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Die Apothekerstochter. Der Medicus. Ein unbekannter Mörder. Herbst in Köln. In einem Spital der Beginen stirbt ein verwirrter alter Mann. Und das war nur der erste Tote. Eine Seuche? Adelina, die Tochter des Apothekers, glaubt nicht daran. Doch wem nutzt der Tod der armen Kranken? So selbstlos sich die frommen Frauen um die Geistesschwachen kümmern, mit jeder Leiche rückt die Schließung des Beginenhauses näher. Adelina hegt einen Verdacht, und den will sie beweisen, so sehr ihr Vater um den Ruf seiner eigensinnigen Tochter fürchtet. Aber heiraten will die ohnehin nicht. Schon gar nicht ihren seltsamen Untermieter, den Medicus Burka. Oder vielleicht doch?
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Seitenzahl: 421
Petra Schier
Historischer Roman
Die Apothekerstochter. Der Medicus. Ein unbekannter Mörder.
Herbst in Köln. In einem Spital der Beginen stirbt ein verwirrter alter Mann. Und das war nur der erste Tote. Eine Seuche? Adelina, die Tochter des Apothekers, glaubt nicht daran. Doch wem nutzt der Tod der armen Kranken? So selbstlos sich die frommen Frauen um die Geistesschwachen kümmern, mit jeder Leiche rückt die Schließung des Beginenhauses näher. Adelina hegt einen Verdacht, und den will sie beweisen, so sehr ihr Vater um den Ruf seiner eigensinnigen Tochter fürchtet. Aber heiraten will die ohnehin nicht. Schon gar nicht ihren seltsamen Untermieter, den Medicus Burka. Oder vielleicht doch?
Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.
Weitere Veröffentlichungen:
(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)
Mord im Dirnenhaus
Verrat im Zunfthaus
Frevel im Beinhaus
(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marisa)
Die Stadt der Heiligen
Der gläserne Schrein
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung © Abbildung: J.E. Millais, Das Tal der Stille/akg images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40521-9
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für Mama. Danke, dass du an mich geglaubt hast.
Denn es ist hier kein Unterschied:
Sie sind allesamt Sünder
und ermangeln des Ruhmes,
den sie bei Gott haben sollten.
Römer 3,23
Die Stadt lag in kaltem Zwielicht. Vom Rheinhafen her zog Nebel auf und durchweichte das Herbstlaub, das sich in den Hauseingängen türmte und die Rinnsteine verstopfte. Die leichte Brise, die der Fluss mit sich zu führen pflegte, reichte heute nicht aus, um den Gestank von Exkrementen und Küchenabfällen zu vertreiben.
Ein Mann drängte sich an den Hausfrauen vorbei, die die Stände des Fischmarkts umlagerten und zwischen eingelegten Heringen und frischen Forellen die neuesten Nachrichten austauschten.
Die Kapuze seines braunen Mantels gegen die Kälte hochgeschlagen, strebte er dem anderen Ende des Platzes zu. An seinem Gürtel hing ein verschnürtes Päckchen, das ein hölzernes Kästchen mit Messingscharnieren und einer silbernen Schließe enthielt. Bei jedem Schritt stieß es klackernd gegen seinen Dolch.
Angewidert verzog er beim Anblick der Bettler vor der Kirche Groß St. Martin das Gesicht. Ein Ärgernis, wenn auch ein vom Stadtrat genehmigtes.
Er musste seinen Schritt verlangsamen, um nicht über die am Boden liegenden Krücken einer verkrüppelten Alten zu stolpern.
Abwehrend schlug er nach aufdringlichen Händen, die an seinem Mantel zupften, besann sich dann aber seiner Christenpflicht und warf ein paar schlecht geprägte Münzen aus seiner Manteltasche in die Menge.
Das Gerangel und die Dankesrufe, die er damit auslöste, beachtete er schon nicht mehr. Er bog hinter der Kirche ab und eilte durch eine Seitengasse, in der Hühner im Dreck scharrten und ein paar Kinder in sackartigen Kitteln einander mit eisigem Matsch bewarfen.
Die Kinder starrten ihn an; einer der Jungen warf einen halb verfaulten Kohlstrunk aus dem Rinnstein hinter ihm her, der ihn nur knapp verfehlte. Zu anderer Zeit hätte er ihm dafür eine Tracht Prügel verpasst, doch nun war Wichtigeres zu tun.
Auf dem Alter Markt priesen Marktschreier frische Eier, gerupfte Enten oder teure Gewürze an. Vor der Kotzbank, auf der die Schlachter ihre Abfälle sammelten, drängten sich Mägde und Tagelöhnerfrauen, die Knochen und Innereien zum halben Preis ergattern wollten. Der Henker reparierte unter der Aufsicht der Marktbüttel eine der Eisenfesseln am Kax, dem städtischen Pranger.
Der Mann blieb stehen, um ihm zuzusehen und sich zu sammeln. Die wogenden Menschenmassen mussten einen Bogen um ihn machen, weil er den Durchgang zwischen zwei Marktbuden und dem Schragentisch eines Hökers versperrte.
Als die ersten Unmutsäußerungen und Flüche der Leute zu vernehmen waren, setzte er sich wieder in Bewegung.
Am Westende des Marktes blieb er wieder stehen. Seine Hand tastete nach dem Päckchen am Gürtel und umfasste es. Gleich würde er es loswerden, es endlich loswerden. Er schüttelte es leicht und bildete sich ein, ein leises Rappeln zu hören, obwohl der Inhalt fest in Wachstuch eingeschlagen war.
Ihn würde das Unheil nicht treffen. Wohl aber andere, viele andere womöglich. Aber das war nicht wichtig.
Wichtig war, was es ihm einbringen würde. Ihm und der Stadt.
Bald war das Nötige getan, wenn er das Päckchen überbracht hatte.
Er blickte an den Fassaden der Häuser empor, die den Marktplatz säumten: Wohnhäuser, Schenken, Apotheken. Weiter hinten, in der Judengasse, das Rathaus.
Entschlossen schlug er seine Kapuze zurück, ging mit festen, ausholenden Schritten auf eines der Häuser zu und trat ein.
Eigentlich war es wirklich nicht ihre Aufgabe. Mit finsterer Miene gab Adelina ein weiteres winziges Gewicht in die Waagschale. Das Mischen und Abwiegen der Farben für die Maler oblag ihrem Vater; er war der Apotheker. Doch Albert Merten hatte, wie so oft, bis spät in die Nacht an seinen Versuchen mit der Destille gehockt. Deshalb hatte er sich nach dem Mittagessen für ein Schläfchen in seine Kammer zurückgezogen. Vorsichtig schöpfte Adelina eine kleine Menge des Gemischs aus der Messschale, während gleichzeitig ihre Zungenspitze über die Lippen bis in den Mundwinkel wanderte. Mit einer ungeduldigen Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haars hinter das Ohr.
Vorne am Fenster lagen die Kräuter, aus denen sie für die Gerbersfrau einen Blutreinigungssud bereiten wollte: Kalmus, Seifenkraut und Augentrost. Nur die Faulbaumrinde fehlte. Das Sammelweib hatte keine mitgebracht.
Erleichtert, dass die Waage endlich das richtige Gewicht anzeigte, füllte Adelina das Farbgemisch in einen Tiegel, den sie sorgsam verschloss.
Dann wandte sie sich ihren Kräutern zu. Eine Teemischung zuzubereiten war weitaus angenehmer, als sich mit den Zutaten für Malerfarben abzuplagen. Sie streifte die kleinen weißen, vertrockneten Blüten des Augentrost von den Stängeln und griff eben nach dem Seifenkraut, als die Glöckchen an der Ladentür einen Besucher ankündigten.
