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Ein spannender Krimi über falsche Hoffnungen und unermessliche Schande Es ist tiefster Winter auf Sandhamn, ein eisiger Sturm fegt durch die leeren Straßen. An Heiligabend nimmt eine verängstigte Frau das letzte Schiff auf die Insel. Als man ihre gefrorene Leiche am ersten Weihnachtstag vor dem Seglerhotel findet, wird Thomas Andreasson nach Sandhamn gerufen. Die Ermittlungen Thomas Andreassons zeigen, dass es sich bei dem Opfer um eine prominente Kriegsberichterstatterin handelt, die zahlreichen Morddrohungen ausgesetzt war. Fremdenfeindliche Zwischentöne und ein besonders professioneller Mörder machen den Fall für Thomas noch verzwickter. Da geschieht ein zweiter Mord … In der Zwischenzeit kämpft Thomas' Jugendfreundin Nora mit ganz anderen Problemen. Ihre berufliche Integrität als Bankjuristin ist infrage gestellt. Schließlich muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben verändern wird.
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Seitenzahl: 509
Viveca Sten
Ein Fall für Thomas Andreasson
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Viveca Sten
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Dank der Autorin
Inhaltsverzeichnis
Zur Erinnerung an Sascha Birkhahn 1911–2012
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Mittwoch, den 24. Dezember 2008
Wenn sie erst auf Sandhamn wäre, würde alles gut werden. Nirgends fühlte sie sich so sicher und geborgen wie dort.
Jeanette Thiels wiederholte die Worte wie ein Mantra, während sie auf der Autobahn durch den Schneematsch fuhr. Immer wieder musste sie die Tränen wegzwinkern, um etwas sehen zu können. Bei Skurubron wäre sie beinahe ins Schleudern geraten.
Sie fuhr am Golfplatz bei Fågelbro vorbei und am Strömma-Kanal entlang. Die Fähre ging in ein paar Minuten, Viertel vor drei. Sie musste sie erreichen, es war die letzte für heute.
Nach einer Ewigkeit tauchte der Hafen von Stavsnäs vor ihr auf, und sie bog auf den halb leeren Parkplatz. Nach einiger Fummelei mit der ferngesteuerten Zentralverriegelung schaffte sie es schließlich, den Ford abzuschließen.
Der Wind biss ihr in die Wangen, es war richtig kalt geworden, zehn Grad unter null, wenn überhaupt. Ein Stück entfernt schlugen die Leinen einer verwaisten Flaggenstange gegen den Mast, und draußen auf dem Meer trugen die Wellen weiße Schaumkronen.
Ihr war ein bisschen übel, aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen.
Mit gesenktem Kopf hastete sie auf die große Fähre zu, die im grauen Dämmerlicht wartete. Sie war die Letzte, die an Bord ging, hinter ihr wurde die Gangway eingezogen und nur wenige Sekunden später legte das Schiff ab. Trotzdem konnte sie nicht anders, sie musste zurück zum Kai blicken, ob jemand dort stand.
Jeanette ging zu einer Sitzecke im hinteren Teil des Schiffes, kauerte sich auf dem Sofa zusammen und zog die Kapuze über den Kopf, sodass ihr Gesicht kaum zu sehen war. Sie wusste, dass sie besser etwas essen sollte, war aber zu müde, um in die Cafeteria auf dem Oberdeck zu gehen. Stattdessen versank sie in einer Art Dämmerschlaf, während die Schiffsmotoren im Hintergrund brummten. Das rhythmische Geräusch war beruhigend.
Ihr Handy vibrierte in der Jacke, und sie steckte automatisch die Hand in die Tasche, zog sie aber sofort wieder heraus. Sie wollte nicht wissen, wer es war.
»Nächste Station Sandhamn«, klang es blechern aus einem Lautsprecher. »Kapitän und Besatzung wünschen allen Fahrgästen, die hier von Bord gehen, ein frohes Weihnachtsfest.«
Jeanette sah Alice in Gedanken vor sich und versuchte, sich die Tränen zu verbeißen. Um diese Zeit waren sie und Michael bestimmt mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Die Weihnachtsgeschenke lagen eingepackt unter dem Tannenbaum, und aus der Küche duftete es nach Schinkenbraten und Hackbällchen. Bald würden Michaels Eltern kommen, schwer bepackt mit Geschenken.
Alice hatte sie angebettelt, Weihnachten mit ihnen zu feiern. Es war das Letzte gewesen, was sie gesagt hatte, bevor sie ging.
»Bitte, Mama. Nur ein bisschen, wenigstens ein paar Stunden.«
Jeanette hatte den Kopf geschüttelt und versucht, Alice einen Kuss auf die Stirn zu geben. Aber Alice hatte den Kopf weggedreht und Jeannettes Lippen hatten nur ihr Haar gestreift.
Das schlechte Gewissen brannte wie Feuer. Warum war immer alles so falsch?
Das Schiff würde in wenigen Minuten anlegen. Sie stand auf und steuerte auf die Toilette zu.
Als sie die Tür öffnete, zuckte sie beim Anblick der leichenblassen Frau im Spiegel zusammen. Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, dass es ihr eigenes Gesicht war. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Haut war grau. Tiefe Furchen zogen sich von der Nase hinunter zu den Mundwinkeln.
Ich seh aus wie eine alte Frau, dachte sie. Wo ist nur die Zeit geblieben?
Als sie sich die Hände wusch, vermied sie es, in den Spiegel zu sehen.
Das Stampfen der Motoren wurde leiser, der Kapitän hatte die Geschwindigkeit verringert, um durch den Sund zu steuern und in den Hafen von Sandhamn einzulaufen.
Sie hob die Reisetasche vom schmierigen Boden auf und hängte sie über die Schulter. Es waren nicht viele Passagiere an Bord, aber sie hielt sich trotzdem zurück, bis sie die Letzte in der Schlange war.
»Frohe Weihnachten«, sagte der Matrose, als sie ihm ihr Fährticket gab.
Jeanette versuchte, ihn anzulächeln.
Die anderen Passagiere hatten den Kai schon verlassen, es war zu kalt, um sich unnötig lange aufzuhalten. Trotzdem stellte Jeanette die Tasche ab und betrachtete die vertraute Umgebung.
Schneewälle säumten die geräumte Strandpromenade zwischen Dampfschiffkai und Seglerhotel. Auf dem breiten Uferstreifen lagen unzählige Boote, die unter schneebedeckten Planen überwinterten.
Im Westteil des Hafens war die gelbe Fassade des Värdshuset weihnachtlich geschmückt. Beim Anblick der warm leuchtenden Lichterketten kamen ihr beinahe wieder die Tränen. Sie gab sich einen Ruck, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg.
Im Seglerhotel duftete es intensiv nach Hyazinthen. Hinter dem hohen Empfangstresen stand eine blonde Rezeptionistin mit roter Weihnachtsmütze. Jeanette trat an den Tresen und nannte ihren Namen.
»Ich hatte heute Vormittag angerufen und ein Zimmer gebucht.«
Die junge Frau lächelte freundlich, und Jeanette fiel auf, wie schlecht ihr rosa Lippenstift zum Rot der Mütze passte.
»Richtig«, sagte die Rezeptionistin. »Herzlich willkommen. Sie wohnen in einem der Apartments hinter dem Pool. Sie haben doch keine Angst im Dunkeln, oder?«
Sie lächelte wieder, so als hätte sie etwas Lustiges gesagt.
»Im Hauptgebäude ist an diesem Wochenende leider alles belegt, nur die Apartments sind noch frei.«
Ehe Jeanette etwas sagen konnte, fuhr sie fort:
»Das Abendessen wird ab neunzehn Uhr serviert, Sie müssen einen Tisch bestellen. Passt Ihnen zwanzig Uhr?«
Jeanette nickte.
»Es gibt ein wunderbares Julbord«, sagte die Rezeptionistin. »Ein Weihnachtsbüffet mit allem, was man sich nur wünschen kann, Heringe auf fünfzehn verschiedene Arten eingelegt. Und natürlich kommt der Weihnachtsmann zu allen braven Kindern.«
Sie zwinkerte Jeanette zu. Offenbar machte sie sich keine Gedanken darüber, ob eine allein reisende ältere Frau Wert auf den Besuch des Weihnachtsmanns legte.
»Brauchen Sie Hilfe beim Gepäck?«, fragte sie dann. »Es ist nicht sehr weit, knapp hundertfünfzig Meter. Gehen Sie die Außentreppe hinunter und dann nach rechts. Folgen Sie dem geräumten Weg vorbei an der Minigolfbahn, und an den Pools gehen Sie dann wieder nach rechts. Sie wohnen im zweiten Haus hinter dem Eingang.«
»Das finde ich schon«, murmelte Jeanette.
In ihren Ohren rauschte es, als sie sich nach ihrer Tasche bückte.
»Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Weihnachtsfest bei uns. Morgen früh um sieben findet ein Weihnachtsgottesdienst in der Inselkapelle statt, falls Sie hingehen möchten. Das ist immer sehr stimmungsvoll.«
Endlich schob sie die Chipkarte über den Tresen. Jeanette wollte schon gehen, hielt aber inne.
