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Tod einer mutigen Journalistin.
Emma Klar, Privatdetektivin in Wismar, erfährt, dass Jana Kühn, eine Journalistin, mit der sie einmal zusammengearbeitet hat, spurlos verschwunden ist. Janas Schwerpunkt lag auf besonderen Kriminalfällen im Umfeld der organisierten Kriminalität. Sie hatte schon häufiger untertauchen müssen, doch Emma ist besorgt. Als Jana wenig später tot aufgefunden wird, deutet für die Polizei alles auf Suizid hin. Nur Emma zweifelt und beginnt zu ermitteln ...
Privatdetektivin Emma Klar und ihr brisantester Fall – von der Autorin des Bestsellers „Ufermord“.
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Seitenzahl: 453
Als Emma Klar, ihres Zeichens ehemalige Polizistin und Privatdetektivin, die eng mit dem BKA zusammenarbeitet, erfährt, dass die ambitionierte Journalistin Jana Kühn in einem Ferienhaus bei Rerik Selbstmord begangen haben soll, ist sie zuerst entsetzt – dann jedoch beginnt sie zu zweifeln. Schließlich hatte sie Jana Kühn als furchtlose Journalistin kennengelernt, der kein Thema zu heiß war. Emma Klar beschließt zu ermitteln. Womit hat Jana sich zuletzt beschäftigt? Wer könnte einen Grund gehabt haben, sie zu töten? Bald stößt sie auf mehrere ungeklärte Todesfälle, in denen DNA-Abgleiche in der Rechtsmedizin eine besondere Rolle gespielt haben.
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin.Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord«, »Fischermord«, »Schiffsmord«, »Ankermord« sowie »Ufermord« lieferbar.
In der Emma-Klar-Serie erschienen bisher: »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge«, »Todesklippe«, »Todeswall« sowie »Todeswelle«.
Ebenfalls von ihr lieferbar: »Bornholmer Schatten«, »Bornholmer Falle« und »Bornholmer Flucht«.
Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com
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Katharina Peters
Todesbrandung
Ein Ostsee-Krimi
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Impressum
Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Der Gedanke beschäftigte Oliver zum ersten Mal, als er im Krankenhaus lag. Damals war er Mitte zwanzig und hatte sich bei einem Fahrradsturz einen komplizierten Bruch zugezogen. Zwei Tage vor seiner Entlassung bekam er einen neuen Bettnachbarn – ein älterer Typ mit zahlreichen Verletzungen und Blessuren, der nicht gerne redete. Im Grunde redete er gar nicht. Wobei er sich verletzt hatte, ließ sich schwer einschätzen. Oliver tippte nach einem kurzen Seitenblick auf eine Prügelei.
In der letzten Nacht im Krankenhaus wurde er wach, als der Neue telefonierte – inzwischen wusste er von dem Namensschild an seinem Bett, dass er Paul Reiter hieß und vierzig Jahre alt war. Paul flüsterte, und seine Stimme klang heiser, aber Oliver hatte einen leichten Schlaf. Er atmete ruhig weiter und lauschte.
»Das war das letzte Mal«, sagte Paul mit heiserer und dünner Stimme. Danach blieb es einen Moment still. »Keine Ahnung«, meinte er dann. »Mir wird schon was einfallen. Damit kommt das Arschloch nicht mehr durch, ich schwöre es dir.« Erneute Pause, leises Räuspern. Das klang eher verbittert und ängstlich als drohend, dachte Oliver.
»Manchmal stelle ich mir vor … Nun, er müsste einfach verschwinden, sich in Luft auflösen«, fuhr Paul nach längerer Pause fort. »Ohne eine Spur zu hinterlassen. Stell dir das mal vor. Wir hätten unsere Ruhe. Mehr noch: Frieden. Endlich.« Die Ahnung eines sehnsuchtsvollen Lachens untermalte die Worte. »Ja, wir würden uns den Spaß sogar was kosten lassen.« Dann lauschte er wieder eine Weile, bis er sich verabschiedete. »Ja, du auch, bis bald.«
Paul hat Probleme mit jemandem, dem er nicht gewachsen war – er und sein Gesprächspartner –, überlegte Oliver, während sein Bettnachbar das Handy beiseitelegte und sich mit leisem Ächzen umdrehte. Wir lassen uns den Spaß was kosten. Dabei war es so einfach. Der Tod hinterlässt keine Spuren. Er ist lediglich die Folge des Sterbens – und allein dieser Prozess kann uns zeigen, was geschehen ist, und einen Hinweis auf den Auslöser geben. Oliver lächelte, als er an den schrulligen Rechtsmediziner dachte, den alle nur Professor Einstein nannten und der diesen Satz geprägt hatte. Mindestens zweimal in der Woche gab er seine Erkenntnis in dozierendem Ton von sich – meist während einer Obduktion, bei der Oliver ihm als Präparationsassistent zur Seite stand. Manchmal auch nach der Untersuchung eines Gewaltopfers, das seine Verletzungen nicht überlebt hatte. Dann war der Mediziner meist sehr still, und seine Worte klangen bedächtig und ernst, und er verstummte ganz, wenn es um Kinder ging.
