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Anfang der siebziger Jahre gerät die Belegschaft einer Buchhandlung in einer süddeutschen Universitätsstadt in die Auseinandersetzungen über Kernkraftwerke. Nach einer gewalttätigen Demonstration findet man die Eigentümerin tot unter ihren Büchern. Hat sie sich den Zorn der radikalen Studenten zugezogen oder geht es um private Konflikte mit ihren Angestellten? Eine Spurensuche in einem wichtigen Abschnitt der Zeitgeschichte, erzählt mit hintergründigem Humor.
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Seitenzahl: 263
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Teil eins
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Teil zwei
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel Achtes
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Als Rosi an dem kalten Januarmorgen fünf Minuten nach halb neun vor ihrem Geschäft stand, wunderte sie sich, dass nur die Nachtbeleuchtung im Laden brannte. Der Hauptraum der Buchhandlung Zum Eckstein lag im Erdgeschoss des Neuen Kollegiengebäudes und musste Tag und Nacht beleuchtet sein. Dann fiel ihr ein, dass Inventur angesagt war und die Belegschaft diese lästige Prozedur mit einer Lagebesprechung im Café Holbein gegenüber einleiten wollte. Das Beste war, dass es heute noch ein prima Mittagessen auf Kosten der Chefin geben würde.
Rosi hüpfte zwei oder dreimal von einem Fuß auf den anderen. Sie war mit allem einverstanden, was nicht nach Routine roch. Erst jetzt entdeckte sie das in schwungvoller Handschrift gestaltete Plakat in der Glastür: Wegen Inventur am 3. und 4. Januar geschlossen. Bitte haben Sie Verständnis!
Das Plakat war nicht gut zu lesen. Jemand hatte wohl in der Nacht vom Sonntag auf den Montag quer über die Scheibe gesprüht: MACHT KAPUTT, WAS EUCH KAPUTT MACHT!
Rosi stellte sich vor, wie die Chefin tobte, als sie die Schmiererei entdeckte. Wohl kaum aus moralischer Entrüstung, sondern weil sie wieder ein paar Mark für die Reinigung ausgeben müsste. Womöglich würde sie deshalb selber mit Schrubber und heißem Wasser kurzatmig und erfolglos dem Zeitgeist auf den Leib rücken. Oder aber sie schickte Franz, das Faktotum. Am wahrscheinlichsten war, dass die Arbeit an Rosi hängenblieb. Denn Rosi, fünfzehn Jahre alt, mit Hauptschulabschluss, hatte ihre Lehre als Buchhändlerin gerade erst begonnen und musste noch einen Monat Probezeit überstehen.
Sie winkte kurz hinüber zur anderen Straßenseite, wo der Besitzer der Edelsteinschleiferei gerade die Rollläden hochzog, und schrie fröhlich:
»Gutes Neues Jahr, Herr Wintermantel! Sind Sie das gewesen?« Sie deutete auf die provozierende Inschrift. Der Nachbar lachte und drohte ihr mit dem Finger.
»Das warst doch eher du«, rief er heiter zurück. Er konnte das Mädchen anscheinend gut leiden, die Chefin hatte so etwas mal erwähnt. Rosi streckte beide Daumen in die Höhe. Dann kratzte sie schon einmal an der roten Sprühschicht. Zufrieden bemerkte sie, dass die Farbe ganz leicht abging. Nun setzte sie sich mit ungetrübter Laune in Trab, so dass der enge karierte Minirock, den sie trotz der Kälte über schwarzen Strumpfhosen trug, bis zum Po hinaufrutschte. Sie stieß schwungvoll die Tür zum Café auf und schlüpfte in die wohlige, leicht verräucherte Wärme. Unbekümmert um die vorwurfsvollen Blicke bestellte sie erst einmal eine Cola. Noch drei Stunden bis zum Mittagessen. Die würde sie schon überstehen.
Der Rauch stieg in trägen Schwaden zur niedrigen Decke des Nebenzimmers. Rita Bruder, Eigentümerin der Buchhandlung Zum Eckstein, hatte es für die Belegschaft gemietet, um sie bei Laune zu halten. Am ersten Tag der Inventur sah es immer so aus, als ob mindestens eine Woche nötig sei, bis jedes Buch gezählt, registriert und wieder eingeordnet war. Zeitschriften, Postkarten, Briefmarken, Bleistifte, Verpackungsmaterial, alles musste in die Hand genommen werden. Eine langweilige, monotone Arbeit, die dennoch Sorgfalt und Ausdauer abverlangte. Außerdem war sie verheerend für die Fingernägel und das Selbstwertgefühl, erst recht, wenn man sich wie Fräulein Elisabeth Walter und Frau Ute Mann-Schmitt nicht nur als Buchverkäuferinnen, sondern als schöngeistige Mittlerinnen zwischen Autoren und literaturkundigem Publikum verstand. Beide Damen waren schon seit mehr als zehn Jahren die Eckpfeiler der Buchhandlung.
Elli war mit der Chefin per Du und betrachtete sich als mit ihr befreundet. Daher beanspruchte sie das attraktive Touristengeschäft und die Belletristik im Erdgeschoss. Bei der Belegschaft galt sie als Nachfolgerin, wenn die Chefin von Zeit zu Zeit dunkel andeutete, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen.
