Was sie nicht weiß - Simone van der Vlugt - E-Book

Was sie nicht weiß E-Book

Simone van der Vlugt

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Beschreibung

Sie ist unschuldig wie ein Kind und böse wie der Teufel

An einem Seeufer bei Alkmaar wird die grausam zugerichtete Leiche eines jungen Mannes gefunden. Davids Tod: ein Racheakt. Welches Detail ihrer gemeinsamen Jugend mit dem Opfer will die Malerin Maaike um jeden Preis verheimlichen? Ein Hinweis führt zu einer gewissen Tamara. Von einer Frau dieses Namens aber fehlt jede Spur – und dennoch ist sie immer da …

Bei den Ermittlungen im Mordfall David Hoogland tappt Lois Elzinga von der Kriminalpolizei in Alkmaar zunächst im Dunkeln. Diese grausame Tat wurde allem Anschein nach von einer Frau begangen, doch das Leben des Grundschullehrers ist vollkommen unauffällig. Die Künstlerin Maaike Schoolten, deren Ausstellungsprospekt bei der Leiche gefunden wurde, streitet ab, David gekannt zu haben. Der Hinweis auf eine Fotografin namens Tamara führt ins Leere, denn diese ist unauffindbar. Irgendetwas muss Lois übersehen haben. Sie ist nervös, private Probleme lenken sie ab. Ihre große Liebe ist gerade zerbrochen und Fred, ihr langjähriger Partner bei der Polizei, geht demnächst in Pension. Doch Lois bleibt hartnäckig, und bald schon findet sie heraus, dass David Täter war, lange bevor er ein Opfer wurde. Was sie nicht weiß, ist, welch doppeltes Spiel Maaike und Tamara mit ihr treiben ...

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Seitenzahl: 310

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SIMONEVANDERVLUGT

Was sie

nicht weiß

THRILLER

Aus dem Niederländischen

von Eva Schweikart

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

Aan niemand vertellen bei Anthos, Amsterdam.

Copyright © Simone van der Vlugt 2012

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Anne Tente

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock

Autorenfoto | © Merlijn Doomernik

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-11272-1

www.diana-verlag.de

1

Der Mann steht auf dem Dach des Wohnblocks, gefährlich nah am Rand. Von unten ist er im Nebel des Dezembermorgens kaum zu sehen. Er hätte unbemerkt springen können, wäre er nicht einer Passantin aufgefallen, die zufällig hochschaute und sofort die Polizei alarmierte.

»Ich glaube, er ist nicht allein«, hatte die Frau gesagt. »Es sieht aus, als ob ein Kind neben ihm steht.«

Die Meldung an sich hätte schon gereicht, um den gesamten Polizeiapparat in Bewegung zu setzen, doch dass der Lebensmüde womöglich ein Kind bei sich hat, macht die Sache noch dringlicher.

Lois hört über Polizeifunk die Durchsage der Einsatzzentrale und wirft ihrem Kollegen Fred Klinkenberg auf dem Fahrersitz einen Blick zu: »Judith Leysterstraat, das ist doch ganz in der Nähe, oder?«

»Keine fünf Minuten von hier.«

Eigentlich sind für solche Einsätze die Streifenpolizisten zuständig. Da es jetzt aber auf jede Sekunde ankommt, reißt Fred das Steuer herum und gibt Vollgas.

»11.18, hier 89.22. Fred und ich sind nicht weit von der Judith Leysterstraat entfernt und schon auf dem Weg. Ist eventuell jemand näher dran?«

»89.22, nein. Fahrt hin und seht zu, dass ihr die Situation unter Kontrolle bekommt. Ich schicke einen Verhandler.«

»11.18, verstanden. Wir sind gleich da.«

Kurz darauf erreichen sie die Judith Leysterstraat, wo neben einem Einkaufszentrum ein zwölf Etagen hoher Wohnblock aufragt.

Lois späht durchs Seitenfenster empor, erkennt aber wegen des Nebels nichts. »Wer das gemeldet hat, muss Adleraugen haben«, sagt sie.

»Vielleicht steht er an der Rückseite.« Fred steuert den Parkplatz neben dem Gebäude an.

Das Auto steht noch nicht ganz, da steigt Lois bereits aus und rennt zur offenen Tür, wo ein glatzköpfiger Mann um die fünfzig wartet.

