Tinos Reise - Marlies Fösges - E-Book

Tinos Reise E-Book

Marlies Fösges

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Beschreibung

Tino aus dem Gnomendorf Putkin wird vom Weisen Rat zur Verwandtschaft in die große Stadt geschickt: Er hat einen bedeutsamen Auftrag zu erfüllen! Unterwegs begegnet er zahlreichen wundersamen Wesen, die ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen und oft eine völlig neue Welt eröffnen. Er stellt sich allen Herausforderungen, findet seinen Weg – und sogar die große Liebe. Doch erst, als er alles verloren hat, was ihm wichtig war, besinnt er sich endlich auf seine innere Weisheit und erkennt, dass jede Begegnung und jede Krise ihn haben wachsen und reifen lassen – und dass der Sinn seiner Reise ein ganz anderer war, als er die ganze Zeit geglaubt hatte … Ei-ne fantastisch anmutende Geschichte über das Leben und seine grundlegenden Fragen – voller Poesie und Weisheit …

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Seitenzahl: 181

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Die Handlung und die handelnden Personen dieses Buches sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Dieses Buch enthält Verweise zu Webseiten, auf deren Inhalte der Verlag keinen Einfluss hat. Für diese Inhalte wird seitens des Verlags keine Gewähr übernommen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich.

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8434-6233-4

© 2015 Schirner Verlag, Darmstadt

1. E-Book-Auflage 2015

Umschlaggestaltung: Murat Karaçay, Schirner, unter Verwendung der Motive # 184989614 (Melpomene) und # 87912448 (PhotoGraphyca), www.shutterstock.de

Zitat auf Seite 4: Martin Buber, Die Legende des Baalschem, © 1955 Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Redaktion: Heike Wietelmann, Schirner

E-Book-Erstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

MARLIES FÖSGES

TINOS REISE

Inhalt

TEIL I

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

TEIL II

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

TEIL III

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

TEIL IV

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Widmung

Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.

Martin Buber

TEIL I

1.

Einen halben Tag lang waren sie durch den Putkinschen Wald gewandert, und nun standen sie am Ufer des Flusses, der die Grenze zum Nachbarreich bildete.

Tino starrte erschrocken auf das rasch dahinfließende, bräunliche Wasser und grub seine nackten Zehen in den feuchten Ufersand, während Bellina, seine schneeweiße Hündin, mit gesträubtem Fell die Wellen anbellte. Seit sie aus dem Schutz des Waldes herausgetreten waren, wurden sie von einem kräftigen Frühlingswind durchgepustet.

Tino schaute sich um. Erstes zartes Grün schmückte die Haselnusssträucher am Ufer, ihre Blütenkätzchen berührten beinah die Wasseroberfläche. Schneeglöckchen, die büschelweise unter den Sträuchern wuchsen, und sternförmige blaue Anemonenblüten streckten sich der Sonne entgegen. Bis hierhin hätte es einfach ein schöner Ausflug sein können.

Aber Tino war unruhig, seine Gedanken sorgenvoll, und er wurde von verwirrenden Gefühlen überschwemmt. Natürlich war er stolz, dass der Weise Rat ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Doch war es eine Sache, zuhause im Gnomendorf Putkin inmitten seiner Freunde vom großen Abenteuer zu träumen, und eine völlig andere, ganz auf sich gestellt in der Fremde unterwegs zu sein.

Deshalb hatte er darauf bestanden, Bellina mitzunehmen. Obwohl sie sich nur durch Bellen, Kläffen, Jaulen, Knurren, Fiepen, Schwanzwedeln und beredte Blicke mitteilen konnte, liebte er es, mit ihr zu reden. Seine eigene Stimme zu hören, machte ihn mutiger und irgendwie zuversichtlicher.

Die erste Herausforderung, so hatte der Weise Rat es ihm mitgeteilt, bestand darin, den Fluss zu überqueren. Aber wie? Die starke Strömung machte es unmöglich, hinüberzuschwimmen oder auf einem Blätterfloß überzusetzen, und eine Brücke konnte er nirgends entdecken.