Ute Mann-Schmitt durfte sich als Herrin des Souterrains fühlen, dem Reich der Taschenbücher und wissenschaftlichen Buchreihen. Sie besaß einen Ruf als anerkannte Ratgeberin für Doktoranden und war unersetzlich als Kontaktperson zu den Instituten in den angrenzenden Universitätsräumen.
Beide Frauen hatten wieder einmal gemeinsam vorgeschlagen, für drei Tage ganz zu schließen und bei der Gelegenheit ein paar dringend notwendige Umgestaltungen vorzunehmen. Die Buchhandlung bestand im Wesentlichen aus zwei langgezogenen rechteckigen Verkaufsräumen, verteilt auf zwei Ebenen.
»Wir müssen was tun! Nochmal ein Weihnachtsgeschäft stehen wir in dem vollgestopften Laden nicht mehr durch.« Elli blieb beinahe die Stimme weg, so empört war sie über die Sturheit der Chefin. »Das Regalsystem muss ganz neu gestaltet werden. Die langen Tische sind einfach überholt. Für die Neuerscheinungen brauchen wir attraktive Präsentationen an kleinen Tischen, möglichst mit Sitzgelegenheiten. Und eine Polsterecke für die Kinder. Die schmökern gern und die Eltern könnten sich in Ruhe umsehen.«
»Frau Walter hat ganz recht«, mischte sich Ute Mann-Schmitt ein. »Auch unten müssen wir dringend was unternehmen. So wie es jetzt ist, habe ich keinerlei Kontrolle. Sie wissen, was ich meine. Ich kann nicht jedem Dieb hinterherspurten.«
Aus der Mitte des oberen Raumes führte eine geschwungene Treppe ins Souterrain, links und rechts durch einen Handlauf gesichert. Dort gab es die gleiche Anordnung wie im Erdgeschoss, nur dass an den Wandregalen unten schmale Sockel hervorstanden, auf denen Taschenbücher und kleinere Paperbacks aufgetürmt waren. Drei winzige, recht dunkle und spärlich möblierte Räume schlossen sich an. In einem davon residierte die Chefin. Ein anderer Raum mit einer gelegentlich durch einen Tapeziertisch blockierten Brandschutztür führte in die Kellerräume des KG II. Er diente als Werkstatt und Verpackungsraum. Ein ungemütliches Loch, in dem man es nach Ansicht der Belegschaft unmöglich länger aushalten konnte, ohne einen seelischen Schaden davonzutragen. Der Durchgang zum KG II erwies sich aber als äußerst praktisch. Nicht nur verkürzte er für Franz die Lieferwege, sondern erlaubte vier Frauen aus der Universitätsputzkolonne den Zutritt zur Buchhandlung, auch wenn diese geschlossen hatte. Rita Bruder hatte diesen pfiffigen Deal mit der Univerwaltung ausgehandelt. Es ersparte ihr die lästige Suche nach geeignetem Reinigungspersonal. Franz sollte ein wachsames Auge auf die Frauen haben und, wenn nötig, auch selbst mit anpacken.
Der dritte Raum – das Kabuff – war der Personalraum. Daneben gab es eine Toilette. Da in der Buchhandlung Zum Eckstein auch ausgebildet wurde, diente das Kabuff als gesetzlich vorgeschriebener Pausenraum. In dieser Funktion wurde er nur selten benutzt, denn das Personal verbrachte seine Pausen – wann immer das Wetter es zuließ – am liebsten im Freien. Dies war angesichts der Nähe zu den reichlichen Grünanlagen in der Nachbarschaft kein Problem.
In beiden Verkaufsräumen gab es keinerlei Komfort, die einen unentschlossenen Leser dazu verführt hätten, sich doch noch auf den einen oder anderen teuren Bildband einzulassen. Keine Café-Bar, an der sich ein interessantes Literaturgespräch hätte entwickeln können. All das fand sich bei der Konkurrenz an der nächsten und übernächsten Straßenecke. In der beliebten Universitätsstadt gab es mehr als ein Dutzend Buchläden, Tendenz steigend, wenn man das Sortiment der großen Kaufhäuser dazurechnete. Es war ein Wunder, dass am Umsatz bisher immer noch alles stimmte.
Elli und Ute hätten nur zu gerne ein Wochenende für die Renovierung geopfert, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Bei Elli wartete zu Hause niemand und überhaupt betrachtete sie die Buchhandlung mit den Augen einer Kronprinzessin. Ute wiederum hatte keine Lust auf eine weitere Diskussion zuhause über ihre verkorkste Ehe.
Und außerdem ging es im Souterrain wirklich besonders eng zu.
Rita Bruder lehnte jede weitere Diskussion kategorisch ab, wie immer in dem für sie typischen, leicht ordinären Tonfall.
