Inhaltsverzeichnis
Buch
Widmung
Ein Jahr zuvor
JETZT
Kapitel 1. - Tag, abends
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Buch
Plötzlich rissen die blutroten Augen der Ampeln zwei Löcher in die nasse Dunkelheit. Eine eiskalte Klammer legte sich um ihr Herz, ihre Hände - auf einmal verschwitzt - packten das Lenkrad mit einer Kraft, die nicht zu ihren dünnen Armen passte.
Im Fernlicht der Scheinwerfer sah sie, wie sich die reflektierenden Halbschranken senkten.
»Scheiße!«, fluchte sie laut und hieb aufs Lenkrad.
Eine einsame Bahnschranke im Wald, dunkle Nacht. Vor knapp einem Jahr kamen hier vier Freunde von Melanie bei einem mysteriösen Unfall ums Leben. Seither wird die junge Frau jedes Mal von panischer Angst ergriffen, wenn sich auf dem Heimweg in ihr einsam gelegenes Dorf die Bahnschranken schließen. Und eines Abends scheint es ihr, als krieche eine dunkle, schemenhafte Gestalt vom Waldrand her auf ihren Wagen zu …
Ihre Eltern halten Melanie für überdreht - bis auf einmal die junge Jasmin Dreyer verschwindet und ihr Fahrrad ausgerechnet an jener einsamen Bahnschranke gefunden wird. Nun hat plötzlich auch die Polizei ein offenes Ohr für Melanies Geschichte. Mit dem Fall der Verschwundenen wird Kriminalhauptkommissarin Nele Karminter betraut. Doch eine großangelegte Suchaktion verläuft zunächst ergebnislos. Zu unübersichtlich ist das in Frage kommende Waldgebiet, zu wenige Anhaltspunkte und Indizien gibt es. Dann verschwindet die nächste Frau, und für Nele Karminter beginnt eine frenetische Suche, ein Wettlauf gegen die Zeit - und gegen die fieberhafte Intelligenz und den Wahnsinn eines Besessenen, der tief im Wald und unter der Erde an der Erfüllung seines Schicksals arbeitet …
Autor
Andreas Winkelmann, geboren im Dezember 1968, entdeckte schon in jungen Jahren seine Leidenschaft für unheimliche Geschichten. Als Berufener hielt er es in keinem Job lange aus, war unter anderem Soldat, Sportlehrer und Taxifahrer, blieb jedoch nur dem Schreiben treu. »Der menschliche Verstand erschafft die Hölle auf Erden, und dort kenne ich mich aus«, beschreibt er seine Faszination für das Genre des Bösen. Er lebt heute mit seiner Familie in einem einsamen Haus am Waldesrand nahe Bremen.
In Gedenken an Sabrina Jeske
… die ins Auge des Orcas blickte und mir davon erzählte. Auch kurze Leben hinterlassen Spuren; deine werden ewig sichtbar bleiben.
Ein Jahr zuvor
Wummernde Bässe ließen Blech vibrieren und brachten Glas zum Schwingen; das kleine Auto erzitterte unter der Gewalt der Schallwellen. Dröhnende, hässliche Geräusche, die tief in den nachtstillen Wald eindrangen und das Wild in panischer Angst erstarren ließen. Die vier jungen Insassen störte der Lärm nicht. Walkman und Discobesuche hatten ihren Ohren die Sensibilität genommen, so dass ihre Trommelfelle ihrer Jugend bereits zwanzig Jahre voraus waren.
Im Inneren der hüpfenden Kiste schob Jenny zum wiederholten Mal Erkans Hand beiseite. Sie hatten bereits zu Haus mit dem Trinken angefangen, lange bevor sie sich auf den Weg zu der Party bei Arnos Freund, der gestern achtzehn geworden war, gemacht hatten, und der Alkohol ließ Erkan noch zudringlicher werden, als er es auch nüchtern schon war. Trotzdem kam er bei Jenny nicht weit, denn sie war nicht annähernd so betrunken wie die Jungs. Ein Zungenkuss war das Äußerste, und schon der verlangte ihr eine Menge ab, da sie notgedrungen den süßen Geschmack des Anislikörs schmecken musste, den Erkan so gern trank und so schlecht vertrug.
Schon wanderte seine Hand erneut über den dünnen Stoff der hautengen schwarzen Stoffhose den Schenkel hinauf in Richtung ihres Schritts.
Diesmal schlug Jenny drauf, und es klatschte laut.
Das Geräusch hörten Jens und Arno selbst durch den Lärm von Eminems 8 Mile-Album hindurch.
Jens drehte sich um und sah grinsend nach hinten. »Brauchste Hilfe?«
Sein Blick war alkoholgetrübt.
Erkan löste sich von Jenny und sah seinen Freund böse an. »Von dir, du Tunte?«
Er rückte ein Stück von Jenny fort, zog die bereits halb geleerte Flasche zwischen seinen Füßen hervor und trank einen langen Zug.
Arno, der den Polo fuhr, grinste in sich hinein. Er hätte gern einen Blick in den Rückspiegel geworfen, doch die wummernden Bässe ließen das Glas derart erzittern, dass darin nichts zu erkennen war. Schade! Erkans Gesicht musste Gold wert sein. Er kapierte es einfach nicht! An Jenny biss er sich mit seiner Mischung aus südländischem Charme und türkischer Aufdringlichkeit die Zähne aus. Arno bewunderte das Mädchen dafür. Als Aufreißer war Erkan bekannt wie ein bunter Hund, und insgeheim überlegte Arno, ob Jenny sich vielleicht nur mit ihm eingelassen hatte, um dem Aufschneider irgendwann die kalte Schulter zu zeigen. Arno hoffte, dass es so war, denn dann hatte er vielleicht doch Chancen bei ihr. Sie war das hübscheste Mädchen in der Klasse, und auch wenn sie sich gern cool und unnahbar gab, erahnte Arno darunter doch eine nachdenkliche, sensible Seele.
Weit voraus in der Dunkelheit flammten plötzlich zwei rote Augen auf. Der Bahnübergang! Kurz darauf konnte Arno im Licht der Scheinwerfer die reflektierenden, sich langsam senkenden Halbschranken erkennen.
Pech, wie meistens!
Im Fond des Wagens warf der junge Türke Jenny einen Blick zu, den sie schon zu oft bei ihm gesehen hatte, als dass sie noch darauf hereingefallen wäre. Diese gekonnt einstudierte Mischung aus gekränkter Eitelkeit und spitzbübischem Charme stellte er immer dann zur Schau, wenn er von ihr nicht bekam, was er wollte. Auch die Verletzlichkeit in diesem Blick war gespielt, das wusste Jenny mittlerweile.
»Was’n los?«, fragte Erkan.
Jenny nahm einen schnellen Schluck aus der Flasche Becks. Dann strich sie mit der linken Hand ihr Haar zurück und achtete darauf, in dieser fließenden Bewegung ihr tiefes Dekolleté weit nach vorn zu strecken. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wohin Erkans Blick sofort wanderte.
»Ich lass mich nicht auf’nem Rücksitz betatschen.«
»Ey, mach mal halblang. Was heißt denn hier betatschen? Sind wir nun zusammen oder nicht?«
Jenny beugte sich zu ihm rüber, ihre Brust berührte seinen Oberarm, ihre Lippen näherten sich den seinen.
»Wenn ich es sage, vorher nicht.«
Damit ließ sie ihn sitzen, wandte sich ab, starrte aus dem Seitenfenster und tat so, als gäbe es im vorbeihuschenden, finsteren Wald etwas zu sehen.
Arno stoppte den Wagen vor der Schranke.