Oliver arbeitete seit zwei Jahren an seiner Seite, und er hatte das Gefühl, am richtigen Platz zu sein. Im Verlauf von sechs, sieben Jahren nach seinem Schulabbruch hatte er sich in den unterschiedlichsten Jobs versucht und alle möglichen Branchen ausprobiert, und vieles war interessant und anregend gewesen – für eine gewisse Zeit. Bis eine Art Überdruss entstand, der stetig zunahm und ihn schließlich weiterziehen ließ – wie ein Suchender, der das Ziel nicht kannte und trotzdem nicht aufgeben mochte. Doch hier im kühlen Saal fühlte er sich von Anfang an bemerkenswert gut aufgehoben. Hier endete alles, und es gab Antworten auf Fragen, die vielleicht nie gestellt wurden, und der Tod selbst beeindruckte ihn nicht. Professor Einstein riet ihm mehrfach, das Abitur nachzuholen und zu studieren, doch Oliver strebte keine Karriere an, er fühlte sich im Einklang mit dem, was er tat. Sollte sich das ändern, würde er sich wieder auf den Weg machen. Und eines Tages würde er vielleicht verstehen, wohin die Reise noch ging, und er konnte dann all seine Talente und sämtliche Fähigkeiten nutzen, die er im Laufe der Jahre erworben hatte.
Kein Jahr nach seinem Fahrradunfall begegnete er zum zweiten Mal dem Namen Paul Reiter. Ein trüber Herbst hatte gerade Einzug gehalten, und Oliver spürte die ersten Anzeichen von Unruhe – der noch still und lediglich hin und wieder aufflackernde Wunsch nach Veränderung begann in ihm zu kreisen. Er zeigte sich in leisem Unwillen und dezenter Trägheit, was seine beruflichen Aufgaben anging, und es war ihm längst klar, dass die Suche und ein erneuter Aufbruch, vielleicht sogar ein größerer Bruch bevorstanden. An dem Morgen, als die beiden Polizisten auf Professor Einstein warteten, ging es hektisch zu; Oliver musste an mehreren Tischen in verschiedenen Räumen assistieren. Er war im Begriff, Gewebeproben ins Labor zu bringen, als er durch die offene Tür mitbekam, dass sein Chef nebenan mit den Beamten sprach.
»Was soll ich sagen? Die Straßenbahn hat ihn voll erwischt. Schwerste innere und äußere Verletzungen – eine einzelne davon wäre schon tödlich gewesen«, erklärte Einstein.
»Das ist uns klar, Doktor«, erwiderte einer der beiden Polizisten. »Wir brauchen eine Bestimmung von Fremd-DNA sowie einen Abgleich mit einer Kontrollprobe. Das Opfer hatte eine Auseinandersetzung mit jemandem, und wir möchten wissen …«
»Ob er vor die Straßenbahn gestoßen wurde«, warf der Professor in lapidarem Ton ein.