»Ihr habt vielleicht Nerven!«, sagte sie und blies den Rauch ihres Zigarillos geräuschvoll gegen die Decke. »Soll ich riskieren, dass die Leute vom Linguistenkongress zur Konkurrenz rennen? Wozu habe ich dann mit Professor Diemer ausgemacht, dass er die Leute zu mir schickt, wenn sie nach einer guten Buchhandlung fragen?«
Sie legte eine Kunstpause ein. »Und überhaupt weiß ich gar nicht, wie lange ich den Laden noch halten kann. Erst gestern hat mir der Doktor wieder ins Gewissen geredet.«
An dieser Stelle der Ansprache hustete sie ausgiebig.
»Seid nicht so wehleidig! Wenn ich damals so zimperlich gewesen wäre, gäbe es den Eckstein überhaupt nicht. Dabei setzte sie dieses schiefe Grinsen auf, das, zusammen mit einem deutlich schielenden linken Auge, den Ausdruck charmanter Hinterhältigkeit hervorrief. »Und jetzt dalli, dalli, um eins gibt es Mittagessen. Rosi, mit dir habe ich noch ein Wörtchen zu reden.«
Nun also saßen sie im Hinterzimmer der Harmonie und stärkten sich nach dem ersten strapaziösen Halbtag mit dem Mittagessen. Diesmal hatte die Chefin etwas tiefer in die Tasche gegriffen. Es gab ein typisch badisches Menü, bestehend aus Rinderbrühe mit Markklößchen, Ochsenfleisch mit Meerrettichsoße, Salzkartoffeln und Preiselbeeren. Der Nachtisch war eine Spezialität des Hauses, eine hausgemachte Weincreme. Die Chefin spendierte auch die Getränke. Geradezu eindringlich ermunterte sie alle, den erstklassigen Rotwein vom Kaiserstuhl zu probieren. Wahrscheinlich wusste sie, warum. Es konnte nicht schaden, wenn sie der Truppe zu einer entspannten Stimmung verhalf. Wie so oft hatte sie den versprochenen Betriebsausflug Monat für Monat verschoben, bis das Jahr herum war.
Beim Kaffee rauchten alle. Franz Seeler, der einzige Mann in der Runde, mühte sich mit einem Zigarillo ab. Ungeschickt paffte er vor sich hin. Man konnte ahnen, dass es ihm später schlecht werden würde. Aber um keinen Preis hätte er es gewagt, die Lieblingssorte seiner Chefin abzulehnen. Beklommen merkte er, wie sie ihm gelegentlich einen spöttisch interessierten Blick zuwarf.
Franz oder Franziskus, wie er von allen halb mitleidig, halb ironisch genannt wurde, war in der Tat eine arme Seele. Seit vierzehn Semestern war er Student der katholischen Theologie. Von den sieben Jahren verbrachte er die meiste Zeit in den Kellerräumen der Buchhandlung. Als Laufbursche und Hausmeister verrichtete er kleinere Reparaturen, transportierte Zeitschriftenremittenden zurück, verpackte Bestellungen der Institute und diente als Blitzableiter für die Launen seiner Herrin. Rita Bruder beutete ihn schamlos aus, schikanierte ihn und ließ ihn für einen Hungerlohn arbeiten. Es war völlig klar, dass Franziskus niemals ein einziges Examen ablegen würde. Man orakelte, sein Leben werde in der sprichwörtlichen Armut des berühmten heiligen Namensvetters enden.
»Armes Luder«, seufzten die Damen Elli und Ute mitleidig und warfen einen empörten Blick auf seine schäbigen, ungepflegten Klamotten.
»Arme Sau!«, titulierte ihn die Chefin, zahlte ihm aber keinen Pfennig mehr. Dafür schenkte sie ihm Jahr für Jahr zu Weihnachten ein Mängelexemplar, diesmal eine Märchensammlung, in der es nur so wimmelte von Burschen, die sieben Jahre treu und bescheiden gedient hatten und dann ihr Glück machten.
Nur die Jungbuchhändlerin Gesine Petersen, vor einem Jahr in die Breisgaumetropole gekommen, hatte den vergeblichen Versuch unternommen, den verkrachten Studenten zu ermuntern, das demütigende Arrangement zu beenden und für bessere Bedingungen zu kämpfen.
Gesine, ganz rebellische Pfarrerstochter, konnte eine so auf der Hand liegende Ausbeutung nur schwer ertragen. Dem Engagement für den armen Franziskus hätte sie beinahe ihren eben erst angetretenen Arbeitsplatz geopfert. Rita hatte mit einer Abmahnung gedroht. Aber Gesine war jung, hübsch und außerordentlich tüchtig; ein richtiger Magnet für das studentische Publikum. Außerdem bewirkte ihre Anwesenheit, dass die beiden älteren Angestellten sich mächtig ins Zeug legten, um ihre Positionen zu verteidigen. Die Chefin verstand es meisterhaft, die unterschwellige Konkurrenz zwischen den »Weibern« ihres Geschäftes gewinnbringend zu steuern.
Rita Bruder schob sich ächzend in die Höhe. Ihr schwerer Busen, betont durch eine voluminöse Achatkette, fegte den Aschenbecher vom Tisch. Mit dem Messerrücken schlug sie kräftig gegen ihr Weinglas.
»Alle mal herhören!« Ihre heisere Stimme kippte um und sie musste erst Luft holen, um den Lärmpegel der Tischrunde zu übertönen.
