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Die erste Frau wird auf dem Parkplatz eines Supermarkts niedergestochen. Die zweite in einem Wohngebiet. Kurz darauf wird eine Schwerverletzte auf einem Radweg mit knapper Not gerettet. Ganz Alkmaar steht unter Hochspannung: Wen wird es als Nächstes treffen? Kommissarin Lois Elzinga hat weder eine brauchbare Spur noch ein hilfreiches Täterprofil. Jemand scheint wahllos Frauen anzugreifen. Erst als der Täter wieder zuschlägt, begreift Lois, wie viel dieser Fall mit ihr selbst zu tun hat – und wie wenig Zeit ihr bleibt …
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Seitenzahl: 390
Zum Buch
Die erste Frau wird auf dem Parkplatz eines Supermarkts niedergestochen. Die zweite in einem Wohngebiet. Kurz darauf kann eine Schwerverletzte mit knapper Not gerettet werden. Ganz Alkmaar steht unter Hochspannung: Wen wird es als Nächstes treffen? Kommissarin Lois Elzinga hat weder eine brauchbare Spur noch ein hilfreiches Täterprofil. Jemand scheint wahllos Frauen anzugreifen. Erst als der Täter wieder zuschlägt, begreift Lois, wie viel dieser Fall mit ihr selbst zu tun hat – und wie wenig Zeit ihr bleibt …
Zur Autorin
Simone van der Vlugt, geboren 1966, eroberte mit ihrem ersten Psychothriller Klassentreffen die internationalen Bestsellerlisten und ist seitdem aus dem Spannungsgenre nicht mehr wegzudenken. Ihre Kommissarin Lois Elzinga ermittelt auch in den Romanen Was sie nicht weiß und Dir wird nichts geschehen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Alkmaar in den Niederlanden.
SIMONE
VAN DER VLUGT
TIEFE
STICHE
THRILLER
Aus dem Niederländischen
von Janine Malz
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Deutsche Erstausgabe 06/2016
Copyright © 2014 by Simone van der Vlugt
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Vraag niet waroom bei Ambo/Anthos Uitgevers, Amsterdam
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Sibylle Klöcker
Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München
Umschlagmotive: © plainpicture: p5910062, shutterstock: Dudarev Mikhail/ilolab
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-16546-8V001
www.diana-verlag.de
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1
APRIL
Lilian van Dijk steht vor dem Kofferraum ihres Autos und drückt die Heckklappe am Griff kräftig nach oben. Mit der anderen Hand zieht sie den Einkaufswagen näher an sich heran, dann sieht sie sich um.
Es regnet, diese eklige Art von feinem Sprühregen, bei dem man trotzdem erstaunlich nass wird. Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums ist niemand zu sehen. Es ist Dienstagmorgen, kurz vor halb zehn. Offenbar keine Zeit zum Einkaufen, aber vielleicht warten die Leute auch einfach nur, bis der Regen vorbei ist.
Lilian erledigt ihre Einkäufe immer am liebsten so früh wie möglich. Dann ist es schön ruhig im Supermarkt, und sie hat den Rest des Tages zur freien Verfügung.
Der Nachteil ist, dass sie nun ihre schweren Taschen selbst in den Kofferraum räumen muss. Sonst findet sich manchmal ein netter Herr, der ihr hilft. Wenn Lilian ihr schönstes Lächeln aufsetzt, kommen sie sofort angelaufen, selbst wenn sie dafür den ganzen Parkplatz überqueren müssen. Nicht dass sie die Beutel nicht allein stemmen könnte, aber so läuft sie nicht Gefahr, sich die Nägel abzubrechen.
Lilian seufzt enttäuscht und streicht sich eine Locke ihres blondierten Haars aus dem Gesicht. Mit ihren achtundvierzig Jahren sieht sie immer noch ziemlich gut aus, und das weiß sie auch. Wenn es darauf ankommt, scheut sie sich deshalb nicht, die Waffen einer Frau gezielt einzusetzen. Es geht ihr eigentlich auch gar nicht so sehr um ihre Nägel, sie testet einfach nur gerne ihren Marktwert.
Mit beiden Händen umfasst sie die Henkel der Einkaufstüte und hievt sie vorsichtig in den Kofferraum. Die zweite Tasche mit all den Colaflaschen darin ist noch ein Stück schwerer. Man fragt sich ja wirklich, ob Kinder heutzutage eigentlich auch noch irgendetwas anderes trinken. Ihre Jungs jedenfalls nicht, die machen sich sogar zum Frühstück eine Cola auf. Natürlich findet sie das nicht gut, aber wenn sie zur Schule gehen, stehen ihre Kinder viel früher auf als sie. Um die Zeit, wenn Lilian aufwacht, sind sie längst aus dem Haus.
Allerdings ist Rick heute gar nicht in der Schule. Er ist zu Hause und hätte ebenso gut mitkommen können. Doch dann hieß es plötzlich, er müsse noch für eine Klassenarbeit lernen, von der gestern Abend noch keine Rede war.
Wenn sie sich auf eines verlassen kann, dann darauf, dass er nachher sofort in der Tür steht, wenn sie vom Einkaufen nach Hause kommt, und ihr dabei helfen will, die Taschen hereinzutragen und in der Küche auszupacken. Bei dieser Aufgabe bieten ihr alle drei Söhne ganz ungefragt ihre Hilfe an. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte diese Hilfsbereitschaft sie regelrecht gerührt, aber dann kam sie dahinter, dass die Jungen lediglich neugierig waren, was sie an Chips und Schokolade eingekauft hatte.