»Scheiße«, grunzte Jens, »fahr doch drum herum.«
»Spinnste?«, rief Jenny von hinten. »Nicht, wenn ich im Wagen sitze.«
»Nur die Ruhe, hätte ich sowieso nicht gemacht.«
Arno, als Einziger im Wagen nüchtern, drehte die Lautstärke ein wenig runter und warf nun doch einen Blick in den Rückspiegel. Leider bekam er nicht das Paar hübsche grüne Augen zu sehen, in dem vielleicht ein wenig Dank und Anerkennung aufblitzte, weil er hier nicht den Coolen markierte. Stattdessen tauchte Erkan zwischen den Sitzlehnen auf und rülpste. Der Gestank seines Atems widerte Arno an. »Du Arsch. Lass deine Gesichtsfürze hinten ab.«
»Warum machste die Mucke leise?«
»Is mein Auto, oder?«
Arno war sich nicht sicher, ob Erkan wirklich sein Freund war, ganz sicher aber wusste er, dass er dessen selbstgefällige Art nicht ausstehen konnte. Immer alles klar und cool, und keiner kam an ihn heran, und dazu sah er auch noch unverschämt gut aus.
»Du brauchst Stoff, oder?«, sagte Erkan und reichte die Flasche nach vorn. Viel war nicht mehr drin.
»Ich fahre.«
»Spießer.«
Auf Arno konnte sie sich verlassen, das wusste Jenny, der würde nicht einfach um die Halbschranken herumfahren. Also hatte sie sich zurückgelehnt und lauschte der Unterhaltung nur mit einem Ohr. Ihr war schlecht, denn eigentlich mochte sie kein Bier. Außerdem hatte sie seit gestern wieder ihre Tage; ihr Unterleib schmerzte, und die Hormone spielten verrückt. Mehrmals am Tag schwankte ihre Stimmung zwischen euphorischer Heiterkeit und lähmender Melancholie. Der Alkohol wollte auch nicht so recht helfen, aber das hätte sie den Jungs wohl kaum erklären können. Erkan schon gar nicht.
Sie starrte durch das Seitenfenster nach draußen. Der finstre, undurchdringliche Waldrand war zum Greifen nah. Das weiße Licht der Scheinwerfer vermischte sich mit dem roten Licht der Ampeln zu einer wächsernen, unnatürlichen Farbe, die der Dunkelheit kaum ein Stück der Straße entreißen konnte. Vor einer halben Stunde hatte es noch wie aus Eimern geschüttet, und im Wald schien es immer noch zu regnen. Eine feuchte Dunkelheit war das, undurchdringlich und irgendwie beängstigend.
Jenny wollte sich gerade abwenden, da nahm sie eine Bewegung wahr. Oder glaubte es zumindest. Sie sah genauer hin. Da war doch was gewesen, am Waldrand!
Vielleicht ein Reh?
Aber was sich dann aus der Dunkelheit löste, als sei es ein Teil von ihr, war ganz gewiss kein Reh. Es war etwas Schwarzes, Großes, Unförmiges, das auf zwei Beinen lief. Ein Mensch, und doch auch wieder nicht.
»He, Leute!«, flüsterte sie.
Da keiner reagierte, rüttelte sie an Erkans Arm.
»Haste jetzt doch Bock?«, fragte er und ließ sich zurückfallen. Triebgesteuert grapschte seine Hand nach ihrem Knie.
»Lass die Scheiße … da draußen ist jemand.«
Jenny ließ die Gestalt nicht aus den Augen. Sie bewegte sich vom Waldrand direkt auf ihren Wagen zu. Schwarz von Kopf bis Fuß, irgendwie unförmig und viel zu groß. Auch schien sie zu fließen, statt zu gehen. Genaueres war in dem Dreckslicht nicht zu erkennen.
»Wer soll’n da sein bei dem Sauwetter?«
Erkan beugte sich zu ihr rüber und sah im selben Augenblick, was Jenny meinte.
Die Gestalt näherte sich dem Wagen schräg von hinten. Kam aber nicht direkt darauf zu, sondern umrundete ihn mit einem Abstand von zwei Metern, bis sie die Motorhaube erreicht hatte und stehen blieb. Obwohl sie sich damit im Licht der Scheinwerfer befand, bekamen die vier jungen Leute nicht mehr zu sehen als feucht glänzendes, schwarzes Ölzeug. Die Kapuze war so tief heruntergezogen, dass Jenny meinte, dahinter sei gar kein Gesicht, sondern nur ein furchterregendes Loch, das, sollten sie einen Blick hineinwerfen, sie alle verschlingen würde.
»Was’n das für’n Spinner?«, fragte Jens.
Arno stellte die Musik ab. Die plötzliche Stille senkte sich bedrohlich über die makabere Situation.
»Ich hau ihm in die Fresse.«
Noch nicht ganz zu Ende gesprochen, griff Erkan schon nach dem Türgriff. Doch Jenny hielt ihn zurück.
»Nein!« Sie schrie beinahe. »Nicht aussteigen.«
Erkan glotzte sie an. »Warum nicht?«
»Ich … Vielleicht ist er gefährlich.«
Plötzlich rauschte ein Zug vorbei. Eine schwere Diesellok, wie sie nachts zuhauf auf dieser Strecke unterwegs waren, mit einer schier endlosen Schlange Güterwaggons dahinter. Erneut erfüllte Lärm die Luft, zudem erzitterte der kleine Wagen unter der Gewalt des Stahlkolosses.
Unvermittelt setzte sich die Gestalt in Bewegung, kam zurück zu der Tür, hinter der Jenny saß, und griff danach. Wenn Jenny nicht instinktiv von innen dagegengehalten hätte, hätte die Gestalt die Tür aufgerissen. So zog das Mädchen die Tür wieder ins Schloss und schrie: »Den Knopf, drück den Knopf runter!«
Damit war Arno gemeint, und der kapierte sofort. Mit einem schnellen Handschlag verriegelte er alle vier Türen.
»Ich geh raus und bring den Typ um!«, sagte Erkan.
»Nein, lass uns abhauen.«
Der letzte Waggon des Zuges rollte vorbei. Doch bevor wieder Stille einkehren konnte, rutschte etwas metallisch Glänzendes aus dem Ärmel der dunklen Gestalt, die damit ausholte und es ins Seitenfenster krachen ließ. Der Hammer zerstörte die Scheibe und ließ einen Splitterregen auf Jenny und Erkan niedergehen.
Jenny schrie gellend auf. Erkan zog sie zu sich herüber und lehnte sich schützend über sie.
»Fahr los!«, schrie er Arno an.
Der Hammer ging erneut nieder, diesmal auf das Wagendach.
»Mach schon!«
Arno rammte in Panik den Gang rein und gab Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorn, kratzte mit der rechten Seite an der Halbschranke entlang und soff ab, als er auf den Gleisen stand.
Keiner der Insassen hatte noch die Zeit, etwas zu sagen. Die zweite schwere Diesellok raste mit hundertfünfzig Stundenkilometer heran, noch ehe die jungen Leute begriffen, was mit ihnen geschah. Sie kam von rechts, so dass Jenny durch die zerstörte Scheibe die drei Scheinwerfer sehen konnte. Sie kamen auf sie zu, wurden größer und größer, gleißend hell wie die Sonne …
Dann endeten vier Leben in einem kreischenden Inferno. Mehrere hundert Meter schleifte die Lok den Polo über die Schienen mit sich, zerdrückte und zerknäulte ihn, zermalmte die Insassen und entfachte ein Feuer, das den Wagen explodieren ließ. Eine Flammensäule schoss in die Höhe, Funkenregen ging über dem Gleisbett nieder, und ein Fauchen wie von einem wilden Tier erfüllte die heiße Luft.