»Hört alle mal her!« Sie wedelte mit ein paar handgeschriebenen Blättern den Rauch vor dem Gesicht weg und wartete einige Sekunden, bis alle schwiegen. »Wir haben im letzten Jahr gar nicht mal so schlecht abgeschnitten. Es hätte natürlich noch besser sein können. Die Touristen lassen zu wenig liegen. Ich habe beobachtet, dass zwar viele mal durch die Tür reinblinzeln, dann aber weitergehen. Das spricht nicht für uns.«
Elli zuckte zusammen ob dieser Ungerechtigkeit. Wie sollte sie den Eingangsbereich und die Schaufenster verlockender gestalten, wenn die Chefin jede Veränderung, die etwas kostete, abschmetterte? Sie lehnte sich beleidigt zurück.
»Im wissenschaftlichen Bereich haben wir zu viele Rückläufe. Das kostet Zeit und Geld. Ich bin überzeugt, hier könnte man geschickter organisieren. Und bei den Taschenbüchern wird ungeniert geklaut. Ihr werdet da in Zukunft gefälligst besser aufpassen! Man muss halt auch einmal einen Blick in die Taschen werfen. Der Buchhandel ist in erster Linie ein Geschäft und keine karitative Einrichtung.«
Dieser Teil der Rede, vor allem an Ute und Gesine adressiert, rief unterschiedliche Reaktionen hervor.
Ute verschränkte die Arme, aber sie schwieg. Das fehlte gerade noch, dass sie wie ein Hausdetektiv hinter den Kunden herschnüffeln sollte. Wieder einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie nichts Besseres als eine Verkäuferin war. Warum aber hatte die Chefin ihr zum ersten Mal ein volles dreizehntes Monatsgehalt bezahlt mit einem ausdrücklichen Lob für ihren Einsatz? Natürlich hatte sie versprechen müssen, den Mund zu halten. Mein Gott, ist diese Frau primitiv, dachte Ute resigniert, aber es ist völlig zwecklos zu diskutieren. Und außerdem stimmte es leider: Die Diebstähle, besonders im Taschenbuchbereich, hatten drastisch zugenommen. Ute war – zusammen mit Elli – zuständig für Rosis Ausbildung. Ob da ein Zusammenhang bestand? Hier müsste sie mal genauer hinschauen.
Gesine überlegte einen Moment, ob sie den Mund aufmachen sollte, um gegen die so unverhüllt auftretende Kapitalistenrede zu protestieren. Sie hätte da schon ein paar provozierende Thesen auf Lager. Zum Beispiel den Klassiker: Eigentum ist Diebstahl. Aber das war zu gefährlich. Denn ein Teil der sogenannten Diebstähle ging tatsächlich auf Gesines Konto. Ohne ernsthafte Gewissensbisse ließ sie zu, dass einige befreundete Studenten so nach und nach ihre Bibliothek ergänzen durften, natürlich nur Leute, deren prekäre finanzielle Lage sie kannte. Als ob man mit BAFÖG allein auskommen könnte, dachte sie empört, überhaupt sollten Bücher geistiges Gemeineigentum sein.
»Alles in allem bin ich aber nicht unzufrieden.« Ritas Stimme bekam tremolierende Untertöne. »Wir sind bisher eine gut zusammenarbeitende Betriebsgemeinschaft gewesen, eine family, wie die Amerikaner sagen. Darauf sollten wir mal anstoßen.«
Sie erhob ihr Glas und nahm einen kräftigen Schluck. Ohne sich zu setzen, wartete sie, bis alle die Gläser wieder abgestellt hatten und Ruhe einkehrte. Dann räusperte sie sich ausgiebig.
»Ach ja, in zwei Monaten wird es eine Veränderung geben. Ich … Ich habe mich nun doch entschlossen, einen Teil meiner Verantwortung abzugeben. Elli, du weißt ja am besten, dass es Zeit für mich wird, einen Nachfolger zu bestimmen. Also nun … Also ich werde einen Geschäftsführer einstellen. Es ist mein Neffe Karl, den ich endlich dazu überreden konnte, aus Amerika zurückzukommen.«
Sie legte eine Pause ein und sah in die Runde.
»Was ist? Schaut nicht so belämmert! Ihr habt ja keine Ahnung, wie sehr ich mich darüber freue. Aber Genaueres gibt es dann nächste Woche. Los, es wird Zeit, alle wieder an die Arbeit! Rosi, hol mir den Mantel!«
Das Mädchen leerte in einem Zug die Kaffeetasse und stürzte zur Garderobe. Eilig hatten es auch Gesine und Franz. Die leicht beschwipste Pfarrerstochter packte den inzwischen grünlich angelaufenen Theologiestudenten energisch beim Arm und zog ihn aus dem Wirtshaus. Draußen schneite es sacht. Gesine redete lebhaft auf Franz ein, der aber schüttelte nur immer wieder den Kopf.
In der kalten Januarluft kam der Alkohol erst richtig zur Wirkung. Franziskus torkelte ein paar Meter, umklammerte eine Straßenlaterne und übergab sich. Gott sei Dank landete das halb verdaute Mittagessen in einem der berühmten Bächle. Die führten in den Wintermonaten zwar kein Wasser, aber dennoch achtete ein echtes Bobbele sorgfältig darauf, ja nicht hineinzutreten. Franziskus gelang es mit Gesines Hilfe, das Bächle zu überspringen. Es ging ihm jetzt besser. Der Schnee würde bis zum Abend alles zudecken.