Ratlos strich Tino sich über sein bartloses Kinn. Er drehte sich um die eigene Achse, schaute in alle Richtungen, und wie zufällig geriet ein gelb-schwarz gestreiftes Hummel-Taxi in sein Blickfeld. Er hopste auf und ab und ruderte mit den Armen – und tatsächlich: Die Hummel drehte ab und landete neben ihnen im Sand. Sie saßen auf, und brummelnd setzte sich die Hummel wieder in Bewegung.

Oh, die endlosen Unterrichtsstunden, in denen ihm Erlebnisfilme voller Bilder, Töne und Gerüche gezeigt worden waren, hatten Tino nicht darauf vorbereitet, wie groß und beinah unheimlich die Welt außerhalb seines Dorfes wirklich war. Die Bäume wuchsen so hoch, der Himmel war so weit über ihm, dass er sich ganz verloren vorkam und Bellina fest an sich drückte. Nur der Fluss wirkte von hier oben wie ein schmaler Waldbach. Wie seltsam das alles war.

Kaum waren sie vom Rücken der Hummel hinuntergerutscht und losgegangen, blieb Bellina in der Schleimspur einer Schnecke kleben und jaulte mitleiderregend. Tino zerrte an ihren Beinen und schaufelte schließlich Erde auf den Schleim, bis sie endlich freikam. Erschöpft, stumm und mit hängenden Köpfen folgten sie einem schmalen Pfad, der in eine Wiese mündete.

Gnome besitzen die Gabe, blitzschnell einen Gefühlszustand abstreifen und in ein neues Gefühl eintauchen zu können. Die Wiese war so bunt und schön, so voller Düfte, dass Tino die vorausgegangenen Strapazen augenblicklich vergaß. Übermütig brachte er die Schneeglöckchen zum Klingeln und fiel beim Herumturnen beinah in eine violette Krokusblüte. Bellina jagte aus purer Lebensfreude ein paar grün glitzernden Käfern hinterher.

Verzaubert sah Tino zu, wie Wolken sich wie Engelsschwingen am Horizont ausbreiteten und von der Abendsonne in goldenes Licht getaucht wurden. Das himmlische Farbenspiel, begleitet vom abendlichen Gesang der Vögel, machte sein Herz ganz weit. Er war so gefesselt, dass ihm erst nach einer Weile auffiel, dass Bellina nicht mehr an seiner Seite war.

Mittlerweile war auch der letzte Streifen Licht hinter den blaugrauen Wolkenbänken von der Nacht verschluckt worden. Tino stand ganz allein in der Finsternis. Panik stieg in ihm auf, als ihn etwas großes Pelziges im Vorüberhuschen streifte und rote Lichter im Unterholz aufglommen und wieder verloschen. Von allen Seiten hörte er es rascheln und wispern, piepsen und klopfen. Das Klopfen war allerdings sein eigener Herzschlag, der ihm in den Ohren dröhnte.

Nur von Bellina hörte er keinen Ton.

Vor Angst wie erstarrt blieb Tino im kalten Gras stehen. Jetzt wünschte er sich, er hätte im Unterricht besser aufgepasst und wäre nicht so häufig eingeschlafen. War denn von den Schulungen und den »Mit-allen-Sinnen-Erlebnisfilmen« gar nichts hängengeblieben? Schließlich versuchte er, sich ein Glühwürmchen herbeizuzaubern. Da jedoch Angst die magischen Fähigkeiten blockieren kann, blieben seine Versuche ohne Erfolg. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Glühwürmchen im März eher selten sind.

