Timberdark - Darren Charlton - E-Book

Timberdark E-Book

Darren Charlton

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Beschreibung

Sein ganzes Leben hat der sechzehnjährige Peter in Angst vor den Untoten am Lake Wranglestone verbracht. Jetzt stellen die Ruhelosen keine Gefahr mehr dar, denn die »Rückkehrer«, zu denen auch Peters Freund Cooper gehört, können die Menschen mit ihrem Körpergeruch vor den Horden beschützen. Als die Schutzprogramme in den Nationalpark für beendet erklärt werden, bereitet sich die Seegemeinschaft auf ihre Umsiedelung in die nahegelegene Stadt vor. Peters Traum von einem normalen Leben mit Kinoabenden und nächtlichen Streifzügen durch bunt beleuchtete Straßen, wie er es nur aus Erzählungen kennt, scheint endlich in Erfüllung zu gehen. Aber Cooper verabscheut die Enge des Apartments, ver- misst die endlose Weite der vereisten Hoch- ebene. Und er hütet ein dunkles Geheimnis mit dem Codewort »Timberdark«. Als ein brutaler Geisterjäger das Leben der Rückkehrer bedroht, ist Peter fest entschlossen, das Rätsel um Timberdark zu lösen – und nicht nur seinen Traum von einem Leben in der Stadt zu retten, sondern auch seine Zukunft mit dem Jungen, den er liebt.

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Darren Charlton

Timberdark

Roman

Aus dem Englischen von Anja Malich

Atlantis

Für Joseph.

Mein Zuhause.

 

Und in liebender Erinnerung an Claus. (1976–2002)

»The mountains are calling and I must go.«

 

John Muir

I

Prolog

Einige Gemeinschaften schützten sich vor den Toten, indemsie auf Inseln lebten. Andere hatten sich hinter großen Gletschern und Bergen in Sicherheit gebracht. Einmalig war das Nationalpark-Zufluchtsprogramm in Arizona, wo lange schwarze Straßen wie Lakritzstangen in der Wüste glänzten. Aus dem Weltraum sah der Grand Canyon aus, als hätte die Erde an der Stelle einen Riss – eine klaffende Wunde bis auf die Knochen. Nur dass hier keine Klinge am Werk gewesen war, ein Fluss hatte sich über Millionen von Jahren tief in den Fels geschnitten und bot den Überlebenden, die sich dort niedergelassen hatten, Verstecke in den Felswänden und bildete einen hohen Wasserfall, der die Toten zu Knochenmehl mahlte.

In Yellowstone weiter im Norden gab es keinen solchen natürlichen Schutz. Das Land war flach und ungeschützt, und die umherziehenden Horden hätten problemlos dort einfallen können, wenn die Erde hier nicht ein Geheimnis hüten würde.

Während die Luft so kalt war, dass sie wie Diamantenstaub glitzerte, brodelte es knapp unter der Erdoberfläche. Eine teuflische Säure ließ Bäume zu Zunder werden. Sie brannte das Gras ab und ließ die Landschaft mit kupferfarbenen Lachen zurück, die wie frisch gehäutete Schädel aussahen. Ohne Stege wären die Bewohner von Yellowstone verloren gewesen. Sie verliefen kreuz und quer durch den Park und verhinderten, dass die Leute mit ihren schweren Stiefeln in die dünne Erdkruste einbrachen. Von einer Hütte zur anderen gelangte man über Holzklötze und bewegliche Bohlen, wodurch man die Toten fernhalten konnte.

Tief im Innern von Yellowstone befand sich ein Vulkan, dessen glühend heiße Hülle die tödlichste aller natürlichen Verteidigungsmechanismen des Parks war. Dennoch war dieser Ort von unvergleichlicher Schönheit, wenn die großen Geysire ausbrachen, heiße Fontänen in die Luft spuckten und mit ihnen krächzende Habichte in den Himmel jagten.

Eine Schande nur, dass das Leben unter dem allumspannenden Blau kurz davor war zu erlöschen.

Wyatt hob den Topf von der blauen Flamme und schwenkte ihn, um den Kaffeesud vom Rand zu lösen. Dabei beobachtete er die vor dem Fenster tanzenden Schneeflocken. Gähnend kratzte er sich am Hintern. Kurz fragte er sich, ob er in die Spüle pinkeln sollte, während Daisy noch schlief, weil er keine Lust hatte, zum Klohäuschen zu gehen. Dann überlegte er es sich doch anders. Er schenkte den Kaffee ein und genoss den Moment, als der heiße Dampf aus den Tassen aufstieg, ehe er einen weiteren Scheit Holz ins Feuer warf. Die Flammen knackten. Vielleicht kam das Geräusch aber auch aus einer der Pfützen unter der Hütte – wie sollte man das zu dieser frühen Stunde schon wissen? Er stellte sich auf Zehenspitzen, um über den Schnee hinwegzuschauen, der sich auf dem Fenstersims türmte.

Der Dampf aus den Geysiren stieg durch die Spalten in den Bodenbrettern der kleinen Veranda vor der Hütte. Er war heute Morgen so dicht, dass er die Luft erstickte wie Septemberschnee jede Hoffnung auf einen Spätsommer. Die umliegenden Stege und Hütten waren nicht zu sehen, als befände man sich hoch oben mitten in den Wolken. Nur die tief stehende Wintersonne schimmerte matt durch das Weiß wie ein Mond. Und die kleine hölzerne Brücke war zu erkennen, die von der Hütte in den Nebel ragte, als wollte sie ihm entgegenkommen.

Wyatt verlor das Gleichgewicht und verschüttete Kaffee auf dem Herd. Wenigen Gesetzen beugte man sich in Yellowstone mehr als denen des Winters, aber daran zu denken, abends die Brücke vor der Hütte hochzuziehen, war mindestens so wichtig. Wann immer die Toten kamen, erschienen sie ohne Vorwarnung. Plötzlich standen sie auf den Stegen wie Geister aus der Unterwelt. Nicht, dass sich die Toten noch sehr für Daisy oder ihn interessierten. Seit dem Biss waren sie so gut wie unsichtbar für sie. Aber andere taten es durchaus. Sobald sich herumgesprochen hatte, dass Leute wie sie die Toten davon abhalten konnten anzugreifen, war das Zufluchtsprogramm sofort gestoppt worden. Die meisten, die in den letzten Wochen vom Glacier-Nationalpark hier vorbeigekommen waren, waren guter Dinge und berichteten, dass es in einer Stadt, die die Leute aus den Parks aufnehmen sollte, sogar schon Strom gab. Andere hingegen waren besorgt und erwähnten die sogenannten »Bleichen Reiter«, die sich noch hier herumtrieben und die Aufgabe hatten, die Toten abzuwehren. Daisy und er waren die einzigen, die beschlossen hatten, in Yellowstone zu bleiben. Sie konnten nichts anderes tun, als sich unauffällig zu verhalten, um zu verhindern, dass plötzlich einer von diesen Jägern vor ihrer Tür stand.