Die letzte Tüte im Kofferraum fällt halb um. Als eine Packung Eier gerade aus der Tüte zu rutschen droht, schießt Lilian geistesgegenwärtig nach vorn, um zu retten, was zu retten ist.
Der Mann steht in dem überdachten Eingangsbereich des Einkaufszentrums und beobachtet die Frau auf dem Parkplatz. Etwas umständlich lädt sie ihre Einkäufe ins Auto und sieht sich gelegentlich um. Doch sie blickt nicht hinter sich.
Mit einer geschmeidigen Bewegung löst er sich von der Wand, an die er bis eben gelehnt stand, und läuft, die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen, auf den Parkplatz zu. Seine Schritte sind schnell und zielgerichtet, die Hände hat er tief in den Hosentaschen vergraben. In einer davon kann er das Messer ertasten, das sich in seiner Hand kühl und glatt anfühlt.
Jetzt bloß hoffen, dass sie sich nicht umdreht, denn sonst wird es nichts. Wenn sie ihn so auf sich zulaufen sieht, ist sie gewarnt.
Sie dreht sich nicht um. Stattdessen steht sie in den Kofferraum gebeugt und kramt in ihren Einkaufsbeuteln. Auf seinen Sneakers nähert er sich lautlos und zügig. Dann zieht er das Messer aus der Tasche.
In diesem Moment richtet Lilian sich plötzlich auf, doch sie bleibt mit dem Rücken zu ihm stehen. Er hebt den Arm und sticht zu. Als die Klinge immer tiefer in ihre Schulter eindringt, empfindet er so etwas wie Befriedigung.
2
JUNI
Die Party ist in vollem Gange. Obwohl von der Band noch jede Spur fehlt, ist der Platz bereits voller Menschen in bunter Sommerkleidung. Viele haben Plastikbecher in der Hand, es wird gelacht, geredet, alte Bekannte werden mit großem Hallo begrüßt. Als die Band, die das Vorprogramm bestreitet, die Bühne betritt, ertönt lauter Jubel. Kurze Zeit später hallen die ersten Klänge der E-Gitarre über den Platz.
»Echt gut, die Band«, sagt Lois, nachdem sie eine Weile zugehört haben. »Wie heißen die eigentlich?«
»Keine Ahnung. Aber ist ja auch egal, solange sie gut spielen.«
Onno, der mit einem Bier in der Hand neben ihr steht, trägt ein elegantes Outfit, das sie für diesen Anlass nicht unbedingt ausgewählt hätte. Sie selbst trägt eine alte Jeans und ein schwarzes T-Shirt darüber.
Als sie einen Bekannten entdeckt, winkt sie ihm kurz zu, dann wendet sie sich an Onno.
»Das war eine gute Idee von dir, hierherzukommen. Ich war noch nie bei Zomer op het Plein.«
»Das kommt daher, dass du immer nur arbeitest«, sagt Onno. »Du läufst mit Scheuklappen durch die Gegend.« Er nimmt einen Schluck von seinem Bier und fügt hinzu: »Du flüchtest dich in deine Arbeit. Du versuchst krampfhaft, alles unter Kontrolle zu behalten. Das ist dir schon bewusst, oder?«
»Bitte, Onno, nicht jetzt.«
»Ich sage nur, wie es ist. Das ist doch nicht normal, dass du nie zu einer Party gehst.«
»Jetzt bin ich doch hier.«
»Weil ich dich hergeschleppt habe. Ansonsten würdest du wahrscheinlich gerade Überstunden machen. Oder laufen gehen.«
»Ich werde dir für immer dankbar sein.«
»Sehr schön, genau das wollte ich hören.« Onno grinst ihr liebenswürdig zu. »Willst du noch was trinken?«
»Ja, warum eigentlich nicht. Heute mach ich mal was ganz Verrücktes und trinke noch eine Cola light.«
»Ich bin sofort zurück. Nicht heimlich abhauen!«
Mit einem Lächeln schaut Lois ihm nach. Trotz des Gedränges kann sie seine lange Gestalt noch bis zur Bar verfolgen. Onno hat natürlich recht, es ist wirklich absurd, sich nicht mehr Freizeit zu gönnen. Es scheint fast so, als hätte sie verlernt, das Leben zu genießen. Wenn man sich lang genug in der Arbeit vergräbt, passiert das, ohne dass man es selbst bemerkt.
Sie richtet ihren Blick wieder zur Bühne, wo die Band voller Hingabe spielt. Dahinter ragt in der warmen Nachmittagssonne der Kirchturm der majestätischen Grote Kerk hervor, deren bemalte Glasfenster das Licht einfangen und es in tausend Farben brechen. Sie kann sich noch gut erinnern, wie sie einmal mit ihrem Vater die Kirche besucht hatte, als gerade die Steinfliesen herausgenommen worden waren, weil Heizungsrohre darunter verlegt werden mussten. Während der Bauarbeiten konnte man über Holzdielen in der Kirche herumgehen und die Skelette und Kleidungsreste besichtigen, die von Einwohnern der Stadt Alkmaar aus vorigen Jahrhunderten stammten. Ihr Vater, ein Geschichtsliebhaber mit Leib und Seele, war so fasziniert, dass er jeden Tag kam. Sie selbst fand den Anblick ziemlich makaber. Und in gewisser Weise auch respektlos. Sie fühlte sich wie ein Voyeur, und noch heute beschleicht sie dasselbe Gefühl, wenn sie bei der Arbeit mit Leichen konfrontiert wird.
Ein Klopfen auf die Schulter reißt Lois aus ihren Gedanken. Neben ihr steht Mirjam in Gesellschaft eines Mannes, den sie nicht kennt.
»Na, bist du gerade in Gedanken dein Sündenregister durchgegangen?«, neckt sie Mirjam.