Verzweifelt richtete Tino den Blick nach oben, und da war ein Blinken und Blitzen, Glitzern und Strahlen am nächtlichen Himmel, dass er sogleich an Rubys Abschiedsworte erinnert wurde: »Wenn du Hilfe brauchst, dann schau in den Sternenhimmel, und du wirst wissen, dass ich dich in Gedanken immer begleite und bei dir bin.«

Ach, warum hatten sie nicht Ruby geschickt? Seine Schwester hätte Bellina bestimmt nicht verloren und wäre auch nicht ohne Nachtlager von der Dunkelheit überrascht worden. Ihm war, als würden die Sterne ihm ein silbernes Klingeln schicken, das sich genau wie Rubys Lachen anhörte. Er wusste, was sie ihm antworten würde: »Ich habe andere Aufgaben, kleiner Bruder. Aber du bist nicht allein.«

Fast im gleichen Augenblick stieß Tino gegen ein verlassenes Schneckenhaus. Er kroch hinein und streckte sich vorsichtig aus. Kleinlaut flüsterte er ins Dunkel: »Ruby, wenn ich Bellina morgen nicht wiederfinde, kehre ich nach Hause zurück.«

Ein Sonnenstrahl brachte die perlmuttfarbenen Wände des Schneckenhauses zum Leuchten und kitzelte Tino wach. Rasch stand er auf, zog seine blauen Hosen und das zartlila Samtjäckchen aus und nahm unter einem Grashalm eine Taudusche. Dann kletterte er an einem Blumenstängel hoch, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Gar nicht weit vom Schneckenhaus entfernt bewegte sich etwas Weißes, das jetzt wie wild zu springen und zu bellen begann. Wahrscheinlich war Bellina gestern Abend plötzlich müde geworden und hatte sich einfach irgendwo schlafen gelegt.

Gnome haben das Glück, dass alle schweren Gedanken und ängstlichen Gefühle über Nacht aus ihrem Gedächtnis gelöscht werden. Froh schloss Tino seine Hündin in die Arme. Jetzt konnte das Abenteuer beginnen. Wie stolz würde der Weise Rat auf ihn sein, wenn er nach erfülltem Auftrag ins Dorf zurückkehrte!

Sie wanderten jetzt auf einem dichten Teppich aus Fichtennadeln. Nur wenig Licht drang durch die Bäume nach unten. Bellina kläffte übermütig ein paar Waldameisen an, die fast so groß waren wie sie selbst und irritiert ihre Köpfe schüttelten.

Eigentlich ist es doch ganz einfach, dachte Tino. Man muss immer nur den eigenen Füßen folgen.

2.

Tino horchte auf. Von ferne hörte er Donnergrollen, das immer näher kam. Blitze zuckten, und es wurde so dunkel, dass er seine Füße kaum noch sehen konnte. Das war nicht gut. Sie sollten irgendwo unterschlüpfen, bis das Gewitter vorbei war. Doch es war bereits zu spät. Ohne Vorwarnung prasselte der Regen los. Eiskalt und schwer klatschte ein riesiger Tropfen auf Tinos Kopf und warf ihn zu Boden, als würde er von einer Keule getroffen. Bevor er überhaupt merkte, was ihm geschah, hatte er bereits das Bewusstsein verloren.

Die Ameisen waren so rasch sie konnten in ihren Bau geflüchtet. Bellina sprang, aufgeregt bellend, um den reglos daliegenden Gnom herum und schleckte ihm übers Gesicht. Es half ebenso wenig, wie an seinen Hosenbeinen zu zerren. Gnomenhunde sind die fröhlichsten Geschöpfe, die der Himmel erschaffen hat. Sie kennen weder Kummer noch Sorgen, sondern halten das ganze Leben für ein Spiel. Mit einer Situation wie dieser war Bellina daher völlig überfordert. Schließlich blieb sie mit gesenktem Kopf neben ihrem Gefährten stehen und grub alle vier Pfoten in den schlammigen Boden, um nicht von den Regenfluten weggeschwemmt zu werden.

Jedes Mal, wenn ein Blitz über den Himmel zuckte, wurden die hohen Fichten in grelles Licht getaucht. Bellina und Tino waren durchweicht wie eine im Regen liegen gelassene Zeitung. Im nächsten Moment fegte etwas über sie beide hinweg und trug sie davon. Sie hingen im Maul eines Dämons mit großen Ohren und Knollennase. Es war das grässlichste, hässlichste und erschreckendste Wesen, das Bellina jemals gesehen oder gerochen hatte. Ihrem Instinkt folgend, schloss sie die Augen und stellte sich tot.