Wyatt starrte auf die kleine hölzerne Winde. »Daisy, mein Schatz«, rief er hinter sich, »hab ich etwa gestern nach dem Pinkeln vergessen, die Brücke wieder hochzuziehen? Oder du vielleicht?«

Daisy antwortete nicht. Mit großen Schlucken trank Wyatt seinen Kaffee und ging mit beiden Tassen ins Schlafzimmer. Das ungemachte Bett war leer. Wahrscheinlich war sie losgegangen, um in einer der heißen Quellen Eier zu kochen. Auch wenn sie gar nicht dran war. Seufzend betrachtete Wyatt den Pokal mit dem silbernen Pferd auf der Fensterbank. Er hatte früher mehr Wettbewerbe im Kälber-Rodeo gewonnen als irgendein anderer Cowboy diesseits der Teton Range. Und auch Daisy wäre eine Rodeo-Queen geworden. Die Strasssteine auf ihrem Hemd hätten geglitzert wie der Sternenhimmel, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen hätte, für sie beide zu reiten. Das Zeug dafür hatte sie jedenfalls. Wer glaubte, eine Frau bräuchte dafür nicht mehr als ein schönes Lächeln und einen ordentlichen Vorbau, der irrte sich. Es verlangte richtig Mumm. Sie hatte sich das Westernreiten selbst beigebracht, und sie hätte damals, als sie mit ihren siebzehn Jahren noch unverheiratet war und keine Kinder hatte, alle Voraussetzungen erfüllt. Doch es hatte nicht sollen sein. Dafür hatten die Toten gesorgt. Wie für vieles andere auch.

Wyatt blickte auf die alte Obstkiste, die er zu einem Bettchen umfunktioniert hatte. Etwas darin rührte sich. Eine kleine Hand mit Fingern wie Cocktailwürstchen kam zum Vorschein, und Wyatt lächelte. Mable war sein Ein und Alles, und er wünschte sich eine Welt voller rauschender Flüsse und blühender Felder für sie als Spielwiese. Davon würden Daisy und er sich nicht abbringen lassen, in eine Stadt zu ziehen, käme für sie nie infrage.

Etwas landete mit einem Knall auf der Brücke. Wyatt stellte Daisys volle Tasse ab und eilte nach draußen. Es war eine tote Maus. Ein Rabe hatte sie abgeworfen und ließ auch nicht lange auf sich warten. Er hüpfte über die Holzbohlen und kreuzte die glänzenden schwarzen Flügel auf dem Rücken wie jemand, der sich verbeugt, um eine Frau zum Tanz aufzufordern. Dann machte er sich über seine Beute her. Er würgte ein Stück Fleisch hinunter, öffnete den Schnabel und gab diesen schrecklichen schnarrenden Laut von sich. Teuflisch. Wyatt wischte den Schnee von der Sitzfläche des Schaukelstuhls vor der Hütte, ließ sich darin nieder und setzte ihn mit der Fußspitze in Bewegung, während der Vogel ungestört weiter an der Maus pickte. Sie war ziemlich klein, das Fleisch hätte wahrscheinlich fast in einen Fingerhut gepasst, aber Wyatt fing trotzdem an zu zittern. Als der Rabe weiter rohe Fleischfetzen aus dem Kadaver zerrte, trat Wyatt mit dem Fuß auf und hielt den Stuhl an.

»Verdammt!«, rief er. »Nicht jetzt.«

Er umklammerte seine Kaffeetasse mit beiden Händen, um sie ruhig zu halten. Seine gräuliche Haut bildete einen starken Kontrast zu dem blendenden Weiß der langen Unterhose. Er verfluchte sich selbst, dass er so nach dem Fleisch gierte. Er zählte bis zehn und hoffte, dass es vorbeigehen würde. Doch es änderte nichts. Die Spucke lief ihm im Mund zusammen, und sein Magen knurrte laut, weil er sich nichts Besseres vorstellen konnte, als diese Maus und noch tausend andere kleine Kadaver zu verschlingen.

Er beugte sich vor und warf die Tasse nach dem Raben. Sie streifte seine Flügel und landete dann scheppernd auf der Brücke, wo sie weiterrollte und im Nebel verschwand. Und auch der Rabe verschwand mit seiner Beute. Wyatt wischte sich die Spucke aus dem Mundwinkel. Seine Hand zitterte. Durch den Biss für die Toten nicht mehr sichtbar zu sein, war ein Segen. Dass sie damit aber auch ihre Gier nach Fleisch übernommen hatten, ein Fluch.

Der Schlamm unter der Veranda blubberte und spritzte. Dann beruhigte sich alles wieder, und Wyatts Hunger ließ nach. Er umfasste die Armlehnen des Schaukelstuhls, um aufzustehen und die Tasse wieder zu holen, hielt dann jedoch inne.

Die Tasse kam von selbst zurückgeflogen. Sie tauchte aus dem Nebel auf, überschlug sich auf dem Verandaboden und knallte schließlich gegen die Hüttenwand.

Wyatt grinste schief. »Daisy, du zielst schlechter als ’n Besoffener vorm Pinkelpott.«

Auch wenn die Sonne nicht sehr grell war, legte er schützend eine Hand über die Augen und wartete darauf, dass Daisy mit den Eiern zum Vorschein kam. Doch sie kam nicht. Er rief nach ihr. Niemand antwortete. Plötzlich fiel ihm auf, dass die Sonne viel tiefer am Himmel stand als noch gerade eben. Es war früh am Morgen, aber so wahr er hier saß, die Sonne war dabei unterzugehen. Nicht langsam wie in echt, sondern wie in diesen alten Naturfilmen, wo es immer aussieht, als würde sie hinter einen endlosen Horizont fallen. Er ging bis vor die Brücke und blinzelte, um die letzte Schläfrigkeit loszuwerden. Die Sonne stand noch tiefer. Nur dass es gar nicht die Sonne war. Es war eine Lampe.

Wyatt stolperte vorwärts. »Was ist hier los?«

Der Dampf, der sich durch die Spalten im Holz schlängelte, ließ alles diffus erscheinen. Wer auch immer die Lampe hielt, blieb im Verborgenen.

»Hör auf mit den Spielchen, Süße, hörst du? Ich bin nicht in der Stimmung für so was.«

Es war zu dunstig, um irgendjemanden zu erkennen, aber was feststand, war, dass sich die Lampe gut drei Meter über dem Boden befand. Und sie schwang hin und her. Sie wurde nicht von einer Hand gehalten, sondern hing an einer Stange. Wyatt hastete zu der Winde der kleinen Brücke und versuchte mit beiden Händen, sie in Bewegung zu setzen. Er schaffte nicht mal eine Umdrehung. Kurz ließ er den vereisten Holzgriff los, weil seine Hände vor Kälte brannten, und versuchte es dann noch einmal. Es brachte nichts. Der Fremde auf der Brücke war zu schwer. Wyatt stützte die Hände auf den Knien ab, um zu verschnaufen, als sich etwas Dunkles in den aufsteigenden Schwaden abzeichnete.

Die Silhouette eines einsamen Reiters mit einem Geweih.

Der Fremde war dünn wie eine Bohnenstange und trug einen schwarzen Mantel, der in der Taille zusammengeschnürt war. Statt eines Gesichts war nur ein Hirschschädel zu sehen. Enthäutet und ohne Fell sah die Schnauze des Tiers wie ein gefährlicher Schnabel aus, mit Nüstern zum Atmen. Auch wenn die Augen des Fremden nicht zu erkennen waren, war Wyatt sich sicher, dass er aus den leeren Höhlen angestarrt wurde. Einen Moment war er wie festgenagelt, dann taumelte er ein paar Schritte rückwärts und tastete nach dem Holster. Fluchend fiel ihm auf, dass er seine Waffe drinnen gelassen hatte. Aber wichtig war vor allem, den Fremden glauben zu lassen, dass er allein war. Wyatt hielt die Augen auf ihn gerichtet, damit er nicht auf die Idee kam, dass noch jemand anderes hier draußen im Park war. Mit schierer Willenskraft versuchte er, Mable dazu zu bringen, ruhig zu bleiben.