Ein Stück weit entfernt schob sich etwas Schwarzes in den Wald zurück und verschmolz mit der Dunkelheit, aus der es zuvor gekommen war.
JETZT
1.
Tag, abends
Ihr Kopf glühte noch, und sie spürte schon jetzt einen beginnenden Muskelkater wegen der neuen Übungen, die Vera in das Aerobicprogramm eingebaut hatte. Das tat sie immer, wenn sie von einer Trainerfortbildung zurück war. Melanie mochte das, trotz der Schmerzen. Ihr Körper wurde dann wieder einmal richtig gefordert, außerdem war der Kopf danach so herrlich frei!
»Puh, das war hart!«, sagte Natalie und ließ sich auf die Holzbank neben sie fallen.
Melanie reichte ihr die halbleere Wasserflasche. »Hart, aber gut.«
Da Natalie trank, konnte sie nur nicken. Nachdem sie die Flasche abgesetzt hatte, rülpste sie leise und sagte: »Was machst du am Wochenende?«
Melanie überlegte kurz. »Wenn ich wieder das Auto meiner Mutter bekomme, könnten wir zu Meyers Tanzpalast fahren«, schlug sie vor.
Natalie boxte ihr spielerisch gegen den Oberschenkel. »Weil Timo da ist, oder?!«
Gut, dass ihr Kopf vom Training schon gerötet war, so fiel die neue Röte, die ihr jetzt in die Wangen schoss, gar nicht auf. Aufgesetzt lässig zuckte Melanie mit den Schultern.
»Weiß nicht. Ist er da?«
Natalie lachte, wollte etwas erwidern, wurde aber von Vera unterbrochen, die in diesem Moment den Umkleideraum betrat.
»Los Mädels, geht duschen. In einer Viertelstunde schließt der Hausmeister hier ab, und ihr wisst, wie laut der werden kann.«
Ja, das wussten sie, und keines der Mädchen wollte es sich mit dem alten Plumberg verderben, also sprangen alle gleichzeitig auf, zogen sich aus und gingen duschen. Als Melanie und Natalie wenig später mit noch feuchtem Haar die Turnhalle verließen, stand der Hausmeister bereits in der Tür und wedelte auffällig mit seinem schweren Schlüsselbund.
»Danke fürs Warten«, flöteten die beiden unisono und kicherten los, kaum dass sie außer Hörweite waren.
Es hatte geregnet. Auf dem Parkplatz standen Pfützen, die Autos glitzerten nass im Licht der weißen Lampen.
»Ich kanns kaum noch erwarten, dass es endlich Sommer wird«, sagte Melanie. »Ich hasse es, im Dunkeln zurückfahren zu müssen.«
»Kann ich verstehen, bei der Strecke«, sagte Natalie, und all das, was sie nicht aussprechen mochte, lag fast drohend zwischen ihren Worten.
Die beiden verabschiedeten sich mit einer kurzen Umarmung. Melanie warf ihre Sachen auf den Beifahrersitz, startete den Motor und verließ den Parkplatz der Turnhalle. Im Dorf selbst brannte noch die Straßenbeleuchtung, doch bald ließ sie auch die letzte Laterne hinter sich, und die Scheinwerfer schnitten durch tiefe Dunkelheit. Nicht weit hinter dem Ortsschild führte die Kreisstraße durch den Wald. Als die dicht stehenden Bäume das Schwarz noch schwärzer machten, spürte Melanie einen Kloß im Hals und einen Klumpen im Magen. Beinahe automatisch fuhr sie langsamer.
Plötzlich rissen die blutroten Augen der Ampeln zwei Löcher in die nasse Dunkelheit. Sie waren noch zwei Kilometer entfernt, und doch blendeten sie Melanie Meyer mit jener hypnotisierenden Intensität, die immer wieder aufs Neue völlig überzogene Reaktionen bei ihr auslöste. Eine eiskalte Klammer legte sich um ihr Herz, ihre Hände - auf einmal verschwitzt - packten das Lenkrad mit einer Kraft, die nicht zu ihren dünnen Armen passte.
Im Fernlicht der Scheinwerfer sah sie, wie sich die reflektierenden Halbschranken senkten.
»Scheiße!«, fluchte sie laut und hieb aufs Lenkrad.
Automatisch ging ihr Fuß vom Gas. Wenn sie nur langsam genug fuhr, den Wagen einfach ausrollen ließ, würden sich die Schranken vielleicht wieder öffnen, bevor sie sie erreichte. Nur nicht anhalten, hier im Wald, im Dunkeln, allein.
Dieser einsame Bahnübergang im tiefen Wald, den sie passieren musste, wenn sie in ihr spießiges Dorf zurückwollte, war ihr noch nie geheuer gewesen. Früher war es nur ein ungutes Gefühl gewesen, ein Ziehen im Bauch, ein Kribbeln unter der Kopfhaut, doch seit einem Jahr gesellten sich nach und nach heftigere körperliche Reaktionen dazu - flache Atmung, verschwitzte Hände, rasender Herzschlag -, alles Vorboten für eine regelrechte Panikattacke. Natalie und ihren anderen Freundinnen aus dem Kurs gegenüber würde sie es nicht zugeben, sich selbst aber machte Melanie nichts mehr vor. Angst und Panik. Wegen einer geschlossenen Schranke im Wald.
Ein paar Hundert Meter noch. Warum fraß das Auto die Strecke derart schnell, sie gab doch kaum noch Gas!?
Ein unbeleuchteter Güterzug zog langsam vorbei. Waggon um Waggon. Das Rumpeln übertrug sich durch den Boden bis in ihren Wagen, so nah dran war sie bereits. Vielleicht hatte sie heute Glück! Vielleicht war es der einzige Zug und sie brauchte nicht anzuhalten.
Der letzte Waggon nahm diesen Wunsch mit in die Nacht, hinterließ jedoch unerfüllte Hoffnungen, denn die Schranken rührten sich nicht von der Stelle. Ungnädig versperrten sie weiterhin den Weg. Melanie drückte den Knopf in der linken Armablage, und mit einem leisen Geräusch verriegelten alle vier Türen des Wagens automatisch.
Schließlich erreichte sie die Halbschranke und stoppte notgedrungen. Sie hätte weiterfahren können, es waren ja nur Halbschranken, kein Problem, drum herumzufahren. Aber wie immer, wenn sie diesen Gedanken erwog, wurde ihr Blick geradezu schmerzlich angezogen von dem Holzkreuz am rechten Fahrbahnrand, gleich neben dem Betonsockel der Schranke.
Ein Kreuz. Vier Namen.
Vier Freunde.
Verbrannt.
Erst als der nächste Zug herandonnerte, schaffte Melanie Meyer es, ihren Blick abzuwenden von dem Kreuz, in dessen langsam verwitterndes Holz die Namen ihrer Freunde eingraviert waren. An jenem Abend vor etwas mehr als einem Jahr hätte sie mit in dem Wagen sitzen sollen, und sie verdankte ihr Leben nur dem Umstand, dass sie mit Fieber im Bett gelegen und nicht mit zu der Party gekonnt hatte. Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr, als alle zwei Wochen einen kleinen Strauß in die Plastikvase zu stecken, die vor dem Kreuz im Boden eingelassen war.
Jenny!
Neun Jahre gemeinsame Schulzeit. Neun Jahre alle Gedanken, Geheimnisse, Wünsche und Sehnsüchte geteilt. Und von einer Sekunde auf die andere war alles ausgelöscht. Es tat noch immer weh. Nicht mehr so sehr, aber ganz verschwinden würde es wohl nie.
Der zweite Zug war vorüber.