»Hey, schön dich zu sehen!«, sagt Lois freudig überrascht. »Wie geht es dir? Und wie geht es Britt?«
»Prima, danke. Wir arbeiten nach und nach auf, was geschehen ist, und Britt bekommt psychologische Unterstützung. Es ist ja alles noch ziemlich frisch«, antwortet Mirjam. »Die Entführung an sich hat Britt gut verkraftet, aber die ganze Gewalt, die sie mit ansehen musste, die hat ihr zugesetzt. Das muss sie erst noch für sich verarbeiten.«
»Ja, klar«, sagt Lois verständnisvoll. »Gut, dass du dich an einen Psychologen gewandt hast. Wer weiß, welche Traumata sie sonst entwickeln würde.« Sie lächelt dem Mann zu, der Mirjam begleitet, und streckt ihm die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Lois Elzinga.«
»Ah, die Kripobeamtin, die an Britts Fall gearbeitet hat.« Der Mann zieht ein Gesicht, als ob ihm gerade ein Licht aufgegangen sei, und schüttelt ihr die Hand.
»Ich bin Tobias Dijssel, ein alter Klassenkamerad von Mirjam. Wir sind uns hier über den Weg gelaufen. Ganz zufälligerweise.«
»Und ganz erfreulicherweise«, fügt Mirjam hinzu, die an ihrem Becher nippt und Lois zuzwinkert. »Bist du allein hier?«
»Nein, mit einem Freund. Er holt gerade was zu trinken. Ah, da kommt er auch schon.« Lois wartet, bis Onno bei ihnen ist, und stellt ihn Mirjam und Tobias vor.
»Ach, Sie sind die Mutter von Britt«, sagt Onno. »Angenehm. Es freut mich, dass alles so gut ausgegangen ist.«
Während sie dastehen und sich unterhalten, wandert Lois’ Blick immer wieder zu Onno. Ihr fällt jedes Mal wieder auf, wie leicht es ihm fällt, Kontakte zu knüpfen und ein Gespräch in Gang zu halten. Binnen kürzester Zeit lacht er herzlich und scheint sich prächtig mit Mirjam und Tobias zu verstehen. Sie selbst ist darin nicht so gut und oft um ein Wort verlegen.
Als sich die zwei Männer zur Bühne umdrehen, um die Band zu begutachten, nickt Mirjam Lois anerkennend zu.
»Netter Typ«, sagt sie hinter vorgehaltener Hand. »Ist das dein Freund?«
Lois schüttelt den Kopf. »Nein, nur ein Freund«, sagt sie mit Nachdruck auf dem Wort »ein«.
Mit einem etwas kritischeren Blick mustert Mirjam Onno. »Kann ich mir gut vorstellen, dass er nicht so ganz dein Typ ist. Ein bisschen schnöselig, was? Aber er ist wirklich sympathisch. Echt nett und unterhaltsam.«
Lois lächelt nichtssagend und wechselt schnell das Thema, aus Sorge, dass Onno etwas von ihrem Gespräch mitbekommen könnte. Als sie gerade über ihre Urlaubspläne für den Sommer reden wollen, tippt jemand Lois auf die Schulter. Mit einem fragenden Gesichtsausdruck dreht sie sich um. Hinter ihr steht ein Mädchen von ungefähr sechzehn, siebzehn Jahren. Sie hat schulterlanges dunkles Haar, und aus ihrem bildschönen Gesicht stechen große haselnussbraune Augen hervor. Der Typ Mädchen, der sich seiner Schönheit durchaus bewusst ist, wie Lois vermutet. In diesem Moment wirkt sie jedoch alles andere als selbstsicher, denn das Mädchen lacht verlegen und blickt ein wenig nervös umher.
»Sind Sie Lois Elzinga?«, fragt sie.
»Ja.« Lois fragt sich, ob sie das Mädchen kennt und warum das Mädchen sie kennt.
»Ich hab Sie neulich in einer Zeitschrift gesehen, in der es um Frauen in Männerberufen ging. Daher hab ich Sie wiedererkannt.«
Lois erinnert sich an den Artikel. Sie hatte eigentlich keine große Lust auf das Interview gehabt, weil sie das Thema ziemlich altbacken fand, aber auch, weil sie viel um die Ohren hatte. Ramon, ihr Chef, war aber der Meinung gewesen, dass es eine gute Gelegenheit wäre, die Arbeit der Kripo etwas transparenter zu machen. Allein deshalb hatte sie eingewilligt, jedoch ohne zu wissen, dass sie dafür auch mit Foto abgebildet werden musste, komplett mit Visagistin und einer Stylistin, die ganze Kleiderständer voller sexy Outfits und hochhackiger Schuhe mitgebracht hatte. Die Tonne Make-up und das ganze Rumgefummel an ihren Haaren hatte sie noch über sich ergehen lassen, aber darauf bestanden, ihre eigene hautenge Jeans, ein Shirt und ihre braune Lieblingslederjacke tragen zu dürfen.
Und da Zeitschriften ja oft noch monatelang in Friseursalons und dergleichen herumlagen, bekam sie immer noch regelmäßig Reaktionen auf den Artikel.
»Ah, ja. Dass du mich überhaupt erkannt hast«, sagt Lois erstaunt.
»Eine Freundin von mir hat Sie entdeckt und mich quasi dazu gezwungen, Sie anzusprechen.« Das Mädchen wirft einen flüchtigen Blick auf eine Gruppe von Jugendlichen, in deren Mitte ein Mädchen mit langen blonden Haaren aufmerksam in ihre Richtung schaut.