»Bin ich die Einzige, die da hinten wohnt?«, fragte sie leise.
»Moment, ich schau kurz nach.«
Die Rezeptionistin drehte sich so schnell zum Bildschirm um, dass der Zipfel ihrer Weihnachtsmütze schwungvoll flog. Sie runzelte die Stirn, ehe sie den Blick wieder hob.
»Ja, Sie haben die Anlage ganz für sich allein.«
Inhaltsverzeichnis
Kriminalkommissar Thomas Andreasson lächelte, als seine Tochter neugierig auf die Päckchen unter dem meterhohen Weihnachtsbaum patschte.
Fast alle Geschenke waren für Elin, obwohl sie noch so klein war. Ein Jahr alt wurde sie im kommenden März. Pernilla und er waren sich einig gewesen, dass die Geschenke in diesem Jahr bescheidener ausfallen sollten, denn der Umbau des Sommerhauses in den letzten Monaten war ganz schön ins Geld gegangen. Aber dem Berg an Geschenken nach zu urteilen, hatte sich keiner von ihnen an die Abmachung gehalten. Außerdem hatten Thomas’ Eltern, die bei seinem Bruder und dessen Familie Weihnachten feierten, ein großes Paket geschickt. Pernillas Mutter war bei ihrer Schwester in den USA, deshalb verbrachten sie das Fest in ihrem Haus auf Harö allein.
Thomas hatte nichts dagegen. Ein Fall von schwerem Missbrauch hatte seit dem Luciatag seine ganze Zeit in Anspruch genommen, und jetzt freute er sich darauf, die Weihnachtstage mit seiner kleinen Familie zu verbringen. Es würde schön sein, dem Alltag den Rücken zu kehren, der manchmal aufreibender war, als er zugeben wollte.
Thomas blickte durchs Fenster hinaus. Unten am Steg glommen zwei Laternen, die er am Nachmittag aufgestellt hatte. Der dichte Schneefall der letzten Tage hatte Klippen und Schären in eine dicke weiße Decke gehüllt. Als sie auf Harö angekommen waren, hatte der Frost die kahlen Bäume in glänzende Stämme mit reifglitzernden Kronen verwandelt.
Die Uferstreifen der Bucht waren bereits vereist – wenn es so weiterging, würde dasselbe passieren wie im letzten Jahr, als der gesamte Schärengarten monatelang zugefroren war und man mit dem Tretschlitten zwischen den Inseln hin- und herfahren konnte.
Wo war der alte Tretschlitten überhaupt geblieben? Mit etwas Glück stand er noch bei seinen Eltern. Ihr vollgestopfter Schuppen beherbergte alles Mögliche, jahrzehntelang aufbewahrtes Zeug, das man vielleicht noch einmal brauchen konnte.
Elin holte ihn aus seinen Gedanken. Sie zappelte ungeduldig und reckte ihm die Ärmchen entgegen. Er nahm sie hoch, und sie drückte sich zufrieden an ihn, die Stirn an seine Brust gelegt.
Pernilla räumte die Reste des kleinen Weihnachtsessens ab. Schinken, Würstchen und Hering waren schon im Kühlschrank verstaut. Jetzt machte sie den Glögg heiß und kochte Kaffee, bevor es Zeit für die Bescherung war.
Dies war wohl das letzte Jahr ohne Weihnachtsmann, dachte Thomas. Nächstes Jahr würde der Opa eine wichtige Rolle zu übernehmen haben.
»Soll ich helfen?«, fragte er und wandte den Blick von seiner Tochter.
»Lass nur«, erwiderte Pernilla und bückte sich, um ein Tablett aus einem Unterschrank zu nehmen. »Du hast gekocht, da kann ich ja wohl abräumen.«
Sie hatten den kleinen Baum auf der Insel geschlagen und am Vorabend geschmückt. Heute Morgen war Elin auf ihn zugelaufen und hatte ihn umgestoßen, komplett mit Kugeln, Glitzerzeug und allem. Sturzbäche von Tränen. Aber zum Glück war nichts passiert, was man nicht wieder richten konnte. Elin hatte eine Glitzergirlande bekommen und begeistert damit gespielt, bis sie zerfetzt war.
Thomas setzte seine Tochter auf dem Boden ab und kniete sich neben sie. Zärtlich strich er mit den Lippen über ihre zarte Wange.
Babyduft.
Elins blondes Haar war zur Feier des Tages zu einem kleinen Hahnenkamm frisiert worden, der auf und ab wippte, als sie eifrig auf den Baum zukrabbelte.
»Was meinst du«, sagte er. »Sollen wir schon mal ein Geschenk aufmachen, nur wir beide, solange Mama noch in der Küche aufräumt?«
Inhaltsverzeichnis
Als Jeanette die Augen aufschlug, dauerte es einen Moment, bis sie begriff, dass sie sich in einem Hotel befand. Die Übelkeit war nicht vergangen, sie spürte ein Kneifen in der Nabelgegend, kurze Krämpfe, die kamen und gingen. Das Bett, auf das sie sich hatte fallen lassen, war breit und weich, dennoch hatte sie Mühe, eine bequeme Stellung zu finden. Sie fühlte sich zerschlagen und fror trotz des dicken Pullovers.
Wie lange hatte sie geschlafen?
Jeanette sah zur Uhr, fünf vor acht. Wenn sie heute Abend noch etwas essen wollte, musste sie jetzt hinüber ins Restaurant gehen.
Ihre Glieder waren bleischwer vor Müdigkeit, sie hatte keine Ahnung, wie sie es schaffen sollte, aufzustehen.
Der Fernseher lief. Das war eine alte Reporter-Angewohnheit, sie schaltete immer als Erstes die Nachrichten ein, wenn sie ein Hotelzimmer bezog. Aber hinsehen lohnte nicht, es war ein einziges Geschnatter über die diversen Weihnachtsfeiern im Land. Als wäre ausgerechnet heute nichts Wichtiges auf dem Erdball passiert.
Normalerweise hätte sie sich darüber aufgeregt, aber jetzt fehlte ihr die Kraft dazu.
Sie blickte sich im Zimmer um. Die Wandbilder sollten wohl eine Schärengartenatmosphäre schaffen: Schwarz-Weiß-Fotos von Sandhamn zu Anfang des letzten Jahrhunderts. Elegante Segelboote, Frauen mit großen Hüten und Herren im dunklen Paletot auf der Strandpromenade.
Jeanette blinzelte und stand mühsam auf. Ihr Magen krampfte sich wieder zusammen, sie versuchte, es zu ignorieren und stattdessen das alte Gefühl wachzurufen, dass Sandhamn der sicherste Ort der Welt war.
Großmutter, dachte sie und spürte einen Kloß im Hals, als sie an die Sommer ihrer Kindheit in dem Haus auf der anderen Seite der Insel dachte. In den letzten Jahren war sie viel zu selten dort gewesen, aber das würde sich jetzt ändern. Im Frühjahr würde sie Alice mitnehmen, und dann würden sie beide den ganzen Sommer dort verbringen.
Morgen würde sie zum Haus gehen. Dort konnte sie in Ruhe nachdenken und eine Entscheidung treffen. So wie früher. Sie hatte sich oft zu Großmutter geflüchtet, die heißen Kakao und gute Ratschläge bereithielt, wenn die Not am größten war.
Jeanette ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Aber das Unbehagen wollte nicht weichen, ihre Hände zitterten, als sie sich abtrocknete.
Letztes Jahr um diese Zeit war sie im Nahen Osten gewesen, als Reporterin. Eingehüllt in eine knöchellange dunkle Burka, hatte sie im Iran heimliche Interviews mit empörten und verängstigten Frauen geführt. Das Ergebnis waren mehrere lange Berichte über die Situation der Frauen im Land gewesen. Einer davon war als Beitrag in den Abendnachrichten gesendet worden, und ihr Chefredakteur hatte sich in die Brust geworfen, als wäre er höchstpersönlich dick vermummt durch die engen, staubigen Gassen geschlichen.
Ich habe etwas bewirkt, hatte sie damals gedacht, als sie zurück ins Hotel gekommen war. Da war es zu spät gewesen, um Alice anzurufen und ihr frohe Weihnachten zu wünschen.
Dieses Weihnachtsfest war seit Jahren das erste, das sie in Schweden verbrachte.
Verbringen musste.
Die Bilder der Erinnerung kamen zurück, und ihr Puls raste. Sie ging wieder ins Zimmer, um ihr Macbook herauszuholen. Sie musste auf andere Gedanken kommen, musste wegschieben, was ihr durch den Kopf geisterte.
Aber als sie mit einer Hand in ihre Reisetasche griff, konnte sie den Laptop nicht finden. Ärgerlich machte sie die Tasche weit auf und suchte sie gründlich durch. Schließlich kippte sie den gesamten Inhalt auf den Sessel, Unterwäsche, Jeans, Tablettenschachteln, alles durcheinander.
Beinahe panisch starrte sie auf das Chaos vor sich. Sie war sich absolut sicher, dass sie den Mac eingepackt hatte. Trotzdem war er nicht da.