Melanie legte den Gang ein und starrte zur Ampel empor. Mittlerweile wusste sie genau, dass dem Öffnen der Schranken ein kurzes Zucken des roten Lichts vorausging. Aber wie es so oft gerade nachts der Fall war, folgten dem zweiten Zug noch weitere. Die Schranke blieb unten, die Ampel streute weiter ihr blutiges Licht in die Nacht. Vier, fünf Güterzüge waren zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Das bedeutete Wartezeiten von manchmal zehn Minuten. Zeit genug eigentlich, den Motor abzustellen und die Umwelt zu schonen, so wie es auch das Schild dort oben über der Ampel anmahnte. Niemals würde Melanie hier nachts den Motor abstellen.
Es war ein Unfall gewesen damals, ein schrecklicher Unfall. Jugendlicher Übermut, Alkohol und diese ewig nervende Schranke hatten dazu geführt.
Aber Arno hatte nie getrunken, wenn er fuhr. Und Arno war immun gewesen gegen Erkans Sticheleien. Arno war immer der Vernünftigste von ihnen gewesen.
Warum war Arno auf die Gleise gefahren?
Es war diese eine Frage, die Melanie seitdem umtrieb, immer dann, wenn sie hier warten musste. Zweimal die Woche fuhr sie abends zum Aerobic, folglich stand sie zweimal die Woche in der Dunkelheit vor der Schranke, abgesehen von den paar Ausnahmen, wenn sie gerade mal nicht unten war.
Bewegte sich da etwas am Waldrand?
Melanie schaute genauer hin und meinte schon, sich getäuscht zu haben, als sie es wieder sah. Da bewegte sich etwas Dunkles im Dunkeln, so als sei ein Stück der Nacht lebendig geworden.
Was war das?
Der Ast einer Fichte im Wind?
Ein Reh?
Davon gab es hier jede Menge, und sie hatten sich längst an die Menschen, Autos und Züge gewöhnt, so dass sie oft sehr nah an den Straßenrand kamen. Melanie strengte sich an, konnte aber nichts erkennen. Dort, wo das Licht der Autoscheinwerfer nicht hinreichte, war es stockdunkel.
Doch plötzlich löste sich ein Teil dieser Dunkelheit vom Waldrand. Melanie riss die Augen auf, ihr Herz setzte kurz aus. Ein großes schwarzes Etwas - eindeutig kein Reh, von der Kontur her mehr ein Bär - schlich auf ihren Wagen zu.
»Nein … bitte, nein!«, entfuhr es Melanie flüsternd.
Hektisch riss sie den Kopf herum und starrte zur Ampel hinauf.
Immer noch rot!
Bitte, lieber Gott, lass sie umspringen, bitte, bitte, bitte!
Der Schatten war heran, stand plötzlich genau neben der Fahrertür und beugte sich hinunter.
Stocksteif saß Melanie hinterm Lenkrad. Sie wagte es nicht hinauszusehen. Wenn sie in das grässliche Gesicht dieses Etwas blickte, würde ihr Herz einfach aufhören zu schlagen, das wusste sie.
Das rote Licht der Ampeln floss wie Öl über die glatte Haut des Etwas. Jetzt trat es seitlich vor die Windschutzscheibe. Melanie gab einen erstickten Laut von sich, fieberhaft suchte sie im Wageninneren nach etwas, das sie als Waffe verwenden könnte. Da war nichts. Doch, die leere Mineralwasserflasche, die sie nach dem Training ausgetrunken hatte. Sie griff danach, stieß sie in ihrer Panik aber nur vom Sitz, so dass sie klappernd im dunklen Fußraum verschwand.
»Scheiße!«
Eine Hand klatschte auf die Windschutzscheibe.
Melanie schrie auf, zuckte zurück und presste sich so tief in den Sitz, wie es eben möglich war. Stoßweise und gehetzt ging ihr Atem, ihre Brust hob und senkte sich in unnatürlichem Rhythmus. Vor sich auf der Scheibe sah sie deutlich vier Finger und einen Daumen. Gespreizt, riesig, eine Kralle.
Plötzlich schoss mit hoher Geschwindigkeit eine einzelne Lokomotive vorbei. Kaum zwei Sekunden war sie zu sehen. Kurz darauf hoben sich die Halbschranken.
Der Gang war schon eingelegt, sie musste nur noch Gas geben. Sie überwand ihre Starre, drückte aufs Pedal, und der Wagen sprang förmlich über den Bahnübergang.
Der Motor heulte gequält, weil sie vergaß hochzuschalten. Erst als der Wagen nicht mehr beschleunigte, legte Melanie den zweiten Gang ein und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Bahnübergang lag vielleicht zwei-, dreihundert Meter entfernt. Hinter ihr war nur Dunkelheit.
Für einen Moment glaubte sie, in weiter Entfernung ein schwaches, unruhiges Licht zu erkennen.
Vielleicht das einer Fahrradlampe.
Dreiundzwanzig Uhr!
Detlef Dreyer verfolgte mit den Augen den roten Sekundenzeiger der Funkuhr an der Wand. Seit er vor einer Viertelstunde den Fernseher ausgeschaltet hatte, konzentrierte er sich auf das leise Ticken, das in der absolut stillen Wohnung ungewöhnlich laut klang. Auch lief das Uhrwerk langsamer als sonst. Schon merkwürdig, wie viel Zeit einem zur Verfügung stand, wenn man sie nicht brauchte.
Dreiundzwanzig Uhr vorbei! Die Grenze, bis zu der er bereit gewesen war, regungslos zu warten, war überschritten. Jasmin war seit einer halben Stunde überfällig.
Nicht ungewöhnlich bei einem 17-jährigen Mädchen sollte man meinen, zumal sie ihren ersten richtigen Freund besuchte, aber Detlef war sich sicher, in seiner Eigenschaft als Vater die Grenzen sehr deutlich gezogen zu haben. Es war der Preis, den Jasmin zu zahlen bereit war, damit sie allein mit dem Fahrrad nach Friedburg fahren durfte. Vom Papa mit dem Wagen hingebracht zu werden war ihr zu peinlich.
Das musste man sich mal vorstellen.
Peinlich!
Die Sekunden verrannen und taten es auch wieder nicht. Eine halbe Stunde! Grund genug, sich zu sorgen?
Ein eindeutiges Ja! Der Heimweg führte durch den Wald. Unbeleuchtet. Was da alles passieren konnte. Jetzt, im Nachhinein, fragte Detlef sich, wie er das nur hatte erlauben können. Gedankenlosigkeit aufgrund von Gewöhnung, das war es. Sie lebten seit zwanzig Jahren in Mariensee, Jasmin war hier geboren und aufgewachsen. Die sechs Kilometer durch den Wald mit dem Fahrrad zu fahren, war völlig normal für sie.
Trotzdem. Es war gedankenlos gewesen!
Detlef Dreyer erhob sich aus dem Sessel, nahm sein Handy, ging über den kurzen Flur zur Haustür und zog sie auf.
Es war still im Ort, wie immer um diese Zeit. Die Luft war nicht mehr ganz so kalt, und er bildete sich ein, den nahenden Frühling spüren zu können. Vor kurzem hatte es geregnet, Feuchtigkeit lag in der Luft, und gegen Morgen würde es sicher Nebel geben.
Detlef ging in Hausschuhen auf den Hof hinaus. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Wo die lange, gewundene Auffahrt in die Dorfstraße mündete, blieb er stehen. Von dort vorn konnte er ein gutes Stück der Straße einsehen, die in einem großen Oval durchs ganze Dorf führte. Es war die einzige, an ihr lagen alle vierzig Grundstücke der kleinen Waldgemeinde, deren Einwohner sorgfältig darüber entschieden, wer hier leben durfte und wer nicht. Ohne persönliche Bindung bekam hier niemand einen der wenigen Bauplätze.