»Ich bin Jan Fossen, der Hausmeister«, stellt er sich vor. »Die Frau, die Sie benachrichtigt hat, hat mir Bescheid gesagt.«

»Waren Sie schon oben? Wissen Sie, ob da wirklich jemand steht? Es ist sogar von zwei Personen die Rede.« Lois drückt hektisch auf den Rufknopf am Aufzug und blickt sich nach Fred um, der gerade auf die Tür zueilt.

»Ja, ich hab nachgesehen. Die Dachluke ist aufgebrochen worden. Als ich rausgeguckt hab, waren da zwei Leute: ein Mann und ein Junge. Auf mein Rufen haben die nicht reagiert. Da bin ich wieder runter, um auf Sie zu warten.«

Die Lifttür öffnet sich, und sie steigen zu dritt ein. Die Enge in der Kabine verursacht Lois Beklemmungen; sie atmet mehrmals tief durch.

»Sprich du mit dem Mann«, sagt Fred auf dem Weg nach oben. »Du weißt ja, Reden ist nicht mein Ding. Und wir können nicht auf den Verhandler warten.«

»Kein Problem, ich mach so was ja täglich.« Lois verzieht das Gesicht, protestiert aber nicht weiter.

Mit seiner Erfahrung aus vierzig Dienstjahren ist Fred ein hervorragender Ermittler, aber Reden ist tatsächlich nicht sein größtes Talent. Vermutlich würde er sich dem Mann nervös hüstelnd nähern und keinen Anfang finden. Sie selbst weiß jetzt zwar auch noch nicht, was sie sagen soll, verlässt sich aber auf ihre Intuition.

»Wir sind da, von hier kommt man aufs Dach.« Nachdem der Hausmeister aus dem Aufzug gestiegen ist, deutet er nach oben auf die offene Luke. Neben der Ausziehleiter liegt ein Hammer am Boden – das Werkzeug, mit dem das Schloss weggeschlagen wurde.

»Dann mal los.« Fred setzt den Fuß auf die unterste Sprosse.

»Fahren Sie bitte wieder runter und warten Sie dort auf unsere Leute«, bittet Lois den Hausmeister.

Er nickt und geht nach einem Blick auf Fred, der jetzt die Leiter hinaufsteigt, zurück in den Lift.

Kaum hat ihr stämmiger Kollege sich durch die Öffnung gezwängt, klettert Lois hinterher.

Dann sieht sie den Mann und das Kind. Die beiden stehen am Rand des Dachs, zwei in Nebelschwaden gehüllte Silhouetten. Ihr erster Impuls ist, sofort loszulaufen, aber sie bleibt doch erst neben Fred stehen, der fröstelnd den Jackenkragen hochstellt.

»Geh hin, ich halt mich erst mal im Hintergrund«, flüstert er.

Sie nickt.

Der Nebel bietet auch Vorteile, er dämpft die Geräusche. Aber anscheinend hat der Mann doch etwas gehört, denn er blickt kurz über die Schulter.

Vorsichtig geht Lois auf ihn zu. Als sie in Hörweite ist, spricht sie ihn an: »Hallo. Bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin von der Polizei. Bleiben Sie ruhig stehen, bewegen Sie sich nicht.«

Wieder blickt der Mann sich um.

»Keinen Schritt weiter!«, ruft er panisch. »Sonst springen wir!«

»In Ordnung, ich bleibe, wo ich bin. Ich möchte nur mit Ihnen reden.«

Der Größe nach dürfte der Junge acht, neun Jahre alt sein. Er hat sich bisher noch nicht umgesehen. Mit gesenktem Kopf steht er da und schwankt leicht, so als schliefe er halb. Der Vater – Lois geht zumindest davon aus, dass es sich um Vater und Sohn handelt – hält ihn an der Hand.

Fred hat sich den beiden im Schutz des Nebels von der Seite ein wenig genähert. Lois sucht seinen Blick und macht eine Kopfbewegung zu dem Kind hin.

Er nickt.

»Was ist geschehen? Sagen Sie mir doch bitte, weshalb Sie hier stehen!«, ruft sie dem Mann zu, der ihr jetzt den Rücken zukehrt.

Blödes Gerede, denkt sie, wo doch glasklar ist, was hier passiert. Aber es geht ja darum, den Kontakt herzustellen und den Mann so weit zu kriegen, dass er mit ihr spricht.