»Guten Morgen, mein Freund«, eröffnete Wyatt das Gespräch. »Ich habe Ihren Kameraden doch schon gesagt, dass ich kein Interesse habe, in irgendeine Stadt zu ziehen, wenn Sie deswegen hier sind. Aber auf dem Herd steht Kaffee, und Sie können sich gerne am Feuer wärmen, wenn ich damit weiterhelfen kann.«

Unbeeindruckt von Wyatts nervöser Einladung ließ der Fremde die Lampe sinken und steckte den Stab, an dem sie hing, in einen Metallschaft an den Steigbügeln. Mit der anderen Hand legte er die Zügel über den Sattelknauf, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick zu senken.

Mit Fingern so lang wie Winterschatten griff er seitlich am Sattel nach einem Samtsäckchen. Er öffnete es, griff tief hinein und zog die Hand mit einer so geschmeidigen Bewegung wieder heraus, als wenn sich, was immer darin war, für ihn bereitgehalten hatte. Er streckte den Arm aus, und der Handschuh, in denen die Finger steckten, öffnete sich wie eine schwarze Blume.

Das rohe Stück Fleisch, ein Geschenk so rosa als wäre es eine Wolke im Abendrot. Und saftig. Wyatts Herz pochte wie verrückt in seiner Brust. Es war viel frischer als die Maus, doch er hatte einen Pakt mit Daisy geschlossen, dass er der Gier nicht nachgeben würde. Und sie auch nicht. Das taten nur Monster, und Wyatt würde seinen ganzen Willen zusammennehmen, um dem zu widerstehen, wenn nur nicht jeder Herzschlag so schmerzhaft wäre.

Er nahm das rosafarbene Stück, nickte zum Dank, und der Fremde zog seine Hand zurück. Als Wyatt das glitzernde Fleisch an seine Lippen führte, sah er plötzlich die Augen hinter den leeren Höhlen des Hirschschädels. Gleichzeitig beugte sich der Fremde vor.

Eine dünne Stimme, so zittrig wie ein Grashalm im Wind, drang aus dem Schädel. Sie sagte nur ein einziges Wort.

»Timberdark.«

Wyatt verstand nicht wirklich, was der Fremde gesagt hatte. Die Aussicht auf Fleisch verursachte ein Prickeln in seinem Mund. Selig biss er zu.

»Danke, Sir«, sagte er und wischte sich die Spucke mit dem Handrücken ab. »Danke.«

Doch der Fremde hatte keinen Sinn für solche Nettigkeiten und wiederholte nur einfach das Wort:

»Timberdark.«

Wyatt wurde bewusst, dass das Geschenk des Fremden einen Preis hatte, und blickte auf. »Ist das ein Ort, den Sie suchen?«

Die Augen in den leeren Höhlen blinzelten.

»Timberdark.«

»Ich hab’s gehört«, antwortete Wyatt und war plötzlich beunruhigt. »Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann, aber ich kenne diesen Ort nicht.«

Der Fremde starrte ihn länger an, als Wyatt lieb war. Und doch schien er zufrieden mit der Antwort. Wie ein Schatten glitt die Hand des Reiters über die Zügel, und er nahm sie auf, um wieder loszureiten. Wyatt winkte zum Abschied und wollte sich gerade zur Hütte umdrehen, als er das Blut bemerkte, das so dunkel wie Melasse auf die Brücke tropfte. Der Fremde ließ eine Hand sinken und spielte mit einer roten Haarsträhne zwischen den Fingern. Das Haar hatte er nicht aus irgendeinem Beutel gezogen, es gehörte zu einem Kopf.

Der Kopf hing am Sattel, und jetzt erkannte Wyatt auch die erstarrten Züge des wunderschönen Gesichts. Er erkannte die Sommersprossen der Frau, die sich so zart wie bei einem gesprenkelten Ei auf ihrer Wange verteilten. Er erkannte ihre Lippen. Aber es war nicht mehr seine Daisy. Die Augen, die ihn anstarrten, waren so tot wie die einer Puppe.

Ein gellender Schrei brach aus Wyatt heraus. Ein Klagen. Ein Heulen. Ein Laut, den kein Mann je sollte von sich geben müssen. Doch ihm blieb nicht einmal Zeit zu trauern. Er ließ das restliche Fleischstück fallen und stürmte nach seiner Tochter schreiend in die Hütte.

Er hörte die schweren Schritte des Fremden hinter sich. Panisch suchte er mit dem Blick die Hütte ab. Neben der Spüle lag ein Messer. Neben dem Kamin ein Schürhaken. Aus dem Schlafzimmer drang ein Glucksen. Wyatt stockte der Atem, aber es war zu spät. Hinter ihm wurde die Tür aufgestoßen und wieder zugeschlagen. Es war totenstill. Vor dem Fenster türmte sich der Schnee. Der Kamin strahlte Wärme aus. Dann nichts mehr.

1

Peter trat die Hüttentür auf. Er trat nicht wirklich, eherdrückte er mit dem Stiefel dagegen. Trotzdem dramatischer, als wenn er sie mit der Hand geöffnet hätte, und aus dem Türrahmen lösten sich sogar einige Holzsplitter. So etwas hätte er sich vor Kurzem niemals getraut. Aber im letzten Monat war so vieles anders geworden. Und jetzt stand er hier, und eine Pistole war auf ihn gerichtet mit einem zornigen Augenpaar dahinter, und das alles für eine gewagte Rettungsaktion.

Das Mädchen, bei dem sie eingedrungen waren, fixierte die Patrone und warf ihren Pferdeschwanz über die Schulter. »Noch ein Schritt, und es ist dein letzter.«

»Alles klar«, sagte Peter und hob die Hände. »Ich versprech’s. Wir wollen auch gar nichts Böses.«

Cooper betrat hinter ihm rückwärts die Hütte, ohne auch nur einen Moment den Blick vom Wald abzuwenden. Und sofort war Peter – wie so oft in den unpassendsten Momenten – wieder voller Stolz, dass dieser Kerl mit dem goldenen Haar und dem Stetson-Cowboyhut, dessen Innenseite nie dem Tageslicht ausgesetzt war, zu ihm gehörte. Er war sich sicher, dass dieses Mädchen eigentlich nur zu gern ihre Geschichte hören würde.

Cooper zog kurz den Hut. »Alles gut, Miss.«

»Nichts ist gut«, fauchte sie zurück.

»Wir wollen dir nichts. Nur sind im Wald Leute unterwegs, und wenn du vorhast, uns zu vertrauen, dann solltest du dich damit beeilen.«

Peter drehte sich zu Cooper um.

»Sie soll endlich auf dich hören und ihre Füße in die Hand nehmen.«

Peter schüttelte den Kopf, um sich für Coopers Ton zu entschuldigen. »Es tut mir leid, dass ich deine Tür eingetreten habe, aber …«

»Eingetreten würd ich das nicht nennen«, sagte das Mädchen mit skeptischer Miene.

»Ah.«

»Ein Stück aufgeschoben vielleicht.«

»Ja, aber …«

»Sie sitzt noch in ihren Angeln.«

»Ja, stimmt, trotzdem.«

»Wenn ihr es wagt, mir zu nahe zu kommen …«

»Darum geht’s uns nicht.«

»Darum geht’s immer.«

»Nein«, widersprach Peter. »Wir tun dir nichts.«

»Du nicht, das ist schon klar. Guck dich doch mal an.«

Peter versuchte noch einmal auf das Türeintreten zurückzukommen, doch das Mädchen ging nicht mehr darauf ein und betrachtete stattdessen seinen Umhang aus Wolfsfell.

»Findest du ihn nicht auch ziemlich cool?«, fragte Peter.

Das Mädchen sah ihn herablassend an. »Sieht aus wie ein Nachthemd.«

Cooper warf ihr einen warnenden Blick zu. »Jetzt hör auf mit dem Scheiß. Sie sind gleich hier.«

»Als wüsstest du hier Bescheid«, fauchte sie zurück.