»Genau. Wir wollen einem Hinweis nachgehen. Falls es einen Täter gibt, der ihn angefasst hat, wird der Spuren hinterlassen haben.«
»Davon ist auszugehen. Das ganze Leben hinterlässt Spuren. Ich sag meinem Assistenten Bescheid. Er wird Proben von der Kleidung nehmen und das Labor beauftragen.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Wie immer – bis es fertig ist.«
»Doktor …«
»Hier ist gerade sehr viel los, aber …«
Oliver wandte den Kopf zur Seite, als der Professor in der Tür auftauchte und ihm einen auffordernden Blick zuwarf. »Es gibt Arbeit für’s Labor. Kannst du ein paar Proben sichern und rüberbringen? Wir brauchen einen Abgleich.«
»Klar.«
Während Oliver frische Handschuhe überstreifte und die Kleidung des Toten auf einem Tisch ausbreitete, hörte er die leise Stimme des zweiten Polizisten, der mit der Dienststelle telefonierte. »Wir sind noch hier, ja. Ich weiß, das Überwachungsvideo allein reicht nicht. Da ist nicht viel zu erkennen. Aber die Zeugenaussage belastet ihn, und beim ersten Gespräch wirkte er wenig souverän … Was? Ja – Reiter, Paul Reiter, macht euch schlau zu ihm. Vielleicht lässt sich was ausgraben. Und wenn seine DNA am Opfer nachweisbar ist, können wir ihn festnageln.«
Oliver strich behutsam über die Jacke des Toten und nahm mehrere Proben an verschiedenen Stellen, während er den Namen innerlich mehrfach wiederholte und eine seltsame Spannung Besitz von ihm ergriff. Paul Reiter. Der einsilbige Mann aus dem Krankenhaus, der erst am Telefon gesprächig geworden war. Er hatte mächtig Prügel bezogen, nicht zum ersten Mal, davon war Oliver überzeugt gewesen. Außerdem war sein Gegner kein Unbekannter gewesen, und er wäre ihn gerne losgeworden – er und sein Gesprächspartner oder seine Gesprächspartnerin. »Er müsste einfach verschwinden, sich in Luft auflösen. Ohne eine Spur zu hinterlassen … Wir hätten unsere Ruhe. Mehr noch: Frieden. Endlich«, erinnerte Oliver sich mit bemerkenswerter Klarheit an das nächtliche Telefonat. Sein Herz klopfte plötzlich laut und schnell.
Minuten später machte er sich auf den Weg ins Labor. Auch dort herrschte großer Andrang. Eine Kollegin winkte nur unwillig, als er die beschrifteten Proben zusammen mit dem DNA-Material für den Abgleich ins Fach für die neuen Aufträge legte. »Das könnte aber dauern, und zwar lange«, rief sie ihm zu.
»Klingt nicht gut. Es sollte schnell gehen.«
»Ich kann es nicht ändern. Wir sind unterbesetzt. Wenn es nicht warten kann, musst du es selbst machen – zumindest den ersten Test. Das würde das Ganze beschleunigen.«
Oliver nickte sofort, als hätte er nichts anderes erwartet.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, war er sehr nachdenklich und aufgewühlt zugleich. Der erste Abgleich war positiv gewesen. Ein zweiter Kontrolltest sollte am nächsten Tag erfolgen – oder auch erst in ein, zwei Tagen, je nach Arbeitsaufkommen. Sollte sich das Ergebnis wiederholen, sprach viel dafür, dass Paul Reiter den Typen erledigt hatte, der ihm – aber offenbar nicht ihm allein – das Leben schwergemacht hatte. So etwas könnte man sich durchaus zusammenreimen. Was immer auch dahintersteckte – es gab einen Toten, der vor die Straßenbahn gestoßen worden war, und Hinweise, die zu Reiter führten. Spurlos hatte der Typ nicht sein Leben gelassen, und in Luft aufgelöst hatte er sich auch nicht, wie es Reiter im Krankenhaus ein Jahr zuvor noch beschworen hatte. Doch die Situation bot Spielraum.
Je länger Oliver auf diesem Gedanken herumkaute, desto schärfer begann sich ein Szenario in ihm abzuzeichnen. Dann setzte er sich an seinen Laptop und suchte im Netz nach Paul Reiter. Schließlich entdeckte er die Nummer eines Festnetzanschlusses. Oliver starrte eine Weile ins Leere und beschloss dann, eine Nacht darüber zu schlafen. Um drei Uhr früh wachte er auf und fand danach keinen Schlaf mehr. Er zog sich an, verließ seine Wohnung und lief zum Bahnhof, wo er eine öffentliche Telefonzelle betrat. Er zögerte einen Moment, dann steckte er Kleingeld in den Schlitz und wählte die Nummer. Es klingelte sechs, sieben, acht Mal – natürlich, die meisten Leute schliefen um diese Zeit, überhörten das Telefon oder gingen nicht ran. Aber Reiters Schlaf war garantiert unruhig.
Oliver wollte gerade auflegen, als sich jemand meldete. Eine leise, unwillige Stimme, die er sofort erkannte. »Ja?«
Oliver zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Fast hätte er den Hörer wortlos eingehängt. Einen Moment schien die Zeit den Atem anzuhalten. »Du hast Spuren hinterlassen«, sagte er dann in ernstem Ton.
Keine Antwort.