Wie sehr hatte Detlef gehofft, irgendwo in der Dunkelheit das unruhige Flackern einer Fahrradlampe zu entdecken. Doch da war nichts. Nur stille Nacht.
Er wählte die Nummer seiner Tochter, hielt sich das Handy ans Ohr und wartete. Nach dem siebten Klingeln meldete sich die verdammte Mailbox.
Okay, jetzt machte er sich ernsthaft Sorgen! Auch dafür, dass Jasmin nicht an ihr Handy ging, konnte es natürlich verschiedene, nicht besonders aufregende Gründe geben. Theoretisch zumindest. Aber eigentlich waren Jugendliche heutzutage immer und überall per Handy zu erreichen, da war auch seine Jasmin keine Ausnahme. Nicht erreichbar zu sein hatte es auf Platz eins in die Riege der Todsünden unter Teenagern geschafft.
Detlef Dreyer traf eine Entscheidung.
Und wenn es seiner Tochter bis an ihr Lebensende peinlich sein sollte, er würde jetzt den besorgten Vater spielen. Was hieß spielen? Er war es!
Mit schnellen Schritten lief er ins Haus zurück und nahm die kleine Post-it-Notiz vom Kühlschrank, die er Jasmin am frühen Abend abgerungen hatte. Darauf standen in ihrer sehr sauberen Handschrift eine Telefonnummer und ein Name.
Sven Schweers. Jasmins erster richtiger Freund.
Das merkwürdige Gefühl unterdrückend, das dieser Name bei ihm auslöste, wählte Detlef die Nummer. Es war ein Handy, natürlich, was denn sonst. Der junge Mann war relativ schnell dran.
Detlef erfuhr, dass seine Tochter das Haus der Schweers wie abgesprochen gegen zweiundzwanzig Uhr verlassen hatte. Sie war mit dem Fahrrad in Richtung Mariensee aufgebrochen, obwohl auch Svens Vater angeboten hatte, sie mit dem Auto zu bringen. Die Schweers besaßen einen Kombi, in dessen Kofferraum ein Fahrrad problemlos Platz fand. Doch Jasmin konnte sehr stur sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Da war sie wie ihre Mutter.
Detlef Dreyer vereinbarte mit dem jungen Mann (der irgendwie sogar sympathisch klang und sich offenbar wirklich Sorgen machte) in einer Viertelstunde noch einmal anzurufen. So lange würde er brauchen, um die Strecke nach Friedburg mit dem Wagen abzufahren.
Eilig zog er sich Schuhe an und steckte eine Taschenlampe ein. Zwei Minuten später ließ er das Ortsschild von Mariensee hinter sich und fuhr mit Schrittgeschwindigkeit durch den Wald. Nach der letzten Rechtskurve kam ein langes, gerades Stück, das bis zum Bahnübergang reichte und fast drei Kilometer lang war. Von der Kurve aus konnte Detlef erkennen, wenn die Ampeln auf Rot schalteten. Im Moment waren sie aus - und das Licht einer Fahrradlampe war auch nicht zu sehen.
Detlef Dreyer wechselte zu Fernlicht. Langsam fahrend suchte er sorgsam die Straßenränder ab. Nervös trommelten seine Finger auf dem Lenkrad.
Er hätte nicht beschreiben können, was in ihm vorging. Es war diese eine Situation, die Eltern sich oft ausmalten, und von der sie hofften, sie niemals erleben zu müssen. Vielleicht waren Jasmin und er zu leichtsinnig? Vielleicht lag es daran, dass die Mutter fehlte? Anke hätte nie erlaubt, was er seiner Tochter erlaubte. Aber wenn ein Teenager ohne Mutter aufwachsen musste und der Vater vielbeschäftigt war, dann wurde der Teenager schnell selbstständig, handelte eigenverantwortlich und ließ sich zwangsläufig nicht mehr alles vorschreiben, auch vom Vater nicht. Müßig, jetzt darüber nachzudenken, das änderte nichts.
Möglich, dass ihr nur die Kette abgesprungen war oder sie einen Platten hatte; vielleicht hatte sie auch ein angefahrenes Reh am Straßenrand entdeckt und wollte es nicht einsam sterben lassen. So war Jasmin, in solchen Situationen vergaß sie alles andere.
Aber warum ging sie dann nicht an ihr Handy?
Detlefs Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Die Antwort auf diese Frage ließ zu viele Spekulationen zu, von denen er nichts wissen wollte. Lieber nahm er sich selbst das Versprechen ab, Jasmin niemals wieder zu erlauben, nachts mit dem Fahrrad durch den Wald zu fahren. O Gott, hoffentlich gab es noch eine Gelegenheit für ihn, ein strengerer Vater zu sein.
Die Ampeln schalteten um, und die Schranken senkten sich, kurz bevor er sie erreichte.
Detlef Dreyer hielt den Wagen an, stellte den Motor ab und stieg aus. Noch war von dem angekündigten Zug nichts zu sehen und zu hören, dementsprechend still war es im Wald. Er ging bis zur Schranke vor und legte die Hände darauf. Da er die Scheinwerfer angelassen hatte, konnte er ein gutes Stück der Straße auf der anderen Seite einsehen. Auch von dort kam ihm kein einsames, einzelnes Licht entgegen.
Die Schienen begannen zu singen.
Er wollte gerade von der Schranke zurücktreten, als er im Wald neben der Fahrbahn auf der anderen Seite etwas aufblitzen sah.
Chrom! Teile eines Fahrrades!
Alles in ihm verkrampfte sich.
Dann war der Zug heran. Es war ein ICE. Der machte nicht viel Lärm, aber umso mehr Wind. Die Wucht des Luftdrucks ließ Detlef taumeln. Er lief zum Wagen und holte die Taschenlampe.
So schnell er gekommen war, verschwand der Zug auch wieder. Noch bevor die Schranken sich hoben, lief Detlef über die Gleise. Ein zweiter Zug hätte ihn getötet, aber er dachte nicht einmal an das Risiko. In seinem Kopf war nur noch Platz für das kurze Aufblitzen von Chrom. Er lief zu der Stelle, an der er meinte, es gesehen zu haben, schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete in den Wald.
Keine drei Meter entfernt lag ein Fahrrad im Unterholz.
Detlef Dreyer stolperte darauf zu und fiel auf die Knie. Die letzten Zweifel verschwanden und hinterließen nur noch Schmerzen in seinem Inneren. Es war das silberne City-Bike mit dem bequemen Sattel, das er ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.
Ihr Handy lag im Moos.
Jasmin!
»Da war ein Mann … ganz bestimmt, ihr müsst mir glauben!
Hartmut Meyer betrachtete seine Tochter Melanie und wusste nicht, was er davon halten sollte.
Völlig aufgelöst, zitternd, beinahe hysterisch war sie von ihrer Aerobicstunde zurückgekehrt. Ihrem ersten Wortschwall hatten weder Gudrun noch er etwas Sinnvolles entnehmen können. Erst nachdem Gudrun ein paar Minuten beruhigend auf sie eingeredet hatte, war Melanie in der Lage gewesen, verständliche Sätze zu formulieren. Weinend und immer noch zitternd hatte sie erzählt. Von einem schwarz gekleideten, riesigen Mann, der sich an der geschlossenen Bahnschranke an ihren Wagen herangeschlichen und mit der Hand auf die Windschutzscheibe geschlagen hatte.
Das ergab doch keinen Sinn!