Der in ein gefälliges blaues Wams gekleidete Mann sah sich neugierig in der Apotheke um. Er überragte Adelina beinahe um Haupteslänge. Sein langer brauner Mantel aus feiner Wolle betonte die breiten Schultern und wies ihn als Gelehrten aus, obwohl er keine Tonsur trug. Krause dunkelbraune Locken ringelten sich bis auf seine Schultern. Den Bart auf der Oberlippe hatte er zu einem dünnen Streifen gestutzt, dessen Enden sich nach unten bogen und knapp unterhalb der Mundwinkel endeten.
Adelina nickte ihm freundlich zu.
«Kann ich Euch behilflich sein, Herr?»
«Ist dies die Apotheke von Albert Merten?» Die Stimme wies einen deutlichen Akzent auf, den sie jedoch nicht gleich zuordnen konnte. «Man sagte mir, Ihr hättet ein Zimmer zu vermieten. Mein Name ist Neklas Burka, vielleicht habt Ihr schon …»
«Ach, Ihr seid der neue Medicus, von dem Magister Arnoldus erzählt hat?» Adelina musterte den Mann genauer. Für einen Arzt wirkte er ein bisschen jung, aber vielleicht ging er doch schon auf die dreißig zu. «Das Zimmer ist ganz oben unter dem Dach. Ihr müsst aufpassen, die Stiegen sind steil.» Sie führte den Magister in die kleine Dachstube, in der sich ein Bett, eine Truhe und ein Schreibpult mit Stuhl aneinander drängten.
«Es ist nicht sehr groß …»
«Es ist völlig ausreichend.» Magister Burka legte seinen Umhang auf das Bett und stieß den schmalen Fensterladen auf. Nun konnte er das Treiben auf dem Alter Markt überblicken. «Wie ich hörte, soll die Tochter des Apothekers außerordentlich gut kochen.» Er wandte sich ihr wieder zu und musterte Adelina.
«Die Verköstigung ist im Mietpreis enthalten», antwortete sie.
«Und den zahle ich an Euren Herrn Vater?»
«Den zahlt Ihr an mich», erwiderte sie knapp. «Wenn Ihr etwas braucht, ich bin im Laden.»
Auf dem Weg nach unten überschlug sie im Kopf rasch ihre Vorräte. Sie würde wohl am nächsten Vormittag einkaufen gehen müssen, wenn nun noch ein weiteres Mannsbild bekocht werden sollte. Das Zimmer unter dem Dach hatte lange leer gestanden, und sie war froh, es wieder vermieten zu können, auch wenn ihr der forsche Herr Magister gleich auf die Nerven gegangen war. Obwohl die Apotheke viele Kunden versorgte, war manchmal das Geld knapp.
Während sie sich wieder um ihre Kräuter kümmerte, bekam sie mit, wie der Medicus zwei große Kisten hereintrug und die Stiegen hinaufwuchtete. Da er ihre Hilfe abgelehnt hatte, kümmerte sie sich nicht weiter darum.
Albert Merten verließ seine Schlafkammer erst, als es fast Zeit für das Abendessen war. Neugierig trat er neben seine Tochter, um einen Blick in den brodelnden Kochtopf zu werfen, der an dem großen Dreifuß hing.
«Was kochst du uns denn Gutes?», wollte er wissen.
«Gemüsesuppe», antwortete Adelina, ohne sich umzudrehen. Sie hackte Kräuter und gab sie in den Suppentopf.
«Ah, schön. Mit gutem Hammelfleisch?»
«Ohne Hammelfleisch, Vater. Es ist Freitag.»
Jetzt drehte sie sich doch um. Ihr Vater fuhr sich verwirrt durch den struppigen grauen Bart und hob die Schultern.
«Tatsächlich? Ich hätte schwören können, es ist erst Donnerstag.»
Sie lächelte.
«Das kommt von den Dämpfen, die du immer einatmest. Du hättest gestern nicht so lange aufbleiben dürfen. Stell dir vor, die Feuerwache hätte das Kerzenlicht gesehen.»
Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und begann, die Zinnteller und -becher auf dem Tisch zu verteilen. «Wir haben übrigens einen neuen Mieter für die Dachkammer. Der neue Medicus, von dem Magister Arnoldus berichtet hat, als er neulich hier war.»
«Magister Neklas Burka.» An den Namen erinnerte sich der Vater. «Das ist gut, dann kommt ja Geld rein. Mir ist gestern nämlich ein Philosophen-Ei zersprungen und ich muss beim Glasbläser ein neues bestellen.» Er lächelte so breit, dass sich um seine strahlend blauen Augen winzige Fältchen bildeten. Adelina seufzte.
«Vater, das Geld wollte ich sparen, um Stoff für Winterkleider zu kaufen. Vitus ist schon wieder gewachsen; er braucht dringend neue Beinlinge und einen Mantel.»
«Gleichviel, für ein Glas-Ei wird es wohl reichen. Wenn ich keins bekomme, kann ich doch nicht mit meinen Versuchen weitermachen.»
Sie hörten Schritte auf der Treppe, und Augenblicke später betrat der Medicus die warme Küche. Schnüffelnd trat er an den Dreifuß und blickte Adelina über die Schulter.
«Ist es die Suppe, die hier so gut riecht?»
Adelina trat zur Seite und wies auf den Tisch mit den zwei Holzbänken.
«Setzt Euch doch bitte. Ich bin gleich fertig. Vater, das ist Magister Burka, der Medicus.»
Albert nickte dem neuen Untermieter freundlich zu.
«Ich freue mich, einen gelehrten Mann an meiner Tafel begrüßen zu können. Sagt, stimmt es, dass Ihr aus Frankreich kommt?»
Der Medicus nahm dem Apotheker gegenüber Platz.
«Zuletzt war ich in Italien. Frankreich ist schon etwas länger her.»
«Und Euer Akzent ist eindeutig …»
«Flämisch», ergänzte er. «Ich bin in Kortrijk geboren.»
Adelina stellte einen Krug Bier auf den Tisch und nahm den Kochtopf vom Feuer.
«Ich hole nur noch Vitus. Er spielt draußen mit seiner Katze.»
Sie trat durch die Hintertür hinaus in den dämmrigen Garten, den sie liebevoll pflegte und in dem sie nicht nur Obst und Gemüse zog, sondern auch die wichtigsten Würz- und Heilkräuter. An einem Spalier über dem kleinen Hühnerstall rankten duftend späte Kletterrosen. Daneben saß ein etwa vierzehnjähriger Junge im Gras. Er blickte strahlend auf, als er Adelinas gewahr wurde.
«Lina, guck! Fine hat eine Maus gefangen. Ich hab sie aber nicht angefasst, wie du gesagt hast.»
«Das ist gut. Jetzt steh auf, Vitus, es ist schon viel zu kalt, um auf dem Boden zu sitzen. Das Abendessen ist fertig.»
Bereitwillig rappelte sich der Junge auf und trabte auf sie zu. Obwohl er schon die Stimme eines jungen Mannes hatte, war er kaum höher gewachsen als Adelina. Der Mund stand ihm etwas schief im Gesicht, und irgendetwas in seinem Blick verriet, dass Vitus ein Mensch von schwachem Verstand war. Dennoch ließ sich die Ähnlichkeit mit Adelinas angenehmen, ebenmäßigen Zügen deutlich erkennen. Auch die tiefschwarzen Haare und die blauen Augen verrieten, dass er mit ihr verwandt sein musste. Adelina nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Haus.