»Man wird dir nachweisen, dass du ihn vor die Bahn gestoßen hast«, fuhr Oliver fort.
Reiters Schweigen dehnte sich aus.
»Der Plan war gut, aber nicht gut genug.«
Lautes Ausatmen. »Wer bist du?«, fragte Reiter, und seine Stimme klang überrascht und gequält zugleich.
Unwichtig, wollte Oliver antworten, doch das stimmte natürlich nicht. Niemand war in diesem Augenblick bedeutsamer für Reiter als er. »Ich bin derjenige, der etwas ändern kann, und zwar auf eine Weise, dass es für dich gut ausgeht.«
Verblüfftes Schweigen. »Und warum solltest du das tun?«, fragte Reiter schließlich. »Kanntest du ihn?«
»Nein. Der Mann ist mir völlig egal«, erwiderte Oliver, und auch das war die Wahrheit.
»Willst du Geld?«
Nein, dachte Oliver sofort, es ging nicht um Geld. »Ich werde das für dich bereinigen.«
»Bereinigen«, wiederholte Reiter leise.
»Dafür stehst du in meiner Schuld.«
»Was bedeutet das?«
»Du wirst sie einlösen. Eines Tages. Das ist der Deal.«
»Woher weiß ich, dass du keinen Blödsinn verzapfst und …«
»Du weißt, dass es nicht so ist, oder?«
Langes Schweigen.
»Sind wir uns einig?«
»Ja.«
»Dann wiederhole es.«
Tiefes Durchatmen. »Ich stehe in deiner Schuld. Und ich werde sie einlösen.«
1
Emma war nach einem verlängerten Wochenende bei ihrem Großvater am späten Abend aus Hannover zurückgekehrt. Die Wohnung war ausgekühlt, still und dunkel. Christoph war bereits vor Stunden nach Gadebusch gefahren, wo er – etwa dreißig Kilometer südwestlich von Wismar und zwanzig nordwestlich von Schwerin – vor einigen Monaten einen Betriebshof für seine Sicherheitsfirma angemietet hatte. Ein großer Auftrag aus Hamburg aus dem Bereich der Vermögens- und Finanzberatung mit zahlreichen überregionalen Zweigstellen war ihm glücklicherweise erhalten geblieben, obwohl zwischenzeitlich in einem Mordfall Ermittlungen unter Emmas Regie auch gegen Christophs Auftraggeber angestoßen worden waren.
Mittlerweile war der Fall weitestgehend aufgeklärt, und Geschäftsführer Klaus Hallner hatte sich nicht nachtragend gezeigt, sondern Christophs Firma sogar weiterempfohlen. Das Ergebnis war überaus erfreulich: Christoph hatte alle Hände voll zu tun, konnte sogar das Personal aufstocken und das Hofgebäude ausbauen, und an besonders hektischen Tagen übernachtete er vor Ort. Mittlerweile war auch Jörg Padorn, ein Freund seit der Schulzeit, der eigentlich als freier Journalist und Texter seine Brötchen verdiente, für Christoph tätig – aufgrund seiner weitreichenden Kenntnisse in der IT‑Technik und einer besonderen Begabung für phantasievolle Rechercheansätze unterstützte er regelmäßig Emmas Ermittlungen.
Sie drehte die Heizung hoch und räumte ihren Rucksack und die Mitbringsel aus. Ihr Großvater hatte Eier und Gemüse eingepackt sowie diverse Gläser mit selbstgekochter Marmelade, eingelegte Pilze, Käse, selbstgebackenes Brot und ein Stück geräucherten Schinken. Emma lächelte. Sie allein würde eine gute Woche davon leben können, doch der Vorrat würde nicht lange halten, wenn Christoph sich darüber hermachte – sein Appetit reichte stets für drei.
Großvater Karl lebte allein auf einem Bauernhof in einem kleinen Kaff westlich von Hannover, den er nach seiner Zeit als Ingenieur bei Volkswagen gekauft hatte. Er hielt ein paar Hühner, bewirtschaftete einen großen Garten und nahm regelmäßig Hunde und Katzen auf, die niemand mehr haben wollte. Karl hatte die achtzig inzwischen überschritten, aber er wirkte nach wie vor fit und agil. Emma erwischte sich neuerdings dabei, dass sie ihn bei ihren viel zu seltenen Besuchen heimlich musterte und nach Hinweisen Ausschau hielt, die man wohl gemeinhin mit Alterserscheinungen umschreiben konnte. Ging er gebückter als sonst? War er schmaler geworden? Wirkte er müde, kraftlos oder kränklich? Musste er Medikamente einnehmen, oder war er vergesslich? Nein. Nichts von alldem traf zu, aber sie mochte nicht ausschließen, dass sie erste winzige Anzeichen nur allzu gerne übersah. Karl war seit ihrer Jugend der Fels in Emmas Brandung – zu ihren Eltern hatte sie so gut wie keinen Kontakt, aber Karl war immer wichtig gewesen.