Ute fasste beim Hinausgehen ihre Arbeitgeberin beim Ellenbogen und sagte steif:
»Das kommt ja nun wirklich sehr überraschend. Wir sollten doch noch etwas mehr darüber wissen. Im März schon, haben Sie gesagt?«
»Nicht jetzt! Lasst mich in Ruhe! Ihr erfahrt schon noch alles rechtzeitig. Jetzt muss ich dringend nach Hause. Da gibt es auch einiges zu regeln. Bis morgen dann.«
Rita Bruder schüttelte die Hand auf ihrem Arm ab wie eine lästige Wespe und walzte davon, Richtung Straßenbahn.
Elli war einfach sitzengeblieben. Mechanisch rührte sie im Kaffeesatz und ignorierte den Kellner, der den Tisch abräumte. Es ist so gemein, dachte sie, wie kann sie mir das antun? Nach all dem, was ich für sie getan habe … Das werde ich nicht hinnehmen … Nein, diesmal nicht! Den letzten Satz stieß sie laut heraus. Der Kellner zog die Augenbrauen hoch und machte sich an einem anderen Tisch zu schaffen. Flüchtig dachte Elli daran, einfach nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen. Es wäre das erste Mal, dass sie, ohne wirklich krank zu sein, ihre Pflichten vernachlässigt hätte. Dann siegte die gewohnte Arbeitsmoral. Auch trieb sie die Neugier, wie denn die anderen mit der frohen Botschaft zurechtkämen. Zwei Monate! Da war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Schließlich lagen viele Jahre enger Zusammenarbeit und noch vieles mehr auf ihrer Seite der Waage.
Karl Eisele stand vor dem Spiegel und betrachtete sich wohlgefällig. Mit seinen dreißig Jahren fand er sich so attraktiv wie noch nie in seinem Leben. Zum Glück konnte er nicht viel Ähnlichkeit entdecken mit den gedrungenen, grobschlächtigen Formen seiner Mutter Anna oder gar denen seiner Tante Rita. Allenfalls in deren schrägem Grinsen und einer Neigung zur Kurzatmigkeit schlug wohl das Familienerbe durch. Nun ja, seine Mutter war an einem Lungenemphysem gestorben und seine Tante, so hoffte er ungeniert, würde es auch nicht mehr lange machen, so wie sie schnaufte. Karl oder Charly, wie er sich selbst nannte, knetete seine nassen naturkrausen Haare, die er – der Mode entsprechend – im Afrolook trug. Die Sonnenbräune gab ihm zusätzlich ein mediterranes Aussehen, was sich, wie er genau wusste, keinesfalls als Nachteil erwies. Sorgfältig prüfte er das Profil seiner Bauchlinie. Alles makellos, kein Ansatz von Fett, die Bauchmuskeln gewellt wie ein Waschbrett.
Das war nicht immer so gewesen. Mit gemischten Gefühlen erinnerte er sich an die Jahre ziellosen Herumstreunens in Kalifornien und Mexiko. Dorthin hatte es ihn verschlagen, nach einer überstürzten Flucht oder vielmehr Vertreibung aus Deutschland. Irgendwie witzig, dass er nun wieder im selben schäbigen Zimmer stand, in dem er den letzten Streit mit seiner Tante geführt hatte.
Im Haus war alles wie früher. Wenn er hinausschaute, blickte er in den Garten, der einmal der ganze Stolz seiner Mutter war. Jetzt sah er total verwildert aus. Die einst akkurat gezogenen Wege zwischen den Gemüsebeeten waren von Unkraut überwuchert. Der kümmerliche Rasen verdiente kaum seinen Namen. Die Ligusterhecke um das Grundstück herum hätte dringend einen Formschnitt benötigt. In einem Verschlag war Holz gestapelt. Charly dachte mit Grausen daran, dass das Haus noch mit Öfen beheizt wurde. Wenigstens sorgte der alte Kachelofen in der altmodischen guten Stube für angenehme Temperaturen, wenn jemand dazu bereit war, das Brennholz dafür herbeizuschaffen und die Asche zu entsorgen. Ein Glück, dass Charly nur vorläufig seine Abende in dieser Bruchbude verbringen musste. Eine Unterkunft in der Innenstadt war ein essential fürs Überleben.
Während er ein frisches Hemd zuknöpfte und in die engen Jeans stopfte, betrachtete er das Schwarz-weiß-Foto an der Wand, auf dem er als Elfjähriger mit Mutter und Tante frech in die Kamera grinste. Ein hübsches Kerlchen, ohne Zweifel. Zwölf Jahre lag der Streit nun zurück, aber er erinnerte sich Wort für Wort an die Vorwürfe wegen der Schande, die er angeblich über die beiden Frauen gebracht hatte. Verdammt merkwürdig, wie seine Mutter alle Entscheidungen ihrer Schwester Rita überlassen hatte. Anna hatte ihr Kind in das Elternhaus im Freiburger Westen mitgebracht. Es war gottlob von der Bombardierung im November 1944 verschont geblieben. Rita war nie ausgezogen. Karls Vater Friedrich galt seit 1942 als vermisst. An Großeltern konnte sich Charly gar nicht erinnern, überhaupt wurde nur wenig über die Familie gesprochen.