Lois lächelt abwartend. Sie kann sich schon denken, was gleich kommt. Gleich würde das Mädchen sie um ein Interview für die Schülerzeitung oder ein anderes Schulprojekt bitten.
»Immer raus damit«, ermutigt sie das Mädchen, das nach Worten ringt.
»Ich bräuchte Ihren Rat.«
»Worum geht es denn?«
»Ich werde gestalkt. Erst war es noch ganz harmlos, aber jetzt wird es langsam unheimlich, und ich weiß nicht, was ich tun soll.« Nervös streicht sie sich Haare aus dem Gesicht.
»Das ist wirklich unangenehm«, sagt Lois mitfühlend. »Hast du eine Ahnung, wer der Stalker sein könnte?«
»Nein. Zumindest weiß ich es nicht sicher. Ich bekomme immer so merkwürdige Briefe.«
»Und was steht darin?«
»Na ja, eine ganze Menge Drohungen und Beleidigungen. Dass ich eine Hure sei und grausam verrecken soll, dass ich es nicht wert sei, auf der Welt zu sein, und so was. Ein Mal hat jemand mit roter Farbe HURE auf mein Fahrrad geschmiert.«
»Auf dein Fahrrad?«
»Ja, es ist weiß, da sieht man das besonders gut. Ich hab den ganzen Nachmittag gebraucht, um das wieder abzukriegen.«
»Bist du damit schon bei der Polizei gewesen?«
Das Mädchen schüttelt den Kopf.
»Das musst du gleich morgen machen.«
»Und was tut die Polizei dann? Kann die überhaupt irgendwas machen?«
Lois seufzt und beschließt, ehrlich zu sein. »Stalking ist ein echtes Problem. Am besten sammelst du so viele konkrete Beweise wie möglich.«
»Konkrete Beweise?«
»Die Briefe, die Schmierereien auf deinem Fahrrad, alles, was derjenige an Spuren hinterlässt. Ich verstehe natürlich, dass du das Fahrrad so schnell wie möglich wieder sauber machen wolltest, aber mach das nächste Mal erst ein Foto davon. So kann die Polizei eine Akte anlegen.«
»Und dann?«, fragt das Mädchen wenig begeistert. »Wie können Sie denn den Täter finden, wenn ich mit einem Foto von meinem Fahrrad ankomme?«
»Das mit dem Fahrrad ist etwas schwieriger, aber die Briefe sind ein guter Anhaltspunkt. Eine Handschrift verrät viel über die Identität von jemandem.«
»Es waren aber mit dem Computer geschriebene Briefe. Getippt und ausgedruckt.«
»Hast du irgendeine Idee, wer dahinterstecken könnte?«
Zu Lois’ Überraschung nickt das Mädchen zögerlich. »Ich hab da so eine Vermutung, ja. Aber ich weiß es nicht sicher. Das macht es so schwierig, mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, wem ich noch vertrauen kann.«
»Erstatte auf jeden Fall Anzeige«, sagt Lois. »Komm morgen zum Revier hier in der Stadt und frag nach mir, dann setzen wir alles zusammen auf.«
»Und Sie werden mir wirklich helfen?«
»Ich werde dir helfen«, verspricht Lois und legt dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. »Und du kommst morgen zu mir aufs Revier, abgemacht?«
Sie nickt langsam, setzt ihre Sonnenbrille auf und deutet mit den Mundwinkeln ein Lächeln an.
»Danke«, sagt sie, klingt aber nicht so, als ob sie sonderlich großes Vertrauen in Lois’ Worte setzen würde.
3
»Wer war das?«, fragt Onno, als das Mädchen weggegangen ist und Lois sich zu ihm umdreht.
Lois wirft einen Blick über die Schulter und sieht ihr bedauernd nach. »Ein Mädchen, das Rat brauchte«, sagt sie, während sie Onno den Colabecher abnimmt. »Sie bekommt Briefe, in denen sie beschimpft und bedroht wird.«
»Na, toll«, sagt Mirjam entrüstet. »Und was hast du ihr geraten?«
»Anzeige zu erstatten natürlich. Wir haben vereinbart, dass sie morgen vorbeikommt. Ich hoffe nur, dass sie das auch wirklich macht.«
»Warum nicht? Sie hat dich doch eben auch angesprochen, dann kommt sie morgen bestimmt«, sagt Tobias. »Sagt mal, was haltet ihr davon, wenn wir vier Hübschen gleich mal einen Happen essen gehen?«
Es herrscht einen Augenblick Stille, in der sie einander fragend anschauen. Das Zögern in Onnos Augen ist Lois nicht entgangen, natürlich wäre er lieber mit ihr allein. Sie selbst stört das weniger. Sie ist zwar gerne in Onnos Gesellschaft, aber er hat auch die Tendenz, den Psychiater raushängen zu lassen. Das ständige Wühlen in ihrer Vergangenheit und seine unausgesprochene, aber immer präsente Kritik an ihrem Lebensstil sind ihr unangenehm. Außerdem ist sie ja nicht blind, sie weiß genau, dass er sie gut findet. Aber solange sie nicht sicher ist, was ihre eigenen Gefühle anbelangt, hält sie ihn lieber etwas auf Abstand.
Begeistert geht sie auf Tobias’ Vorschlag ein und ignoriert Onnos enttäuschte Miene.
Als sich die letzten Töne der Musik in dem ohrenbetäubenden Applaus und Jubel des Publikums verlieren, bahnen sie sich einen Weg durch die Menge und gehen zum Waagplein. Der Platz ist bereits voller Menschen, und die Terrassen der zahlreichen Lokale füllen sich in Windeseile.
