Die Vorgesetzten in den höheren Etagen machen ihr wahrscheinlich auch Druck.
Sie wirft einen Seitenblick auf Daniel, der mit konzentriertem Gesicht dasitzt. Er hat ohnehin schon Mühe, sein Leben mit Ida und der kleinen Alice im Griff zu behalten. Ein neuer Mordfall wird zu Hause auf wenig Begeisterung stoßen, da ist sie sich ziemlich sicher.
Als hätte Daniel ihre Gedanken gelesen, schaut er auf und erwidert ihren Blick.
»Fangen wir an«, sagt er und erhebt sich.
Alices fröhliches Glucksen ist schon in der Diele zu hören, als Daniel zu Hause im Granlidsvägen ankommt.
Es geht auf fünf Uhr zu. Er hat den ganzen Nachmittag damit verbracht, einen Plan für die Ermittlungsarbeiten aufzustellen und intern die Verfügbarkeit von Ressourcen zu erörtern.
Einige uniformierte Kollegen sind dazugeholt worden, die im Moment eine Anwohnerbefragung in Tångböle durchführen, der Gegend, in der man Johan gefunden hat. Der Schneeräumdienst wurde kontaktiert, und die Leiche ist auf dem Weg zur Obduktion in Umeå. Hanna hat sich darangemacht, die Personen in Johans engstem Umfeld zu identifizieren.
Daniel ist froh, dass sie so schnell in Gang gekommen sind. Er kann nicht seine gesamte Zeit mit einem neuen Fall verbringen, das würde bei Ida nicht gut ankommen.
Morgen werden sie in aller Frühe auf der Wache erscheinen, um die Arbeit fortzusetzen. Grips Ermahnung, Überstunden zu vermeiden, hin oder her.
»Hallo Liebling«, sagt Daniel.
Er betritt die Küche, wo Ida mit ihrer gemeinsamen Tochter sitzt. Sie versucht, Alices Interesse für einen Löffel Karottenpüree zu wecken, das auf einem Teller vor ihnen steht. Idas dunkelblonde Zöpfe sind zerzaust, und an ihrem Haaransatz klebt ein oranger Fleck.
»Wie geht’s meinen Mädels?«, fragt Daniel.
Er drückt Alice einen Schmatz auf die Stirn.
Ida seufzt und hält ihm die Wange für einen Kuss hin.
»Das hier findet sie nicht so lecker«, stellt sie fest.
Alice hat mit großer Begeisterung das meiste auf den weiß lasierten Holzfußboden gespuckt. Daniel reißt ein Blatt Küchenpapier ab und wischt die Bescherung auf.
»Soll ich übernehmen?«, bietet er an.
Ida schüttelt den Kopf.
Daniel zapft sich ein Glas Wasser und setzt sich an den Esstisch, während Ida den Versuch mit der Kostprobe aufgibt.
»Im Radio haben sie gesagt, dass in Tångböle ein Mann ermordet wurde«, sagte sie über die Schulter.
»Ja.«
Es ist erst acht Stunden her, dass die Meldung eingegangen ist, und schon ist der Fall in den Medien. Daniel hofft, dass noch nicht alle Details bekannt sind. Nur gut, dass sie Marion rechtzeitig informieren konnten, so hat sie etwas Zeit gehabt, die tragische Nachricht zu verarbeiten. Sie ist jetzt schon am Boden zerstört. Wenn die Zeitungen rauskriegen, um wen es sich bei dem Toten handelt, werden sie ihr keine ruhige Minute lassen.
»Das stimmt leider«, fährt er fort. »Das war der Grund, warum ich heute Morgen so früh rausmusste.«
Ida und Alice haben beide noch geschlafen, als die RLC ihn zum Dienst rief.
»Den Zettel hast du wohl gefunden?«, fügt er sicherheitshalber hinzu.