»Warum glaubt ihr mir denn nicht … ich hab mir das doch nicht eingebildet. Wir müssen die Polizei rufen!«
»Pssst«, machte Gudrun, nahm ihre Tochter fester in den Arm, drückte sie an ihren großen Busen und warf ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu.
Nein, sie würden natürlich nicht die Polizei rufen. Das würde Gudrun nicht zulassen. Nicht nach dem unsäglichen Unfall von vor einem Jahr. Sie alle hatten in dieser Zeit viel durchgemacht, und die Wogen der Empörung begannen sich gerade erst zu glätten. Niemand hier konnte neue Aufregung gebrauchen. Melanie ganz besonders nicht. Die kaum verheilten Wunden würden wieder aufreißen, erneut die langen Sitzungen bei Dr. Lindtner, das Gerede der Nachbarn … nein, Gudrun hatte sicher recht, es gab keinen Grund, die Pferde scheu zu machen. Was sollten sie der Polizei auch melden?
Ein 19-jähriges Mädchen, das nach dem Unfall damals drei Monate lang in psychotherapeutischer Behandlung gewesen war, weil es eigentlich mit in dem Auto hätte sitzen sollen, fabulierte von einem schwarz gekleideten Mann, der nächtens Menschen an einer geschlossenen Bahnschranke erschreckte.
Melanie war immer zart besaitet gewesen, hatte, wie man so schön sagt, zu nah am Wasser gebaut. Ganz das Gegenteil ihrer Mutter.
Hartmut stand mitten im Wohnzimmer, fühlte sich überflüssig und wusste nicht recht, was er tun sollte. Mit den Tränen seiner Tochter hatte er nie gut umgehen können, das Trösten war immer Gudruns Aufgabe gewesen, obwohl sie doch sonst mehr der herbe Typ war.
»Hartmut«, sagte seine Frau übertrieben laut, »nimm doch den Wagen und fahr nachschauen, ja.«
Dabei schüttelte sie aber leicht den Kopf, so dass Melanie es nicht bemerkte. Er sollte nicht wirklich fahren, es reichte, wenn Melanie daran glaubte.
»Ja, mach ich.« Hartmut wandte sich um.
»Papa«, rief seine Tochter, »sei bitte vorsichtig. Vielleicht ist er noch da!«
Ihre Blicke trafen sich. Was Hartmut Meyer in den Augen seiner Tochter sah, schockierte ihn. Diese nackte Angst! Kein Mensch konnte sich so etwas bloß einbilden.
»Keine Sorge, ich passe schon auf.«
Er verließ das Haus.
Draußen auf dem Hof atmete er einmal tief ein, dann nahm er die Packung mit den Zigaretten aus der Hemdtasche und zündete sich eine an. Im Haus erlaubte Gudrun das Rauchen nicht, also war ihre Idee in doppelter Hinsicht gut gewesen.
An der Zigarette ziehend ging Hartmut über den großen Hof zur Scheune. Die Wolkendecke war aufgerissen und ließ ein paar Sterne durchscheinen. Die Temperatur war gefallen. Der Zigarettenrauch zeichnete sich deutlich in der kühlen Nachtluft ab.
Vor dem geschlossenen Scheunentor parkte Gudruns Wagen, den Melanie ab und an benutzen durfte. Er war nicht abgeschlossen, die Tür nur angelehnt, die Innenbeleuchtung brannte. In Panik und voller Angst hatte seine Tochter den Wagen fluchtartig verlassen.
Hartmut wollte die Tür gerade ins Schloss drücken, als ihm etwas auffiel. Auf der Windschutzscheibe setzte sich in der kühleren Nachtluft bereits Feuchtigkeit ab. Da das Licht im Innenraum noch brannte, konnte er deutlich die Umrisse einer großen Hand in den winzigen Wasserperlen erkennen.
Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund.
Er warf einen schnellen Blick zum Haus zurück, dann wieder aufs Auto. Schließlich holte er aus der Scheune die Sprühflasche mit Scheibenreiniger und bearbeitete den Abdruck so lange, bis er nicht mehr zu sehen war.
Dabei versuchte er, nicht nachzudenken.
Das neue Sweatshirt, vor drei Tagen gekauft, war blutig und zerrissen - nicht mehr zu gebrauchen. Sie streifte es ab und warf es in die Ecke. Auch die Jeans sah übel aus. Verschmiert mit einer Mischung aus Blut und Diesel, aufgerissen unter dem rechten Knie. Sie zog sie aus und warf sie zu dem Sweater.
In BH und Slip stand sie vor dem Spiegel an der Rückseite der Badezimmertür und dachte darüber nach, sich selbst auch in die Ecke zu den ramponierten Klamotten zu werfen. Sie fühlte sich elend und sah auch so aus. Am linken Oberarm und an der Innenseite des rechten Schenkels zeichneten sich beginnende blaue Flecken ab. Der rechte Unterarm war bandagiert; ein wenig Blut war anfangs durch den weißen Mull gesickert und hatte sich bräunlich verfärbt. Ihr kurzes blondes Haar, das knapp über den Schultern endete, war schmutzig und verklebt. Zwischen die Sommersprossen, die vom Nasenrücken dichter werdend bis unter die Augen verliefen, hatten sich kleine dunkle Spritzer gemischt. Sie wollte gar nicht wissen, von welcher Substanz die stammten.
Nele Karminter entschied sich gegen die Entsorgung ihrer selbst. Stattdessen ließ sie Badewasser ein und fügte reichlich von dem Rosmarinöl hinzu, das pure Entspannung versprach. Entspannung war jetzt dringend notwendig.
Während das Wasser einlief, zog sie die Unterwäsche aus und tappte nackt in die Küche. Die Fliesen waren eiskalt unter ihren bloßen Füßen. Sofort begann sie wieder zu zittern. Seit die Sanitäter eingetroffen waren und sie abgelöst hatten, hatte sie unaufhörlich gezittert, bis sie vor ein paar Minuten ihre Wohnung betreten hatte.
Im Kühlschrank fand sie noch einen Rest Rotwein. Sie goss die mattrote Flüssigkeit in ein Wasserglas und nahm es mit ins Bad. Weder die Temperatur des Weines noch das Behältnis, aus dem sie ihn zu trinken gedachte, waren angemessen, doch das interessierte Nele nicht im Geringsten.
Im Bad stiegen die ersten Dampfschwaden über der Badewanne auf. Nele stellte das Glas auf dem Wannenrand ab und wickelte den Verband vom Unterarm. Die beiden Schnitte waren nicht wirklich tief, aber mehrere Zentimeter lang. Sie waren vom Sanitäter professionell gereinigt und versorgt worden und hatten bereits Schorf gebildet. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.
Mit den Zehen testete Nele vorsichtig die Wassertemperatur. Zum Einsteigen genau richtig. Langsam ließ sie sich ins Wasser hinab, achtete aber darauf, den verletzten Arm nicht zu belasten und nicht nass werden zu lassen. Als sie die letzten Zentimeter hineinglitt und sich der Wasserspiegel um ihren Brustkorb schloss, löste sich ein Seufzer tief in ihr. Sie schloss die Augen und verharrte kurz. Es war ein unglaublich schöner Moment. Kaum zu fassen, dass sie noch vor zwei Stunden in der Hölle gewesen war.