Es wird ein richtig schöner Abend. Obwohl sie sich vorgenommen hatten, es nicht so spät werden zu lassen, bleiben sie nach dem Essen noch lange sitzen und trinken etwas zusammen. Die Sonne ist längst untergegangen, und es wird langsam kühl, aber die Heizstrahler sorgen dafür, dass es noch angenehm ist. Ein wenig im Stuhl zurückgesunken, beobachtet Lois die Menschen und genießt die sommerliche Atmosphäre. Im Grunde ist es ja auch nicht so schlimm, dass sie morgen früh raus muss, das ist sie schließlich gewohnt. Dann geht sie eben einmal morgens nicht vor der Arbeit laufen.
Als ihr bewusst wird, welch revolutionärer Gedanke das ist, nimmt sie ein wenig überrascht noch einen Schluck von ihrem Mineralwasser. Vor vielen Jahren hat sie sich selbst einen strengen, genügsamen Lebensstil auferlegt, der einen Verzicht auf Alkohol, viel Sport, frühes Aufstehen und eine gesunde Ernährung vorsieht. Ein Lebenskonzept, das wenig Raum ließ für spontane Vergnügungen, das aber gut für sie funktionierte. In der letzten Zeit hat sie ihre eiserne Disziplin einige Male vernachlässigt, und obwohl sie dadurch das Leben wieder etwas mehr genießen konnte, jagt es ihr gleichzeitig auch Angst ein.
Als sie am folgenden Tag das Polizeirevier am Mallegatsplein betritt, bereut sie, dass sie am Abend zuvor so lange aus gewesen ist. Entgegen ihrer Absicht sind sie auf dem Waagplein regelrecht versackt. Sie ist erst um halb zwei ins Bett gegangen und steht nun etwas benommen vor dem Kaffeeautomaten.
Zum Glück verspricht der Tag, relativ ruhig zu werden, ohne große, zeitraubende Fälle und Überstunden. Die optimale Gelegenheit also, ihren Papierkram zu erledigen, denn auch diese ewigen unliebsamen bürokratischen Verpflichtungen gehören schließlich zu ihrem Job. Egal, was sie macht, ob es sich um die Festnahme eines Taschendiebs handelt oder ob sie einen Mordfall untersucht, sie muss über jede Handlung Bericht erstatten. Oftmals, wenn gerade ziemlich viel los ist, kommt das zu kurz, und dann wartet der ganze Verwaltungskram hinterher auf sie.
Mit einer Tasse Kaffee in der Hand läuft Lois ins Großraumbüro, wo sie ihre Kollegen begrüßt und einen freien Computerplatz sucht.
»Willst du auch auf der Karte unterschreiben?« Noch ehe Lois sich setzen kann, taucht Claudien neben ihr auf und legt eine große Grußkarte mit der Aufschrift »Gute Besserung!« vor ihr auf den Schreibtisch.
»Wer ist denn krank?«, fragt Lois, während sie die Karte aufklappt, um die Genesungswünsche zu lesen.
»Nick, er hat sich den Fuß gebrochen.«
»Wie hat er denn das angestellt?«
»Beim Squash-Spielen. Er hat sich so geärgert, dass er verloren hat, dass er seiner Sporttasche einen Fußtritt verpassen wollte. Nur leider war die Wand näher als gedacht.«
Lois beißt sich auf die Lippe, um nicht loszuprusten. »Ach, echt? Ich wusste gar nicht, dass er Sport macht.«
»Doch, man kann sogar sagen, er ist regelrecht sportfanatisch«, sagt Claudien und ergänzt: »Würde er sich nur mal bei der Arbeit so ins Zeug legen. Jedenfalls läuft er jetzt mit einem Gipsfuß herum. Wenn er zurückkommt, dürfen alle Kollegen unterschreiben, hat er verkündet, und wir dürfen uns damit abwechseln, ihn mit Kaffee und Tee zu versorgen.«
Lois grinst und verdreht die Augen. Typisch. Obwohl Nick ein guter Kripobeamter ist, ist er auch dafür bekannt, leidige Aufgaben lieber seinen Kollegen zu überlassen, um sich anschließend mit den Ergebnissen zu brüsten. Im gesamten Team ist er der Kollege, den sie am wenigsten mag. Bislang hatte sie immer gedacht, dass Claudien, die viel mit ihm zusammenarbeitet, gut mit ihm auskommt, aber offenbar hat auch sie so ihre Schwierigkeiten mit ihm.
Lois setzt sich an den Schreibtisch, kritzelt »Alles Gute!« auf die Karte und fährt ihren Computer hoch. Tief im Innersten hofft sie, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis Nick wieder im Revier auftaucht, obwohl das wenig wahrscheinlich ist. Ein gebrochener Fuß ist zwar bei einer Festnahme eher hinderlich, aber es gibt genügend andere Aufgaben, bei denen er sich nützlich machen kann.
Während der Vormittag verstreicht und es immer wärmer wird, arbeitet Lois an ihren Berichten. Gegen elf ist es in der Abteilung nicht mehr auszuhalten, und Fred, mit dem sie viel im Team arbeitet, schleppt ein paar Ventilatoren an.
»Wer will, wer will, wer hat noch nicht?«, fragt er und hält zwei Ventilatoren hoch.
»Ich!«, reagiert Lois sofort.