Sie hatten darüber gesprochen, mit dem Auto ins Edsåsdalen zu fahren, auf Skiern zum Berggasthof Vita Renen zu laufen und dort zu Mittag zu essen.
Das muss nun warten.
Ida legt den Teelöffel auf den Tisch.
»War es jemand aus Åre?«, fragt sie.
»Das kann ich nicht sagen.«
Ida möchte gerne, dass er ihr von seiner Arbeit erzählt, wenn er abends vom Dienst kommt. Sie sagt, dann würde sie sich nicht so isoliert fühlen. Es macht einsam, den ganzen Tag mit Alice zu Hause zu sein. Vor allem, weil Daniel dazu neigt, sich zu verschließen, wenn er müde oder gestresst ist, eine Angewohnheit, die die Sache nicht gerade besser macht.
Aber er kann sich nicht über die Geheimhaltungspflicht hinwegsetzen.
»Tut mir leid, ich darf nicht«, entschuldigt er sich. »Wir haben den Namen der Person noch nicht bekannt gegeben.«
Er nickt zum Herd und versucht, das Thema zu wechseln.
»Was hältst du von Spaghetti Vongole zum Abendessen? Mit einem Glas Rotwein, heute ist schließlich Samstag. Ich glaube, wir haben den Barolo noch, den du so magst.«
Kochen ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Seine Mutter ist nicht umsonst im Nordosten Italiens aufgewachsen. Es kommt oft vor, dass er ans Abendessen denkt, kaum dass er morgens die Augen aufgeschlagen hat.
»Hört sich gut an.«
Ida klingt erschöpft, und bei Daniel meldet sich das schlechte Gewissen. Es ist nicht leicht, mit einem fünf Monate alten Baby allein zu sein. Vor allem nicht, wenn die Ausflugspläne sich gerade in Luft aufgelöst haben.
Er steht auf und hebt Alice aus dem Kinderstuhl. Er liebt es, das Gewicht seiner kleinen Tochter zu spüren, die weiche Haut und den kurzen Hals, der sich an seine Brust presst.
»Ich kümmere mich um Alice«, sagt er. »Du warst den ganzen Tag allein mit ihr.«
»Dann gehe ich solange unter die Dusche.«
»Mach das«, sagt er und bläst Alice in den Nacken, sodass es kitzelt und sie anfängt zu lachen. »Ich räume in der Zwischenzeit auf.«
Ida wirft ihm einen dankbaren Kuss zu und verschwindet Richtung Bad.
Alles fühlt sich gut an. Im letzten Monat ist es besser geworden, sowohl was Alice als auch ihre Beziehung betrifft. Er will wirklich, dass es zwischen ihnen funktioniert.
Hauptsache, die neue Ermittlung kommt nicht in die Quere.
So wie die im Dezember.
Hinter der weißen Badezimmertür weint Rebecka still vor sich hin.
Ole und sie hatten sich gerade an den Frühstückstisch gesetzt, als sie ein dünnes Rinnsal zwischen den Beinen spürte. Sie murmelte eine Entschuldigung und verschwand eilig auf der Toilette.
Jetzt liegt die blutbefleckte Unterhose auf dem Fußboden, der Beweis, dass es ihr auch in diesem Monat nicht gelungen ist, schwanger zu werden.
Sie hat Bauchkrämpfe. Schon beim Aufwachen hat sie das Ziehen gespürt, aber nicht gewagt, etwas zu sagen. Stattdessen hat sie versucht, den Schmerz zu ignorieren. Hat gehofft, es sei nur Einbildung.
Mit einer Hand reibt sie sich die Haut unter dem Nabel, um die Krämpfe zu lindern.
Seit fast einem Jahr sind sie jetzt Mann und Frau. Trotzdem ist kein Kind unterwegs. Lisen, die kurz vor der Hochzeit von Ole und Rebecka ihren Isak geheiratet hat, erwartet jeden Tag ihre Niederkunft.
Nur Rebeckas Bauch bleibt flach.