»Immerhin weiß ich, dass zwei von denen gerade direkt durch den Wald auf dem Weg hierher sind.«

»Dann geht ihr jetzt wohl besser.«

Peter näherte sich ihr behutsam. »Bitte …«

»Sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Wir können dich an einen Ort bringen, von dem niemand weiß. Da kann dir niemand etwas tun.«

»Ich hab gesagt, ihr sollt gehen.«

»Aber wir sind hier, um dir zu helfen.«

Das Mädchen legte den Kopf schräg und starrte auf Peters Lippen, als wenn sie auf die Pointe warten würde. Als sie merkte, dass der Witz ausblieb, blitzten ihre Augen amüsiert auf, was Peter ziemlich unpassend vorkam.

»Nicht doch, Schätzchen«, sagte sie und stemmte eine Hand in die Hüfte.

»Ich mein’s ernst«, bekräftigte Peter.

Sie hob und senkte den Lauf der Pistole vor ihm. »Wie alt bist du, zehn oder so?«

Peter presste die Lippen aufeinander, ohne zu antworten.

»Nee warte. Zwölf.«

»Da ist was zwischen den Bäumen«, meldete Cooper. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Das Mädchen umfasste die Pistole fester. »Na gut, dreizehn.«

»Sechzehn«, sagte Peter. »Ich bin sechzehn.«

»Boah. Du verarschst mich.«

»Doch.«

»Das muss ich erst mal verarbeiten.«

»Ich war schon als Baby eher schmächtig.«

»Als Baby?«

»Es ist also ganz logisch, dass ich nicht so bin wie die Männer da draußen im Wald.«

»Keine Ahnung. Vielleicht. Oder auch nicht.«

»Nicht mal nach Thanksgiving komme ich auf mehr als siebzig Kilo«, redete Peter weiter. »Und ich würde nicht drauf wetten, dass ich irgendwas dazu beitragen könnte, wenn’s um Super Bowl oder Autos geht, oder um Football oder Brüste, oder um Football und Brüste. Dafür weiß ich, wer den letzten Oscar als beste Schauspielerin gekriegt hat, und ich könnte auch was über die Stickerei auf deiner Bluse sagen und wie sehr ich die Strasssteine mag, auch wenn sie nur mit der Heißklebepistole aufgeklebt sind. Aber unterbrich mich bitte, wenn du noch immer Zweifel daran hast, warum wir hier sind, sonst rede ich einfach weiter.«

Das Mädchen schüttelte so genervt den Kopf, dass man das Verschon mich damit, lieber Gott fast hörte, verkniff sich die Worte aber.

»Pete«, sagte Cooper leise hinter ihm. »Super Bowl ist Football.«

Das Mädchen hob eine Augenbraue. »Wie hast du eigentlich so lange überlebt?«

Peter zuckte mit den Schultern. »Ja, es ist ein Wunder, ich weiß.«

»Ich bin mir sicher, dein Herz ist so groß wie deine Kuscheltiersammlung, aber du hast keine Ahnung, wo ihr euch gerade reinreitet. Lasst mich einfach in Frieden und haut ab.«

»Warum?«

»Siehst du mich nicht?«

»Ja, doch, ich sehe dich.«

»Dann guckst du nicht richtig hin.«

»Nein?«

»Nein.«

»Ich meine«, fuhr Peter fort. »Ich sehe, wie blass du bist. Ich sehe deine Augen, die so dunkel sind, weil du bei den Toten warst und von da zurückgekehrt bist. Du bist eine Rückkehrerin, oder habe ich was übersehen?«

Das Mädchen blickte zum Fenster, vor dem leise der Schnee fiel. Draußen im Wald knackten müde die Espen, die im Winter spröde geworden waren. Ohne Blätter konnte der Wald die gedämpften Stimmen, die immer näher kamen, nicht schlucken.

»Sie sind jeden Moment da«, sagte Peter. »Du musst keine Angst haben.«

Das Mädchen grinste schief, als würde sie sich über die leeren Worte amüsieren.

Peter räusperte sich. »Siehst du den Kerl hinter mir?«

Das Mädchen linste fragend an ihm vorbei, und eine seltsame Ruhe machte sich auf ihrem Gesicht breit. Da wusste Peter, dass ihr endlich aufgefallen war, wie blass auch Cooper war.

»Siehst du den gut aussehenden Typ mit Haaren so gold wie ein Wasserfall bei Sonnenuntergang, weil er inzwischen zulässt, dass ich sie wasche?«

Cooper schnaubte. »Ich hab’s gar nicht zugelassen, Pete. Ich bin aufgewacht und hing mit dem Gesicht über der Bettkante, und da hab ich direkt in ’ne Wanne mit Wasser geguckt. Ich hatte keine Wahl.«

»Natürlich hattest du eine Wahl.«

»Ach ja? Dein Pa stand direkt vorm Bett und wäre sofort auf mich losgegangen, wenn ich auch nur versucht hätte abzuhauen.«

»Er übertreibt«, sagte Peter. »Aber das ist mein Cooper. Er ist genau wie du. Und ich liebe ihn.«

Schweigend schob das Mädchen die Schneidezähne über die Unterlippe.

»Ich liebe ihn über alles.«

»Uns kann man nicht trauen«, sagte das Mädchen. »Wir sind gefährlich.«

»Sagst du das oder die Männer, die auf dem Weg hierher sind?«

»Männer?« Sie lachte, und es klang irgendwie erleichtert. »Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.«

»Dann erzähl’s mir. Wir kennen die Gangs, die hier unterwegs sind.«

»Ist das so?«

»Ja. Ein Typ hat sich Cooper einfach geschnappt und als Schutzschild vor den Toten benutzt. Also, schieß los.«

»Die Harrisons.«

Peter schüttelte den Kopf. »Sorry. Wer?«

»Du glaubst wohl, hier draußen gibt’s nur Cowboys und Indianer, Süßer.«

»Tu ich nicht. Cooper wurde von unseren eigenen Leuten gegen Medikamente eingetauscht, als er zurückgekehrt ist. Naiv bin ich also nicht.«

Als sie das hörte, schwand die amüsierte Miene aus dem Gesicht des Mädchens. Die Worte hatten gesessen, und sie schien ihn zum ersten Mal ernst zu nehmen. Sie blickte aus dem Fenster, wo die Sonne wie ein Feuerball tief im Wald hing, als versuchte sie, in dem dunkler werdenden Himmel zu erkennen, was ihr bevorstand, und in dem Moment wusste Peter, dass er sie überzeugt hatte.

»Ray und Pat Harrison sind auf dem Weg hierher«, sagte sie. »Unsere nächsten Nachbarn. Ihre Hütte steht auf der anderen Seite da drüben.«

Peter stellte sich zu Cooper an die offene Tür und blickte durch den fallenden Schnee auf den gegenüberliegenden Hang. Erst sah er die Hütte zwischen den schneebedeckten Kiefern gar nicht. Aber dann fiel ihm der Rauch auf, der sich seinen Weg durch die Baumkronen bahnte, und er sah das Licht von den Fenstern im Wald schimmern.

»Daddy wartet da, und die beiden kommen her, um mich zu holen«, erklärte das Mädchen.

»Warum?«

»Weil er das Gleiche auch für sie getan hat, als ihr Junge Billy von den Toten zurückgekehrt ist. Damals wusste ich es nicht, ich hab gedacht, sie würden uns einfach auf eine Suppe und ein Kartenspiel besuchen. Dabei haben die Harrisons eigentlich nur hier gewartet, solange Daddy sich um den Jungen gekümmert hat.«

»Warum?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Weil sie einen Pakt geschlossen haben. Und weil niemand gern zugibt, dass er das eigene Kind umgebracht hat. Wahrscheinlich isst Dad gerade Suppe bei ihnen und spielt Karten. Nachdem er mich zum Geist gemacht hat.«

Peter wandte den Blick ab, als wollte er den Satz erst einmal sacken lassen, und Cooper verschwand fast unter seinem Hut.