Sicherheitshalber sah sie noch einmal in der Tasche nach, fand aber nur eine alte Streichholzschachtel aus Frankfurt, die sich vor ewigen Zeiten in einer Ecke verkeilt haben musste.
Hatte sie den Laptop in ihrer Wohnung vergessen? Unmöglich, sie nahm ihn doch überallhin mit. Jeanette strich sich die Haare aus der Stirn, die inzwischen ganz verschwitzt waren. Wo konnte er sein?
Auf der Fähre nicht, sie hatte die Tasche an Bord nicht geöffnet. Und wenn er im Auto herausgefallen wäre, hätte ihr das auffallen müssen.
Oder?
Sie war so fassungslos gewesen, als sie abreiste, so schockiert und verwirrt, dass sie nur das Allernotwendigste zusammengerafft und in die Tasche geworfen hatte, bevor sie aus der Wohnung gestürmt war. Sie hatte gerade noch daran gedacht, die Tür abzuschließen.
Sie schluchzte auf. Wie hatte sie nur ihren Rechner vergessen können, nach allem, was passiert war!
Plötzlich sehnte sie sich nach einer Zigarette, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören. Bestimmt lag irgendwo in den Tiefen ihrer Handtasche noch eine Schachtel. Aufhören konnte sie auch noch ein andermal.
Ein kleines Schild an der Wand wies darauf hin, dass dies ein rauchfreies Apartment war. Also musste sie nach draußen gehen. Schaffte sie das?
Ein Geräusch von nebenan ließ sie zusammenzucken, es hatte sich beinahe angehört, als würde eine Tür zugeschlagen. Oder war das nur Schnee gewesen, der vom Dach rutschte? Hatte die Rezeptionistin nicht gesagt, sie wäre der einzige Gast hier in der Anlage?
Jeanette drehte sich um und lauschte. Es war vollkommen still. Wahrscheinlich hatte sie es sich eingebildet. Ja, so musste es sein.
Jetzt wurde ihr wieder übel, sie spürte einen metallischen Geschmack im Mund.
Die Vorhänge waren zugezogen. Als sie einen davon zurückzog, sah sie, dass es draußen stockfinster geworden war. Nicht einmal die weiße Schneedecke konnte die Dunkelheit aufhellen.
Langsam schob sie den Fensterriegel zurück, beinahe so, als hätte ihr jemand gesagt, dass sie ihn öffnen sollte. Ein paar Meter tiefer begann das Dach des nächsten Apartments, ebenso dick verschneit wie das ganze Gelände.
Jeanette öffnete das Fenster einen Spalt, ein kalter Windstoß fuhr herein und ließ sie frösteln. Sie ignorierte die Kälte und horchte in die Dunkelheit, wollte das Meer rauschen hören. Das Wasser war nur dreißig Meter entfernt, genau wie am Haus ihrer Großmutter. Sie erinnerte sich an das Rauschen der Wellen, das Fauchen, mit dem sich die Gischt am Ufer brach.
Sie hatte es immer geliebt, hier draußen auf den Schären zu sein, das Meer zu beobachten, das nie ganz zur Ruhe kam. Manchmal träumte sie von den Wellen, träumte, wie sie langsam auf den Meeresgrund sank und inmitten von schwankendem Seegras schlief, umgeben von Fischen, die hin und her schossen.
Aber Angst hatte sie nie gehabt, nicht bei Großmutter.
Die Kälte brachte sich in Erinnerung, und Jeanette schüttelte sich leicht. Sie drehte den Kopf und blickte durch das andere Fenster, das zum Eingang zeigte. Die Nachbarapartments waren dunkel, und die Lampe über der Haustür schaffte es nicht, die Umgebung zu erhellen. Außerhalb des runden Lichtkegels waren nur Dunkelheit und Schatten.
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Nora Linde setzte sich mit einer Tasse Kaffee in den Wintergarten der Brand’schen Villa. Wie üblich hatte sie zu viel gegessen. Als sie merkte, dass sie sich den Teller bis obenhin vollgehäuft hatte, war es zu spät. Und es schmeckte auch einfach zu gut.
Im Radio lief »Stille Nacht«, aber aus der Küche kam das Klappern von Geschirr. Die Jungs stritten sich um die Reste. Nora wollte sich nicht einmischen, das sollten sie ruhig unter sich ausmachen. Stattdessen schaute sie durch das große Verandafenster hinaus. Der Wind, der am Nachmittag aufgefrischt war, heulte jetzt um die Hausecken.
Sie hatten alle Kachelöfen angeheizt, sie funktionierten noch wunderbar, obwohl sie weit über hundert Jahre alt waren. Es dauerte zwar ein paar Stunden, sie durchzuheizen, aber dann kam die Wärme zuverlässig und kontinuierlich. Man durfte nur nicht vergessen, regelmäßig Holz nachzulegen.
Nora nippte an ihrem Kaffee. Bisher war alles besser als erwartet gelaufen. Sie hatte es geschafft, die Gedanken an die Arbeit beiseitezuschieben und den Stress hinter sich zu lassen. Im Laufe des Tages hatte ihre Anspannung langsam nachgelassen. Mit einem Seufzen stellte sie die Tasse ab, sie wollte jetzt nicht an die Bank denken.
Morgen in aller Frühe würden sie zur Weihnachtsandacht gehen, darauf freute sie sich schon, obwohl Adam und Simon bestimmt knurren würden. Vor allem Adam, der wie alle Teenager morgens nur schwer aus dem Bett fand. Aber wenn sie erst dort wären, das wusste sie, würde es ihnen gefallen in der kleinen Kapelle, wo die Kerzenflammen flackerten, während Nachbarn und Bekannte sich frohe Weihnachten wünschten.
»Hier steckst du.«
Nora blickte auf.
In der Tür stand Henrik mit zwei halb gefüllten Kognakschwenkern in den Händen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schaukelte leise in den ziselierten Kristallgläsern, die ihren Platz in der großen Vitrine im Esszimmer hatten, solange Nora zurückdenken konnte.
»Armagnac, den magst du doch so gern«, sagte Henrik lächelnd.
Er reichte ihr einen Schwenker. Dann setzte er sich ihr gegenüber in den Korbsessel, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.
Ein starker, süßer Duft stieg aus dem Glas. Nora nahm einen Schluck und spürte, wie er am Gaumen brannte und die Kehle hinunter rann.
»Ah, das tut gut«, sagte sie. »Danke.«
Ihr Blick suchte das Meer, verharrte in der schwarzen Nacht vor dem Fenster.
»Mama?«
Simon kam herein, er rannte beinahe und zeigte eifrig auf den Weihnachtsbaum in der hinteren Ecke des Esszimmers. Dort stand sonst ein kleines Sideboard aus Mahagoni, das hatten sie weggestellt, um Platz zu schaffen.
»Können wir jetzt die Geschenke auspacken?«
Nora zog ihn an sich und fuhr ihm durchs Haar.
»Findest du nicht, wir sollten noch ein bisschen warten?«
Für eine Sekunde wirkte er unsicher, dann begriff er, dass sie ihn aufzog.
»Wie sieht es in der Küche aus?«, fragte Nora. »Kann man da reingehen, ohne das Gefühl zu haben, dass eine Bombe eingeschlagen hat?«
Er nickte so energisch, dass ihm das blonde Haar in die Stirn fiel. Es wurde langsam Zeit für einen Haarschnitt.
»Wir haben alles aufgeräumt, ehrlich. Papa hat auch mitgeholfen. Ganz viel.«
»Na gut.«
Nora ließ ihn los. Sofort lief er zu Henrik und umarmte ihn ebenfalls.
»Sag Adam Bescheid, dann fangen wir an«, sagte Henrik.
Er streckte die Hand aus, als wollte er Nora über die Wange streicheln, zuckte aber zurück, als die Jungs eine Sekunde später wieder im Zimmer standen.
»Also dann«, sagte er. »Wer bekommt dieses Jahr das erste Geschenk?«
Inhaltsverzeichnis
Jeanette zwang sich, ruhiger zu atmen. Sie zog die Jacke an und setzte die Mütze auf, zögerte aber mit der Hand auf der Klinke und horchte wieder auf Geräusche von draußen. Nichts. Trotzdem überlief sie ein Schauer.
Es war sicher nur Einbildung gewesen. Sie war allein in der Anlage, hatte die Rezeptionistin gesagt. Um diese Zeit genossen die anderen Hotelgäste das üppige Weihnachtsbüffet, von dem die Frau so geschwärmt hatte.
Noch einmal warf sie einen letzten Blick in die Reisetasche, in der ihr Laptop hätte liegen sollen. Sie versuchte sich bildlich in Erinnerung zu rufen, wann sie ihn das letzte Mal benutzt hatte. Heute Morgen am Küchentisch, da hatte sie die Financial Times am Bildschirm gelesen.
Bevor es an der Tür geklingelt hatte.
Danach war alles so schnell gegangen. Sie hatte keine Zeit zum Überlegen gehabt. Musste weg, konnte nicht bleiben. Abreisen, sofort. Als wäre die Wohnung durch den Besuch besudelt worden.