»Sie sind alle beim Angriff umgekommen, bei Freunden in der Merianstraße«. Mehr Auskünfte gab es nicht. Tante Rita hatte meistens hinzugefügt: »Bub, schau in die Zukunft, die ist wichtiger als die Vergangenheit.«
Sie selbst hatte nach dieser Devise gehandelt und munter am Wirtschaftswunder partizipiert. Nicht schlecht, was sie aus einem winzigen Handel mit alten Büchern innerhalb kürzester Zeit aufgezogen hatte.
Darum verstand er bis heute nicht, warum sie damals wegen der paar Kröten so ein Theater machte. Rita hätte das Problem mit links erledigen können. Sie war mächtig stolz auf ihre erstklassigen Verbindungen.
Aber wahrscheinlich war es doch besser gewesen, dass sie ihn mit drei Adressen und einigen Hundertmarkscheinen ausgerüstet nach Übersee geschickt hatte. Das Geld hielt allerdings nicht lange vor. Die Figuren hinter den Adressen entpuppten sich als spießige Ladenbesitzer oder Handwerker aus der zahlreichen Verwandtschaft, die im 19. Jahrhundert in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ausgewandert war.
Charly hörte die Tür unten ins Schloss fallen.
»Bist du da, Karl? Dann komm runter, wir müssen einiges besprechen.«
»Gleich, Rita, bin gerade am Einräumen. Würde gerne noch fertigmachen. Eine halbe Stunde noch, ja?«
»Meinetwegen, ich muss mich sowieso etwas ausruhen.«
Charly ließ seine Vergangenheit weiter Revue passieren, während er nach passenden Plätzen für den Inhalt seiner Koffer und das Sammelsurium in seinem Seesack suchte.
Damals hatte er es vorgezogen, die Verheißungen der neuen Welt auf seine Weise zu erkunden. Kreuz und quer trampte er durch die Staaten und Mexiko. Die Mittel für Haschisch und LSD holte er sich zur Not auch als Stricher. Aber wirklich nur im äußersten Notfall. Das war er seiner Selbstachtung schuldig.
Zum Glück merkte er noch rechtzeitig, dass er allmählich aus dem Leim ging und sein wichtigstes Kapital – das gute Aussehen – am Verspielen war. Es war in Santa Barbara, als ihm diese Erkenntnis kam. Er hatte es auch satt, mit Puertoricanern, Mexikanern und durchgeknallten Hippies in einen Topf geworfen zu werden. Ein Job als Laufbursche in einem Fitness-Club rettete ihn vor dem endgültigen Abdriften und brachte nebenbei kostenlos seine Figur auf Vordermann. Mit der Wiedergeburt der Attraktivität schaffte er es auch, den Drogenkonsum zurückzudämmen bis auf einen gelegentlichen Joint. Der konnte ihm wohl kaum schaden.
Drei Jahre ging alles glatt im California, und zwar so glatt, dass die Geschäftsleitung ihm nach und nach anspruchsvollere Aufgaben anvertraute. Besonders die Frau des Geschäftsführers war – aus naheliegenden Gründen – ganz vernarrt in ihn. Dazu haftete das Attribut deutscher Gründlichkeit und Tüchtigkeit wie eine Klette an ihm, seitdem es ihm geglückt war, die Mitgliederzahl im Club zu steigern. Am Strand hatte er aufgeschnappt, wie sich einige unzufriedene Bodybuilder über das Training unterhielten. Sofort kam ihm eine Idee. Man musste die Geräte für das Zirkeltraining nur anders anordnen, so dass es zu den Stoßzeiten nicht zu lästigen Wartezeiten kam. Außerdem wurde das Training dadurch deutlich effektiver; zumindest bestätigten ihm dies die Ladies, denen er an der Club-Bar die teuren Protein-Drinks verkaufte.
Es machte Spaß, am Image des cleveren Burschen zu polieren. Das bisschen humanistische Bildung aus drei Jahren Gymnasium hob ihn aus der Masse gut gebauter, aber unbedarfter american boys heraus.
Charly fiel ein, dass seine Tante ziemlich bald nach Kriegsende ein Antiquariat aufgebaut hatte, in dem auch Zeitungen und Zeitschriften verkauft wurden. Das war von Anfang an ein gutes Geschäft, denn die Pressefreiheit wurde nach der Hitler-Diktatur hoch geschätzt. In den USA gab es für jedes noch so entlegene Thema eine eigene Zeitschrift. Er fing an, systematisch Magazine für Sport, Fitness und verwandte Gebiete zu studieren. »Wissen ist Macht«, begründete er dem Chef gegenüber seine neueste Idee. Durch das Angebot an einschlägiger Lektüre – natürlich für jedes Niveau – könne man die Clubmitglieder noch stärker an die Fitness-Welle binden. »Corpus sane in corpore sanella!« verkündete er dem ignoranten, aber schwer beeindruckten Boss. Der sorgte als Gegenleistung dafür, dass Charly keine Probleme mit der Arbeitserlaubnis bekam.