Durch das zischende Geräusch, das entstand, wenn sie dicht an den Bäumen entlangstreiften, kam Tino wieder zu sich. Nach dem ersten Schreck beruhigte er sich. Denn der schwarze Umhang und die elegante Art der Fortbewegung, das konnte nur eines bedeuten: Batman hatte sie gerettet. Tino jubelte innerlich. Es stimmte also, was er in den Erlebnisfilmen über die Menschenwelt gelernt hatte: Batman gab es wirklich. Ob Ruby ihn geschickt hatte? Das sähe ihr ähnlich.

Doch dann landete die Fledermaus, die wohl eher Batwoman als Batman war, in ihrem Nest unterhalb eines Felsvorsprungs, und Tinos euphorische Gefühle verpufften in Sekundenschnelle. Als nämlich die Fledermausbrut die hungrigen Mäuler aufriss, war in Tinos Kopf nur noch Platz für einen einzigen Gedanken, riesig und schwarz: DAS IST DAS ENDE.

Er stolperte rückwärts und wäre sicher vom Felsen gepurzelt, wenn die Fledermausmama ihn nicht mit ihren spitzen Zähnen festgehalten hätte. Durch das Rauschen in seinen Ohren drangen ganz allmählich ihre Worte: »Ich tu dir nichts.«

Nachsichtig schüttelte die Fledermaus den Kopf und besorgte Essen und Bettdecken für die Gäste. Zuerst mussten die Grundbedürfnisse befriedigt werden. Morgen würde man weitersehen.

3.

Tino stocherte im undefinierbaren Frühstück herum, während die Fledermaus penetrant neugierige Fragen abfeuerte. Er hatte keine Chance, auch nur eine zu beantworten. »Wohin geht denn die Reise, junger Mann? Was ist dein Ziel? Und was erwartest du dort vorzufinden? Wie gehst du mit deinen Ängsten um? Bist du nicht viel zu jung für diesen Auftrag? Was hat dich dazu gebracht, eine solche Entscheidung zu treffen?«

Frustriert darüber, dass er nicht einmal »Ah …« sagen konnte, stopfte Tino sich den Mund voll, stand auf und winkte Bellina zu sich. Eine höfliche Verbeugung sollte seinen Dank für die Gastfreundschaft ausdrücken.

Eilig entfernte er sich, ohne sich umzudrehen. So entging ihm das selbstzufriedene Grinsen der Fledermaus. Sie hatte ihren Job gut gemacht.

Tino stapfte missmutig dahin, den Blick auf den Waldboden gerichtet. Er spürte die kühle Frische des Frühlingsmorgens nicht auf seiner Haut und hatte kein Ohr für das aufgeregte Gezwitscher der Vögel. Es war beinah so, als hätte seine schlechte Laune alle seine Sinne verkleistert.

Was für blöde Fragen, schimpfte er innerlich. Wie er mit seinen Ängsten umginge! Er hatte doch keine Ängste! Und er war auch nicht zu jung! Mechanisch setzte Tino einen Fuß vor den anderen, während er in seinem Kopf mit der Fledermaus stritt. Anscheinend hatte er Bellina mit seiner Stimmung angesteckt. Mit gesenktem Kopf ging sie dicht neben ihm und nieste gelegentlich. Sie hatte doch hoffentlich keine Fledermausallergie?

Dieser Wald war so riesig und dunkel. Vergeblich sah Tino zum Himmel, um sich an der Sonne zu orientieren. Planlos und ohne Zeitgefühl marschierte er einfach weiter. Aber dieses Mal würde er sich nicht von der Nacht überraschen lassen. Ein Felsvorsprung am Wegrand schien ihm genau richtig, ihm und Bellina Schutz zu gewähren. Doch als er näher trat, sah er, dass der Platz schon belegt war.

»Da bist du ja wieder«, feixte die Fledermaus. »Bist im Kreis gegangen, was? Kann den Besten passieren. Nicht nötig, dass du fragst. Ihr seid natürlich willkommen.«

Oh nein! Tino ließ den Kopf hängen. Jetzt erst sah er, dass Bellina zitterte. Außerdem nieste sie mittlerweile ununterbrochen. Und nun begann er selbst zu zittern, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Eine Welle der Erschöpfung packte ihn und warf ihn zu Boden.