Der Schock saß ihr noch in den Knochen, die teils harten, teils flehenden Worte hallten ihr in den Ohren.
»Ich lasse das nicht zu!«
Jeanette wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Aber niemals diese hasserfüllten Sätze, ein Strom glühender Lava, der die Wahrheit verbrannte und verzehrte.
»Wenn du das tust, wird es dir bitter leidtun, das verspreche ich dir. Ich mache dich fertig.«
Irgendwie hatte sie es geschafft, sich nicht einschüchtern zu lassen. Hatte wütend zurückgefaucht, obwohl sie innerlich weinte.
»Im Büro liegt eine Kopie, und Alice hat auch eine. Es ist mir egal, was du tust. Montag schicke ich es ab.«
Schließlich hatte die Stimme gebettelt und gefleht. Aber das war nicht der Grund, warum sie beschlossen hatte, alles zu erzählen, es ging nicht um Erpressung oder Geld.
Die Wahrheit, sie wollte einfach die Wahrheit ans Licht bringen.
Nach einer Weile hatten sie im Flur gestanden, es gab nichts mehr zu sagen.
Jeanette war im Begriff gewesen, die Tür zu öffnen, als sie den Blick gesehen hatte, so voller Hass, dass ihr die Knie weich wurden. Dieser Blick hatte ihr mehr Angst eingejagt als alles andere. Nur mit knapper Not hatte sie es geschafft, die Tür hinter ihrem Besuch zu schließen und zu verriegeln, ehe sie auf dem Fußboden zusammensank, mit dem Rücken an der Wand und zitternden Händen.
Es war ein schrecklicher Fehler gewesen, davon zu erzählen. Aber sie hatte sich verpflichtet gefühlt, aus vielerlei Gründen. Nach all den gemeinsamen Jahren.
Jeanette strich sich über die Stirn. Warum hatte sie überhaupt erwähnt, dass Alice eine Kopie besaß? Das war ihr im Eifer des Gefechts einfach so herausgerutscht. Sobald sie wieder in Stockholm war, musste sie sich den USB-Stick zurückholen.
Auf einmal überfiel sie eine klaustrophobische Angst, der Raum schnürte sie ein, so als würden die Wände um sie herum immer enger zusammenrücken.
Beruhige dich, dachte sie. Es ist nicht schlimm, man sagt so viel im Eifer des Gefechts.
Das kommt wieder in Ordnung. Es muss.
Eine plötzliche Übelkeit packte sie, ihr wurde schwindelig, und sie musste sich an der Wand abstützen. Ihr Magen zog sich zusammen, sie stieß sauer auf, schmeckte Galle auf der Zunge.
Es war lange her, seit sie etwas gegessen hatte, sie sollte jetzt besser ins Restaurant gehen, obwohl sie sich immer noch matt und schlecht fühlte. Eine Zigarette würde sie bestimmt wieder auf die Beine bringen, und danach würde sie etwas essen. Sie wusste, es würde die angespannten Nerven beruhigen, sich eine Zigarette anzuzünden und zu spüren, wie das Nikotin sich im Körper verteilte. Das hatte sie oft getröstet, wenn sie am Rand der Erschöpfung gewesen war, und in Ländern, deren Sprache sie nicht sprach, hatte es so manch kritische Situation entschärft, gemeinsam eine Zigarette zu rauchen.
Mit zitternden Händen steckte sie die Zigarettenschachtel ein. Die Handtasche konnte im Zimmer bleiben, die brauchte sie nicht.
Ohne noch länger zu zögern, schaltete Jeanette das Licht aus und ging hinaus in die Nacht.
Inhaltsverzeichnis
»Mama, das ist für dich«, rief Simon.
Er kniete auf dem verschlissenen, aber echten Teppich, dessen Farben kaum mehr erkennbar waren. Ein Erbstück von Tante Signe, der Vorbesitzerin des Hauses und Noras verstorbene Nachbarin. Signe hatte auch immer hier gesessen, genauso wie Nora jetzt, mit Hündin Kajsa zu ihren Füßen. Nora hatte immer noch im Ohr, wie der Hundeschweif auf die abgenutzten Holzdielen klopfte.
Eifrig zog Simon ein kleines Päckchen hervor, das anscheinend ganz hinten unter dem Baum gelegen hatte, fast so, als hätte jemand versucht, es zu verstecken.
»Von Papa!« Er strahlte, sein Gesicht war ganz rot vor Aufregung.
Nora legte den Nussknacker und die Schalen einer Walnuss beiseite, die sie gerade geknackt hatte.
Simon hatte sich wirklich auf Heiligabend gefreut und in den vergangenen Tagen kaum von etwas anderem geredet. So gut gelaunt war er schon lange nicht mehr gewesen. Der Mund hatte überhaupt nicht mehr still gestanden, als sie sich an den Küchentisch setzten, um dicken Milchreis mit Zimt und Zucker zu essen.
Jetzt ging er zu Nora und überreichte ihr das Geschenk. Er zeigte auf den eleganten Geschenkanhänger.
»Für Nora. Frohe Weihnachten von Henrik«, las er feierlich vor.
Dann setzte er sich zu ihr aufs Korbsofa und kuschelte sich an sie.
Nora betrachtete das Geschenk. Es war ein quadratisches Päckchen, sorgfältig in silbernes Papier eingewickelt. Sie erkannte das Logo auf dem kleinen Etikett, das auf der Vorderseite klebte. Es war von einem bekannten Juwelier in einer eleganten Geschäftsstraße in Stockholm. Sie ging manchmal daran vorbei, war aber noch nie in dem Laden gewesen.
»Willst du es nicht aufmachen?«, fragte Simon eifrig. »Das sieht toll aus.«
Es knackte im Kachelofen, das Feuer glühte hinter den Messingtüren. Adam, der in dem anderen Korbsessel saß, beugte sich neugierig vor.
Im Profil sah er aus wie eine jüngere Ausgabe von Henrik. Er hatte sich auch eine ähnliche Sprechweise angewöhnt, die Art, wie er die Worte betonte, die leicht schleppende Stimme.
Nora sah ihren Exmann fragend an. Sie hatte ihm nur ein Buch gekauft, einen Roman über das sklavische Leben einer Frau in Afghanistan. Amüsiert hatte sie das Buch als kleine Anspielung darauf ausgewählt, wie ungleich die Arbeitsverteilung in ihrer Ehe gewesen war. Der Stachel juckte immer noch ein bisschen.
»Mach auf«, sagte Simon und zeigte auf das Päckchen.
Henrik beobachtete jede ihrer Bewegungen. Als er sein Kognakglas abstellte, bemerkte sie, dass er an den Schläfen langsam grau wurde.
Nora wog das Päckchen in der Hand und versank in Gedanken. Sie hatten sich darauf geeinigt, Weihnachten gemeinsam zu feiern, wegen der Kinder, mehr nicht. Aber es war deutlich, dass er sich Mühe gab. Seit sie nach Sandhamn gekommen waren, hatte Nora kaum einen Finger rühren müssen. Henrik hatte sogar die meisten Einkäufe erledigt.
Ein ganz neuer Mensch, jedenfalls im Vergleich zu den letzten Ehejahren. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er sich vor Kurzem von Marie getrennt hatte, der Frau, mit der er während ihrer Ehe eine Affäre angefangen hatte und gleich nach der Scheidung zusammengezogen war.
Der Stachel machte sich wieder bemerkbar.
Die ersten Töne von »I’ll be home for Christmas« klangen vom CD-Player herüber. Die Flamme in der Petroleumlampe flackerte.
Vorsichtig zog Nora die Schleife auf, ein schönes Seidenband mit eingewebten Goldfäden. Sie legte es beiseite und öffnete das elegante Geschenkpapier. Zum Vorschein kam eine Schachtel aus dunkelrotem Leder.
Jetzt hing Simon über ihrer Schulter.
»Was ist drin?«, fragte er. »Mach auf.«
Nora klappte den Deckel zurück.
Auf grünem Samt lag ein Anhänger aus Weißgold mit einem kleinen Diamanten in der Mitte. Daneben schimmerte eine schmale, zierliche Kette.
»Oh«, flüsterte Nora und traute sich nicht recht, Henrik anzusehen. Das war viel zu viel, viel zu teuer.
»Das sieht ja toll aus«, hauchte Simon an ihr Ohr.
Henrik lächelte warm.
»To new beginnings«, sagte er, nahm den Kognakschwenker und prostete ihr zu.
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Alles war merkwürdig verlassen, als Jeanette in die Kälte hinaustrat, wie eine seelenlose Mondlandschaft. Sie setzte die Kapuze auf und vergrub das Kinn im Schal, während sie zu erkennen versuchte, wohin sie ihre Füße setzte. Die Apartments lagen an einem Hang mit kleinen Treppen, und sie wollte auf dem Weg hinunter nicht stürzen. Aber es war schwierig, bei dem schummrigen Licht etwas zu erkennen. Warum war das hier so schlecht beleuchtet?