»Die ganze Welt hat uns zu Geistern gemacht«, sagte er dann.

»Ja. Und ist das nicht das einzig Richtige?«

»Nein«, antwortete Cooper, »ist es nicht.«

»Aber ich könnte ihnen was antun.«

»Das würdest du nie.«

»Nicht?«

»Nein«, sagte Peter. »Würdest du nicht.«

»Wieso? Woher willst du das wissen?«

»Weil …«

Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Ja?«

»Weil …«

»Weil«, sagte das Mädchen und sah zu Cooper, »wenn du glaubst, dass ich anderen etwas antun könnte, dann müsstest du das auch von ihm denken?«

Peter ballte die Hände zu Fäusten, und ihm brannte der Hals beim Sprechen. »Du musst mir glauben«, begann er, »wenn ich dir sage, dass nicht weit von hier ein Ort ist, wo du sicher bist und niemand Angst vor dir hat. Wir haben zwei Pferde und ein extra Zelt für den Weg dorthin, aber wir müssen uns beeilen.«

Das Mädchen blickte auf ihre Pistole, sagte jedoch kein Wort.

Peter streckte ihr die Hand entgegen. »Bitte. Ich bin Peter, und das ist mein Freund Cooper.«

»Bist du bei euch immer der, der redet, und er schmollt solange?«

»Nicht immer«, ging Cooper dazwischen, bevor Peter antworten konnte. »Ich hab ihn als Erster nach ’nem Date gefragt. Dafür hab ich sogar die Wildreste aus dem Kanu gespült und ’ne frische Unterhose angezogen und alles.«

Peter lächelte. »Einigermaßen frisch zumindest. Aber ja, das stimmt.«

»Ich hab ihm auch als Erster gesagt, dass ich ihn liebe.«

»Ja, darin muss ich noch besser werden.«

Das Mädchen musterte sie beide und schien sich ihre Meinung gebildet zu haben. »Glaubt ja nicht, dass ich mit euch mitkomme. Das mach ich sicher nicht. Ich hab da drüben nämlich noch was mit meinem Vater zu klären. Aber seht ihr mal zu, dass ihr loskommt.«

Peter gefiel es gar nicht, sie hier zurückzulassen. Die eineinhalb Dutzend Kerben in Snowballs Sattel zeigten, wie erfolgreich ihre Mission bislang gewesen war, so vielen Rückkehrern wie möglich Schutz zu bieten. Doch Cooper nickte zögernd, und immerhin wirkte das Mädchen so, als wäre sie ganz gut in der Lage, auf sich selbst aufzupassen.

Peter nickte, als plötzlich etwas Schweres auf das Hüttendach krachte. Schritte waren zu hören, und eine Ladung Schnee rauschte durch den Schornstein und erstickte die letzten Funken Glut.

»Der Schornstein!«, schimpfte das Mädchen. »Wir kriegen das Feuer nicht schnell genug wieder an, um ihnen den Weg dadurch zu versperren.«

Cooper schloss die Tür, und Peter suchte mit dem Blick die Decke ab. Von dort war nichts mehr zu hören. Wer auch immer da oben war, überlegte offenbar, was er als Nächstes tun sollte. Dann klopfte jemand an der Tür.

»Schätzchen?«, hörte man eine Frauenstimme von draußen. »Ich bin’s nur. Pat. Ich war zum Jagen in der Gegend und wollte fragen, ob du nicht Zeit für ’n Drink hast.«

Peter streckte gerade die Hand aus, um dem Mädchen zu verstehen zu geben, dass es sich still verhalten soll, als es noch einmal klopfte. Dann hörte man einen einzigen Schritt auf dem Dach, und eine Gestalt rauschte vor dem Fenster herunter. Cooper bewegte sich langsam rückwärts und zielte mit dem Gewehr auf die Tür. Aber noch ehe er schießen konnte, hatte es schon jemand anderes getan.

Peter duckte sich. Eine Kugel flog durch die Luft und durchschlug die Fensterscheibe. Allerdings kam sie nicht von draußen. Die Glassplitter wurden in den Wald gesprengt, und Peter blickte auf.

»Ich bin Betty Bridges«, sagte das Mädchen und blies den Rauch vom Lauf der Pistole. »Ist das alles, was ihr Jungs auf Lager habt?« Dann warf sie sich auf den Boden.

Peter nahm die Holzkiste vom Rücken, die er die ganze Zeit getragen hatte. Schnell stieg er über den daran befestigten Draht, den er durch den Wald bis in die Hütte gezogen hatte, und ging auf alle viere. Cooper klemmte einen Stuhl unter die Türklinke, um sie zu fixieren, und kauerte sich auch hin.

»Tut mir leid, wenn ich stinke, Miss«, sagte er und sah sie durch seine Lockenmähne hindurch an, »aber mein Lover und ich sind schon über drei Wochen unterwegs.«

Peter musste lächeln. Von Cooper »mein Lover« genannt zu werden, ging ihm runter wie Öl. Jedes Mal wieder. Betty robbte dichter zu ihnen. Peter wartete, bis sie alle drei flach auf dem Boden lagen, ehe er die Hand nach dem Knopf am Ende des Drahts ausstreckte. Kurz schaute er zu Cooper, der ihn ebenfalls ansah. Wie schon am Morgen am wärmenden Feuer draußen auf der Hochebene sagten seine Augen Ich liebe dich. Sie waren unterwegs gut miteinander zurechtgekommen. Sehr gut sogar. Ein gutes Team. Ohne Worte sagte Peter ihm das Gleiche zurück, und dann drückte er auf den Knopf.

»Jetzt müssen wir uns wohl verabschieden«, sagte Betty. »Nur eins noch kurz, was ist das für ein Ort, von dem ihr die ganze Zeit redet?«

Der Wald explodierte.

Die Hütte bebte.

Peter hob den Kopf und spuckte Kiefernnadeln. »Wranglestone!«, sagte er lächelnd.

2

Sie ritten in die Nacht. Peter legte die Hand über die Augenund blickte in die rote Sonne, die über der Ebene unterging. Der Schnee zu ihren Füßen leuchtete pink, und einen Moment lang sah es aus, als würden nicht nur die Wolken und Coopers goldenes Haar, sondern auch die Erde selbst Feuer fangen. Langsam verschwand die Sonne hinter der weißen Ebene, und der Horizont flammte auf wie brennendes Papier. Peter beugte sich zu Cooper vor und spürte mit jedem Atemzug, wie auch er den Moment genoss. Doch das Schauspiel dauerte nur kurz. Der glühende Himmel löste sich in der Dunkelheit auf, und selbst die Sterne schienen sich weiter zu entfernen. Dennoch blieb es hell genug, um weiterzureiten.

Der Schnee schimmerte bläulich im Mondlicht, und als ihr Weg sie von der offenen Ebene in einen dichten Kiefernwald führte, erhellte der Schnee die Bäume von unten, fast als wäre es Tag. In den Sommermonaten, wenn die Nächte so dunkel waren, dass man den Boden seines Bechers nicht sehen konnte, außer man hielt ihn direkt in Richtung eines Feuers, war es nur schwer vorstellbar, dass der Rest der Welt nicht auch tief und fest schlief. Aber dann gab es diese andere Welt, die man nur im Winter erleben konnte. Der Schnee verriet, wer sich wo aufhielt, während sie immer tiefer in den Wald eindrangen. Die Härchen auf Peters Unterarmen stellten sich auf, weil sich etwas in ihrer Nähe bewegt hatte.