«Wir haben einen Gast», erklärte sie auf dem Weg. «Es ist ein Medicus, ein gelehrter Herr, der ab heute oben in der Dachkammer wohnt. Also sei nett und benimm dich anständig.» Vitus nickte heftig und schob sich noch vor ihr in die Küche.
«Ich hab Hunger», verkündete er und setzte sich neben seinen Vater, ohne den Gast zu beachten. Adelina verteilte die Suppe. Bevor sie sich setzte, band sie dem Jungen noch rasch ein großes Tuch vor die Brust. Der neugierige Blick des Medicus entging ihr nicht.
Albert sprach ein kurzes Dankgebet, dann begannen sie schweigend zu essen. Das Tuch um Vitus’ Hals war eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Der Junge konnte nur ungeschickt mit dem Löffel umgehen und kleckerte sich ein ums andere Mal Suppe über Brust und Bauch. Der Medicus beobachtete ihn interessiert.
«Schmeckt lecker», nuschelte Vitus. «Lina kocht gut.» Beifall heischend sah er den neuen Mitbewohner an. Magister Burka nickte lächelnd.
«Das tut sie in der Tat. Ich bin überrascht, was Ihr aus einer so einfachen Gemüsesuppe gemacht habt. Ist das Majoran?»
«Majoran und Liebstöckl», sagte sie geschmeichelt und grinste.
«Dann hat man mir eindeutig die richtige Adresse genannt. Ich bin überzeugt, dass ich hier gerne wohnen werde.»
Adelina war es gewohnt, sehr früh aufzustehen. Sie liebte die Stille des anbrechenden Tages und genoss die wenigen Augenblicke, in denen sie ungestört war. Auch heute knetete sie schon vor Sonnenaufgang den Teig für ein großes Brot und lauschte dabei dem Knarren der Bodendielen und dem Knistern des Feuers im Ofen. Während sie anschließend den Hirsebrei für das Frühstück kochte, ging sie in Gedanken ihre Pläne für den Tag durch. Das Klappen der Küchentür riss sie jäh aus ihren Überlegungen.
«Nanu, Ihr seid ja schon fleißig.» Der Medicus ließ sich wie selbstverständlich am Tisch nieder. Verärgert über die Störung, zuckte sie nur mit den Schultern.
«Irgendjemand muss schließlich dafür sorgen, dass es etwas zu essen gibt.»
«Da habt Ihr ohne Zweifel Recht. Würdet Ihr mir wohl sagen, wo ich frisches Wasser herbekomme?»
Erst jetzt bemerkte sie, dass er den Krug aus seinem Zimmer mitgebracht hatte. Sie wies auf die Hintertür.
«Im Garten ist eine Zisterne. Trinkt aber nicht davon. Die Abortgrube liegt zu nah.»
Burka nickte, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Er sah Adelina zu, wie sie den Hirsebrei in eine Holzschüssel umfüllte, dabei jedoch einen Rest zurückhielt, den sie mit kleinen Apfelstückchen mischte und mit Dickmilch übergoss. Er hob fragend die Augenbrauen.
«Das ist für Vitus», erklärte sie. «Er will den Brei sonst nicht essen.»
«Er ist ein lieber Junge.»
Adelina runzelte die Stirn.
«Warum sagt Ihr das?»
«Warum sollte ich das nicht sagen?» Der Medicus betrachtete aufmerksam ihr Gesicht, das eine abweisende Miene angenommen hatte.
«Ihr braucht mir nicht zu schmeicheln. Vitus ist seit seiner Geburt so. Er hat den Verstand eines Dreijährigen.»
«Er ist ein lieber Junge», wiederholte der Medicus einfach. «Was ist mit Eurer Mutter?»
«Sie hat seine Geburt nicht überlebt. Und er wäre ihr sicher gefolgt, wenn Vater nicht dafür gesorgt hätte, dass die Hebamme alles für ihn tat, was möglich war.»
Adelina wandte sich ab und säuberte den Kochtopf von den Hirseresten. Magister Burka griff nach seinem Krug und machte sich auf den Weg zur Zisterne.
Das Haus des Apothekers Merten lag direkt am Alter Markt. Kurz nach Tagesanbruch konnte Adelina schon zuschauen, wie die ersten Marktbuden geöffnet wurden und die Bauern und Kaufleute ihre Waren ausbreiteten.
Sie zog rasch ihren Mantel über und griff nach dem großen Weidenkorb. Je früher sie ihre Einkäufe erledigte, desto schneller konnte sie sich ihren anderen Aufgaben widmen. Neklas Burka verließ mit ihr zusammen das Haus. Wie er ihr erklärte, wollte er sich auf den Weg zur Universität machen. Magister Arnoldus, ebenfalls ein Medicus, der hauptsächlich die Scholaren betreute, habe ihn zu sich gebeten.
Als die Marktglocke den neuen Verkaufstag einläutete, stand Adelina bereits an einem der Fleischstände und suchte sich zwei große Hühner aus, die geschlachtet, aber noch nicht gerupft waren. Speck, verschiedene Gewürze und noch einige andere Zutaten wanderten in ihren geräumigen Korb, noch bevor das Gedränge auf dem Marktplatz begann. Sie brachte ihre Einkäufe nach Hause und ging gleich darauf wieder los. Diesmal schlug sie den Weg in Richtung Dombaustelle ein. Eselskarren mit Bauholz versperrten die Straße. Wie jedermann in Köln wusste, verfolgte Erzbischof Friedrich von Saarwerden das ehrgeizige Ziel, das mächtige Bauwerk noch zu seinen Lebzeiten zu vollenden. Als sie die Baustelle endlich passiert hatte, bog sie in Richtung St. Gereon ab und dann noch einmal beim Blidenhaus, in dem die städtischen Waffen aufbewahrt wurden. Mägde und Hausfrauen mit Kannen und Eimern eilten über die Straßen zu den Brunnen, und mehrmals musste Adelina den Sänften vornehmer Bürger ausweichen. An einem umzäunten Gebäude mit hohen schmalen Fenstern blieb sie schließlich stehen und klopfte an das schwere Eichentor. In der Sichtluke erschien ein rundes Frauengesicht; gleich darauf wurde die Pforte geöffnet.
«Guten Morgen, Schwester Agathe.» Lächelnd nickte Adelina der beleibten Frau mit dem freundlichen Mondgesicht zu. «Ist Irmingard im Haus? Sie wollte mir eine Bestellung über verschiedene Arzneien geben.»
«Schwester Irmingard ist in der Kapelle. Heute Nacht ist eine alte Bettlerin gestorben, und Pfarrer Simeon hat angeordnet, sie soll auf dem Spitalsfriedhof beerdigt werden. Schwester Irmingard kümmert sich darum, dass die Frau ein Leichentuch bekommt.»
«Nun gut, dann werde ich einstweilen im Hospital vorbeischauen. Ein bisschen Hilfe ist dort sicher willkommen.»
Adelina sah kurz an dem weiß getünchten Gebäude empor und trat dann durch die Eingangstür in das von den Beginen unterhaltene Hospital. Im Gegensatz zu den Klosterspitälern war es ihr hier möglich, den frommen Frauen auszuhelfen, ohne selbst einem Orden beitreten zu müssen. Die Beginen lebten zwar in einer tugendhaften und durch Gebet und Arbeit geregelten Gemeinschaft; sie hatten jedoch kein Gelübde abgelegt. Sie trugen alle die einheitliche graue Beginentracht, bestehend aus einem einfachen Kleid und einer züchtigen Haube mit Gebende, um zu zeigen, dass sie keusch und bescheiden lebten, denn dies war eine der Auflagen, die die Kirche ihnen machte.