Als sie um die Ecke bog, schlug ihr der Wind mit voller Wucht entgegen. Es war kaum möglich, aufrecht zu stehen. Die Böen peitschten ihr den Schnee ins Gesicht und heulten in ihren Ohren. Jeanette hatte nicht gemerkt, wie stark der Wind zugenommen hatte, während sie ihr Nickerchen hielt, und jetzt raubte ihr der Sturm fast den Atem.
Vor wenigen Stunden war sie auf einem geräumten Weg angekommen. Jetzt war er im Weiß verschwunden.
Mit einer Hand schützend vor dem Mund kämpfte sie sich durch die Schneewehen. Die Schneekristalle stachen wie Nadeln auf den ungeschützten Wangen, und obwohl sie durch die Nase atmete, brannte die kalte Luft in der Lunge. Bei jedem Schritt versanken ihre Füße tief im Schnee. Er füllte ihre Stiefel, und sie wurde nass bis auf die Haut.
In dem Unwetter sah alles anders aus. Schatten und Abstände waren verzerrt, nichts stimmte mehr.
Sie war so müde, und ihr Körper fühlte sich schwer und plump an. Schon nach wenigen Metern war sie völlig außer Atem.
Durch das Schneetreiben sah sie, wie die Pontons der Schiffstankstelle an ihren Vertäuungen zerrten, sie konnte beinahe hören, wie die Ketten unter der Last ächzten. Mächtige Wellen überspülten die Stege und schäumten wie wild.
Ein Stück entfernt, vielleicht fünfzig Meter, erkannte sie eine einsame Laterne, die ein verschneites Kieferndickicht beleuchtete.
Ich gehe erst mal dorthin, dachte sie. Da kann ich Pause machen und mich ausruhen.
Trotz der wenigen Meter erreichte sie den Laternenpfahl nur mit Mühe. Erschöpft lehnte sie den Kopf an das kalte Metall und versuchte, zu Atem zu kommen.
Gib mir nur ein paar Minuten.
Jeanette steckte die Hand in die Jackentasche, in der ihre Zigaretten lagen, aber es war schwierig, die Schachtel mit den dicken Handschuhen zu erwischen. Sie drehte den Rücken in den Wind, zog einen Fäustling aus und angelte nach Zigaretten und Feuerzeug.
Ihre Finger zitterten, als sie versuchte, sich eine anzuzünden. Obwohl sie die hohle Hand schützend um das Feuerzeug hielt, blies der Sturm die Flamme immer wieder aus. Nach wenigen Minuten waren ihre Hände steif gefroren, es war sinnlos. Sie zog die Handschuhe wieder an und blickte sich um.
Das Gebüsch war so dicht, dass es den Blick aufs Seglerrestaurant versperrte. Sie musste ein bisschen näher ans Wasser gehen, um die erleuchteten Fenster sehen zu können.
Inzwischen war ihr richtig schlecht, im Magen brannte es sauer. Jeanette presste die Hände auf den Bauch und versuchte, die aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen. Sie schluckte krampfhaft.
Ich hätte im Zimmer bleiben sollen, dachte sie. Was habe ich bei diesem Wetter hier draußen verloren?
Tränen stiegen ihr in die Augen, erstarrten bei der Kälte sofort und gefroren auf den Wangen. Ein Auge war verklebt. Sie rieb mit dem eisigen Handschuh darüber, aber das machte es nur noch schlimmer.
Wieder wurde ihr schwindelig, und auch die Übelkeit kam zurück. Jeanette tastete nach dem Laternenmast, um sich festzuhalten, aber ihre Hände wollten nicht gehorchen und griffen ins Leere.
Was ist mit mir? Warum bin ich so kraftlos?
Es war, als hätte sie keine Macht über ihren Körper; es kribbelte in den Beinen und stach in den Armen, ihre Haut juckte.
Alles um sie herum versank im Nebel, sie hatte die Orientierung verloren. Die Rezeption war nicht weit weg, es war eigentlich unmöglich, sich zu verlaufen. Dennoch erschien ihr die Entfernung unendlich, beinahe unüberwindlich. Sie war diesen Weg erst vor wenigen Stunden gegangen, wie konnte sie sich jetzt verirren?
Das Schneegestöber um sie herum wirbelte auch in ihrem Kopf. Jeanette versuchte, den Blick zu fixieren, ihn auf das große rote Gebäude zu richten, von dem sie wusste, dass es direkt vor ihren Augen lag. Aber wie sehr sie auch zwinkerte und blinzelte, es blieb doch alles verschwommen. Eine einzige breiige Masse.
Sie hatte kaum noch Gefühl in den Füßen, und ihre Finger hingen wie starre Klumpen in den Fausthandschuhen. Sie musste ins Warme, alles andere zählte nicht.
Aber was war kürzer, zurück zum Apartment zu gehen oder weiter geradeaus?
Da kam die Übelkeit zurück.
Was passiert mit mir?, konnte sie gerade noch denken, ehe sie sich in einem Schwall erbrach, zitternd und würgend. Beißende Magensäure, schwarz auf all dem Weiß, brannte dampfende Löcher in den Schnee. In ihrer Unterhose wurde es warm.
»Hilfe«, versuchte sie zu rufen, aber es kam nur ein heiseres Krächzen tief aus der Kehle.
War da nicht ein Schatten in der Dunkelheit? Jemand stand da und lachte sie aus, verborgen hinter all dem Schnee.
Jeanette fiel auf die Knie, sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten.
»Bitte«, flüsterte sie in Richtung der verschwommenen Gestalt.
Der Wind trug erneutes Hohngelächter heran.
Unfähig aufzustehen, begann sie durch den Schnee vorwärtszukriechen.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
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Nora drehte den Schlüssel um und versperrte die Haustür für die Nacht. Das Heulen des Sturms war im ganzen Haus zu hören. Hin und wieder knackte es im Dachgebälk.
Sie war froh, drinnen zu sein, bei diesem Unwetter jagte man keinen Hund vor die Tür. Wenn es weiter so heftig schneite, würde es morgen schwierig werden, zur Kapelle zu kommen.
Nora warf einen letzten Blick in die Küche und entdeckte einen vergessenen Milchkarton auf der Spüle. Vermutlich hatte Adam vor dem Zubettgehen noch einen Schluck getrunken. Hoffentlich aus dem Glas und nicht direkt aus der Packung.
Gerade als Nora die oberste Treppenstufe erreichte, ging die Tür zum Bad auf. Eine feuchte Dampfwolke wehte ihr entgegen.
Henrik erschien in der Tür. Als er Nora bemerkte, blieb er stehen. Er musste gerade geduscht haben, ein weißes Frotteehandtuch war um seine Hüften geschlungen, und seine Schultern waren noch feucht. Die Haare lockten sich ein klein wenig.
»Oh«, entfuhr es Nora.
Henriks Anblick überrumpelte sie. Obwohl sie ihn natürlich schon unzählige Male nackt gesehen hatte.
Nur ein knapper Meter trennte sie.
Er hat trainiert.
Der Gedanke kam aus dem Nirgendwo. Und gleich darauf der nächste:
Er sieht wirklich gut aus.
Henriks Gesicht leuchtete auf.
»Ich dachte, du wärst schon zu Bett gegangen«, sagte er.
Sein Lächeln war offen, der Tonfall echt. Fand sie jedenfalls. Er kam einen Schritt auf sie zu.
»Danke für den wunderbaren Abend«, sagte er. »Es war vielleicht unser schönster Heiligabend seit Langem.«
»Du meinst, verglichen mit all den Heiligabenden, die wir bei deinen Eltern auf Ingarö verbracht haben.«
Sie hatte nicht die Absicht gehabt, scharf zu klingen, aber Henrik wusste, dass sie die steifen Weihnachtsfeiern nie gemocht hatte, die ihre ehemalige Schwiegermutter mit Vorliebe arrangierte. Sie hatten oft darüber gestritten, wo und mit wem sie Weihnachten feiern sollten. Aber das gehörte alles der Vergangenheit an.
»Könnte man vielleicht so sagen.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich weiß, dass meine liebe Mutter nicht einfach ist, du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Nur gut, dass Papa da ist, er weiß, wie man sie nehmen muss.«
Nora dachte daran, wie oft Henrik seine Mutter verteidigt hatte, ganz egal, was sie sagte oder tat. Das hier war neu.
»Danke für das schöne Geschenk«, sagte sie nach einer etwas zu langen Pause. »Du hättest nicht so etwas Teures kaufen sollen. Das ist viel zu viel.«
»Gefällt es dir denn?«
»Auf jeden Fall«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich glaube, ich habe noch nie etwas so Schönes zu Weihnachten bekommen.«
»Dann wurde es ja höchste Zeit.«
Henrik nestelte an seinem Handtuch.
»Du hättest es viel früher bekommen müssen.«
Nora wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Die Stimmung war so aufgeladen. Sie fühlte sich benommen vom Rotwein und dem Armagnac zum Kaffee.
»Gibt es wenigstens noch eine Gute-Nacht-Umarmung vor dem Zubettgehen?«, fragte Henrik leise.
Nora zögerte, sie drehte den Kopf und blickte zu den Zimmern von Adam und Simon. Beide Türen waren zu, die Jungs schliefen längst.