Elchgeweihe warfen mitternächtliche Schatten auf den weißen Untergrund. Hirsche waren hier unterwegs. Auf den Ästen lauerten Luchse. Snowball trabte unter einem Baum hindurch, und ein gefiedertes Tier, die Krallen fest in einem knorrigen Ast verankert, drehte den Kopf, der vorn so platt wie ein Baumstumpf war, und blickte ihnen nach. Und als sie später den Wald verließen und Peter die Arme um Coopers Taille schlang, kamen auch die Toten zwischen den Kiefern hervor und starrten sie an. Spindeldürr und schwarz hoben sie sich vor den weiß leuchtenden Bäumen ab. Aber sie kamen ihnen nicht hinterher. Das taten sie nie. Durch ihren Biss, den Cooper überlebt hatte, war er zu einem von ihnen geworden und damit für sie unsichtbar. Und der süßliche Geruch nach Holzfeuer und Schweiß auf Peters Haut, eine Folge von eng umschlungen verbrachten Nächten, markierte ihn als zu Cooper gehörig, womit auch er sicher war. Peter küsste Cooper auf den Nacken, und langsam verschwand die Nacht mit all ihren Kreaturen.

Sie bewegten sich gen Norden, ins Hinterland. Sofort nach Riders Tod hatte Cooper darauf bestanden herzukommen, solange die Kälte für Snowball noch irgendwie erträglich war. Cooper hatte Rider nur sehr kurz gekannt. Dann waren ihre eigenen Leute auf ihn losgegangen, weil sie geglaubt hatten, die Monster, deren Biss Rider und Cooper überlebt hatten, würden jetzt in den beiden wohnen. Als sie schließlich erkannten, dass sie denjenigen töteten, der sie hätte retten können, war es schon zu spät gewesen. Doch an diesem einzigen Abend, den sie vor Riders Tod miteinander verbrachten, hatten Cooper und er eine Verbindung aufgebaut. Und seitdem hatte Cooper sich zum Ziel gesetzt, Wranglestone wieder zu dem zu machen, was Rider und seine Freunde einst gegründet hatten: einen Ort, an dem die Rückkehrer leben konnten, weit entfernt von der Welt, die in ihnen eine Gefahr sah. Peters Dad hatte sie angefleht zu warten, bis zum Ende des Winters zu warten, aber Cooper war der Meinung, dass es ihnen nicht zustand, es sich vor irgendeinem Feuer gemütlich zu machen, solange Rückkehrer dort draußen ihre Hilfe brauchten. Allerdings harrte dort niemand mehr in der Kälte aus. In den letzten Tagen war jede eingeschneite Hütte, an der sie vorbeigekommen waren, und jeder Wohnwagen, der noch irgendwie den Elementen standhielt, verlassen gewesen. Das schien Cooper jedoch egal zu sein. Er versprach zwar, dass es die letzte Suche für diese Saison sein würde. Aber Peter wusste, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis es Cooper wieder in den Fingern kribbelte, weil er die Wölfe heulen und die Berge rufen hörte, und er unbedingt wieder losziehen wollte.

Nach drei ereignislosen Tagen veränderte sich die Landschaft plötzlich. Der Schnee bildete Spitzen wie glänzende Stalagmiten aus Zuckerguss. Darunter waren Bäume verborgen. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man glauben können, ein Kind wäre rausgegangen, um einen Schneemann zu bauen, und hätte stattdessen ein Feld aus riesigen Drachenschuppen erschaffen. Vorsichtig führte Peter Snowball durch das Labyrinth aus gefrorenen Ästen und Zapfen, dabei gab es keine scharfen Kanten oder Spitzen, die ihre Haut hätten zerkratzen können. Denn durch die kalte trockene Luft war alles mit einer glitzernden Schneekruste umschlossen. Das Einzige, was sich bewegte, war der aufsteigende Nebel. Und Bisons, die versuchten, durch die Frostschicht hindurch an die Vegetation zu gelangen. Mit ihren gefrorenen Pelzen sahen sie wie Geister aus. Der Nebel schien sie nicht zu stören, dabei war er wirklich eigenartig. Er durchzog die Luft nicht einfach, wie gewöhnlich, sondern waberte in wilden Spiralen, was die Umrisse der Bisons wie Spiegelungen im Wasser erscheinen ließ.

Snowball wieherte, und drei Gestalten tauchten vor ihnen auf.

»Hallo?«, rief Peter und beugte sich über den Sattelknauf. »Wer seid ihr?«

Die Gestalten antworteten nicht.

Peter griff nach den Zügeln, damit Snowball nicht durchgehen konnte. »Sie reden nicht«, stellte er fest.

»Nö, aber sie kommen auch nicht näher«, antwortete Cooper.

»Sieht so aus.« Doch das beruhigte Peter nicht. Er saß jetzt vorne, ohne sich hinter Cooper verstecken zu können. Plötzlich bekam er Angst, dass der Geruch seines Freundes ihn vielleicht nicht gut genug schützte. Er drückte die Oberschenkel in die Seiten des Pferds, damit es sich wieder in Bewegung setzte. Snowball schnaubte, ohne sich zu rühren, bis Cooper ihm klar machte, dass Peter Familie war, und er jetzt auch auf ihn hören musste.

Nach wenigen Schritten hielten sie wieder an. Die Gestalten blieben reglos und schwiegen weiter. Eine von ihnen hatte einen verkümmerten Arm. Er stand in einem seltsamen Winkel ab, und knochige Finger wuchsen daraus. Auf ihrer Schulter hockte eine blinzelnde Krähe. Peter wollte die drei gerade noch einmal ansprechen, als Snowball von alleine lostrabte und die Krähe im Nebel verschwand.

Peter seufzte, da erkannte er es auch. Die drei Bäume waren tot. Die Nadeln längst verrottet, bestanden sie nur noch aus kahlen schwarzen Ästen. Erst jetzt spürte er die Hitze von unten. Er zog einen Handschuh aus und streckte den Arm nach vorn. Was da aus dem Boden aufstieg, war kein Nebel, sondern Dampf. Er nahm die Kapuze ab, und die Erde unter ihnen grummelte wie entferntes Donnern.

»Ich glaub, wir sind schon in Yellowstone«, sagte Cooper und schob sich den Hut aus dem Gesicht. »Was da unter uns rumort, ist ein Vulkan.«

Peter griff wieder nach den Zügeln. »Dann sind wir zu weit. Wir sollten umkehren.«

»Wir müssen echt vorsichtig sein«, sagte Cooper, ohne darauf einzugehen. »Die Erdkruste ist hier manchmal so dünn wie Schorf aufm Knie.«

»Das gefällt mir gar nicht, Cooper. Wir sollten wirklich weg von hier. Das fühlt sich nach Tod an.«

»Nee, überhaupt nicht. Pa hat immer gesagt, Yellowstone ist einer von wenigen Orten, wo der Planet sich nicht verstecken kann. Von außen wirkt alles total ruhig mit den ganzen Flüssen und den Jahreszeiten, die sich immer wiederholen, doch direkt unter der Oberfläche lodert ein gefährliches Feuer.« Cooper umschlang Peters Taille fester. Wie so oft, wenn er spürte, wie verschwindend klein er auf diesem Planeten war, wurde ihm fast schwindelig. Das Land hier draußen konnte einem leicht dieses Gefühl geben. Gerade noch schlägt man sich durch dichten Wald, und im nächsten Moment tun sich unglaubliche Weiten oder Tiefen auf, die einem mal kurz die atemberaubenden Dimensionen dieses Planeten vor Augen führen.