Ein schmaler Gang führte zu einem Saal mit unzähligen einfachen Strohbetten, von denen etwa die Hälfte belegt war. Es roch beißend nach den frischen Kräutern, die den Fußboden bedeckten, und nach der Seife, die in einem der Nebenräume gesiedet wurde.
Ein hölzerner Wandschirm trennte den Raum in der Mitte. Dahinter befand sich die Frauenabteilung. Dorthin wollte sie. Sie schob sich durch die schmalen Gänge zwischen den Strohschütten und nickte hier und da einem bekannten Gesicht zu. Hinter dem Wandschirm verteilten zwei Pflegerinnen gerade Haferbrei an die, die nicht im Speiseraum essen konnten, weil sie zu schwach waren oder nicht laufen konnten. Adelina nahm sich eine der Holzschalen und einen Löffel und trat an das Bett eines kleinen blassen Mädchens, dem das feine blonde Haar wirr um das spitze Gesichtchen hing.
«Vincentia, wie schön, dich zu sehen», begrüßte Adelina die Kleine, die indes nicht reagierte, sondern nur mit großen Augen ins Leere starrte. «Ich habe dir Frühstück mitgebracht. Ich hoffe, du hast Hunger.» Adelina sprach einfach weiter, obwohl sie nicht sicher war, ob das Mädchen sie überhaupt wahrnahm. «Erinnerst du dich an mich? Ich heiße Adelina.» Der leere Blick richtete sich auf die junge Frau, und plötzlich flackerte Erkennen in den Kinderaugen auf.
«Ich kenne dich. Du hast meinen Brei mitgebracht.» Das zarte Stimmchen war kaum zu hören, und die Augen wanderten zu der Holzschüssel. Doch das Gesicht der Kleinen blieb seltsam ausdruckslos. Adelina hockte sich lächelnd auf den Rand der Strohschütte und reichte dem Mädchen den Haferbrei. Langsam und präzise begann Vincentia, sich Löffel für Löffel in den Mund zu schieben. Adelina sah ihr schweigend dabei zu. Sie fragte sich insgeheim, was mit dem Mädchen sein mochte. Vincentia war erst acht Jahre alt. Ihre Eltern hatten sie ins Hospital gebracht, weil sie das Mädchen für närrisch hielten und nicht genug Zeit und Geld hatten, sich um sie zu kümmern.
«Guten Morgen, Adelina.» Eine schlanke Frau mittleren Alters, unter deren adretter Haube auf der Stirn nur ein schmaler Streifen goldblonden Haars hervorlugte, trat hinter den Wandschirm. Ihre lange, gerade Nase ließ sie ungemein vornehm wirken. «Die kleine Vincentia hat eine unruhige Nacht hinter sich. Dreimal ist sie schreiend aufgewacht, nicht wahr?» Das Mädchen schien sie nicht wahrzunehmen. Adelina erhob sich.
«Ihr seid sicher wegen der Arznei-Bestellung hier?», sagte die Schwester und lächelte huldvoll. «Ich habe Euch alles aufgeschrieben. Es wäre schön, wenn Euer Vater sich damit beeilen würde. Unsere Vorräte sind schon stark zur Neige gegangen.»
«Ich werde Euch die Arzneien gleich morgen bringen.»
«Gut.» Irmingard nickte und reichte Adelina ein Wachstäfelchen. Dann entfernte sie sich mit einer kurzen Entschuldigung. Anscheinend hatte die Leiterin des Hospitals noch viel zu tun, denn an anderen Tagen nahm sie sich immer Zeit für einen kurzen Plausch.
Adelina drehte sich wieder zu dem kleinen Mädchen um, nahm ihm die leere Schüssel aus den Händen und strich ihm noch einmal kurz über den Kopf. Dann ging sie weiter. An einem der Fenster saß eine junge Frau in einem für diese Umgebung ungemein vornehm wirkenden grünen Samtkleid und elegant hochgesteckten roten Locken unter einer bestickten Seidenhaube. Sie winkte Adelina fröhlich zu und entblößte dabei zwei Reihen makelloser weißer Zähne.
«Adelina, wie schön, das Ihr heute hier seid», rief sie, und ihre Augen blitzten dabei fast übermütig. «Erzählt mir, was in der Stadt vor sich geht.»
«Reinhild, warum seid Ihr denn nicht im Speiseraum? Seid Ihr etwa krank?» Adelina schenkte der jungen Frau ein herzliches Lächeln.
«Nein, krank nicht, aber ich fühle mich nicht wohl. Heute Nacht ist mir im Traum wieder der Dämon erschienen, der mir mein Kindlein geraubt hat. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich geängstigt habe!»
«Das tut mir Leid. War Euer Gemahl gestern zu Besuch?»
«Woher wisst Ihr das? Ja, er war da, und er war überaus freundlich und besorgt. Er hofft, dass es mir bald besser geht, und will es noch einmal mit einem Exorzisten versuchen. Aber das ist ja schon einmal fehlgeschlagen.» Reinhilds Stimme klang, als sei sie darüber nicht unbedingt traurig. «Aber nun erzählt endlich!»
«Ich muss Euch enttäuschen, Reinhild. Derzeit gibt es nicht viele spannende Neuigkeiten. Die Augustiner haben angefangen, ihr Kloster umzubauen. Der Erzbischof ist in der Stadt, aber nur für wenige Tage.»
«Ist das alles? Wie schade. Ich hatte gehofft, es gäbe ein paar erbauliche Geschichten über Hexen oder Geister.»
«Reinhild! So solltet Ihr nicht sprechen. Wir können froh sein, dass es einmal so ruhig in der Stadt ist. Aber ich verspreche Euch, dass ich die Ohren offen halte und Euch bei meinem nächsten Besuch alles erzähle.»
«Dann müsst Ihr schon gehen? Das ist schade. Gehabt Euch wohl!» Reinhild hob zum Abschied die Hand. Adelina verließ den großen Saal und traf vor der Tür wieder auf Irmingard.
«Hat Reinhild in der Nacht wieder einen Anfall gehabt?» Irmingard nickte und runzelte dazu besorgt die Stirn.
«Gestern war ihr Gemahl hier und wollte sehen, wie es ihr geht. Und prompt hatte sie wieder diesen Traum. Wisst Ihr, fast glaube ich, sie will gar nicht zu ihm zurück.»
«Aber er ist doch so besorgt um sie», wunderte Adelina sich. «Natürlich ist er viel älter als sie, aber ich hatte den Eindruck, dass er sie wirklich sehr lieb hat.»
«Tja, wer weiß.» Irmingard zuckte mit den Schultern. «Ihr bringt also morgen die Arzneien?»
«Das werde ich, keine Sorge. Und dann sehe ich mir auch Benedikts Bein an. Die Umschläge haben doch ein bisschen geholfen, oder?»
«Ja, das haben sie. Ich danke Euch, dass Ihr Euch darum kümmert. Der Bader wollte das Bein schon abnehmen, aber Benedikt mag davon nichts hören.»
«Das ist auch nicht nötig. Vielleicht kann ich den neuen Medicus dazu bringen, dass er sich das Bein einmal anschaut.»
«Den neuen Medicus? Woher kennt Ihr den denn schon wieder?»
«Er hat unsere Dachstube gemietet», erklärte Adelina. «Vielleicht hat er ja Zeit.»
«Aber er darf nicht zu teuer sein. Benedikt ist kein reicher Mann.»