»Schschsch, das wird schon wieder«, murmelte die Fledermaus und ging Decken holen. »Anfängerfehler. Bis du die Kontrolle über deine Gedanken beherrschst, wirst du noch viel lernen müssen, mein Kleiner!«

Aber Tino war längst weggedämmert und hörte sie nicht.

Nach drei Tagen ließen Fieber, Gliederschmerzen und Niesanfälle bei Tino und Bellina endlich nach. Tino war, als wäre in seinen Fieberträumen so ein glockenhelles Klingeln gewesen, und er erinnerte sich an die Worte Denk nach! Doch was sollte das bedeuten?

Im Gnomendorf Putkin saßen die sechs weiblichen und sechs männlichen Mitglieder des Weisen Rates zusammen und konzentrierten sich wortlos auf die Bilder, die sie innerlich sahen. Gelegentlich nickte einer oder lächelte amüsiert. Gute Entscheidung, dachte Gregor und strich mit der Hand sein weißes Haar glatt. Batman, wie erheiternd, dachte Zia, den Film könnte ich mir auch noch einmal anschauen. Die Zwölf blickten sich in die Augen und nickten einander zu. Die Versammlung war zu Ende.

4.

Seltsam. Beim Frühstück am Morgen des dritten Tages schwieg die Fledermaus. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – fühlte sich Tino mental durchleuchtet. Wie machte die das? Und dann sagte sie zum Abschied: »Ich nehme an, du hast Rubys Worte empfangen?«

Tino riss die Augen auf.

»Und nun ab mit euch, los, los. Ich muss schlafen.«

Rubys Worte? »Bellina, was hat sie bloß damit gemeint?«

Doch Bellina sprang zwischen seinen Füßen herum, jagte kleine Käfer und war mal wieder gar keine Hilfe. Tino atmete tief durch. Wie gut die kühle Morgenluft tat. Das Bild seiner Schwester erschien klar und deutlich vor seinem inneren Auge. »Ooooh … oje … du warst es, die mir das ständige Denk nach! geschickt hat? Oooh …«

Ein Windhauch fuhr durch ein Feld wilder Veilchen und schüttelte den Tau aus deren Blütenblättern. Es klang wie ein vielstimmiges Pling. Tino lächelte. Da hatte er seine Antwort.

Denk nach!

Gnome sind keine Analytiker. Ihre Stärke liegt darin, im Augenblick zu leben. Das macht sie anfällig für Stimmungsschwankungen – jedenfalls, wenn sie so jung sind wie Tino und ihre Gefühle noch nicht gut steuern können. Doch plötzlich fiel ihm etwas ein, was Ruby ihm ganz zum Schluss mit auf den Weg gegeben hatte: »Wenn du gar nicht mehr weiterweißt, suche in der Natur nach einem Zeichen.« Er blieb abrupt stehen und ließ seinen Blick von oben nach unten und von rechts nach links und wieder zurück wandern.

Als Erstes fiel ihm ein hölzerner Wegweiser ins Auge, der in Richtung der großen Stadt wies. Der erinnerte ihn an eine Weisheit aus der Gnomenschule: »Wenn du deinen Samtbeutel verloren hast, gehe den Weg zurück, den du gekommen bist, bis du ihn wiederfindest.«

Erschrocken tastete Tino nach dem grünen Samtbeutel, dessen Tragriemen von der linken Schulter zur rechten Hüfte reichte. Alles war an seinem Platz, auch die Briefe für die Verwandtschaft in der Stadt! Nicht auszudenken, wenn …

Hm, um den Samtbeutel ging es also nicht. Zurückgehen – in Gedanken vielleicht? Ab wann waren die Dinge schiefgelaufen? Beim Abschied von der Fledermaus war er missmutig und verärgert gewesen. Und so war das Missgeschick passiert: Er war im Kreis gelaufen. Hieß es nicht auch: »Die Qualität deiner Gedanken bestimmt die …«