Natürlich will jeder einen Ventilator, aber Fred stellt als Erstes einen bei Lois ab. »Weil du so fleißig tippst«, sagt er. »Und, kommst du gut voran?«
»Wenn ich in dem Tempo den ganzen Tag durcharbeite, bin ich heute Abend fertig. Das heißt, ich bin äußerst motiviert.«
»Also hast du keine Zeit, um ein bisschen früher Schluss zu machen, oder?«
Lois blickt zu ihrem Kollegen hoch. »Wieso? Hast du was vor?«
»Nanda hat mich gefragt, ob du heute Abend zum Essen vorbeikommst. Sie kocht italienisch und wollte draußen essen.«
»Oh, das klingt fabelhaft«, sagt Lois voller Vorfreude. Sie selbst hat keinen Garten, nicht mal einen Balkon, und aus Erfahrung weiß sie, dass ihre Wohnung sich bis heute Abend in eine Sauna verwandelt haben dürfte.
Den Rest des Tages arbeitet sie in Ruhe weiter, den Ventilator direkt neben sich. Erst gegen vier Uhr fällt ihr das Mädchen wieder ein, das Anzeige erstatten wollte. Offenbar war ihr etwas dazwischengekommen. Oder sie hatte sich aus irgendeinem Grund umentschieden. Seltsam, denkt Lois, denn sie hatte gemeint, in den Augen des Mädchens echte Angst wahrgenommen zu haben. Aber wenn sie nicht aufs Revier kommt, kann ihr Lois auch nicht helfen.
Um halb fünf fährt Lois ihren Computer herunter und wirft Fred, der am Schreibtisch gegenüber sitzt, einen fragenden Blick zu: »Fertig?«
»Nein, aber es gibt nichts, was nicht bis morgen warten könnte. Wir beide gehen jetzt ein Bier trinken. Das heißt, ein Bier und eine Cola light. Mmh, also irgendwie ist das nicht dasselbe«, überlegt Fred, während er seinen Stuhl nach hinten schiebt und aufsteht.
Lois lacht. »Schmeckt aber genauso gut. Vor allem an so einem warmen Tag, mit ein paar Eiswürfeln drin.«
»Das lässt sich regeln.« Fred winkt den anderen Kollegen zu, und gemeinsam verlassen sie das Büro.
Draußen prallen sie förmlich gegen eine Wand aus Hitze.
»Pff«, bläst Fred Luft durch die Zähne. »Ich dachte, dass es drinnen nicht mehr auszuhalten sei, aber draußen ist es auch nicht viel besser. Fährst du mit mir mit, oder bist du mit dem Rad da?«
»Natürlich bin ich mit dem Rad da – die paar Meter. Du bist doch nicht etwa mit dem Auto gekommen?«
»Doch, klar. Man weiß nie, wozu es gut ist.«
Lois stößt ein verächtliches Lachen aus. »Du bist einfach zu faul, um mit dem Fahrrad zu fahren, Klinkenberg. Ich kann dir schon jetzt vorhersagen, dass du so bestimmt nicht durch den Test kommst.«
»Ich habe mich übrigens gerade im Fitnessstudio angemeldet«, verteidigt sich Fred. »Und ja, ich bin sogar schon dort gewesen. Zwei Mal schon.«
»Ja, super! Und was machst du da?«
»Spinning«, antwortet Fred selbstzufrieden.
»Und, klappt es?«
»Warum sollte es denn nicht klappen? Kondition habe ich genügend«, sagt Fred ein wenig beleidigt.
»Momentan radle ich dir aber noch davon.«
»Also hör mal, Elzinga, es besteht immerhin noch ein kleiner Altersunterschied zwischen uns, ja? Könntest du das bitte auch mal berücksichtigen?«
»Nö«, sagt Lois. »Das Alter ist keine Ausrede. Man kann auch mit sechzig noch topfit sein. Und man hat auch nicht zwangsläufig eine Wampe.«
»Habe ich etwa eine Wampe?«
»Lass es mich mal so sagen: Du bist auf dem besten Weg dahin.«
»Von Takt und Mitgefühl verstehst du aber auch nicht viel, was?«, brummt Fred. »Na dann, bis gleich, du Sportskanone.« Er steigt in sein Auto und hebt kurz die Hand zum Gruß, bevor er die Tür zumacht.
Mit einem Anflug von Schuldgefühlen zieht Lois ihr Fahrrad aus dem Ständer. Hatte sie Fred verletzt? Hoffentlich nicht. Aber etwas verärgert war er wohl schon. Na ja, sie hatte es gut gemeint. Von einer Arbeitspartnerin, die ihm immer nur nach dem Mund redet, hat er ja auch nicht viel. Fred ist ein hervorragender Kripobeamter, aber in der letzten Zeit ist er etwas nachlässig geworden. Das konnte natürlich daran liegen, dass er gerne in Frühpension gehen wollte, was aber durch die Haushaltskürzungen der Regierung nicht genehmigt wurde. Tief in ihrem Herzen ist Lois heilfroh darüber. Seit ihrem ersten Tag bei der Kripo ist Fred ihr Partner und Mentor, und mittlerweile auch ihr bester Freund. Sie wüsste nicht, was sie ohne ihn machen sollte.
Die wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht genießend, fährt sie mit dem Rad die Kanaalkade entlang zur Friesebrug und nach der Brücke auf den Frieseweg. Dort wohnen Fred und Nanda in einer Altbauwohnung mit Erker und großem Garten. Lois sieht in Nanda so etwas wie eine zweite Mutter. Sie ist lieb und herzlich, und sie wirkt innerlich wie äußerlich jung geblieben. Lois kommt nicht umhin, Nanda immer auch mit ihrer eigenen Mutter, die bereits seit vielen Jahren tot ist, zu vergleichen. Wie hätte wohl ihre Mutter im Leben gestanden, wenn ihr dieser eine Schicksalsschlag erspart geblieben und sie nicht in eine Depression verfallen wäre? Schwierig zu sagen. Ihre Mutter hatte immer schon eine etwas grüblerische Ader gehabt, ganz anders als die lebensfrohe, optimistische Nanda.