Emma telefonierte mit Christoph und ging dann schlafen. Mitten in der Nacht schreckte sie hoch, tastete neben sich, um sich dann zu erinnern, dass sie allein war. Sie schaltete die Nachttischlampe an und griff nach ihrem eindringlich vibrierenden Smartphone – das Display zeigte einen unbekannten Anrufer an. Sie zögerte. Das Klingeln ebbte ab und startete Sekunden später erneut. Sie stellte die Verbindung her. »Ja?«
»Emma Klar?« Die Stimme war leise und verzerrt.
»Wer spricht da?«
»Sie wissen, wer Jana Kühn ist?«
Emma überlegte nur kurz. »Ja. Worum geht es?«
»Sie ist verschwunden.«
»Geht das genauer?«
»Nein. Suchen Sie Jana!« Eine Sekunde später wurde die Verbindung unterbrochen.
Emma blieb einen Moment sitzen, dann warf sie die Bettdecke zurück und stand auf.
Jana Kühn war eine Rostocker Journalistin, die Emma Anfang des Jahres im Rahmen der Ermittlungen zum Motorradunfall des Polizeipsychologen Valentin Wolff kennen- und schätzen gelernt hatte. Jana war Ende zwanzig und arbeitete für ein Onlinemagazin, ihr Hauptaugenmerk galt Kriminalfällen. Sie kommentierte Polizeiarbeit und begleitete Ermittlungen mit kritischen Einschätzungen und eigenen Recherchen; um die Hintergründe einer Story zu verfolgen, begab sie sich immer wieder auf gefährliches Terrain und machte sich regelmäßig Feinde – insbesondere im Bereich der Organisierten Kriminalität. Sie zeichnete ihre Reportagen und Berichte mit dem Kürzel JK oder Kühn wie kühn. Der Name passte hervorragend zu ihr, wenn auch nicht unbedingt in äußerlicher Hinsicht. Sie war klein und zierlich wie eine Turnerin. Aber Jana trat nicht nur kämpferisch und mutig auf, sondern war auch ziemlich frech.
Emma sah die junge forsche Frau vor sich, die seinerzeit einem Treffen nur zögerlich zugestimmt und es dann präzise vorbereitet hatte – Kontrolle war ihr ausgesprochen wichtig gewesen. Später hatte sie Emma erzählt, was sich hinter ihrer Vorsicht verbarg, die auch umfasste, dass ihre Kontaktdaten geheim waren.
Emma schlüpfte in Jogginghose und Pullover, kochte Tee und ging nach unten in ihr Büro. Es war vier Uhr früh. Herbstnebel zog durch Wismars Straßen. Sie fuhr ihren Laptop hoch. Die Polizeimeldungen aus dem Rostocker Umkreis waren unauffällig. Auch die Redaktionen der Presseagenturen hatten wenig Aufregendes zu bieten, abgesehen von den üblichen Nachrichten und Verkehrsmeldungen, die zu einer trüben Herbstnacht passten. Schließlich rief sie in der Onlineredaktion an – doch dort meldete sich nur die automatische Ansage, was nicht weiter überraschend war. Emma legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
»Sie ist verschwunden. Suchen Sie Jana.« Niemand rief mitten in der Nacht eine Privatdetektivin und freie Mitarbeiterin des BKA an, um sich mit verstellter Stimme einen bösen Streich zu erlauben. Emma zweifelte nicht daran, dass der Anrufer es ernst meinte; ein anonymer Hinweis beinhaltete meistens ein eindeutiges Signal.
Emma hatte sich Jana seinerzeit schnell verbunden gefühlt – die Journalistin war vor einigen Jahren genau wie sie selbst Opfer eines gewalttätigen Übergriffs geworden, der ihr weiteres Leben entscheidend geprägt hatte. Sie hatte im Verlauf des Gesprächs versichert – auch daran entsann Emma sich mit bemerkenswerter Klarheit –, dass die Täter eines Tages dafür bezahlen würden. Und das hatte durchaus unheilschwanger geklungen, so wenig diese drohende Äußerung auf den ersten Blick zu der zierlichen Frau gepasst hatte. Die Vermutung, dass Jana entweder einer heißen Story auf den Fersen war und es womöglich für nötig hielt, komplett unterzutauchen, ohne jemanden in ihre Pläne einzuweihen, lag demnach genauso nahe wie die Befürchtung, dass sie sich mit alten oder auch neuen Feinden angelegt hatte, denen sie möglicherweise nicht gewachsen war.