Tinos Aufmerksamkeit wurde von einer winzigen rosa Flaumfeder angezogen. Er hob sie auf und pustete sie in die Luft. Der nächste Windstoß packte sie und trug sie mit spiralförmigen Bewegungen nach oben. Das sah sooo schön aus. Entzückt hüpfte er auf und ab wie auf einem Trampolin. Beim Hüpfen geriet etwas in sein Blickfeld, das nicht in einen Wald gehörte. Es war … es musste eine Kirchturmspitze sein. Nicht, dass Tino dies aus eigener Erfahrung hätte wissen können. Aber in einem der Erlebnisfilme hatte er gesehen, dass Kirchen meistens in der Mitte einer menschlichen Ansiedlung stehen und ihre Turmspitzen sich wunderbar zur Orientierung eignen.

»Bellina, wir sind auf dem richtigen Weg!«, jauchzte er und hüpfte und sprang voran, als wolle er es der Hündin gleichtun. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie die Stadt erreicht hätten. Sie mussten nur die Kirchturmspitze im Auge behalten, dann konnte gar nichts mehr schiefgehen. Ganz sicher war es das, was Ruby mit ihrem Denk nach! gemeint hatte.

Doch nicht mehr lange ist ein recht dehnbarer Begriff, wie Tino noch erfahren sollte.

5.

Wie gut, dass sie die ebenso fürsorgliche wie furchteinflößende Fledermaus niemals würden wiedersehen müssen. Der dunkle Wald lag nun zu ihrer Linken, und nach rechts öffnete sich eine weite Fläche frisch umgepflügter Felder. Unermüdlich kletterte Tino über Erdklumpen und Steine. Das Gefühl, dem Ziel seiner Reise so nah zu sein, ließ ihn alle Anstrengungen und Mühen ertragen und zog ihn voran wie ein straff gespanntes Gummiband.

Sobald sie die Stadt erreicht hätten, würde er ein paar Worte mit den Verwandten wechseln, damit er dem Weisen Rat etwas zu erzählen hatte. So lautete doch sein Auftrag, oder? Die Post abgeben – und dann ab nach Hause.

Ein paar Tage lang lief alles bestens. Am Abend fanden sie immer einen Unterschlupf und am Morgen Gänseblümchen- oder Hundsveilchenblüten zum Frühstück. Es war, als ob Tino und Bellina auf einer Woge positiver Schwingungen segelten. Nichts schien sie aufhalten zu können.

Bis Tino von der Maus überrannt wurde.

Sie traf ihn mit voller Wucht von der Seite. Nach einem doppelten Salto landete er auf dem Bauch und spuckte ein Büschel grauer Maushaare aus.

Die Maus war mindestens so erschrocken wie er, allerdings körperlich unverletzt. Kein Wunder, sie war ja um ein Vielfaches größer und schwerer als er. Aufgeregt rannte sie auf und ab, hielt sich die Pfote vor das spitze Mäulchen und piepste: »Ohgottohgottohgott, das gibt schlechtes Karma.«

Tino wäre es lieber gewesen, sie hätte ihm auf die Füße geholfen. Benommen tastete er Gesicht und Körper ab. Er blutete am Kinn und an den Knien. Wütend funkelte er die Maus an. Aber außer weiteren »Ohgottohgott … hab dich gar nicht gesehen« und hilflosem Pfotenringen kam von ihr nichts.

Doch dafür war Bellina an seiner Seite und leckte seine Wunden, die sich, wie Tino verwundert beobachtete, in Sekundenschnelle schlossen und vollständig heilten. Verfügte Bellina etwa über magische Fähigkeiten, von denen er nichts wusste?

Mittlerweile ließ das Tageslicht nach, und die Maus bestand darauf, dass sie bei ihr übernachten müssten. Um das nervöse Wesen zu beruhigen, nahm Tino das Angebot an. Seine Wut auf die Maus hatte sich ohnehin längst aufgelöst und schien ebenso geheilt worden zu sein wie die blutigen Schrammen. Dankbar kuschelte er sich in die wolligen grauen Decken, Bellina zu seinen Füßen, und schlief sofort ein.