Cooper sprang vom Pferd und warf Hut und Jacke auf den Boden. Dann knotete er den Overall an den Hüften zusammen und spürte auch schon den Dampf auf dem nackten Oberkörper, am Rücken und an den Armen. Er bewegte die Hände, damit die warmen Dämpfe seine Finger von allen Seiten erreichten. Als er sich umdrehte, sah Peter sein dunkles Achselhaar.

»Siehst du, Pete«, sagte er und legte den Kopf so weit in den Nacken, dass sein Adamsapfel heraustrat, »die Erde ist nicht anders als wir. Sie lebt und atmet mit ’nem gigantischen Feuer in sich drin, das sie nicht wirklich kontrollieren kann.«

Snowball schnaubte, und Peter musste lächeln. Sie sollten wirklich ans Umkehren denken. Bis zurück zum See würden sie mindestens fünf Tage brauchen, wenn es nicht noch mehr schneite, und außerdem fühlten sich die Neulinge auf den Inseln vielleicht nicht willkommen, wenn sie keine Zeit mit ihnen verbrachten. Aber Cooper war nur hier draußen wirklich lebendig. Als könnte er hier, befreit von der Enge, endlich frei atmen.

Peter legte die Zügel auf den Sattelknauf. Er betrachtete die blonden Stoppeln, die auf Coopers Wangen sprossen, nachdem sie schon so lange unterwegs waren, und die nassen Haarsträhnen, die ihm im Gesicht klebten. In den letzten Wochen hatte er erfahren, wie viel mehr es doch zu entdecken gab. Während sie Neuland erschlossen, hatte Peter auch begonnen, im Kopf eine Karte von Coopers Körper zu zeichnen, den er immer weiter erkundete. Die durch den Biss der Toten ausgelösten Veränderungen ließen ihn nur noch stärker wirken. Die Blässe seiner Haut hob den dunklen Haarwuchs über seinem Gürtel schön hervor. Der Schleier auf seinen Augen machte sie nur noch verführerischer. Peters Herz klopfte. Wenn er Cooper beobachtete, löste das einiges in ihm aus, das stand fest, mindestens genauso rührte ihn aber, dass sein Freund es zuließ. Cooper erlaubte ihm mitzuerleben, wie er – ein Junge, ein Mann, ein Tier – mit seinem Körper umging. Niemand sonst bekam ihn so zu sehen. Der gemeinsame Moment war so vollkommen, dass er, als irgendetwas in ihm beschloss, ihn zu durchbrechen, genauso überrascht war wie Cooper.

»Was machen wir eigentlich hier draußen?«

Cooper ließ die Arme sinken. »Kannst du nicht mehr?«

»Nein.«

»Wir können ja ’ne Pause machen, wenn du willst.«

»Nein, das ist es nicht.«

»Brauchst du ’nen Kuss?«

»Ich mein’s ernst«, sagte Peter. »Abgesehen von Betty sind wir seit Tagen keinem Rückkehrer und auch sonst niemandem begegnet.«

Cooper kratzte sich unterhalb seines Bauchnabels. Er sagte nichts, aber es war nicht zu übersehen, dass er genervt war.

»Und zu essen haben wir auch nichts mehr.«

»Wir haben noch jede Menge.«

»Außerdem wird’s immer kälter.«

»Noch was?«

»Ja. Am See warten Leute, die uns brauchen, und wir sind nicht da.«

Cooper hockte sich hin, nahm eine Handvoll Schnee und wusch sich damit unter den Achseln. Dann ging er sich durchs Gesicht, und mit dem Rest wischte er sich über den flachen Bauch, während er darauf wartete, was noch von Peter kam. Dessen Brust hob und senkte sich schnell, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und für einen Moment hasste er Cooper. Er hasste ihn dafür, dass er ihn so gut kannte. Dass er so lässig mit hängenden Armen dastand und der ganzen Welt zeigte, wie schön er war. Dass er so geduldig wartete, bis er endlich damit rausrückte, was ihn wirklich beschäftigte.

Peter holte tief Luft. »Bleibst du dann am See, wenn wir zurück sind? Den ganzen Winter? Ohne mich allein zu lassen, meine ich?«

Cooper verzog das Gesicht, wie jemand, den die Sonne blendet. »Hä? Wieso nicht?«

»Machst du’s?«

»Klar. Wie kommst du darauf, dass ich dich allein lassen würde?«

»Weil du nicht zurück willst.«

»Das stimmt nicht.«

»Du willst hier draußen bleiben. Auch wenn wir mit dem Suchen fertig sind.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich will nur noch ’n bisschen die Gegend erkunden.«

»Du hast doch schon so viel Zeit hier draußen verbracht. Vor uns, meine ich.«

»Nein, nie. Nicht so weit weg.«

»Das hab ich immer fest geglaubt.«

»Nee, war aber nicht so.«

»Hm, und warum nicht?«

»Wegen dir.«

Peter blickte überrascht auf. Für Cooper schien es das Normalste der Welt zu sein.

»Aber wir sind doch erst seit Kurzem zusammen.«

»Das ist doch egal«, antwortete Cooper und vergrub die Hände in den Taschen seines Overalls. »Ich konnte nie so weit weg sein vom See, auch bevor wir zusammen waren nicht. Gewollt hätt ich sehr wohl, so war’s nicht. Von Yellowstone wusste ich schon, als ich noch ganz klein war, und ich hab immer davon geträumt zu sehen, wie die Welt atmet. Auch wenn wir noch nicht zusammen waren, hat es mich deinetwegen jedes Mal an den See zurückgezogen, weil ein Stück von meinem Herzen schon dir gehört hat, solange ich denken kann. Darum konnte ich immer nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und dann hat es angefangen wehzutun.«

»Das hab ich nicht gewusst.«

»Jetzt weißt du’s.«

»Ich dachte immer, hier draußen bist du glücklicher.«

»Bin ich auch«, sagte Cooper.

»Ja?«

»Aber nur, weil du mit mir hier bist.«

Wie so oft, wenn Cooper sicherstellen wollte, dass seine offenen Worte nicht unbemerkt blieben, suchte er mit seinen dunklen Augen Peters Blick. Peter räusperte sich und spürte plötzlich eine Leichtigkeit, die ihm neu war.

»Und wenn ich mit dir am See bin«, redete Cooper weiter, »und wir da eingeschneit sind und es nicht viel anderes zu tun gibt, als dich zu küssen und den ganzen Winter Decken zu häkeln, dann bin ich genauso glücklich. Okay?«

Peter nickte.

»Okay?«, wiederholte Cooper.

»Ja. Ist okay.«

»Dann leidest du jetzt nicht mehr?«

»Nein.«

»Gut, das wäre geregelt.«

Cooper nickte jetzt auch, wie um einen Punkt unter die Sache zu setzen, und fuhr mit den Armen wieder in die Ärmel seines Overalls. »Manchmal tust du echt so, als gäb’s bei mir nichts, wo ich auch unsicher bin.«

Peter errötete. Es war ihm peinlich, so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen zu sein, dass er gar nicht daran gedacht hatte, wie es Cooper wohl erging. Der hob seinen Hut vom Boden auf und hielt ihn dann mit gesenktem Kopf vor sich wie auf einer Beerdigung.