Emma rief eine Stunde später erneut in der Redaktion an – mit demselben Ergebnis wie beim ersten Versuch. Um kurz nach sechs meldete sich schließlich die verschlafene Stimme eines jungen Mannes. Wie nicht anders zu erwarten war, gab er ihr keine Auskunft zu Jana, geschweige denn eine Telefonnummer, und bat sie zurückzurufen, sobald der Chef im Haus war.
»Und wann trudelt der ein?«
Unterdrücktes Gähnen. »Um acht, vielleicht auch erst um neun. Kann ich nicht so genau sagen.«
»Es ist wichtig«, betonte Emma.
»Ja, schon klar, aber …«
»Klingeln Sie bitte Ihren Chef aus dem Bett!«, warf Emma ein. »Jana kennt mich. Wir haben schon zusammengearbeitet – Anfang des Jahres, als es um den Motorradunfall eines Polizeipsychologen ging. Sie hat sich sogar mit mir getroffen. Insofern …«
»Dann wissen Sie auch, dass Jana immer sehr vorsichtig ist.«
»Und ob ich das weiß! Sie hat mir sogar erzählt, was damals passiert ist und warum sie kaum noch jemandem über den Weg traut. Und womöglich ist sie gerade in Schwierigkeiten.«
Zögern. »Okay, ich versuche mal, den Chef zu erreichen. Aber …«
»Ja?«
»Jana will häufig einfach nicht erreichbar sein. Das ist ganz und gar nicht neu. Und sie wechselt ständig ihr Handy.«
»Mag sein. In ihrem Fall kann es aber nicht schaden, genauer hinzusehen.«
»Na schön.« Sein Tonfall klang nicht sonderlich überzeugt.
Immerhin meldete sich Chefredakteur Wolfgang Prahm wenig später bei Emma. Auch er wirkte wenig beunruhigt. »Jana hält sich immer bedeckt. Meistens weiß niemand, ob und woran sie gerade arbeitet und wo sie sich aufhält. Das ist nun mal ihre Arbeitsweise.«
»Das Argument höre ich gerade zum wiederholten Mal, Herr Prahm. Doch ein anonymer Hinweis mitten in der Nacht müsste Ihnen schon zu denken geben.«
»Ja, das ist schon etwas merkwürdig«, gab er widerwillig zu. »Aber vielleicht will da jemand einfach nur ein bisschen Verwirrung stiften oder einen Warnschuss abgeben, weil sie sich zu weit vorgewagt hat – oder jemand befürchtet, sie würde genau das tun.«
»Und er ruft dann ausgerechnet mich an?«, wandte Emma in zweifelndem Ton ein. »Wäre es nicht der direktere Weg gewesen, sich an die Redaktion zu wenden? In der Hoffnung, man würde sie zurückpfeifen?«
»Tja …«
»Im Übrigen war das keine Warnung, sondern genau genommen ein Hinweis. Jana ist verschwunden, und ich soll sie suchen.«
Wolfgang Prahm ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort. »Wie gesagt, ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Aber ich werde mal nachfassen.«
»Sagen Sie mir Bescheid?«
»Natürlich.«
Wenig später schlüpfte Emma in ihre Regenjacke und ging hinunter zum Hafen. Im diesigen Morgenlicht eines erwachenden Herbsttages verfolgte sie das Ablegen eines Kutters, das satte Dröhnen des Motors klang gedämpft. Lastwagen fuhren übers Gelände, am Holzhafen fanden Verladearbeiten statt, eine Böe trug den Schrei einer Möwe übers Wasser. Emma schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und ging langsam zurück. Die Tür zu ihrer Lieblingsbäckerei stand offen; sie atmete den Duft tief ein und ging wenig später mit einer prall gefüllten Tüte nach Hause.
Prahm meldete sich eine halbe Stunde später. Es gab keine Spur von Jana – doch niemand machte sich ernsthafte Sorgen. Sie sei mal wieder an irgendeiner Geschichte dran – Details gebe es nicht. Das Übliche.