Sie weiß, dass es keinen Sinn hat, die beiden zu vergleichen oder in Kategorien von »was wäre wenn« und »hätte ich doch« zu denken. Sie hat gelernt zu akzeptieren, dass die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind. Das ist ihr Leben, und es ist gut so, wie es ist.
4
»Schön, dass du da bist!« Nanda trägt einen lila Rock mit einem passenden T-Shirt und hat ihre Sonnenbrille in die Haare gesteckt. Sie drückt Lois kurz an sich und gibt ihr danach auf jede Wange einen Kuss. »Lange nicht gesehen. Wie geht’s dir?«
»Gut.« Lois umarmt Nanda. »Es war ziemlich viel los. Vor allem der letzte Fall hatte es ganz schön in sich.«
»Ach ja, das vermisste Mädchen. Ich bin so froh, dass alles gut ausgegangen ist. Komm, wir gehen raus, es steht alles schon bereit.« Nanda geht voran und führt Lois zum Garten hinter dem Haus, wo Fred bereits mit einem Bier und einer Schale Cashewnüsse sitzt. Mit einem vielsagenden Grinsen blickt er hoch, und sie kann nicht anders als zurücklachen.
»Wie geht es denn dem Mädchen jetzt? Hast du sie noch mal gesehen?«, erkundigt sich Nanda.
Lois lässt sich auf einem Gartenstuhl im Schatten nieder. »Ja, kurz nachdem sie wieder zu Hause war. Und zufällig habe ich gestern ihre Mutter bei Zomer op het Plein getroffen.«
»Ach, warst du dort?« Fred wirft sich eine Handvoll Cashewnüsse in den Mund.
»Ja, zum ersten Mal, schlimm, was? Aber es war sehr nett. Ich war mit Onno dort.«
»Ah, der Herr Psychiater. Hat er noch nicht aufgegeben?«
Lois lächelt nur. Wenn es um ihr Gefühlsleben geht, gehen bei ihr automatisch die Rollläden runter. Nanda, aufmerksam wie immer, bemerkt es und lenkt sofort vom Thema ab: »Möchtest du was trinken, Lois?«
»Lois möchte Cola light mit Eiswürfeln«, antwortet Fred an ihrer Stelle.
»Ich habe auch einen leckeren Weißwein im Kühlschrank«, schlägt Nanda vor, ohne sich viel Hoffnung zu machen, und als Lois lächelnd den Kopf schüttelt, seufzt sie tief. »Schade, dass du dafür nicht zu haben bist. Das heißt, eigentlich machst du es genau richtig. Keinen Alkohol zu trinken, meine ich.«
»Also lieber sterbe ich ein paar Jahre früher, als dass ich auf mein Bier verzichten muss«, meint Fred und nimmt, wie um das zu unterstreichen, einen kräftigen Schluck. »Und außerdem schaden ein, zwei Gläschen auch nicht. Wozu hat man denn sonst eine Leber?«
»Alles in Maßen, dann ist das gar kein Problem«, sagt Nanda. »Aber gut, dann eine Cola light. Ich hol sie dir eben.«
Als seine Frau nach drinnen verschwindet, stellt Fred sein Glas auf dem Tisch ab und sieht Lois nachdenklich an. »Alles in Ordnung?«
Lois, die gerade den blühenden Garten bewundert hat, wirft ihm einen verblüfften Blick zu. »Ja, wieso?«
»Nur so. Ich hatte den Eindruck, dass du heute über irgendetwas gegrübelt hast. Du warst so still.«
»Ach so, nein, ich habe einfach nur gearbeitet. Es gab da zwar etwas, aber darüber habe ich nicht nachgegrübelt. Nicht wirklich jedenfalls.«
»Was denn?«
»Gestern, bei Zomer op het Plein, hat mich ein Mädchen angesprochen. Ich schätze, sie war so sechzehn. Sie hat mich gefragt, was man tun soll, wenn man Drohbriefe bekommt. Ich habe ihr natürlich geraten, Anzeige zu erstatten, und wir hatten mehr oder weniger ausgemacht, dass sie heute vorbeikommt«, erzählt Lois. »Und unterbewusst habe ich wohl den ganzen Tag auf sie gewartet.«
»Aber sie ist nicht gekommen«, schlussfolgert Fred.
»Nein, und das finde ich schade. Ich wollte ihr gerne helfen.«
»Vielleicht war es gar nicht so schlimm, und sie hat ein bisschen übertrieben.«
»Das glaube ich nicht. Sie war ziemlich nervös und hat sich ständig umgesehen, als ob sie das Gefühl hätte, dass sie jemand beobachtet. Ich konnte sehen, dass sie Angst hat.«
»Du denkst also, sie hat sich nicht getraut zu kommen?«
»Ja, das denke ich. Oder sie glaubt, dass wir nichts für sie tun können.«
»Streng genommen stimmt das ja in gewisser Weise auch«, wendet Fred ein.
»Das finde ich nicht. Mit den Drohbriefen können wir auf jeden Fall etwas anfangen.«
»Klar, du kannst einen Handschriftenexperten darauf schauen lassen, und mit viel Glück findest du vielleicht Fingerabdrücke. Aber dann muss der Täter auch im System zu finden sein.«
»Auf jeden Fall können wir etwas unternehmen«, beharrt Lois. »Allein schon, indem wir Fragen stellen und ihr Umfeld unter die Lupe nehmen. Oft steckt ja einfach ein Streit mit einem Altersgenossen dahinter oder ein Exfreund, der Stress macht. Aber das gilt es herauszufinden.«
Fred nickt. »Und bekommt sie auch auf digitalem Weg Drohbriefe? Oder nur auf Papier?«
»Das weiß ich nicht. Das wollte ich sie heute fragen. Das wäre natürlich ideal, denn dann könnten wir den Absender direkt ausfindig machen.«
Nanda kommt mit den Getränken nach draußen.