Nele beugte sich vor, stellte die Temperatur so ein, dass es richtig heiß wurde und trank im Sitzen die Hälfte des Weines. Kurz bevor die Wanne voll genug war und das Wasser so heiß, dass sie es gerade noch aushalten konnte, stellte sie es ab, trank den restlichen Wein in einem Zug und ließ sich bis zum Kinn ins nach Rosmarin duftende Badewasser gleiten. Beinahe sofort begann der Alkohol zu wirken, setzte in ihrem Kopf eine Scheibe in rotierende Bewegung und ließ ihre Glieder schwer werden. Nach und nach entspannten sich ihre Muskeln. Mit geschlossen Augen genoss sie das lähmende Gefühl, das der schwere Rotwein in ihr auslöste. Sie nahm die Stille der leeren Wohnung in sich auf, ließ die grausame Welt da draußen verblassen und schuf ein heimliches, sicheres Universum.
Die Bilder verschwanden trotzdem nicht.
Wie lange würde es dauern? Wie lange, die gebrochenen Augen in einem gespaltenen Schädel zu vergessen?
Wäre sie nur fünf Minuten früher aus dem Präsidium weggekommen, dann hätte sie ganz normal nach Haus fahren, vorher noch eine Kleinigkeit einkaufen und sich dann den ruhigen Abend machen können, den sie so dringend brauchte. Fünf Minuten nur. Aber das Schicksal hatte heute Abend Lust gehabt zu spielen. Einzelne Sequenzen verblassten bereits - wahrscheinlich nur, um dem wirklich Grausamen genug Platz einzuräumen. Der aufsteigende Qualm, als die Fahrzeuge bremsten und Gummi auf dem Asphalt verbrannte. Die roten, schreienden Bremsleuchten. Und dann das Hindernis! Vierzig Tonnen Stahl auf Rädern, die quer auf der Bundesstraße standen. Keine Chance für die ganz vorn, irgendwohin auszuweichen.
Das war die andere, noch furchterregendere Seite des Schicksals. Wäre sie nur wenige Sekunden früher vom Parkplatz ihrer Dienststelle gefahren, hätte sie mit Anou nicht noch einen Kaffee getrunken - vielleicht wäre sie dann dort vorn gewesen, plötzlich der Chance beraubt, ihre aufkeimende Beziehung zu Anou genießen und wachsen lassen zu können. So war sie »nur« die Erste an der Unfallstelle. Nicht die Einzige, es herrschte schließlich Feierabendverkehr, aber eben die Erste, eine Polizistin zudem, die in solchen Situationen einen klaren Kopf bewahren musste...
Nele würde nie jemandem erzählen, wie es in ihrem Kopf wirklich ausgesehen hatte. Dass sie sich gar nicht von all den anderen Leuten unterschied, die in ihrer Hilflosigkeit erstarrten, denen die Angst und das Entsetzen Blei in die Glieder goss. Auch sie hatte Sekunden, die ihr wie Stunden vorgekommen waren, einfach nur in ihrem Wagen gesessen, ehe die antrainierten Reflexe die Starre verdrängt und ihr Handeln bestimmt hatten.
Warnblinklicht an, Notruf absetzen, aussteigen, Feuerlöscher mitnehmen, zur Unfallstelle laufen, die Situation analysieren, wer brauchte als Erstes Hilfe …
… und den Kopf verlieren angesichts des Anblicks.
Der völlig zerstörte PKW steckte mit der Beifahrerseite voran bis zur Hälfte unter dem Auflieger. Ein dampfendes Knäuel Blech, ein Ausschnitt der Hölle auf Erden.
Und die Insassen … großer Gott, diese armen Menschen!
Mit einem heftigen Ruck öffnete Nele die Augen und wusste im selben Moment, dass ihr die nächsten Nächte nicht viel Schlaf bieten konnten, wenn sie nicht immer und immer wieder diese gebrochenen Augen in dem gespaltenen Schädel sehen wollte.
Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. Sie vermischte sich mit ihrem Schweiß. Das Bad hatte sich in eine Sauna verwandelt, voller Nebel, der alles verblassen ließ, was nicht hierhergehörte. Dann kamen mehr Tränen, und sie suchten sich schmerzhaft ihren Weg nach draußen. Nach ein paar Minuten war es vorbei. Ein paar Minuten Schmerz und Tränen für zwei Menschen, die sie nicht gekannt hatte und die in ihrem Leben keine Rolle gespielt hatten.
Plötzlich hielt Nele Karminter es in dem heißen Wasser nicht mehr aus. Sie zog den Stöpsel und stand auf. Viel Alkohol war es nicht gewesen, trotzdem spürte sie die Wirkung auf ihren Gleichgewichtssinn, als sie über den niedrigen Rand der Wanne stieg. Sie musste sich bücken und abstützen, belastete dabei ihren verletzten Arm und spürte einen scharfen Schmerz. Die bereits verheilende Wunde, weich geworden vom warmen Wasserdunst, riss auf. Sofort quoll Blut hervor. Nele schnappte sich ein Handtuch und presste es auf die Wunde. In diesem unpassendsten aller Momente klingelte es an der Wohnungstür.
Sie erwartete niemanden. Es sei denn …
Nele wickelte das eine Handtuch um die Wunde, band sich ein größeres um den Körper und lief tropfend über den Flur zur Wohnungstür. Durch den Spion sah sie ihre Annahme bestätigt und öffnete.
Ohne Worte nahm Anouschka Rossberg sie in die Arme, hielt sie eine ganze Weile so fest, schob sie schließlich zurück in die Wohnung und schloss die Tür. »Theo aus der Leitstelle hat mich informiert«, sagte sie flüsternd, schob Nele ein Stück von sich weg und sah sie prüfend an. »Bist du in Ordnung?«
»Ein paar blaue Flecke und Schnittwunden, nichts Ernstes.«
Ihr Blick fiel auf den Unterarm. Das weiße Handtuch wies bereits rote Flecken auf.
»Komm mit«, sagte Anou, nahm Neles Hand und zog sie zurück ins Bad. »Setz dich hin«, befahl sie.
Nele setzte sich auf den noch warmen Rand der Badewanne und beobachtete Anouschka dabei, wie sie aus dem kleinen Schränkchen hinter der Tür Verbandszeug holte, sich vor sie hinkniete und sich vorsichtig, fast schon zärtlich um die Wunde kümmerte.
Als sie fertig war, hielt sie ihre Hände. Von unten herauf blickte Anou sie aus ihren großen braunen Augen an.
»Geht’s?«
Nele nickte, fühlte sich aber längst nicht so tapfer, wie sie tat. Die Tränen saßen dicht hinter den Augen.
»Ich trockne mir die Haare und zieh mir was an.«
»Hast du Hunger?«
Nele nickte.
»Okay, ich mach in der Zwischenzeit was.«
»Ist aber nicht mehr viel da … ich wollte vorhin einkaufen.«
»Irgendwas Kleines werde ich schon zaubern können.«
Bevor Anou das Bad verließ, hielt Nele sie kurz fest. »Danke … dass du gekommen bist.«
Anou schenkte ihr ein Lächeln. »Ist doch klar.«
Wenig später saßen sie unter Wolldecken auf der Couch und aßen die Sandwiches, die Anou aus Neles Resten gezaubert hatte. Auf dem Tisch stand eine gerade entkorkte Flasche lieblicher Rotwein, zwei große Gläser waren zur Hälfte gefüllt. Rubinrote Flüssigkeit reflektierte das Licht einer Kerze.