«Das weiß ich doch. Wir kriegen das schon hin.»
Adelina verabschiedete sich und machte sich auf den Heimweg.
Ihr Vater stand im Verkaufsraum der Apotheke und unterhielt sich mit einem Kunden. Als er Adelina sah, deutete er auf die Tür zum hinteren Raum. Dort hockte Vitus auf einem kleinen Hocker und schniefte in seinen Ärmel. Adelina trat schnell zu ihm und fasste ihn an der Schulter: «Was ist geschehen, Vitus? Weshalb weinst du?»
Der Junge schaute mit verquollenen Augen zu ihr auf und schlang impulsiv seine Arme um ihre Hüfte. «Ich will nicht, dass sie Fine wehtun!»
«Wer will Fine wehtun?» Adeline blickte sich nach der schwarzweißen Katze um. Fine saß friedlich unter dem Regal und putzte sich.
«Die Jungen von nebenan! Sie sagen, dass sie sie holen kommen und totmachen und ihr das Fell über die Ohren ziehen.» Vitus war kaum zu verstehen, weil er sein Gesicht an Adelinas Bauch drückte. Sie streichelte ihm besänftigend über den Kopf.
«Niemand wird Fine totmachen. Das waren Herrn Keppelers Lehrbuben. Du weißt doch, wie ungezogen die sind. Sind sie etwa wieder über den Zaun geklettert? Ich werde gleich hinübergehen und mich bei Keppeler beschweren.»
«Aber sie dürfen Fine nichts tun», flehte der Junge und schluchzte wieder. Adelina seufzte und löste vorsichtig seine Arme von ihrem Leib.
«Deiner Katze wird nichts passieren, versprochen. Weißt du was, du darfst sie heute Nacht mit in deine Kammer nehmen. Da ist sie dann ganz sicher. Und nun hör auf zu weinen.»
Vitus’ Augen bekamen einen hoffnungsvollen Schimmer.
«Ich darf sie in meine Kammer nehmen?»
«Das habe ich doch gesagt. Aber nur ausnahmsweise.» Sie lächelte aufmunternd und sah erleichtert zu, wie ihr Bruder die Katze liebevoll auf den Arm nahm und streichelte. Fine schloss die Augen und ließ ein behagliches Schnurren hören.
Adelina schüttelte den Kopf und ging zurück zu ihrem Vater, der inzwischen allein in der Apotheke stand und den Verkaufstresen abwischte.
«Konntest du Vitus beruhigen? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er kam aus dem Garten herein und hat ganz fürchterlich geheult. Was ist denn passiert?»
«Keppelers Lehrbuben haben ihn gehänselt. Vater, wir müssen den Zaun im Garten unbedingt reparieren. Die Bengels sind schon wieder herübergeklettert! Auf jeden Fall gehe ich jetzt erst mal zu Keppeler und werde mich beschweren.»
Albert Merten nickte betrübt.
«Der arme Junge ist so hilflos. Soll ich nicht lieber selbst mit dem Kaufmann reden?»
Adelina schüttelte den Kopf und wies auf das Fenster.
«Da kommt Kundschaft. Ich bin gleich wieder hier.» Sie strich ihren Mantel glatt und ging hinüber zum Nachbarhaus. Auf ihr Klopfen öffnete der Hausherr persönlich. Er war eine imposante Erscheinung mit enormem Bauchumfang, gewaltigen Hängebacken und kleinen Schweinsäuglein, die sie neugierig musterten.
«Nanu, Jungfer Adelina, was führt Euch hierher? Hat meine Gemahlin Kräuter oder Arzneien bestellt?»
«Nein, Herr Keppeler. Ich wollte zu Euch. Eure Lehrbuben sind schon wieder über den Zaun in unseren Garten geklettert und haben Vitus gehänselt. Sie haben ihm Angst gemacht und gedroht, seiner Katze etwas anzutun.»
«Das tut mir Leid.» Keppeler zog ein bedauerndes Gesicht. «Ich werde mir die Lausejungen gleich einmal vorknöpfen.»
«Das will ich hoffen.» Adelina reagierte nicht auf das entschuldigende Lächeln, das der Kaufmann ihr nun zuwarf. «Es stört mich schon lange, wie Eure Lehrbuben immer wieder auf meinem Bruder herumhacken. Er mag vielleicht keinen Verstand besitzen, aber das gibt noch niemandem das Recht, ihn schlecht zu behandeln!»
Keppelers Gesicht wurde ernst.
«Ich bitte Euch, Adelina, beruhigt Euch. Ich habe gesagt, ich werde die Übeltäter zur Verantwortung ziehen, und das habe ich auch so gemeint. Ich weiß, wie sehr Ihr an dem Jungen hängt und dass Ihr nichts auf ihn kommen lasst. Das ist sehr löblich. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?»
«Sorgt nur dafür, dass die Jungen unserem Garten fernbleiben», sagte Adelina, nickte dem Kaufmann zu und machte auf dem Absatz kehrt. Auf dem kurzen Weg zurück zur Apotheke rieb sie sich die Stirn. Vielleicht würde Keppeler mit seinen Lehrbuben reden. Bestimmt sogar, das glaubte sie ihm. Doch sie wusste auch, dass er es für Zeitverschwendung hielt, sich länger als einen Augenblick um die Probleme eines Simpels zu scheren. Still und nachdenklich ging sie in das hintere Zimmer und holte ein kleines Holzkästchen und mehrere Beutel mit getrockneten Kräutern und anderen Zutaten aus den Regalen. Ihr Vater hatte wieder einmal vergessen, die Vorräte aufzufüllen. Und um die Bestellung für das Hospital kümmerte sie sich lieber auch selbst.
Sie öffnete das Holzkästchen und gab etwas von dem körnigen Inhalt in einen Mörser.
«Ich hoffe, Ihr wollt das heute Abend nicht in unser Essen mischen!»
Adelinas Kopf fuhr mit einem Ruck in die Höhe. Vor ihr stand der Medicus und grinste. Sein Blick war an dem Schild hängen geblieben, das an dem Kästchen befestigt war. «Was um alles in der Welt macht Ihr da?»
«Ich pulverisiere Arsenik. Die Frau des Goldschmieds hat Rattengift bestellt.»
«Ist das nicht die Aufgabe Eures Vaters?»
«Seid Ihr durch den Laden hereingekommen?» Adelinas Stimme klang gereizt. «Dann habt Ihr meinen Vater doch sicher getroffen, nicht wahr? Was hat er gerade gemacht?»
Magister Burka runzelte überrascht die Stirn.
«Er hat die Regale abgestaubt.»
«Und dabei vergessen, was er noch zu tun hat», ergänzte Adelina. «Wahrscheinlich ist er in Gedanken wieder in seinem Laboratorium.»
«Laboratorium?» Der Medicus hob die Brauen, doch Adelina ging nicht weiter darauf ein. Was hatte es einen Fremden zu interessieren, dass ihr Vater mehr seinen verrückten Träumen nachhing, als sich um seine Apotheke zu kümmern?
«Dann habt Ihr also bei Eurem Vater gelernt?»
«Ich bin ihm schon immer zur Hand gegangen.» Sie mischte das Arsenik mit einer Hand voll Weizenkörner und füllte das Ganze in einen kleinen Beutel. «Vieles habe ich aus seinen Büchern gelernt.»
«Ihr könnt lesen?»
«Ja, stellt Euch das einmal vor.» Sie warf Burka einen spöttischen Blick zu und begann, die Kräuter für das Hospital zu sortieren. Der Medicus lächelte.