»Und, wie sieht es bei dir aus, Lois?«, fragt sie interessiert, während sie sich hinsetzt. »Fährst du dieses Jahr noch weg?«
»Mal schauen.« Lois nimmt einen Schluck Cola, wobei die Eiswürfel im Glas klirren.
»Wieso, mal schauen? Du bleibst doch hoffentlich nicht den ganzen Urlaub über zu Hause?«
»Ich weiß es noch nicht. Vor ein paar Wochen hat Tessa vorgeschlagen, dass wir zusammen eine Woche nach Benidorm fahren könnten. Sie sagt, das ist nicht so sehr nach Guidos Geschmack.«
»Dann mach das doch. Das ist doch nett, zusammen mit deiner Schwester.«
»Benidorm klingt aber auch nicht unbedingt nach Lois’ erster Wahl«, wirft Fred trocken ein. »Oder doch?«
»Nicht wirklich«, gibt Lois zu. »Den ganzen Tag am Strand in der Sonne brutzeln und dann der Massentourismus – ich darf gar nicht daran denken.«
»Das spanische Hinterland ist sehr schön«, merkt Nanda an. »Und du musst doch nicht den ganzen Tag am Strand liegen.«
»Wenn ich mit meiner Schwester fahre, schon. Tes hat keinerlei Interesse an Kultur. Wenn sie sich doch einmal vom Strand wegbewegt, dann nur, um mit einer Flasche Rosé auf der Terrasse zu sitzen oder um shoppen zu gehen.«
»Klingt doch gar nicht so verkehrt.«
»Ach, komm. Du würdest dich doch zu Tode langweilen, wenn du eine ganze Woche auf dem Handtuch verbringen müsstest«, hält Fred ihr entgegen.
»Ich nicht, aber du! Wenn ich ein paar Bücher dabeihabe, ist alles prima. Aber spätestens nach einer halben Stunde kannst du nicht mehr still sitzen, während ich es mir gerade gemütlich gemacht habe.« Nanda verzieht das Gesicht in Lois’ Richtung.
Lois lacht und stellt das Glas auf dem Tisch ab. »Ich glaube nicht, dass das mit dem Urlaub klappt«, sagt sie. »Ich werde wohl einfach zu Hause ein bisschen vor mich hinwurschteln, ich hab sowieso noch eine ganze Menge Dinge zu erledigen. Und außerdem beginnt bald wieder die Marathonsaison, da kann ich schon mal fleißig trainieren.«
Kopfschüttelnd sieht Nanda sie an. »Marathon!«, wiederholt sie verständnislos. »Ich glaube, ich muss noch mal ein ernstes Wörtchen mit Tessa reden.«
Später am Abend, nachdem sie ausgiebig gespeist und Kaffee getrunken haben, radelt Lois zu ihrem Haus an der Baangracht. Es ist nicht weit bis zu ihr, keine zehn Minuten, und während der gesamten Fahrt muss sie an Tessa denken. Sie wollte es Nanda und Fred gegenüber nicht sagen, aber eigentlich ist sie ziemlich sicher, dass Tessas Pläne, nach Benidorm zu fahren, ins Wasser fallen werden. Wahrscheinlich fährt sie überhaupt nirgends hin. Lois kann sich nicht vorstellen, dass Tessa momentan der Sinn nach Reisen steht.
Ich muss sie unbedingt bald mal wieder besuchen, denkt sie. Das letzte Mal sah sie echt nicht gut aus.
Sie fährt die Baangracht entlang, wo das Wasser spiegelglatt zwischen den beiden Ufern daliegt und im letzten Tageslicht die Häuser aus dem siebzehnten Jahrhundert spiegelt.
Da sie weder vor noch hinter dem Haus einen Garten hat, stellt sie ihr Fahrrad gewohnheitsgemäß einfach im Hausflur ab, obwohl sie es genauso gut draußen stehen lassen könnte. Dieser Grachtenabschnitt in der Altstadt von Alkmaar ist so ruhig, dass das Risiko gering ist, dass es gestohlen wird.
Wie sie geahnt hatte, ist es in ihrer Wohnung kaum auszuhalten. Lois öffnet ein paar Fenster und lässt frische Luft hinein, zusammen mit einem Dutzend Fliegen. Laut brummend schwirren sie ihr um den Kopf, und mit einem Seufzer macht sie die Fenster wieder zu.
Sie braucht unbedingt eine Klimaanlage. Wenn sie morgen Zeit hat, kann sie schnell so ein Gerät besorgen, allerdings müsste sie dann morgen mit dem Auto zur Arbeit.
Lois streicht sich eine feuchte Haarsträhne aus ihrem verschwitzten Gesicht und öffnet den Kühlschrank. Sie holt eine Silikoneiswürfelform aus dem Tiefkühlfach und drückt zwei Eiswürfel in ein Longdrinkglas. Das füllt sie mit Wasser und trinkt es in einem Zug leer. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es kurz nach zehn ist: zu früh, um ins Bett zu gehen, aber zu spät, um Tessa anzurufen. Wobei, ihre Schwester geht sowieso nie früh ins Bett und ganz sicher nicht, wenn es so warm ist. Wahrscheinlich sitzt sie gerade auf einem Liegestuhl draußen auf der Terrasse ihres weitläufigen Gartens. Eigentlich kann sie genauso gut anrufen.