»Wenn wir die leeren«, sagte Anou mit vollem Mund, »wovon ich ausgehe, werde ich hier schlafen müssen.«
Nele schaffte ihr erstes Lächeln seit dem Unfall. »Was anderes hätte ich auch nicht gewollt.«
Anou beugte sich zu ihr herüber und strich ihr mit einer zärtlichen Bewegung die noch leicht feuchten und eine Nuance dunkler als sonst schimmernden blonden Haare aus der Stirn. Unter dem Haaransatz befand sich eine rot leuchtende Schramme. »Und … willst du darüber reden?«
Nele nickte, lehnte ihre Wange gegen die Hand ihrer Freundin, schloss kurz die Augen. »Wenn du die Einzelheiten ertragen kannst.«
»Hey, Süße... wenn es dir hilft, kann ich alles ertragen.«
Also sprach Nele Karminter darüber, wie sie den Feuerlöscher einem Mann in die Hand gedrückt hatte, damit er auf den qualmenden Motorraum aufpasste. Wie sie die Fahrertür des zerstörten Wagens aufgerissen und sich dabei den Unterarm aufgeschnitten hatte. Die Fahrerin, eine Frau in ihrem Alter, war ohne Bewusstsein, überall war Blut, die Schneidezähne der jungen Frau lagen in ihrem Schoss, das linke Ohr baumelte an einem Stück Haut und fiel ab, als Nele die Frau aus dem Wagen zog. Die inneren Verletzungen waren sicher noch viel schlimmer, und es war nicht ungefährlich, sie zu bewegen, doch der Mann mit dem Feuerlöscher schrie, dass gleich alles explodieren würde. Was blieb ihr also übrig? Sie beugte sich über die Frau, um an das Gurtschloss zu gelangen. Dabei musste sie zwangsläufig bis auf ein paar Zentimeter an den Beifahrer heran. Ein älterer Herr, vielleicht der Vater des Mädchens. Ihm konnte keiner mehr helfen. Seine Augen waren weit aufgerissen, der Blick gebrochen. Der harte Stahl des Aufliegers hatte sich tief in den Wagen geschoben und dem Mann den Schädel gespalten. Alles, was darin gewesen war, hatte sich über Sitz, Schoß und Fußraum ergossen. Nur eine Sekunde lang hatte Nele hingesehen, und doch hatte sich der Anblick in ihr Bewusstsein eingebrannt wie ein äußerst genaues Foto. Viel zu lange dauerte es, den verdammten Gurt aus dem Schloss zu lösen. Draußen schrie der Mann abermals und sprühte mit dem Feuerlöscher. Durch das zerstörte Fenster der Beifahrertür lief der Diesel des LKW-Tanks in den Innenraum des PKW. Nele zerrte und riss, bekam den Gurt schließlich los und hievte die Frau aus dem Sitz. Dabei stürzte sie nach hinten, schlug sich den Kopf an, prellte sich das Gesäß, robbte trotzdem rückwärts, die leblose Frau zwischen den Beinen, zerrte und schrie und beeilte sich, von dem Wagen wegzukommen. Flammen züngelten unter dem Motorraum. Der Mann warf den Feuerlöscher weg, kam herüber und half ihr, die Frau aus der Gefahrenzone zu bringen. Der Wagen explodierte nicht. Bevor es dazu kam, war der Fahrer des LKW mit einem viel größeren Feuerlöscher heran und löschte die Flammen.
Das war es.
Die Fakten.
Nele war erstaunt, wie schnell sich erzählen ließ, was sie so aus der Bahn warf.
Aber zwischen Fakten und Gefühlen gab es eben gravierende Unterschiede. Das wusste auch Anou. Sie hatten beide während ihrer Arbeit beim Dezernat für Vermisste viel Hässliches gesehen, abgehärtet waren sie jedoch längst nicht. Vielleicht würden sie es auch nie sein. Die Frage war, ob das gut oder schlecht war, ob sie den Job auf Dauer machen konnten, wenn sie sich nicht einen harten Panzer zulegten, so einen, wie ihn die älteren männlichen Kollegen zur Schau trugen. Lässigkeit, Arroganz, Coolness, Härte - alles nur Wörter für diesen Panzer, der die eigene Seele schützen sollte.
Anou nahm ihre Freundin in den Arm, zog sie zu sich heran und strich ihr über den Rücken. Nele weinte wieder. Leise liefen die Tränen ihre Wangen hinab und versickerten in Anouschkas Shirt.
»Ist ja vorbei«, flüsterte sie, nicht ahnend, wie unrecht sie damit hatte.
Es begann erst.
Als sie erwachte, war sie umgeben von ekelhaftem Geruch. Noch in ihrem Traum hatte sie die weichen, nach Ringelblumencreme duftenden Hände ihrer Mutter an ihren Wangen gespürt, so wie sie sie damals im Krankenhaus immer angefasst hatte, wenn Jasmin in Tränen ausgebrochen war. Von diesem Duft und dem tröstlichen Gefühl ihrer Hände war nichts mehr da. Jetzt stank es nach Fäulnis, in ihrem Mund war ein eklig schmeckender, pelziger Belag, ihre Kehle fühlte sich rau und unangenehm trocken an, ihr Kopf schien platzen zu wollen. All das nahm sie wahr in den wenigen Sekunden, die es dauerte, bis sie vollkommen bei Bewusstsein war. Ihre Lider flatterten zunächst, bevor sie es schaffte, sie ganz zu öffnen.
Dunkelheit.
Kälte. Sie fror erbärmlich und stellte fest, dass sie völlig nackt war. Dieser Umstand jagte ihr namenlose Angst bis tief in den Körper.
Die Erinnerung setzte ein. Sie war doch mit dem Fahrrad unterwegs nach Haus gewesen! Mit diesem wunderschönen Flattern im Bauch, das sich tatsächlich wie Schmetterlinge anfühlte und selbst auf dem unheimlichen Weg durch den Wald nicht erlosch. Sven hatte sie geküsst, zum ersten Mal richtig geküsst, lange und zärtlich, und sie wäre so gern die ganze Nacht bei ihm geblieben …
Was war passiert? Wie war sie hierhergekommen? Und wo war sie überhaupt?
Jasmin versuchte die aufkeimende Panik zu bekämpfen, versuchte sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Unter sich spürte sie eine weiche Unterlage, wahrscheinlich eine Matratze, von ihr schien auch der ekelhafte Gestank auszugehen. Was war mit ihren Armen? Beide waren weit über den Kopf nach hinten gestreckt und taten weh. Jasmin versuchte sie zu bewegen, die Schmerzen verstärkten sich, und sie musste feststellen, dass sie gefesselt waren. An ihren Handgelenken spürte sie metallene Ringe, die in die Haut schnitten.
Das konnte doch nicht sein! Ein Alptraum, ein schlimmer Alptraum, aus dem sie jeden Moment erwachen würde, froh darüber, in ihrem eigenen Bett zu liegen, vielleicht sogar noch das Kribbeln im Bauch spüren, das Svens Küsse hinterlassen hatten.
Aber das geschah nicht. Stattdessen bemerkte Jasmin, dass ihre Umgebung doch nicht völlig dunkel war, wie sie zunächst gedacht hatte. Von irgendwoher kam ein wenig Licht. Sie stemmte die Füße in die Matratze, schob ihren Körper ein Stück nach oben, entlastete damit ihre Schultergelenke und bekam gleichzeitig eine besser Sicht.
Ja, da war Licht!
Eine Kerze, scheinbar weit entfernt und nicht in der Lage, den Raum völlig aus der Dunkelheit zu reißen. Trotzdem konnte Jasmin ein paar Einzelheiten entdecken. Einen langen Tisch, auf dem eine große Anzahl Gegenstände lag, eine niedrige Decke aus Beton, feucht schimmernd. Das war aber auch schon alles, was der Lichtkegel der Kerze sichtbar machte, der Rest lag in tiefer Dunkelheit.
Die allein war schon erschreckend, denn in ihr schien
1. Auflage Originalausgabe September 2009
Copyright © 2009 by Andreas Winkelmann
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Umschlagmotiv: Plainpicture/wildcard Th · Herstellung: Str.
eISBN : 978-3-641-03531-0
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