»Ist doch alles gut bei uns, oder?«, murmelte er. »Bei uns ist alles okay oder etwa nicht?«

»Ja«, antwortete Peter und schob dann schnell hinterher. »Natürlich. Tut mir leid, dass ich da falsch gedacht habe.«

»Pete.«

»Was?«

»Hast du keine Angst, dass ich gefährlich sein könnte? Nach dem, was das Mädchen gesagt hat? Oder nachdem du erlebt hast, wie Rider auf rohes Fleisch reagiert hat?«

Peter schüttelte den Kopf. »Nein. Ehrlich nicht.«

»Hast du keine Angst, dass ich dir irgendwann was antun könnte?«

»Hast du bis jetzt ja auch nicht.«

»Aber ich wäre dazu fähig. Ich wäre zu allem Möglichen fähig.«

»Was meinst du mit allem Möglichen?«

»Weiß ich auch nicht.«

»Ist sonst noch was passiert?«

Cooper zuckte mit den Schultern.

»Ja?« Peter spürte einen Kloß im Hals. »Hat sich noch was anderes verändert, seit du gebissen worden bist?«

»Nee, eigentlich nicht.«

»Eigentlich?«

»Dann eben: Nein, nichts.«

»Das wollte ich hören.«

»Na ja, ich streune gern rum, einfach so, ohne Ziel. Wie die Toten.«

»Das hast du vorher auch schon gemacht.«

»Stimmt.«

»Eben.«

»Und ich glaube, ich kann jetzt besser im Dunkeln sehen, Pete.«

»Ach ja?«

Cooper nickte kaum sichtbar, als würde er etwas von sich preisgeben, ohne sicher zu sein, wie es ankäme. Er fummelte an seiner Hutkrempe und drehte dann den Kopf zur Seite.

»Du bist eine richtige Nachteule«, stellte Peter fest. »Schneeeulen haben ja orangefarbene Augen, weil sie in der Abenddämmerung jagen, aber Schleiereulen haben schwarze, weil sie nachts unterwegs sind.«

Cooper blickte auf. »Ja«, sagte er lächelnd. »Genau. Und vielleicht nicht mal zum Jagen, sondern nur zum Sehen. Um dich zu sehen, wenn du nachts in meinen Armen liegst. Damit ich sicher bin, dass du da bist.«

»Ja«, sagte Peter. »Nur zum Sehen.«

»Du sollst keine Angst vor mir haben, Pete.«

»Hab ich ja auch nicht.«

»Nie?«

»Nein«, erwiderte Peter. »Und das werde ich auch nie. Niemals.«

Die Sonne schien durch den Nebel hindurch, und in einem Schneefeld wurde ein kleiner schwarzer Wasserlauf sichtbar. Dahinter erhoben sich trichterförmige Felsen, die nach oben hin offen waren wie Schornsteine. Sie stießen Dampf aus und spuckten Wasser wie ein überkochender Kessel. Die Bisons, die vor den Felsen grasten, konnten kaum die Köpfe heben, weil dicke Eiszapfen in ihrem Fell hingen. Doch die Tiere reagierten auf das Glitzern des fließenden Wassers und bewegten sich, in der Hoffnung auf etwas Wärme in Richtung der Sonne.

»Mir macht es fast Angst, wie sehr ich dich liebe«, sagte Peter nach einer Weile.

Cooper nickte, als wäre Angst das Maß für alles.

»Peter?«, begann er dann.

»Was ist?«

»Nichts, ich wollte nur mal wieder deinen Namen hören.«

Lächelnd beobachtete Peter, wie Cooper seinen Hut wieder aufsetzte – mit der Krempe zuerst, um die Augen vor der Sonne zu schützen. Und in dem Moment liebte er ihn noch ein bisschen mehr, weil Cooper ihm zeigte, dass er, Peter, nicht der Einzige war, der sich um sie Sorgen machte. Aus irgendeinem Grund fand er es beruhigend, Cooper so beunruhigt zu sehen. Natürlich wollte er nicht, dass sich Cooper seinetwegen Sorgen machte. Niemals. Aber das brauchte er ja nicht zu wissen.

»Glaubst du, dass uns je der Gesprächsstoff ausgeht?«, fragte Peter, nachdem sie beide länger geschwiegen hatten.

Cooper schob die Krempe seines Huts mit dem Zeigefinger hoch, damit seine erhobene Augenbraue zu sehen war, und zum ersten Mal erkannte Peter etwas von Bud in ihm. »Gibt’s bei dir überhaupt mal einen Moment, in dem du nicht über irgendwas nachdenkst?« Peter lächelte. »Komm mal her.« Dann schwang er das Bein über den Sattel und stieg endlich auch von Snowball ab. Cooper kam auf ihn zu, und schon sein Blick verriet, dass sie sich gleich küssen würden. Im nächsten Moment hatte er schon eine Hand in Peters Haar geschoben, und ihre Lippen berührten sich.

Sie schlugen, wo sie waren, ihr Lager auf. Cooper baute aus vier Stöcken, die er schräg in den Schnee rammte, einen A-förmigen Rahmen, über den er eine Plane warf, sodass daraus ein Zelt wurde. Schnell schob er erst die Decken und dann Peter hinein. Sie küssten sich lange, und plötzlich waren alle Unsicherheiten wie weggewischt. In Coopers Armen lauschte Peter dem Rascheln der Plane im Wind, und alles war nur noch halb so schlimm.

»Wahrscheinlich hätten wir uns einfach nur eher so dicht aneinanderkuscheln müssen, dass kein Zahnstocher mehr zwischen uns passt«, sagte Cooper.

»Ich weiß«, antwortete Peter. »Nächstes Mal warten wir nicht so lange.«

»Das ist echt wichtig. Wenn wir zusammenhalten, können wir alles schaffen.«

»Ich liebe dich«, sagte Peter.

Cooper drückte zärtlich die Lippen auf seine Stirn. »So sehr, dass ich die Küsse einfach nicht drin behalten kann.«

Peter schob die Hand in Coopers und lauschte dem unaufhörlichen Rumoren der Erde unter ihnen.

»Sie atmet«, flüsterte Cooper. »Ich kann hören, wie die Erde atmet.«

»Ich auch«, sagte Peter. »Warum bleiben wir nicht über Nacht, und wenn es morgen früh wieder hell wird, machen wir uns auf den Rückweg.«

»Sicher?«

»Ja, schon.«

»Ich will, dass es am See gut läuft«, sagte Cooper. »Ich will den Rückkehrern ein Zuhause geben.«

»Ich auch.«

Doch während Peter die Worte aussprach, musste er an die Stadt denken. Die Stadt, von der Tokala erzählt hatte und die nur ungefähr dreißig Meilen westlich vom See lag. Dort war es anscheinend gelungen, dass die Leute harmonisch mit den Rückkehrern zusammenlebten. Und er malte sich aus, wie es wäre unter all den hübschen Lichtern und mit dem Leben in Apartments mit Einbauküchen.

»Ich will, dass wir am See glücklich werden, Pete.«

Peter nickte geistesabwesend.

»Für den Sommer lackier ich das Kanu von meinem Pa neu. Damit es unseres wird.«

»Ach ja?«

»Ja.«

»Welche Farbe?«, hakte Peter nach.

»Leuchtend rot. So rot wie die Stellen, wo der Sattel scheuert.«

Die Bisons raunzten zufrieden, weil sie zwischen dem ganzen Schnee eine neue Stelle mit Gras gefunden hatten.

Nach einer Weile begann Cooper wieder: »Wir werden glücklich sein am See. Stimmt’s?«

»Ja«, sagte Peter und verdrängte alle Gedanken an die Stadt. »Für immer.«

3

Peter war sich sicher, dass er nachts, als die Zeltplane im Windzitterte, etwas gurgeln gehört hatte. Am Morgen waren die Bisons nicht mehr da und der Dampf wie weggeblasen. Jetzt sahen sie auch, wo sie sich befanden: auf einer Klippe oberhalb von einem sumpfigen Becken.