«Verzeiht, ich wollte Euch nicht beleidigen. Ich bewundere nur Eure Vielseitigkeit. Magister Arnoldus lässt Euch Grüße ausrichten. Er will morgen hierher kommen und sich seine Medizin gegen die Gicht abholen.»
«Ihr habt ihm eine Medizin verordnet?» Adelina hob den Kopf und sah ihm erbost ins Gesicht.
«Das ist mein Beruf», erwiderte er, aber sie schüttelte nun aufgebracht den Kopf.
«Magister Arnoldus braucht keine Medizin, solange er sich beim Essen mäßigt und regelmäßig den Sud trinkt, den ich ihm gemischt habe.»
Der Medicus verzog amüsiert das Gesicht und lehnte sich gegen den Tisch.
«Welche Kräuter enthält denn dieser Sud?»
Adelina funkelte ihn an.
«Rosmarin, Hirtentäschl und Schlüsselblumen.»
Burka nickte anerkennend.
«Sehr schön. Die Arznei, die ich ihm verordnet habe, enthält ebendiese Zutaten und außerdem noch ein wenig Katzenschwanz und Hauhechel, aber nur, wenn Ihr welchen da habt.»
«Ihr behandelt Eure Patienten mit Kräutern?» Adelina ließ die Kirschbaumrinde fallen, die sie gerade hatte zerkleinern wollen, und starrte den Magister verblüfft an.
«Ist daran etwas Ungewöhnliches?» Burka blinzelte fröhlich.
«Die meisten Ärzte, die ich kenne, unterhalten sich lieber über die Farbe und Beschaffenheit von Urin. Und die Arzneien, die wir für die Herren bereiten müssen, enthalten so gut wie immer ausschließlich irgendwelche Metalle und seltene Pulver.»
Burka lachte.
«Natürlich, denn diese Ingredienzien sind ja auch ausgesprochen teuer, nicht wahr? Meiner Meinung nach ist aber der menschliche Körper kein Schmelztiegel, deshalb versuche ich die metallhaltigen Substanzen zu meiden. Bisher mit einigem Erfolg, wie ich meine.»
Adelina entspannte sich wieder und beugte sich erneut über ihre Kirschrinde.
«Hättet Ihr wohl morgen Zeit, Euch das Bein eines jungen Mannes anzusehen?»
«Warum nicht? Wenn Ihr mir sagt, wer der junge Mann ist und um welches Gebrechen es sich handelt.»
«Der Mann heißt Benedikt. Er ist im Beginenhospital, weil sein Bein gelähmt ist. In letzter Zeit hat er häufig Schmerzen, doch ich konnte noch nicht herausfinden, was der Grund dafür ist.»
Der Medicus nickte nachdenklich und lächelte ihr dann wieder zu.
«Es wird mir eine Freude sein, Euch zu begleiten.»
«Verratet Ihr mir, wo sich das Hospital befindet?» Magister Burka, heute wieder in seinen langen Mantel gekleidet, der ihn als Medicus auswies, folgte Adelina durch eine Gasse, die vom nächtlichen Regen schlammig glänzte.
«Im Kirchspiel von St. Gereon. Es ist das Beginenhospital in der Nähe des Blidenhauses.»
«Das ist ein weiter Weg.»
«Man gewöhnt sich daran.» Adelina zuckte mit den Schultern.
«Dann seid Ihr also oft dort?» Burka wechselte den Korb mit den Arzneien von der rechten Hand in die linke, um einer Frau mit einem Karren voll Gemüse Platz zu machen.
«Wir müssen zuerst Schwester Irmingard aufsuchen. Sie wartet schon auf die Kräuter. Danach führe ich Euch zu Benedikt.»
Schwester Agathe brachte die beiden zu Irmingards Schreibstube. Die Leiterin des Hospitals überprüfte gerade Papiere, die aussahen wie Inventarlisten. Sichtlich erfreut begrüßte sie die Besucher und nahm den Korb entgegen.
«Vielen Dank, Adelina, dass Ihr uns die Bestellung so rasch bringt. Bitte übermittelt auch Eurem Vater meinen Dank. Der Apotheker, der uns früher beliefert hat, brauchte immer viel länger, bis er alles beisammenhatte!»
Adelina nickte und lächelte verbindlich.
«Ich werde es ihm ausrichten. Und nun möchte ich gern Magister Burka zu Benedikt führen. Ist er schon aus dem Speiseraum zurück?»
Irmingard schüttelte betrübt den Kopf.
«Er war heute Morgen nicht in der Lage aufzustehen. Schon seit heute Nacht klagt er über starke Schmerzen. Noch nicht einmal der Schlafmohn hat viel bewirkt.»
Sie ging voran und führte die beiden Besucher in den großen Saal. Der Medicus sah sich neugierig um. Benedikts Schlafstatt lag direkt neben einem der hohen, mit Decken abgedichteten Fenster.
«Adelina!» Benedikt strahlte, als er die junge Frau erkannte. «Bringt Ihr mir neue Umschläge? Mein Bein ist wieder schlimmer geworden. Konnte die halbe Nacht kein Auge zutun!»
«Das tut mir Leid. Ich habe Magister Burka mitgebracht. Er ist ein Medicus und will sich Euer Bein ansehen.»
«Ein Medicus?» Der junge Mann fuhr sich durch das zerzauste blonde Haar und musterte den Fremden. «Ich habe aber nicht viel Geld, um ihn zu bezahlen.»
«Nun mal sachte.» Neklas Burka lächelte ihm zu und beugte sich über das kranke Bein. «Noch habe ich nichts getan, was Euch auch nur einen Heller kosten würde. Ich schaue mir die Sache an, und dann entscheiden wir zusammen, ob Ihr Euch eine Behandlung leisten könnt.» Er tastete vorsichtig das Knie und das Schienbein ab und runzelte die Stirn. «Ist das Bein schon lange gelähmt?»
«Schon immer. Ich bin damit geboren worden», erklärte Benedikt. Der Medicus hob den Fuß des Patienten ein wenig an. Im gleichen Moment schrie Benedikt vor Schmerz auf.
«Verzeiht, das muss leider sein. Ihr spürt also, wenn ich Euch berühre?»
Benedikt nickte. Er war ganz blass geworden. «Ich kann das Bein nur nicht bewegen.»
«Seltsam», Burka tastete noch einmal. «Seid Ihr in letzter Zeit vielleicht gestürzt?»
Der junge Mann überlegte eine Weile, dann nickte er wieder.
«Vor ein paar Wochen bin ich auf der Straße ausgerutscht. Das war, als es so schlimm geregnet hat.»
«Und dabei scheint Ihr Euch das Schienbein gebrochen zu haben. Hier.» Er tippte leicht auf eine Stelle am Bein. «Ich kann genau spüren, wo der Bruch wieder zusammengewachsen ist. Leider nicht ganz gerade, deshalb habt Ihr auch noch immer Schmerzen. Die werden aber wahrscheinlich irgendwann vergehen.»
«Merkwürdig, dass der Bader das nicht festgestellt hat», meinte Adelina.
«Ach, der hat mich doch gar nicht richtig untersucht.» Benedikt machte eine wegwerfende Handbewegung. «Der meinte wohl, ich sei der Mühe nicht wert.»
Adelina schüttelte empört den Kopf, doch Burka ging nicht weiter darauf ein, sondern befand: «So wie ich es sehe, sind die Umschläge, die Adelina Euch gemacht hat, genau das Richtige, bis alles wieder verheilt ist. Mehr kann ich da auch nicht tun. Allerdings solltet Ihr nicht an diesem zugigen Fenster schlafen. Das könnte Eure Schmerzen verschlimmern. Immerhin ist es nachts schon recht kalt.»