Emma ließ seine Worte sacken. »Haben Sie Jana erreichen können?«, fragte sie dann.
»Nein. Aber auch das ist nicht ungewöhnlich.«
»Was wäre denn für Sie ungewöhnlich?«
»Wie meinen Sie das?«
Emma strich mit der Hand über den Tisch und wischte die Brötchenkrümel beiseite. »Wann würden Sie anfangen, sich zu wundern, und erwägen, etwas zu unternehmen? Nach einer Woche oder erst nach vierzehn Tagen? Nach einem Monat?«
Prahm seufzte leise. »Ich weiß, was Sie meinen, aber ich kann nur noch einmal betonen, dass Jana immer ihr eigenes Ding macht. Seit damals. Irgendwann schickt sie uns einen ersten Entwurf oder einen fertigen Text, oder sie taucht plötzlich in der Redaktion auf und freut sich, dass sie die Dinge mal wieder beim Namen genannt hat. So ist sie, und wir haben das akzeptiert, was im Übrigen nicht immer einfach ist. Dass damit auch Risiken verbunden sind, weiß sie selbst am besten. Dennoch schätzt sie dieses Wagnis geringer ein als die Gefahr, dass sich jemand an ihre Fersen heftet, wenn die Redaktion weiß, wie und wo sie zu erreichen ist. Das heißt nicht, dass sie uns misstraut, sie will einfach nur sichergehen, dass aus dieser Ecke …«
»Ja, schon klar.«
Als Prahm sich verabschiedet hatte, goss Emma sich einen frischen Kaffee ein. Sie überlegte einen Moment und rief dann Moritz Tambach an, Leiter der Kriminalpolizeiinspektion Rostock, mit dem sie in mehreren Ermittlungen erfolgreich zusammengearbeitet hatte und der zudem ein Exkollege ihrer Chefin Johanna Krass vom BKA-Berlin war. Er saß gerade mit einem Kollegen im Auto und war unterwegs zu einer Festnahme.
»Soll ich später noch mal anrufen?«, fragte Emma.
»Ach was, wir sind noch eine Viertelstunde unterwegs – was gibt’s?«
»Der Name Jana Kühn sagt dir noch was, oder?«
»Die Journalistin? Und ob. Ohne sie hätte ich den Motorradunfall kaum noch einmal aufgegriffen. Was ist mit ihr?«
»Sie ist verschwunden.«
»Was?«
Emma berichtete von dem anonymen Anruf und ihren ersten Nachfragen in der Redaktion. »Dort ist niemand besorgt – das Ganze passt zu Janas üblicher Arbeitsweise. Aber ich bleibe dabei: Der Anruf bei mir ist seltsam.«
»Ja, finde ich auch«, meinte Tambach. »Aus polizeilicher Sicht können wir allerdings nicht viel tun.«
»Ich weiß. Ich erinnere mich, dass Jana bei den damaligen Ermittlungen erwähnte, dass sie einen Kontaktmann bei der Polizei hat. Vielleicht ist der immer noch aktuell und könnte uns weiterhelfen – oder er selbst ist der anonyme Anrufer, der aber auf keinen Fall aus der Deckung kommen möchte.«
»Verstehe … Und du möchtest, dass ich mal nachhake, um wen es dabei gehen könnte?«
»Das ist die Idee.«
»Gut – ich versuche mein Glück und melde mich wieder. Ist sonst alles in Ordnung? Hast du zu tun?«
»Alles bestens – Christoph hat mehr Aufträge, als er annehmen kann, und ich unterstütze ihn hin und wieder. Wenn gerade nichts anderes anliegt.«
»Aber es geht doch nichts über eine handfeste Ermittlung oder die knifflige Observierung eines richtigen Bösewichts, oder?«
Emma lachte leise. »Du sagst es. Aber das bleibt unter uns.«
»Selbstverständlich. Bis später.«
Emma fuhr am späten Mittag nach Gadebusch. Christoph war auf dem Sprung zu einem Kunden, während Padorn Aufnahmen einer Videoüberwachung analysierte, nebenbei telefonierte und ein Programm zur Gesichtserkennung durchlaufen ließ. Wenn Emma nicht alles täuschte, war er voll in seinem Element. Er begrüßte Emma mit breitem Grinsen, beendete wenig später sein Telefonat und begann dann in höchsten Tönen von seinem neuen Programm zu schwärmen. Emma nickte höflich. Die Feinheiten entgingen ihr völlig, aber Padorns Begeisterung wirkte erfrischend. »Also, es ist keine offizielle Software, aber das spielt ja gerade für Privatkunden ohnehin nur eine untergeordnete Rolle, und außerdem …« Plötzlich brach er ab. »Was ist los?«