»Ich komme ein bisschen näher, dann redet es sich besser. Nicht zu nahe, versprochen.«

Keine Reaktion.

Lois macht ein paar Schritte nach vorn, zum Rand des Dachs hin. Beim Gedanken an die über dreißig Meter bis zum harten Asphalt wird ihr mulmig. Das Flachdach hat kein Mäuerchen oder Geländer, das vor einem Fall schützen könnte.

Etwa drei Meter von dem Mann entfernt bleibt sie stehen, damit er sich nicht bedrängt fühlt.

Fred hat sich nicht mehr vom Fleck gerührt, stellt sie aus dem Augenwinkel fest, er beobachtet das Ganze aber weiter ganz genau.

»Was ist denn? Wollen Sie es mir sagen?«, fragt sie wieder.

Den Blick starr in die Tiefe gerichtet, scheint der verzweifelte Mann gar nicht registriert zu haben, dass sie näher gekommen ist. Nun aber sieht er sich um und erschrickt. Er macht eine abwehrende Geste, hält sie mit gestrecktem Arm auf Abstand.

»Wegbleiben, hab ich gesagt!«

»Ist ja schon gut. Wollen Sie mir nicht von Ihrem Problem erzählen? Bitte.«

»Das hat doch keinen Sinn. Mein Entschluss steht fest. So ist es für alle am besten.«

»Vielleicht«, sagt Lois. »Aber vielleicht auch nicht. Bestimmt gibt es Alternativen, eine Lösung, an die Sie noch gar nicht gedacht haben. Was für ein Problem haben Sie?«

»Das geht Sie einen Scheißdreck an!« Er wendet sich ab und schaut wieder nach unten.

Lois macht einen weiteren Schritt, bleibt aber sofort stehen, als er sie mit einem wütenden Seitenblick bedenkt.

Wann kommt endlich der Verhandler? Für solche Einsätze ist sie nicht ausgebildet und hat auch null Erfahrung damit. Aber wenn der Mann mitsamt dem Kind tatsächlich springt, wird sie sich ihr ganzes Leben lang vorwerfen, es nicht verhindert zu haben.

»Ist der Junge Ihr Sohn?«, fragt sie.

Es funktioniert: Der Mann löst den Blick vom Abgrund und betrachtet das Kind neben sich. Dann nickt er.

»Wie heißt er?«

»Sem.«

Ja, sehr gut!, denkt Lois, sieh ihn dir an, wie er zittert und schwankt, mach dir klar, was du dem Kleinen antust!

»Hübscher Name. Mein Neffe heißt auch so.«

Lois hat keinen Neffen, aber das kann der Mann ja nicht wissen. Sie merkt, dass ihre Stimme viel zu munter klingt, so als würde sie mit einem Nachbarn über den Gartenzaun hinweg plaudern. Egal, sie hat ihn zum Reden gebracht, und nur darauf kommt es an. Wenn sie jetzt die richtigen Worte findet, stehen die Chancen gut. Nur: Welches sind die richtigen Worte?

In ihrer Hilflosigkeit streckt sie die Hand nach dem Mann aus, als tröstliche Geste, nicht um ihn festzuhalten. Und so versteht er es auch. Er bleibt regungslos stehen und sieht sie schweigend an. Sein Gesichtsausdruck ist unendlich verzweifelt.

Lois ist versucht, weiter auf ihn zuzugehen, aber das wäre jetzt falsch. Die Situation unter Kontrolle bekommen, hat de Vries von der Einsatzzentrale gesagt, und auf den Verhandler warten.

Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick nach unten zu wagen. Die Straße ist nicht zu sehen. Nebelschleier legen sich wie feuchte Tücher um die oberen Etagen und täuschen über die gähnende Tiefe hinweg. Mit Entsetzen wird ihr klar, dass ein Sprung unter diesen Umständen viel leichter fällt.

Vorsichtig schaut sie zu Fred hinüber, dem es gelungen ist, sich unbemerkt dem Kind zu nähern. Rasch wendet sie sich wieder dem Mann zu.

Da ist etwas in seinen Augen, und mit einem Mal weiß sie, dass er es tun wird, jetzt gleich!

»Nicht!« Ihr Ruf hallt über das Dach und verliert sich im Nebel.

»Nicht springen!« Unwillkürlich macht sie ein paar Schritte auf ihn zu und ist nun so nah, dass sie ihn mit gestrecktem Arm berühren könnte.