Tino reckte sich und griff nach seinen blauen Hosen. Waren das wirklich seine Sachen? Die Hosenbeine waren mit rotem Schottenkarostoff verlängert worden. Paisley-Muster zierten Ärmel und Saum seines zartlila Samtjäckchens.

»Du warst rausgewachsen«, stellte die Maus sachlich fest. Offenbar hatte sie durch die nächtliche Näharbeit ihre Fassung wiedergewonnen.

Tino schluckte die Frage, ob sie keinen passenderen Stoff gehabt hätte, hinunter. Ja, er war tatsächlich gewachsen. In Menschenzeit waren sie erst seit ungefähr zehn Tagen unterwegs. Im Gnomendorf Putkin waren mittlerweile jedoch schon zwei Jahre vergangen. Tino war gestern achtzehn Jahre alt geworden.

Da Gnome – anders als Menschen – ihren Geburtstag nicht feiern, war Tino dies gar nicht bewusst. Was ihn hatte wachsen lassen, war, seine Wut zu überwinden und der Maus zu verzeihen.

Doch die nächste Herausforderung wartete schon auf ihn. Er suchte den Horizont ab. Wo war die Kirchturmspitze?

»Wo ist die Kirchturmspitze?«, fragte er die Maus.

»Was bedeutet Kirchturmspitze?«

6.

Zwei Tage zuvor hätte sich Tino in einer solchen Situation auf der Stelle vor Wut und Enttäuschung auf den Boden geschmissen. Doch jetzt spürte er vage, dass dies keine Option mehr war, weil er dann möglicherweise wieder schrumpfen würde. Und wie würde das aussehen?

Atmen, dachte er. Bewusstes Atmen war in jeder Lebenslage eine kluge Wahl. Sich sammeln. Zentrieren. Die Kirchturmspitze war da gewesen. Sie konnte nicht einfach verschwunden sein. Er würde sie wiederfinden.

Bellina saß geduldig neben ihm, während Tino meditierte. Nach kurzer Zeit war sein Kopf gedankenleer und ganz von weißem Licht erfüllt. Ein kräftiger Stoß von hinten traf ihn so unerwartet, dass er einen Purzelbaum schlug und ein Stück weiter wieder zum Sitzen kam.

»Huch!«, piepste es nervös hinter ihm. »Du hast das Lunchpaket vergessen.«

Tino war drauf und dran, trotz des gewaltigen Größenunterschieds mit geballten Fäusten auf die unglückselige Maus loszugehen. Zum Glück hielt Bellina ihn am schottenrotkarierten Hosensaum fest.

»Tut mir wirklich leid«, wisperte die Maus.

»Noch so eine Nummer, und wir können zusammen im Zirkus auftreten.« Das war wieder so ein Begriff, den er in einem der Erlebnisfilme aufgeschnappt hatte.

»Was bedeutet Zirkus?« Die Maus ließ das Paket fallen, als wäre es elektrisch geladen, und raste so schnell davon, dass man sich über weitere Kollateralschäden nicht hätte wundern müssen.

Verlockende Düfte entströmten dem Päckchen. Etwas Essbarem konnte Tino nie widerstehen. Er teilte die Köstlichkeiten mit Bellina. »Vom Essen versteht die Maus etwas«, sagte er mit vollem Mund und leckte sich die Finger ab.

Der Mahlzeit folgte prompt die Müdigkeit. Nur ganz kurz wollte sich Tino unter einem Buschwindröschenblatt ausruhen. Binnen Sekunden war er im Tiefschlaf und träumte von Ruby. Sie kam ihm in einer wunderschönen Landschaft entgegen. Voller Freude lief er auf sie zu, wollte sie umarmen – und prallte gegen eine gläserne Wand. In seinem Kopf konnte er ihre Stimme hören: »Tino, lass die Sonne dein Wegweiser sein. Von jetzt an musst du immer genau in Richtung Süden gehen.«