«Ich gehe nicht vom Fenster weg!» Benedikt wurde noch blasser und klammerte sich entsetzt an seine Decke. «Sagt ihm, dass ich nicht hier weggehe!»
«Ihr braucht nicht hier wegzugehen. Natürlich behaltet Ihr Euren Fensterplatz.» Irmingard legte dem aufgeregten Mann eine Hand auf die Schulter und redete beruhigend auf ihn ein.
Adelina wandte sich ab und ging in Richtung Wandschirm. Burka folgte ihr auf dem Fuße.
«Was hatte das denn zu bedeuten?»
«Benedikt ist als Kind von seiner Mutter in einem kleinen Kellerraum ohne Fenster eingesperrt worden, weil er diese Behinderung hatte», flüsterte sie zurück. «Er kann keine Dunkelheit vertragen und bringt es nicht fertig, woanders als unter dem Fenster zu schlafen.» Sie trat hinter den Wandschirm und steuerte zielstrebig auf die kleine Vincentia zu. Das Mädchen saß auf seinem Bett und drehte ohne Unterlass ein Strohpüppchen in den Händen.
«Na, Vincentia, wie geht es dir heute?» Adelina strich ihr übers Haar, doch die Kleine reagierte nicht. Die Puppe drehte sich weiter. «Hast du schon gegessen? Sieh mal, ich habe dir etwas mitgebracht. Ein Kleid für dein Püppchen.» Sie holte ein Puppenkleid unter ihrem Mantel hervor, das sie aus Stoffresten zusammengenäht hatte, und legte es vor Vincentia hin. Die Kleine schien es nicht zu beachten. Adelina betrachtete sie noch eine Weile, dann wandte sie sich zum Gehen. Plötzlich griff das Mädchen nach dem Kleid und presste es an die Brust. Dabei wiegte sie sich vor und zurück.
«Schönes Kleid», sagte sie. Das Püppchen war einen Augenblick zur Ruhe gekommen.
Adelina sah sich nach Reinhild um, doch die schien sich noch im Speiseraum aufzuhalten. Deshalb machte sie sich wieder auf den Weg nach draußen. Der Medicus begleitete sie schweigend.
«Das ist kein normales Hospital», sagte er, als sie wieder auf der Straße standen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Adelina zog den Kopf ein und marschierte los. Burka, der wesentlich längere Beine hatte, hielt jedoch leicht mit ihr Schritt. «Ich habe mich umgesehen. Die meisten Patienten, die dort untergebracht sind, sind nicht richtig im Kopf.»
«Das kommt ganz auf den Standpunkt an.»
«Mag sein.» Der Medicus sah sie von der Seite an. «In den meisten Städten werden solche Menschen in Türme oder Gefängnisse gesteckt.»
«Das weiß ich.» Adelina blieb stehen und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. «Seit die Beginen das Hospital gebaut haben, brauchen wir den Narrenturm nicht mehr. Sie kümmern sich gut um die Kranken. Im Turm würden sie nur angekettet oder eingesperrt. Die alte Grande Dame Brigitta und Schwester Irmingard haben vor dem Stadtrat darum gekämpft, dass die Geisteskranken ins Hospital gebracht wurden. Dort werden sie wenigstens gut behandelt.» Sie stapfte weiter.
«Nicht viele Menschen denken so.» Hinter ihnen wurde Hufgetrappel laut. Jemand stieß einen Warnruf aus. Burka nahm Adelinas Hand und zog sie in einen Hauseingang. Polternd rollte ein mit Weinfässern beladenes Fuhrwerk an ihnen vorbei.
«Ich denke jedenfalls so.» Adelina schüttelte seinen Arm ab und marschierte entschlossen weiter. Den Rest des Weges schwiegen sie.
Gleich nach der Wiederkehr ins Apothekerhaus zog der Medicus sich in seine Kammer zurück. Albert Merten hatte in der Apotheke alle Hände voll zu tun. Adelina half ihrem Vater die Kunden bedienen, danach bereitete sie das Mittagessen und setzte Wasser auf. Am Nachmittag wollte sie Vitus baden. Der Junge half ihr, den großen Bottich in die Stube zu tragen, und sah ihr aufgeregt dabei zu, wie sie den großen Hinterladeofen von der Küche aus anheizte. Vitus liebte es zu baden. Am liebsten hätte er seine Katze ebenfalls gewaschen, doch beim Anblick des Wassers war Fine mit einem großen Satz auf eines der Regale gesprungen und versteckte sich dort hinter einem bauchigen Krug. Adelina schrubbte ihrem Bruder den Rücken und wusch ihm die Haare mit der Seife, die sie selbst gesiedet hatte. Begeistert planschte Vitus in dem warmen Wasser und verspritzte es überall auf dem Boden. Als es Adelina schließlich gelungen war, ihren Bruder abzutrocknen und wieder anzuziehen, war dieser so erschöpft, dass er auf der Bank neben dem Ofen einschlief. Sie trug das Wasser Eimer für Eimer hinaus in die Abortgrube und wischte den Boden der Stube. Danach war es schon wieder Zeit, das Abendessen vorzubereiten. Sie buk süßes Brot und briet die dicken Grützwürste, die ihrem Vater so gut schmeckten.
Wieder war der Medicus voll des Lobes für ihre Kochkünste. Er nahm sich zweimal einen Nachschlag.
«Ihr werdet platzen, wenn Ihr noch mehr esst», meinte sie und beobachtete, wie er genüsslich auf den letzten Bissen herumkaute.
«Ihr macht es einem schwer, Maß zu halten.» Anerkennend klopfte er sich auf den Bauch und lehnte sich zurück. «Wo habt Ihr nur so gut Kochen gelernt?»
«Sie hat es sich selbst beigebracht, nicht wahr, Mädchen?» Albert freute sich sichtlich über das Lob für seine Tochter und tätschelte ihr die Hand. «Sie hat sich wunderbar um uns gekümmert, nachdem ihre liebe Mutter so früh von uns gegangen ist.» Sein Blick wurde wehmütig. «Viel zu früh. Aber wir haben uns durchgeschlagen. Adelina ist ein tapferes Mädchen. Und sie sieht ihrer Mutter so ähnlich! Das gleiche hübsche Gesicht und die gleichen wundervollen schwarzen Haare.» Albert traten Tränen in die Augenwinkel. «Ihre Mutter war eine Schönheit, das war sie. Und Lina ist es ebenfalls. Nicht wahr, Herr Medicus?»
«Vater», Adelina spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. «Ich glaube nicht, dass der Herr Magister sich dafür interessiert.»
«Ach was», Albert lächelte versonnen, dann beugte er sich zum Medicus vor. «Wie gefällt es Euch in Köln? Habt Ihr Euch bereits eingelebt?»
«Es ist eine prächtige Stadt.» Burka ließ sich von Adelina Bier in seinen Becher nachschenken und nahm einen Schluck.
«Und an Patienten wird es Euch bestimmt nicht mangeln», fügte Albert hinzu. «Die Stadt wächst täglich. Aber sagt an, was hat Euch denn überhaupt nach Köln geführt? Ihr sagtet doch, dass Ihr aus Frankreich kommt.»
«Italien», verbesserte der Magister. «Gewisse Umstände haben mich gezwungen, das Land zu verlassen.» Er schwieg einen Augenblick, dann lächelte er. «Eure Tochter erzählte mir, dass Ihr ein eigenes Laboratorium besitzt?»