Sekundenlang schauen sie einander an. Seine Züge sind von Kummer und Sorgen gezeichnet, an den Brauen und Wimpern hängen feine Wassertröpfchen.

»Sie haben versprochen wegzubleiben«, sagt er heiser.

»Tun Sie’s nicht! Bitte! Ich helfe Ihnen! Was auch immer Ihr Problem ist, es gibt für alles eine Lösung!« Regelrecht flehend klingt ihre Stimme.

»Nein. Und das wissen Sie so gut wie ich: Für manche Probleme gibt es keine Lösung.«

»Sie haben einen Sohn! Wie alt ist er? Jedenfalls zu jung zum Sterben und schon gar nicht auf diese Art! Denken Sie doch an Sem!«

»Genau das tu ich. Deshalb ist er ja dabei. Ich hab ihm ein Schlafmittel gegeben, er wird kaum was mitbekommen.«

Der Mann fasst die Hand des Kindes fester und richtet den Blick nach unten.

»Wie heißen Sie überhaupt? Ich weiß nicht mal Ihren Namen …«, stammelt Lois.

Er lächelt ihr flüchtig zu. »Ich heiße Richard.«

Dann springt er.

Lois wirft sich nach vorn, um ihn noch festzuhalten, greift aber ins Leere. Gleichzeitig bekommt Fred die Jacke des Jungen zu fassen. Einen Moment lang sieht es so aus, als würden beide in die Tiefe stürzen, doch Fred schafft es, das Kind zurückzureißen, und schließt es fest in die Arme.

Wie betäubt steht Lois da. Sie weiß nicht, wie lange. Es ist ihr nicht gelungen, den Mann umzustimmen – dieser furchtbare Gedanke beherrscht sie so sehr, dass sie nicht aufhören kann zu zittern und am Rand des Dachs in die Knie geht. Erst als sie eine Hand auf der Schulter spürt und Stimmen hört, wird ihr bewusst, dass die anderen gekommen sind.

Wie durch einen Schleier nimmt sie wahr, dass Sem von ihrer Kollegin Claudien Harskamp weggeführt wird. Fred blickt den beiden nach, mit hängenden Schultern und die Arme schlaff am Körper baumelnd, so als wäre alle Kraft aus ihm gewichen.

2

»Dass ausgerechnet wir gerade da sein mussten! Auf der Polizeiakademie hat man uns alles Mögliche beigebracht, und bei den Einsätzen hab ich auch schon genug erlebt, aber so was …«, sagt Lois. »Ich hab wirklich versucht, mit dem Mann zu reden, und trotzdem ist er gesprungen!« Niedergeschlagen fährt sie sich durch das halblange blonde Haar und stützt dann mit einem Seufzer den Ellbogen auf die Theke.

Sie sitzen in einer gemütlichen Kneipe am Alkmaarer Waagplein. Hier sind sie des Öfteren, wenn nach der Arbeit noch etwas zu besprechen ist.

»Kein Mensch wirft dir etwas vor. Du hast getan, was du konntest. Wir beide haben getan, was wir konnten. Der Mann war nun mal fest entschlossen.« Fred trinkt einen Schluck Bier.

»Du hast wenigstens den Jungen gerettet, aber ich? Der Mann ist gesprungen! Vor meinen Augen!«

»Nur weil du mit ihm gesprochen hast, bin ich an das Kind rangekommen.« Fred berührt sie tröstend an der Schulter. »Und wenn wir nicht so schnell da gewesen wären, hätte es mit Sicherheit zwei Tote gegeben. So konnten wir wenigstens den Jungen retten.«

Lois schließt kurz die Augen. Was mag in einem Menschen vorgehen, denkt sie, der sich mit seinem Kind an der Hand aufs Dach eines Hochhauses stellt? Wie verzweifelt muss man sein, um darin den einzigen Ausweg zu sehen?

Inzwischen ist bekannt, dass der sechsunddreißigjährige Richard Veenstra hohe Schulden hatte. Er und seine Frau hatten vor drei Jahren ein Einfamilienhaus gekauft, waren wegen der Krise auf dem Immobilienmarkt ihre alte Wohnung aber nicht losgeworden. Die Schulden häuften sich an, und als dann auch noch Veenstras Frau an Krebs starb, verlor er jeden Lebensmut. Er hatte seinen Sohn mit einem Schlafmittel betäubt und ihm gesagt, sie würden zur Mama gehen.