Sie sehnt sich so sehr danach, Mutter zu werden. Sie liebt kleine Kinder, das war auch der Grund, warum sie so lange gebettelt hat, bis sie auf dem Gymnasium den Vorbereitungskurs für das Berufsfeld »Kinder und Freizeit« belegen durfte. Außerdem weiß sie, wie enttäuscht Ole sein wird.
Er ist so kinderlieb, so aufmerksam gegenüber allen schwangeren Frauen in der Gemeinde. Oft spricht er von dem Glück, Eltern zu sein. Manchmal lobt er Lisen und Isak, und neulich hat er gesagt, Lisen sei eine richtige Frau. Dass sie von Gott gesegnet sei und eine Freude für ihren Ehemann.
Rebecka wünschte, er würde so einfühlsame Worte auch für sie finden.
Sie begräbt das Gesicht in den Händen. Sie hatte dieses Mal so sehr gehofft, hatte nachgerechnet und geglaubt, dass ihre letzte gemeinsame Nacht ein Resultat bringen würde.
Die Tränen wollen nicht aufhören zu fließen. Sie reißt etwas Klopapier ab, um sich die Nase zu putzen. Ihr Blick bleibt an den dunkelroten Flecken hängen.
Könnte sie doch nur schwanger werden, könnten sie doch nur ein Baby zusammen haben. Ole wäre so froh und stolz. Verzweiflung überkommt sie, wenn sie diesen enttäuschten Gesichtsausdruck sieht, den er nicht verbergen kann. Das frisst sie innerlich auf. Sie kann verstehen, wie sehr er leidet. Wie weh es ihm tut.
Dass sie nicht fruchtbar ist.
Jeden Abend betet sie inbrünstig zu Gott, dass er es geschehen lassen möge. Dass ein kleines Leben heranwächst.
Sie wünscht es sich so heiß und innig.
»Kommst du?«, ruft Ole aus der Küche.
Er mag es nicht, allein zu essen, er will sie immer dabeihaben. Lisen findet das romantisch, und Rebecka muss ihr zustimmen. Es ist ein Privileg, einen Ehemann zu haben, der sich nach einem sehnt, sobald man außer Sichtweite ist.
»Schon unterwegs«, antwortet Rebecka rasch, damit er sich nicht wundert, was sie so lange im Bad macht.
Hastig wäscht sie sich ihr gerötetes Gesicht. Ole möchte nicht, dass sie sich schminkt. Sie benutzt fast nie mehr Wimperntusche, nicht einmal Hautcreme. Er sagt, eine solche Eitelkeit sei Sünde. Aber sie findet eine Dose mit altem Puder, den sie unter den Augen auftupft, um die Tränenspuren zu überdecken.
Es hat keinen Sinn, ihm zu erzählen, wie die Dinge liegen, es würde ihn nur ebenso traurig machen wie sie. Er hat wichtigere Sachen zu bedenken, morgen soll er in ihrer Schwestergemeinde in Trondheim predigen.
Sie will nicht, dass er durch ihr Unglück abgelenkt wird.
Rebecka atmet tief durch und schließt die Tür auf. Sie zwingt die Mundwinkel zu einem Lächeln und geht zur Küche.
Gott kann nicht so grausam sein, ihr und Ole ein Kind zu verweigern. Um ihrer Ehe willen muss sie schwanger werden, damit sie eine richtige Familie sind.
Nur so kann sie Ole beweisen, dass sie eine vollwertige Frau ist, eine, die seine Liebe und seinen Respekt verdient.
Die Polizeiwache ist an diesem Samstagabend leer und still, aber Hanna genießt die Ruhe nach den intensiven Gesprächen der letzten Stunden. Es fühlt sich immer noch unwirklich an, dass sich in Åre erneut ein brutaler Mord ereignet hat.