Ja, das war seine beste Zeit gewesen. Zu dumm, dass die regelmäßigen Streifzüge durch die Clubspinde aufflogen. Diese Art von Gründlichkeit hatte dem Boss überhaupt nicht gefallen.
Es klopfte. Ohne auf Antwort zu warten, kam Rita ins Zimmer gerauscht. Sie musterte ihren Neffen aufmerksam.
»Die Haare sind zu lang«, krächzte sie, »du musst ja nicht unbedingt wie meine diebische Kundschaft aussehen. Hast du keine anderen Hosen als Jeans?«
»Hey, langsam, darling, oder willst du mich gleich wieder vertreiben? Jetzt wart doch erst einmal ab, was deine Mädels im Geschäft sagen. Vielleicht finden sie es ja gut, wenn ein bisschen frischer Wind in die Bude kommt.«
Rita kniff die Lippen zusammen und schnaufte ärgerlich.
»Sag nicht darling zu mir! Nenn mich Rita oder sprich mich meinetwegen mit Chefin an. Wir haben es auch mit Professoren und anderen Honoratioren zu tun. Die reagieren manchmal etwas reserviert. Wir sind hier immer noch in Deutschland!«
»Ich werde dich Boss nennen, okay? Und lass mir etwas Zeit zum Eingewöhnen.«
Charly verriet nicht, dass er schon gleich am Tag nach seiner Ankunft im Eckstein aufgetaucht war. Natürlich inkognito. Er hatte die Buchhändlerin im Erdgeschoss – es musste Elisabeth Walter sein – in ein längeres Gespräch über die Zeitschriften im Sortiment verwickelt. Sein amerikanischer Akzent hatte ihr Interesse geweckt. Eine ziemlich gut informierte Person, fand er, so um die vierzig, Typ alte Jungfer. Es war ihm nicht entgangen, wie dankbar sie sein jungenhaftes Lachen aufgesogen und sich über die Komplimente gefreut hatte. Der Laden schien tatsächlich eine Goldgrube zu sein, jedenfalls bimmelte alle paar Sekunden die Ladentür. Wenn seine Informationen stimmten, gab es keine männliche Konkurrenz in der Belegschaft, abgesehen vom Faktotum Franziskus, aber der zählte nicht. Mit Frauen konnte er umgehen. Da kannte er sich aus.
Rita fegte ein paar Hemden vom einzigen Stuhl, setzte sich ächzend und zerrte ein paar Bankvordrucke aus einem braunen Umschlag.
»Auf dein Konto in Santa Barbara können wir ja jetzt verzichten. Ich gehe davon aus, du hast es vor der Abreise aufgelöst. Ich werde dir hier eines einrichten.«
Das mit dem Konto in Amerika war eine clevere Idee Tante Ritas gewesen. Sie hatte ihn zwar vor zwölf Jahren in die Wüste geschickt; aber sie hatte auch eine Sicherung eingebaut, wie sie den Kontakt mit ihm aufrechterhalten konnte. Bargeld bekam er ja nur wenig mit. Statt dessen erklärte sie sich dazu bereit, an jeden Ort auch immer, von dem er sich meldete, etwas auf ein Bankkonto zu überweisen.
Zuerst hatte er darauf gepfiffen. Das fehlte gerade noch! Ein Gängelband! Von den zwölf Jahren Abwesenheit ließ er in zehn nichts von sich hören. Erst als es so aussah, als ob er im goldenen Westen Fuß gefasst habe und sich sein Lebensstil verteuerte, erinnerte er sich an die Abmachung, und er schickte einen ausführlichen Brief nach Deutschland. Es passte daher fabelhaft, dass mit dem Rausschmiss aus dem California Ritas Angebot eintraf. Die Nachricht vom Tod seiner Mutter, der schon etliche Jahre zurücklag, berührte ihn nur flüchtig. Gute alte herrschsüchtige Rita! Er war fest entschlossen, diesmal nicht zu patzen. Rita hatte angedeutet, dass sie ihn als ihren Nachfolger und Erben ins Auge gefasst habe. Jetzt war er hier in Old Germany, bereit zur Karriere.
»Kannst du mir einen Vorschuss geben? Für Krawatten und so …« Charly setzte sein charmantestes Lächeln auf.
»Ohne ein bisschen Geld in der Tasche fühle ich mich dem Auftritt im Geschäft nicht gewachsen. Vielleicht muss ich ja gleich einen ausgeben.« Da Rita keine Miene verzog und schwieg, musste er wohl nachlegen. «Und überhaupt! Du hast noch nicht genau verraten, was für ein Job das werden soll. Kriege ich ein Gehalt oder werde ich am Umsatz beteiligt? … Am liebsten natürlich beides.« Er grinste. Der letzte Satz sollte natürlich ein Witz sein.