Nun ist der Mann tot, und der achtjährige Junge hat innerhalb kurzer Zeit beide Eltern verloren. Wenigstens ist er bei Verwandten untergekommen, wie Lois von Claudien gehört hat.

Das war’s dann, zurück zur Tagesordnung – Fred und sie sind derzeit mit einer Serie von Raubüberfällen in Alkmaar und Umgebung beschäftigt. Aber sie weiß schon jetzt, dass sie sich nur mit größter Mühe auf die Ermittlungsarbeit und die Dienstbesprechungen wird konzentrieren können. Es wird lange dauern, bis die entsetzlichen Bilder, die sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt haben, verblassen. Nicht nur, wie der Mann sprang. Auch wie sie ihn dann unten in seinem Blut liegen sah, schrecklich zugerichtet. Und wie der Junge, der glücklicherweise das Ganze gar nicht richtig mitbekam, durch Freds beherztes Eingreifen gerettet wurde.

Im Laufe der Zeit – seit ein paar Jahren bei der Kriminalpolizei in Alkmaar, vorher nach der Ausbildung im Streifendienst in Amsterdam – hat Lois so manches gesehen, aber noch nie hat ein Mensch sich buchstäblich vor ihren Augen umgebracht. Das eine Mal, dass sie bisher schießen musste, hat niemanden das Leben gekostet. Sie hatte einen Einbrecher ins Bein geschossen, um ihn an der Flucht zu hindern.

Bei der Kriminalpolizei zu arbeiten war schon immer ihr Traum. Nach dem Abitur hat sie die Polizeiakademie in Amsterdam besucht und ihre Ausbildung zügig absolviert. Jetzt, mit einunddreißig Jahren, ist sie Polizeihauptmeisterin bei der Dienststelle Noord-Holland Noord und mit der Aufklärung von Kapitalverbrechen befasst. Bis auf wenige Ausnahmen ist Fred ihr fester Partner, und anfangs war er auch ihr Mentor. Er nahm sie ins Schlepptau und brachte ihr alles Nötige bei. Inzwischen sind sie so gut aufeinander eingespielt, dass sie sich mit einem Wort, einem Gesichtsausdruck oder einer Geste verständigen können.

Als Fred vor Kurzem sagte, er wolle vorzeitig in Rente gehen, war Lois schockiert gewesen. Sie hat sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er mit seiner ruhigen, verlässlichen Art bald nicht mehr an ihrer Seite sein wird. Vor allem an Tagen wie heute wird ihr das schmerzlich bewusst.

»Hätte man dir bloß nicht dieses verflixte Angebot mit dem Vorruhestand gemacht«, sagt sie und greift nach ihrem Colaglas. »Immer hast du gesagt, du würdest dich dann totlangweilen, und jetzt hörst du auch noch früher auf als nötig. Ich rette dich nicht, wenn du demnächst zu Hause zwischen den Geranien eingehst, nur damit du’s weißt!«

Fred grinst breit und wischt sich den Bierschaum vom Schnurrbart. »Keine Sorge, Nanda kennt sich mit Erster Hilfe aus und kümmert sich Tag und Nacht um mich.«

»Das ist es ja! Wenn du mich fragst, hast du das nach spätestens drei Monaten gründlich satt.«

»Ach was, wir bleiben doch nicht die ganze Zeit zu Hause. Wir wollen reisen. Nanda hat schon Prospekte von Wohnmobilen besorgt, wir brauchen uns bloß noch eins auszusuchen.«

»Sag jetzt bitte nicht, dass ihr in Benidorm überwintern wollt, sonst lass ich dich einweisen!«

»Was spricht gegen Benidorm?«

»Alles! Du kannst doch nicht ohne deinen Wintersport. Schlittschuhfahren, Langlaufen …«

»Stimmt. Wenn wir von der spanischen Sonne genug haben, fahren wir einfach nach Österreich weiter. Wir sind ja frei – und fröhlich.« Fred lacht erst, wendet sich dann aber mit plötzlich ernster Miene an Lois: »Weißt du, darum geht es mir letztlich: um die Freiheit. Die Möglichkeit, längere Zeit unterwegs zu sein, ohne vorher zu buchen und ohne festzulegen, wann man wieder nach Hause kommt. Einfach der Nase nach und schauen, wohin es einen verschlägt. Kein Piepser, der einen von Geburtstagsfeiern oder vom Essen mit Freunden wegruft. Vor allem Nanda wird es guttun, und nachdem sie so viele Jahre zurückstecken musste, hat sie das auch verdient. Ich hab mich für den Vorruhestand entschieden, damit wir gemeinsam noch was vom Leben haben.«

Sekundenlang bleibt es still. Lois nimmt ihr Glas, um einen Schluck zu trinken.