Albert Merten nickte eifrig. «In der Tat, so ist es.»
«Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich es mir gern einmal ansehen.»
Adelina warf dem Magister einen warnenden Blick zu, doch der schien das nicht zu bemerken. Ihr Vater redete bereits begeistert auf ihn ein und beschrieb ihm das Experiment, das er gerade durchführte, um ein weißes Pulver zu gewinnen, das ihn dem Geheimnis der Transmutation wieder einen Schritt näher bringen würde. Adelina verdrehte die Augen. Neklas Burka ließ sich jedoch bereitwillig von ihrem Vater in das kleine Kellergewölbe führen, in dem dieser sein Laboratorium untergebracht hatte.
Adelina stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Zwei vom gleichen Schlag. Sie schloss die Augen. Nie würde sie begreifen, was erwachsene Männer dazu trieb, sich stundenlang in ein muffiges Zimmer einzuschließen, Metalle zu schmelzen, Pulver zu mischen und Experimente durchzuführen, bei denen ihnen nicht selten die Zutaten mit lautem Getöse um die Ohren flogen. Und das alles, um das Geheimnis zu lüften, wie man aus niederen Metallen Gold herstellte! Dabei hatten sich an der Goldmacherei schon viel Klügere vergeblich versucht. Adelina öffnete die Augen wieder und sah ihren Bruder vor sich, der gedankenverloren seinen Zeigefinger durch eine Bierlache auf dem Tisch zog.
«Komm, Vitus. Ich bringe dich ins Bett.»
«Erzählst du mir wieder eine Geschichte?»
«Ich erzähle dir auch eine Geschichte.» Ergeben ging sie hinter dem Jungen her den schmalen Gang entlang, von dem aus die Türen zu den Schlafkammern abzweigten. Zwischen ihren Beinen schlängelte sich die Katze hindurch und schoss auf das Bett zu.
«Sollen wir Fine nicht lieber hinauslassen?» Sie streckte die Hände nach der Katze aus, doch Vitus stieß sie zurück.
«Sie soll hier bleiben!», rief er aufgebracht. «Ich will nicht, dass sie rausgeht, weil die anderen sie doch totmachen wollen.»
«Vitus, die Buben werden ihr nichts tun. Sie haben dich nur gehänselt. Fine kann doch nicht ewig bei dir im Bett schlafen.»
«Tu sie nicht raus!» Vitus fing an zu weinen und legte schützend seine Arme um die Katze, die schnurrend ihr Köpfchen an seiner Brust rieb. Adelina holte tief Luft, seufzte dann schwer und setzte sich neben ihren Bruder.
«Also gut, in Gottes Namen, dann bleibt sie eben hier.»
Vitus’ Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. Er zog sich bis aufs Hemd aus und kuschelte sich unter seine Decke. Fine hielt er weiterhin schützend nah bei sich.
«Was für eine Geschichte möchtest du denn gern hören?»
«Eine von dem Drachen», kam es prompt. Sie überlegte einen Augenblick, dann begann sie mit der gewünschten Geschichte. Sie war noch nicht bei der Hälfte angelangt, da verkündeten die tiefen Atemzüge, dass Vitus eingeschlafen war. Fine hatte sich an seinem Bauch zusammengerollt und blinzelte träge. Einen Augenblick lang saß Adelina noch nachdenklich am Bett ihres Bruders. Dann griff sie sich das Licht und schlüpfte auf Zehenspitzen aus der Kammer.
Eine milchige Sonne durchdrang den Frühnebel, doch die Luft war schon herbstlich kalt und dämpfte den Gestank, der sonst aus den Rinnsteinen aufstieg.
Adelina war einmal mehr auf dem Weg zum Beginenhospital. Dabei überlegte sie, ob Reinhild sich für die neuesten Nachrichten aus dem Stadtrat interessieren würde. Der Ratsherr van der Schuren war am Vortag in die Apotheke gekommen und hatte die Hustenarznei für seine Frau geholt und Adelina von den wichtigsten Neuigkeiten über Beschlüsse des Rates berichtet.
Schwester Agathe empfing sie mit sorgenvollem Gesicht.
«Jungfer Adelina! Gut, dass Ihr kommt. Schwester Irmingard wollte schon nach Euch oder dem Medicus schicken lassen!»
«Ist etwas mit Benedikts Bein?» Adelina folgte der Frau zum Eingang.
«Nein. Aber der alte Balthasar, Ihr wisst schon, der hat seit heute Nacht eine schlimme Krankheit. Wir fürchten um sein Leben!»
«Balthasar? Ist das nicht der weißhaarige Alte, der sich manchmal nicht erinnern kann, wie er heißt?»
«Genau.» Die Pförtnerin blieb im Eingang stehen und wies aufgeregt in Richtung Krankensaal. «Schwester Irmingard und Schwester Heidrun kümmern sich um ihn.»
Adelina öffnete die Tür zum Saal und fuhr erschrocken zurück. Balthasar würgte und wand sich in Krämpfen. Gurgelnd schrie er seinen Schmerz heraus. Die beiden Pflegerinnen bemühten sich nach Kräften, ihn zu besänftigen und zu verhindern, dass er aus dem Bett fiel. Mit wenigen Schritten war Adelina am Bett und packte Balthasars Arme, um ihn ruhig zu stellen. Verzweifelt versuchte er sich aus ihrem Griff zu befreien, sodass die zwei Beginen noch eine weitere Pflegerin herbeiriefen.
«Balthasar!» Adelina versuchte seine Schreie mit ihrer Stimme zu übertönen. «Liegt doch still, damit ich Euch helfen kann!»
Sein flackernder Blick streifte Adelina, und für einen Moment hielt er inne. «Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?» Seine Worte klangen undeutlich. Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn.
«Ich bin’s, Adelina. Ich möchte Euch helfen. Aber dazu müsst Ihr mir sagen, wo es Euch wehtut.»
Der Mann wand sich erneut.
«Wo? Überall! Ich bin vom Teufel besessen! Ich kann meine Beine nicht mehr spüren! Es zerreißt mich!» Er keuchte und sank in sein Kissen zurück.
«Eure Beine?» Sie tastete seine Waden ab, doch er schien nichts zu spüren.
«Was kann das nur sein?»
Ratlos blickte Irmingard auf Balthasar nieder. «Vor einigen Stunden fing er, an über Krämpfe zu klagen, und seither ist es immer schlimmer geworden. Ich wollte schon nach Euch schicken lassen.»
«Hat er etwas Verdorbenes gegessen?»
«Nicht dass ich wüsste. Gestern Abend gab es Haferpfannkuchen, und die anderen sind nicht krank geworden.»
Plötzlich röchelte der alte Mann, bäumte sich auf und erbrach sich in einem Schwall auf den Boden. Adelina sprang zur Seite. Hustend und würgend versuchte er sich auf seinem Lager zu drehen. Aber es schien, als ob er seine Arme nicht mehr richtig bewegen könnte.
«Helft mir!» Balthasar rang nach Atem, seine Augen irrten flehend von einer zur anderen. Schwester Heidrun, eine junge Begine mit zahlreichen verblassten Pockennarben auf Gesicht und Hals, stolperte erschrocken los, um Tücher und Wasser zu holen. Irmingard beugte sich trotz des erbärmlichen Gestanks über den Kranken und streichelte ihm über die Wangen.
«Wir versuchen ja, Euch zu helfen, keine Angst!»
Doch der alte Mann verstand sie nicht mehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zur Decke und holte keuchend Luft, dann zuckte sein Leib noch einmal heftig. Im nächsten Moment brach sein Blick, und er sank in sich zusammen.