»Es ist doch wohl keine große Sache, seinen Exmann zu umarmen?«, sagte er. »Ich beiße auch nicht, Ehrenwort.«
Nora kicherte verlegen.
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie und hörte, dass ihre Stimme ein wenig heiser klang.
»Na dann?«
Als Henrik sie an sich zog, merkte Nora, wie ihr Körper sich versteifte. Es war so seltsam vertraut und doch wieder nicht. Sie kannte seinen Geruch, wusste, welches Duschgel er mochte und welches Aftershave er benutzte.
Sie spürte Henriks Schultern kühl an ihrer Wange.
Nora dachte daran, wie sie früher immer mit den Fingerspitzen über die dunklen Haare auf seinem Bauch gestrichen hatte, und dass sein Nabel nach außen zeigte statt nach innen, wie bei den meisten anderen Menschen. Wie sie zusammen eingeschlafen waren, einer in den Armen des anderen.
Nora entspannte sich an seiner Brust.
Sie standen ganz still.
Nach einer Weile begann er, behutsam ihren Nacken zu streicheln. Zwei Finger schoben sich unter ihr Haar und wanderten zu dem Punkt, wo das Rückgrat begann, direkt unterhalb des Kragens. Da war eine Stelle, an der sie immer verspannt war, eine alte Verhärtung, die ihr seit Jahren zu schaffen machte.
Er massierte sie mit kreisenden Bewegungen, ganz selbstverständlich. Seine Finger wanderten weiter über das Schulterblatt, hielten an den Achseln inne, ruhten dort einen Moment aus.
Nora rührte sich nicht.
Jetzt strich er sanft mit der Hand an ihrem Schlüsselbein entlang, weiter in Richtung Halsgrube, den Hals hinauf, bis unters Kinn.
Sie spürte den leichten Druck seiner Fingerspitzen auf der Haut.
»Nora«, murmelte Henrik heiser.
Das Piepsen des Handys im Schlafzimmer ließ Nora zusammenzucken.
Was machten sie da?
Verwirrt trat sie einen Schritt zurück, versuchte sich zu sammeln.
»Zeit, schlafen zu gehen«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Sonst wird das morgen früh nichts mit der Weihnachtsandacht. Es ist schon spät.«
Ohne Henrik noch einmal anzusehen, ging Nora eilig ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen, ignorierte den Teil von ihr, der zurück in den Flur gehen wollte.
Auf dem Nachttisch lag ihr Handy. Das Display zeigte eine neue Nachricht. Sie leuchtete ihr im Halbdunkel entgegen.
»Frohe Weihnachten. Hab Sehnsucht nach dir. Ich umarme dich / Jonas.«
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Donnerstag
Nora schaute durchs Küchenfenster hinaus. Henrik schaufelte den Weg vor dem Gartenzaun frei, an dem sich die Schneeverwehungen meterhoch türmten. Es war immer noch kalt draußen, aber der Wind hatte sich gelegt. Das Meer war nicht mehr aufgewühlt, obwohl die Wellen, die gegen den Bootssteg schlugen, auch jetzt noch weiße Schaumkronen trugen.
Das wird bestimmt ein schöner Tag, dachte sie, der Himmel ist ganz klar.
Henrik schwang die Schaufel mit kraftvollen Bewegungen. Nora fasste sich in den Nacken und dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, als seine Finger sie dort gestreichelt hatten.
Er bemerkte sie am Fenster, und Nora zog hastig die Hand zurück.
»Seid ihr fertig?«, rief er, den Schal bis zum Kinn hochgezogen. »Wir müssen los.«
»Kommt, Jungs!« Nora ging zur Treppe und schaute hinauf. »Wir sind schon spät dran.«
Die Kapelle lag nur fünf Minuten von der Brand’schen Villa entfernt, aber bei der Kälte mussten sie sich warm anziehen. Dick eingepackt stapften sie los.
Simon ging an Henriks Hand.
Vater und Sohn machen einen Spaziergang, dachte Nora, die mit Adam wenige Meter hinter ihnen ging. Obwohl sie Adam mehrfach ermahnt hatte, einen Schal umzubinden, hatte er ihn zu Hause vergessen, wie üblich.
Nach wenigen Minuten hatten sie das Missionshaus mit dem Hügel erreicht, auf dem die Kapelle lag. Es war eine der höchsten Erhebungen auf Sandhamn.
»Guck mal«, rief Adam aus.
Der schmale Weg, der trotz der frühen Stunde schon vom Schnee geräumt war, wurde von brennenden Fackeln auf hohen Metallstäben gesäumt. Die Flammen, die den Weg zeigten, schlängelten sich den Berg hinauf.
»Ist das nicht schön?«, sagte Nora.
Sie hakte sich bei ihrem Ältesten ein, obwohl sie wusste, dass es ihm unangenehm war. Aber ausnahmsweise ließ er es zu.
Vor ihnen ging eine Familie von der Insel, Nora kannte die Frau, kam aber nicht auf den Nachnamen. Egal.
Die Küsterin, eine freundliche Frau in den Sechzigern, stand an der Tür und begrüßte sie, als sie eintraten und sich den Schnee so gut es ging abklopften. In der Hand hielt sie einen Stapel Zettel, auf denen stand, welche Lieder während der Weihnachtsandacht gesungen werden sollten. Einen Zettel reichte sie Nora und einen Henrik.
Die Kapelle war schon gut gefüllt, aber Henrik zeigte auf eine Reihe in der Mitte, wo noch Plätze frei waren. Nora ließ sich in der Bank nieder, mit ihren Söhnen links und rechts neben sich. Am Ende der Reihe, außen am Gang, saß Henrik. Adam lehnte den Kopf gegen die Schulter seines Vaters.
Kurz vor sieben war der Raum fast bis auf den letzten Platz besetzt. Die Kerzen in den gediegenen Messingkronleuchtern an der Decke waren angezündet und verbreiteten ein mildes Licht. Vorn am Altar stand ein schön geschmückter Weihnachtsbaum.
Nora lehnte sich zurück und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte unruhig geschlafen und merkwürdig geträumt. Als sie aufwachte, war sie bedrückt gewesen, ohne zu wissen, warum.
Henrik legte den Arm um Adams Schultern, seine Hand berührte zufällig Noras Jacke, und sie musste wieder an ihre Begegnung vor der Badezimmertür denken. An den Moment, als sie sich entspannt und den Kopf an seine Brust gelegt hatte. An das Gefühl von Geborgenheit, das in ihr erwacht war.
Wie konnte das sein, nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war?
Schuldgefühle beschlichen sie. Was wäre passiert, wenn das Handy nicht gepiepst hätte?
Am Nachmittag würde Henrik nach Hause fahren, während Nora mit den Jungs auf der Insel blieb. Zum Jahreswechsel würde Jonas nach Sandhamn kommen.
Im Herbst hatten sie sich nicht oft gesehen. Jonas hatte einen eng geschnürten Dienstplan, SAS versuchte, Geld zu sparen, indem sie ihren Piloten mehr Flüge zuteilte, und Nora hatte den Eindruck gehabt, dass er in den letzten Monaten kaum in Stockholm gewesen war.
In seiner knapp bemessenen Freizeit musste er sich vor allem um seine Tochter Wilma kümmern, die nach den Erlebnissen im Sommer immer noch unter Albträumen litt. Sie war in der Schule schlechter geworden und hatte den ganzen Herbst über gekränkelt.
Jonas hatte Nora schließlich erzählt, was an dem Mittsommerwochenende, als Wilma nicht nach Hause kam, eigentlich passiert war. Nora erinnerte sich an die lähmende Sorge, an die Angst, dass das denkbar Schlimmste passiert sein könnte. Daran, wie sich die idyllische Mittsommerstimmung auf einen Schlag in einen Albtraum verwandelt hatte.
Es war ein schrecklicher Mittsommer gewesen, chaotisch. Nora konnte sehr gut verstehen, dass Jonas in den wenigen Tagen, die er zu Hause war, bei Wilma bleiben musste.
Aber sie vermisste ihn.
Die Orgel stimmte »Glans över sjö och strand« an, Noras Lieblingschoral.
Simon hob das Kinn und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Frohe Weihnachten, Mama«, flüsterte er.
Nora verdrängte die Gedanken an den gestrigen Abend und an Jonas und lächelte ihn an.
»Frohe Weihnachten, Liebling.«
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»Alice, kommst du endlich?«
Papas Stimme schallte von unten herauf. Er klang ungeduldig. Wieso begriff er nicht, dass sie einfach ihre Ruhe haben wollte?
Alice Thiels drückte sich die Kopfhörer tiefer in die Ohren, hörte die Schritte auf der Treppe aber trotzdem.
Das Tagebuch lag aufgeschlagen auf der Bettdecke, rasch klappte sie es zu und schob es unter das Kopfkissen. Dann drehte sie die Lautstärke ihres iPods auf und schloss die Augen, tat so, als wäre sie mit der Musik eingeschlafen und hätte ihn nicht gehört. Wenn er sah, dass sie schlief, würde er vielleicht wieder umkehren.
Die Tür zu ihrem Zimmer flog auf.