»Ich verstehe dich ja«, sagt sie schließlich. »Und du hast auch vollkommen recht. Es ist nur so, dass du mir verdammt fehlen wirst. Wer weiß, mit wem ich dann zusammenarbeiten muss.«

»Mit einem blutigen Anfänger, so wie du früher. Einem, dem beim Schießen die Hand zittert, der am Tatort aus Versehen Spuren zertrampelt und nach dem Anblick der ersten verwesten Leiche tagelang von der Rolle ist.« Fred schmunzelt.

Lois versetzt ihm einen Rippenstoß. »So schlimm war ich aber nicht!«

»Noch viel schlimmer! Weißt du noch, als ich in Urlaub war und du allein losmusstest, weil jemand gemeldet hatte, unter einer Brücke liege eine Leiche? Den ganzen Laden hast du kirre gemacht, weil du geglaubt hast, jeder bis hin zum Bürgermeister müsse vorab darüber informiert werden.«

»Ja, ja, schon gut …« Lois ist das Thema sichtlich unangenehm, doch Fred redet unbeirrt weiter.

»Ich wär zu gern dabei gewesen, als der Mann wieder zu sich kam. Er hat sich bestimmt zu Tode erschrocken über die Leute in den weißen Schutzanzügen.« Die Geschichte hat Fred damals prächtig amüsiert, und noch heute kann er sich darüber ausschütten.

»Hast du fürs Wochenende was Nettes vor?«, fragt sie, um ihn abzulenken.

»Nanda will Wohnmobile anschauen, also werden wir wohl den ganzen Samstag in irgendwelchen Showrooms verbringen. Und du?«

Lois zieht ein Gesicht. »Ich hab was richtig Lustiges vor. Guido wird fünfzig und feiert heute groß. Abendgarderobe erwünscht!«

»Und das heißt?«

»Dass ich mir ein neues Kleid kaufen musste. Und Stilettos.«

»Hast du so was denn nicht?«

»Kleid und Schuhe? Doch, vom letzten größeren Fest, aber bei den Schuhen ist das Leder an den Spitzen eingerissen, und auf dem Kleid ist ein Fettfleck, der nicht mehr rausgeht. Deshalb musste ich was Neues kaufen. Vielleicht kann ich die Sachen ja zu Weihnachten wieder tragen, mal sehen …«

»Musst du denn jedes Mal in einer anderen Kreation bei Schwester und Schwager aufkreuzen?«, fragt Fred.

»Eigentlich schon. Aber wie wär’s, wenn ich sage, dass ich für die Weihnachtstage bei dir und Nanda eingeladen bin?«

»Wenn du den Radau unserer Enkelkinder erträgst, bist du herzlich willkommen. Obwohl ich finde, das kannst du deiner Schwester nicht antun.«

»Stimmt. An Weihnachten werde ich wohl oder übel wieder antanzen müssen. Nun aber erst mal die blöde Geburtstagsfeier, eins nach dem anderen.«

3

Draußen ist es nach wie vor neblig. Schon die ganze Woche war trübes Wetter, und jetzt im Winter wird es auch sehr früh dunkel. Wäre Sommer, könnte Lois noch eine Stunde draußen joggen. Das geht zwar auch im Dezember, aber der nasskalte Abend lädt nicht gerade dazu ein. Außerdem hat sie wegen der Geburtstagsfeier ohnehin keine Zeit.

Mit dem Jackenärmel wischt sie den Fahrradsattel trocken und nimmt einen Schal aus der Satteltasche. Vom Waagplein bis zu ihrer Wohnung ist es zwar nicht weit, aber sie will keine Erkältung riskieren. Eingemummelt in den Wollschal, fährt sie los.

Lois wohnt an der Baangracht, unweit der früheren Stadtmauer. Heute befindet sich dort eine schmale Grünanlage mit Spazierwegen entlang des Stadtgrabens.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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