»Alles zu seiner Zeit. Erst wirst du dich mal umsehen und dir von Elli und Frau Mann-Schmitt die Abläufe erklären lassen. Dann kannst du mal eine Weile der hübschen Gesine über die Schulter schauen, die ist nämlich wirklich eine Verkaufskanone. Nebenbei hältst du die Augen auf. Ich will wissen, was die Damen sonst noch so treiben.«
Rita hustete wieder. Beim Hinausgehen sagte sie über die Schulter: »Über die Geschäftsführung sprechen wir dann im Sommer. Betrachte das Ganze als eine Art Assistentenzeit.«
Das bereitwillige Lachen in Charlys Gesicht verflüchtigte sich. Tante Rita hatte sich nicht geändert. Wie früher hielt sie auf allem den Daumen drauf, eisern darauf bedacht, ja nicht die Kontrolle zu verlieren. Er würde sich schwer zusammenreißen müssen und eine Menge Geduld brauchen, bis sie ihr angeborenes Misstrauen, besonders ihm gegenüber, abgelegt hätte. Aber er würde es schaffen, Früher oder später würde die Buchhandlung Zum Eckstein ihm gehören.
Er hat sich überhaupt nicht verändert, schrieb Rita am Abend in ihr Tagebuch. Sie führte es seit dem Jahr, als sie und ihre Schwester beschlossen hatten, den ungeratenen Knaben Karl lieber nach Amerika zu schicken, bevor der Dummkopf zur Fremdenlegion ausriss. Ausgerechnet die Fremdenlegion! Das hatten sie gerade noch in letzter Minute verhindern können. Bis zur französischen Grenze waren es keine dreißig Kilometer. Es gab Grenzübergänge, bei denen man es mit dem Alter nicht allzu genau nahm.
Wie immer achtete sie wenig auf korrekte Grammatik und Rechtschreibung, wenn sie ihre geheimsten Gedanken aufschrieb. Die Zeilen liefen stellenweise schräg über die Seite. Nur bei Zahlen und Tabellen benutzte sie ein Lineal. Seit der Krankheit hatte sich ihr Schriftbild merklich verändert. Etwas Ungeduldiges, Drängendes führte ihr die Hand.
Er sieht heute seinem Vater ähnlicher als früher, schrieb sie, und er hat immer noch das gleiche freche Auftreten, gegen das man sich so schwer wehren kann. Oh Gott, es tut immer noch weh. Ich weiß nicht, ob es richtig war, ihn zurückzuholen. Ich werd ihn schwer an die Kandare nehmen müssen und ihn ganz kurz halten. Wenigstens kann mir keiner mehr dreinreden. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie sehr er seinem Vater gleicht. Eines Tages werd ich es ihm sagen müssen. Oder vielleicht doch nicht. Nein, es reicht, wenn er alles aus dem Testament erfährt.
Rita versah den Eintrag an mehreren Stellen mit ihrem Namensstempel. Er enthielt nur ihren Namen in Schreibschrift und in einer zweiten Zeile ein Signet, in dem die verschlungenen Anfangsbuchstaben RB in einen nach oben offenen Rhombus integriert waren. Der Rhombus sollte die Grundfläche eines Ecksteins symbolisieren. Rita hatte den Stempel selbst entworfen. Sie wusste, dass er nicht besonders gelungen war. Er war ja auch nicht als Firmenstempel vorgesehen, sondern ausschließlich zu ihrem ganz privaten Gebrauch. Es gab nur zwei davon. Den einen verschloss sie jetzt zusammen mit ihrem Tagebuch in einem antiken Sekretär mit vielen Fächern. Er wirkte ziemlich fehl am Platz in ihrem karg ausgestatteten Schlafzimmer.
In einem abschließbaren Rollschrank des winzigen Büros im Souterrain der Buchhandlung lagerten alle Tagebücher mit den mehr oder weniger regelmäßigen Eintragungen der letzten zwölf Jahre, sowie Familienpapiere und wichtige Dokumente im Zusammenhang mit dem Erwerb des Eckstein. Niemand konnte auf diese Weise die Tagebücher entwenden oder fälschen. Größere Summen Bargeld, Schmuck oder wertvolle Gegenstände befanden sich nicht im Büro. Sie selbst brachte die Tageseinnahmen täglich zur Bank gegenüber. Wenn sie weniger geizig gewesen wäre, hätte sie sich einen Tresor geleistet. Aber das hielt sie für überflüssig. In ihr Büro kam keiner ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung.
Anders verhielt es sich mit dem Häuschen. Einmal erwischte sie nachts um zwei in ihrer Küche einen Penner, der sich ein warmes Nachtquartier gesucht hatte. Seitdem gab es eine teure Alarmanlage mit einem Bewegungsmelder im Treppenhaus. Niemand durfte in ihr Allerheiligstes eindringen. Das Schlafzimmer war der einzige Ort, an dem sie ihren Erinnerungen gestattete, von Zeit zu Zeit das sentimentale Zepter zu schwingen.
So wie jetzt. Rita nahm ein gerahmtes Familienbild von der Wand. Es zeigte sie und die Schwester mit den Eltern, die Mädchen mit zu Schnecken gedrehten Zöpfen. Ungeschickt fingerte sie eine vergilbte Portraitaufnahme hinter dem Passepartout hervor. Ein dunkelhaariger, lockiger junger Mann mit einem Siegerlächeln strahlte sie an. Er trug