Sie sieht Johan Anderssons toten Körper vor sich. Die wehrlose Lage auf dem Boden, den zertrümmerten Schädel. Die Arme auf dem Rücken gefesselt, die Haut bläulich an den Handgelenken, wo sich der Kabelbinder eingeschnitten hat.
Wer tut einem anderen Menschen so etwas an?
Hanna schüttelt sich. Sie ist seit neun Jahren Polizistin, seit ihrem sechsundzwanzigsten Lebensjahr, aber mancher Anblick ist schwerer zu ertragen als andere.
Wird sie es schaffen, einen Gang höher zu schalten, um Johans Mörder zu finden?
Im Dezember war sie selbst dem Tod nahe, und sie hat die letzten Monate gebraucht, um sich zu erholen. Hat viel geschlafen und sich langsam eingearbeitet. Meist war sie mit Wirtshausschlägereien befasst und einmal mit einem Betrugsdelikt in Krokom.
Wenn sie eine Chance auf einen festen Posten haben will, muss sie sich ins Zeug legen. Im Moment hat sie nur eine befristete Stelle. Sie fühlt sich sehr wohl hier, und in Stockholm gibt es nichts, wohin sie zurückgehen könnte. Nicht nach dem Zerwürfnis mit Manfred, ihrem ehemaligen Chef in der Abteilung Gewaltdelikte in engen sozialen Beziehungen. Als er einen Fall von schwerer häuslicher Gewalt, in den ein Kollege involviert war, zu den Akten legte, wurde Hanna so wütend, dass sie ihm dienstliches Fehlverhalten vorwarf. Es endete damit, dass Manfred sie zusammenstauchte und sie aufforderte, ihre Sachen zu packen.
Sie war als Polizistin erledigt.
Wenn ihre Schwester Lydia sich nicht als Rechtsbeistand eingeschaltet und Manfred gezwungen hätte, ihr ein gutes Zeugnis auszustellen, hätte sie den Aushilfsjob in Åre nie bekommen. Sie ist Lydia zutiefst dankbar, aber auch Daniel, der sich für sie stark gemacht hat, als sie die Stelle am nötigsten brauchte.
Jener Tag im Dezember war der schlimmste Tag ihres Lebens. Wenige Stunden nachdem Manfred ihr mitgeteilt hatte, dass sie in seiner Abteilung nicht länger erwünscht war, machte auch noch ihr Lebensgefährte Christian mit ihr Schluss. Sie hatte kein Geld und die Wohnung gehörte Christian.
Hanna floh nach Åre in Lydias Haus, weil sie nirgendwo anders hinkonnte.
Mit einem Seufzer macht sie sich wieder daran, die verschiedenen Register durchzusehen, ob Johan irgendwo auftaucht. Sie hat sogar versucht, seinen Jugendfreund Carl Willner zu erreichen, mit dem sich Johan gestern Abend treffen wollte, aber er geht nicht ans Telefon.
Die Uhr zeigt Viertel nach sechs, als ihr Handy piept. Es ist eine Nachricht von Karro:
Kommst du mit ins Bygget?
Das Bygget ist Åres angesagtester Nachtclub. Dort wird es knüppelvoll sein, denn es ist der Samstag vor der neunten Kalenderwoche, in der die Stockholmer Sportferien haben. Aber Hanna kann nicht. Es ist unmöglich, die Ereignisse des Tages hinter sich zu lassen. Ihr Kopf ist voller Bilder vom zusammengeschlagenen Johan und seiner verzweifelten Marion.
Außerdem muss sie nach Hause und aufräumen, Lydia und Richard kommen morgen mit den Kindern.
Sie schaltet den Rechner aus und textet Karro: Danke, aber ich kann heute nicht. Next time! J
Sie hofft, dass Karro es ihr nicht übelnimmt. Sie ist unglaublich nett und eine richtige Freundin hier in Åre geworden. Außerdem ist sie die jüngere Schwester von Anton, ihrem Kollegen, vielleicht geht er auch hin?