»Warum antwortest du nicht, wenn ich dich rufe?«
Alice wusste genau, wie er aussah, wenn er so klang. Gerunzelte Stirn, die Augen unter den schweren Lidern schmal. Der kahlrasierte Kopf, der vor Ärger vor und zurückzuckte.
Er hatte bestimmt ein schickes Hemd und eine schwarze Hose an, das war der Standardaufzug ihres Vaters, wenn sie eingeladen waren. Kein Schlips oder Jackett, so etwas trug er nur im äußersten Notfall.
Aber er war es, der dahin wollte, nicht sie.
Sie bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, was sie erwartete. Petra, die sich bei ihr einschleimte und nichts unversucht ließ, um ihre Freundin zu werden, anstatt endlich zu begreifen, dass das nie passieren würde. Berge von Weihnachtsessen auf dem Esstisch, fettige Gerüche, die ihr in jede Pore drangen und sie nicht in Ruhe ließen.
Alice ließ die Augen zu. Ich schlafe, dachte sie, siehst du das nicht?
»Wir sollen um vier bei Petra sein«, sagte ihr Vater streng. »Warum bist du noch nicht fertig?«
Er rüttelte sie leicht.
Alice schlug die Augen auf und hoffte, dass sie verschlafen aussah. Dann setzte sie sich im Bett auf, ohne jede Eile, und zog einen der weißen Ohrstöpsel heraus.
»Was ist?«
Als hätte sie keine Ahnung, was er wollte. Ihr Vater seufzte und warf ihr einen resignierten Blick zu, den sie ignorierte.
»Ich habe dir schon heute Morgen gesagt, dass du um diese Zeit fertig sein musst«, sagte er. »Du weißt doch, dass wir bis Sundbyberg eine ganze Weile fahren müssen, vor allem heute, wo alles zugeschneit ist.«
Alice merkte, dass er ihre verschossene Jogginghose und den schwarzen Sweater musterte, den ein Zahnpastafleck zierte.
»Jetzt mach schon, Alice. Wir müssen los, und du bist noch nicht mal umgezogen.«
»Muss ich wirklich mit?«, fragte sie und gab sich alle Mühe, weinerlich zu klingen.
Jetzt wird er stinksauer, dachte sie. Und haut hoffentlich ab, dann kann ich hierbleiben.
»Petras Eltern kommen auch«, sagte ihr Vater, ohne wie erhofft zu reagieren. »Und ihre Schwester. Sie hat übrigens angerufen und gesagt, dass sie deinen Lieblingskuchen gebacken hat, Schokoladenpie.«
Kleine Pause.
»Ach komm … Petra gibt sich solche Mühe«, sagte er und klang plötzlich müde und traurig.
Nicht wütend, wie sie gehofft hatte.
Alice schwieg.
Als hätte er gespürt, dass sie ihm etwas vormachte, änderte er plötzlich seine Taktik. Er setzte sich neben sie aufs Bett, legte den Arm um sie und zog sie an sich.
»Weißt du was«, sagte er mit weicherer Stimme, »wenn du partout nicht hinfahren willst, bleiben wir eben beide zu Hause. Ich denke nicht daran, dich Weihnachten allein zu lassen.«
Er drückte leicht ihre Schulter.
»Ich rufe Petra an und sage, dass du dich nicht wohlfühlst. Das ist okay.«
Sei nicht so, dachte Alice. Sie spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Es war leichter, wenn er sauer oder wütend war.
»Ich weiß, dass du wegen Mama traurig bist«, fuhr er fort. »Aber hatten wir gestern nicht trotzdem einen schönen Heiligabend? Mit Oma und Opa? Das war doch gar nicht so schlecht?«
Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen:
»Okay, schon gut. Ich komme mit.«
Das hatte sie überhaupt nicht vorgehabt, aber er wirkte so niedergeschlagen.
»Danke, Liebes.«
Alice schämte sich, als sie hörte, wie erleichtert er war. Ihr Vater stand auf, blieb aber in der Tür stehen. Jetzt klang er wieder normal, ganz der alte Papa.
»Übrigens, könntest du wohl die Güte haben und etwas anderes anziehen als Joggingklamotten? Es muss ja kein Kleid sein, aber bitte etwas Vernünftiges. Ohne Zahnpasta.«
Das Letzte sagte er mit einem Augenzwinkern. Gegen ihren Willen musste Alice lächeln.
»Ich hole schon mal das Auto aus der Garage«, rief er von der Treppe aus. »Beeil dich.«
Alice ging zur Kommode, um etwas zum Anziehen rauszusuchen. Sie wartete, bis sie die Haustür zuschlagen hörte, dann zog sie ihr Sweatshirt aus.
Durchs Fenster hörte sie, wie der Audi aus der Garage fuhr. Draußen war es schon stockdunkel, dabei war es erst drei Uhr nachmittags.
Rasch nahm sie einen dicken Pullover aus der untersten Schublade, zog ihn über den Kopf und band sich die Haare zum Pferdeschwanz. Dann stieg sie aus der Jogginghose und schlüpfte in eine schwarze Jeans.
Die war in der Taille zu weit, sie musste einen Ledergürtel aus dem Schrank nehmen und ihn bis zum letzten Loch zuziehen. Das war gut. Bald würde sie eine Hand zwischen Bauch und Hosenbund stecken können.
Sie versuchte sich zu erinnern, wo die Toilette in Petras Wohnung war. So genau wusste sie das nicht mehr, sie war erst ein Mal dort gewesen, im Spätsommer. Wenn man reinkam, geradeaus, oder kam man direkt ins Wohnzimmer? War davor nicht ein Flur gewesen?
Sie machte die Augen schmal, um sich das Bild in Erinnerung zu rufen, aber es klappte nicht. Man kam in eine große Diele, und dann?
Am besten war, wenn die Toilette etwas abseits lag, außer Hörweite von Küche und Wohnzimmer, dann bekam niemand mit, wenn sie kotzte.
Sonst musste sie die ganze Zeit den Wasserhahn aufgedreht lassen.
Oder immer wieder die Klospülung drücken, das funktionierte auch ganz gut.
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Die Musik aus dem Handy weckte Nora. Adam hatte »Mamma Mia« von Abba heruntergeladen, als Ersatz für das Standardsignal, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass ihr Mobiltelefon klingelte.
Schlaftrunken blickte sie sich um, sie lag auf dem Sofa im Fernsehzimmer. Sie nahm das Handy vom Tisch.
»Hallo?«, murmelte sie müde.
»Hey, ich bin’s.«
Jonas’ Stimme klang fröhlich, voller Energie.
»Habe ich dich geweckt?«
»Mhm, macht nichts.« Sie setzte sich auf. »Ich muss vor dem Fernseher eingeschlafen sein. Wir sind heute Morgen sehr früh aufgestanden.«
Sie schaute zur Uhr, fünf nach sechs, es war höchste Zeit, Abendessen zu machen.
»Ist alles gut gelaufen?«, fragte Jonas. »Hast du meine SMS bekommen? Ich wollte nicht anrufen und euch bei der Bescherung stören.«
Nora atmete hastig ein.
»Ja, es war ganz gemütlich. Die Jungs haben sich so gefreut, dass Henrik hier war, vor allem Simon. Du weißt ja, wie er ist.«
Sie stockte kurz bei Henriks Namen, aber Jonas schien nichts gemerkt zu haben.
»Wie war es bei euch?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
Jonas hatte Heiligabend ebenfalls mit seiner Ex verbracht, Margot, die schon lange wieder verheiratet war und einen Sohn aus der zweiten Ehe hatte.
Im Unterschied zu Henrik.
»Ganz gut. Wilma hatte tatsächlich mal gute Laune. Ich glaube, sie fängt sich langsam wieder. Das ist so schön, du glaubst es nicht.«
Seine Stimme wurde leiser, wärmer.
»Du fehlst mir. Ich habe gestern die ganze Zeit an dich gedacht. Vor allem, als ich schlafen gegangen bin.«
»Du fehlst mir auch«, sagte sie schnell.
Es entstand eine kleine Pause. Ehe er etwas sagen konnte, fuhr sie fort:
»Wo bist du überhaupt? Immer noch in Stockholm?«
Manchmal verlor sie den Überblick, wo er sich gerade aufhielt. Heiligabend hatte er freigehabt, aber sie wusste, dass er heute wieder arbeiten musste.
»In Kopenhagen. Unterwegs nach New York. Aber Dienstag bin ich zurück. Ich fahre Mittwochfrüh zu euch raus, wie besprochen. Dann bekommst du dein Weihnachtsgeschenk. Du weißt, wer auf etwas Gutes wartet …«
Noras Schuldgefühle wuchsen.
»Pernilla und Thomas kommen auch zu Silvester«, sagte sie. »Wir können uns das Seglerrestaurant-Feuerwerk angucken, das ist immer ganz toll.«
»Hört sich gut an. Soll ich dir was mitbringen vom großen Apfel?«
The Big Apple.
Nora sah Wolkenkratzer und die Freiheitsstatue vor sich. Sie hätte mitfliegen und ein paar schöne Tage in New York verbringen können. Jonas hatte sie gefragt, aber dieses Jahr hatte Nora die Kinder zwischen den Feiertagen.
Und wenn sie sich doch entschlossen hätte, mit Jonas zu verreisen, wäre sie dann weniger empfänglich für Henrik gewesen?
Aber es ist ja gar nichts passiert, sagte sie sich. Jetzt hör auf, dir Gedanken zu machen.
»Bist du noch dran?«
Jonas holte sie aus ihren Grübeleien.
»Ja, natürlich. Entschuldige, draußen vor dem Fenster war irgendein Geräusch.«
Jetzt log sie ihn auch noch an.
»Sag einfach, was du haben möchtest, ich habe jede Menge freie Zeit, bevor ich zurückfliegen muss. Ich könnte Parfüm mitbringen, wenn du möchtest.«
Jonas dachte immer an alles, das war so typisch für ihn.
»Das ist ganz lieb, aber ich brauche nichts«, versicherte sie. »Wirklich nicht.«
Jetzt war sie absolut ehrlich, vielleicht zum ersten Mal in diesem Gespräch.
»Du fehlst mir«, sagte sie weich. »Komm schnell wieder zurück.«
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»Ich gehe jetzt, Bertil«, sagte Lisa. Oder hieß sie Lena? »Falls du später Hunger bekommst, steht noch mehr Abendessen im Kühlschrank, das kannst du dir in der Mikrowelle heiß machen. Safranpfannkuchen, klingt das nicht gut?«
Ihre Haare erinnerten an ein Zebra, schwarz und weiß gefärbte Strähnen, die ihr bis über die Schultern reichten. Auf den rechten Oberarm war ein bunter Drache tätowiert, der sich vom Ellbogen hinunter zum Handgelenk schlängelte.
Gerade eben hatte sie ihm geholfen, den Pyjama zu wechseln. Davor hatte sie sein Abendessen in der Mikrowelle erhitzt: ein Fertiggericht aus Hackbällchen, Kartoffeln und Preiselbeerkompott, das sein Weihnachtsessen sein sollte.
»Also dann, frohe Weihnachten«, sagte sie mit solchem Nachdruck, dass ihr Nasenring zitterte. »Wir sehen uns erst nach Neujahr wieder, ich habe die nächsten Tage frei.«
Sie zog die Jacke an, aber dann fiel ihr noch etwas ein.
»Soll ich dir ein paar Pfefferkuchen hinstellen, bevor ich gehe? Oder ein bisschen Schokolade?«
Bertil Ahlgren winkte ab.
»Nicht nötig. Wiedersehen.«
Er lag mit einer Wolldecke über den Beinen oben auf dem Bett. Der Fernseher in der Ecke war eingeschaltet. Eine putzmuntere Frau erzählte von ihren Kindheitserinnerungen an einen Heiligabend in Lappland. Er wünschte, sie würde die Klappe halten. Dieses Geplapper!
Ganz egal auf welchen Kanal er zappte, überall lief derselbe Mist. Entweder uralte Spielfilme in Schwarz-Weiß, die er schon hundert Mal gesehen hatte, oder übertrieben sentimentale Moderatoren, die die richtige Weihnachtsstimmung herbeischmusen wollten.
Endlich schlug die Tür hinter Lisa oder Lena zu, und Bertil konnte aufatmen.
Das Mädchen meinte es ja gut, aber er hasste das, all diese Menschen, die in seinem Haus herumwuselten und ihn behandelten wie ein Kind.
Vier Mal am Tag kam jemand vorbei, manchmal lächerlich junge Mädchen mit glatten Wangen und munteren Augen, aber immer mit dieser betont fröhlichen Begrüßung auf den Lippen:
»Hallo Bertil, wie geht es dir heute?«
Erst in den Abendstunden fand er wieder zu sich selbst. Dann konnte er so tun, als wäre alles ganz normal, als wäre er der Herr im Haus. Und nicht diesen jungen Dingern ausgeliefert, die ihm sein Essen zubereiteten und ihm halfen, sich an- oder auszuziehen.
Er liebte die Ruhe im Haus zu dieser späten Stunde. Keiner lief die Treppen hinauf oder hinunter, keiner nahm den klapprigen Fahrstuhl. Heute Abend war aus der Nachbarwohnung kein Ton zu hören. Jeanette war am Tag zuvor abgereist. Durch den Türspion hatte er gesehen, wie sie in den Fahrstuhl gestiegen war, und er hatte ihr gerade noch ein frohes Weihnachtsfest wünschen können, als sie auch schon die Gittertür schloss und rief, dass sie für ein paar Tage verreist sein würde.
Bertil wohnte seit sechsundfünfzig Jahren in diesem Haus, seit dem Tag, da er als jung verheirateter Ehemann eingezogen war, und er kannte jeden Bewohner. Sein Schlafzimmer lag gleich neben dem Treppenhaus, er wusste genau, wann die Nachbarn kamen oder gingen.
Heutzutage liefen so viele Verrückte herum, da war es besonders wichtig zu wissen, wer sich in der näheren Umgebung aufhielt. In der Zeitung hatte er von Ausländern gelesen, die versuchten, sich bei alten Leuten Zutritt zu verschaffen, indem sie an der Tür klingelten und um ein Glas Wasser baten. Wenn sie dann in der Wohnung waren, klauten sie wie die Raben.
Meistens schaute er durch den Spion, wenn er Geräusche im Treppenhaus hörte. Dann konnte er sehen, was dort draußen vor sich ging.
Das gab ihm das Gefühl, am Leben teilzunehmen, kein alter Knacker zu sein, der keine Ahnung hatte, was vor seiner Tür passierte.
Inhaltsverzeichnis
Thomas ging zu Pernilla, die mit Elin im Arm auf dem Sofa lag. Auf dem Couchtisch häufte sich zusammengeknülltes Bonbonpapier. Die Abendnachrichten im Fernsehen hatten schon angefangen.
Elin schlummerte selig an ihrer Brust. Pernilla lag mit der Wange auf der Armlehne. Es sah unbequem aus, aber Pernilla schien es nicht zu stören.
Thomas beugte sich zu ihr hinunter, und die Teelichter auf dem Tisch flackerten. Er strich ihr sanft übers Haar.
»Soll ich sie ins Bett bringen?«
Pernilla lächelte ihn an.
»Gern, ich wollte mir nur kurz die Nachrichten ansehen. Die ganze Welt könnte untergehen, ohne dass wir etwas davon ahnen. Ich habe seit Tagen keine Zeitung mehr gelesen.«
Sie drehte sich ein wenig, sodass sie einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen konnte.
»In fünf Minuten fängt der Film an, den du sehen wolltest.«
Vorsichtig hob Thomas seine Tochter hoch und nahm sie auf den Arm, spürte die Wärme ihres Körpers. Elins Kopf passte in seine hohle Hand, darüber wunderte er sich jedes Mal wieder.
Er legte Elin ins Gitterbett und zog die Decke über den kleinen Rücken. Ihre Lider flatterten kurz, als er die Lippen auf ihre Stirn drückte, aber sie schlief weiter.
Er hörte, dass in der Abendschau ein Filmbeitrag über Nya Sverige kam. Pernilla schimpfte halblaut, wie immer, wenn in den Nachrichten über die ausländerfeindliche Organisation berichtet wurde. Aber er liebte es, dass sie sich so engagierte.
Als er aus dem Schlafzimmer zurückkam, erläuterte ein Meteorologe die Wetteraussichten für den zweiten Weihnachtstag. Bedeckt, später aufklarend, vorläufig keine weiteren Schneefälle. Unverändert kalt.
Thomas setzte sich neben Pernilla, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich.
Ich habe das große Los gezogen, dachte er. Darf man überhaupt so glücklich sein?
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Freitag
Bertil Ahlgren blickte verschlafen auf die Uhr, fast halb vier morgens. Er musste vor dem Fernseher eingenickt sein und eine ganze Weile geschlafen haben.
Er versuchte sich zu orientieren. Irgendwas hatte ihn geweckt, ein lautes Geräusch. Woher war das gekommen?
Jetzt hörte er das Geräusch wieder, es kam von nebenan, aus Jeanettes Wohnung.
Im Fernsehen lief noch ein alter Spielfilm in Schwarz-Weiß, er erkannte den Hauptdarsteller wieder. Der war schon lange tot, natürlich. Seiner blonden Partnerin ging es vermutlich auch nicht besser.
Alle waren tot.
Wieder polterte es auf der anderen Seite der Wand. Jetzt war er hellwach.
Bertil griff nach dem Morgenmantel am Fußende. Er kämpfte eine Weile mit dem Gürtel, Knoten binden fiel ihm inzwischen schwer. Dann presste er das Ohr an die Tapete. Da drüben war doch jemand?
Unruhe überkam ihn. Er strich sich über die paar dünnen Haare, die ihm geblieben waren. Horchte. Sein Gehör funktionierte noch ganz gut, es war nur der Körper, der nicht mehr mitspielte.
Jetzt war es drüben still. Oder?
Moment, da war wieder ein leises Poltern. Jemand stellte Jeanettes Wohnung auf den Kopf, dessen war er sich jetzt ganz sicher.