Emma nestelte ihr Handy aus der Tasche. »Kannst du einen anonymen Anruf zurückverfolgen?«
Er runzelte die Stirn. »Bist du bedroht worden?«
Sie schüttelte rasch den Kopf und fasste das Geschehen in wenigen Sätzen zusammen, während Padorn das Smartphone an einen PC stöpselte und eine Analyse startete. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor. »Tja, sieht so aus, als hätte der Anrufer alles richtig gemacht.«
»Ein Profi?«
»Nicht unbedingt. Vielleicht ein gut informierter Laie.« Er zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht besonders aufwändig, sich bedeckt zu halten, wenn man ein paar Haken schlägt. Und selbst wenn wir eine Nummer entschlüsseln könnten, hat er dieses Handy beziehungsweise die SIM-Karte womöglich längst entsorgt.«
»Das dachte ich mir.«
Padorn griff nach seiner Kaffeetasse. »Du kennst Janas Familie nicht? Oder andere Kontakte?«
»Nein.«
»Ein paar Namen oder Stichworte?«
»Kann ich nicht mit dienen. Womöglich stimmt nicht mal ihr Name. Ich weiß nur, dass sie seit ein paar Jahren für die Onlineredaktion arbeitet und nach Recherchen im Umfeld der Organisierten Kriminalität Opfer eines Überfalls wurde. Dürfte zwei, drei Jahre zurückliegen. Seitdem arbeitet sie quasi nur noch verdeckt. Eine echte Meldeadresse gibt es nicht. Sie dürfte auch mit Hilfe eines Kontakts bei der Polizei ihre Spuren verschleiert haben.«
»Kurzum: mager.«
»Du sagst es.«
»Soll ich helfen?«
Emma lächelte. »Auf die Frage habe ich gewartet.«
Padorn wies auf den zweiten Schreibtisch. »Zu zweit müssten wir was entdecken.«
Emma setzte sich und fuhr den PC hoch.
»Und du musst mir alles sagen, was du über sie weißt und was dir aufgefallen ist.«
»Tja, ich befürchte, mehr habe ich nicht.«
»Ein Foto?«
Emma schüttelte den Kopf.
Padorn grinste. »Klingt nach größerer Herausforderung – also ganz nach meinem Geschmack.«
Als Emma am Abend nach Hause fuhr, schwirrte ihr der Kopf. Sie hatten sich durch zig Berichte und Reportagen gearbeitet und das jeweilige Hintergrundgeschehen beleuchtet, das Jana in den letzten Jahren aufgegriffen hatte. Sie hatte den Finger gerne und tief in die Wunde gelegt – ob es nun um schlampige Ermittlungen ging oder Schwerkriminelle, denen die Justiz nicht gewachsen schien, oder regionale Ereignisse, auf die sie unbedingt aufmerksam machen wollte. Erstaunlicherweise existierten im Netz tatsächlich keine Fotos von ihr – oder sie hatten sie nur noch nicht entdeckt. Auf jeden Fall hatte da jemand ganze Arbeit geleistet, wie Padorn mehrfach anerkennend kommentiert hatte. Er wollte sich in den späteren Abendstunden noch ein paar Gedanken dazu machen und würde sich melden.
Emma genoss den Abend mit Christoph, aber sie war nicht mit ganzem Herzen und hundertprozentiger Aufmerksamkeit dabei.
»Du machst dir Sorgen, stimmt’s?«, stellte er schließlich fest. »Was genau befürchtest du?«
»Dass Jana eine Spur zu den Leuten entdeckt hat, die sie damals überfallen haben«, antwortete sie prompt.
»Und weiter?«
»Sie könnten ihr zuvorgekommen sein«, fügte Emma in leisem Ton hinzu.
Christoph schwieg und zog sie in seine Arme. Auch das schätzte Emma an ihm – er versuchte erst gar nicht, sie mit halbherzigen Einwänden und oberflächlichem Abwiegeln zu beruhigen. Die bange Annahme, dass Jana etwas zugestoßen sein könnte, mochte verfrüht sein, war aber nicht von der Hand zu weisen. Als sie ins Bett gingen, sah Emma das schmale Gesicht der jungen Frau vor sich – wie sie mit energisch erhobenem Kinn und angriffslustigem Ton ihren Blick suchte. Wir haben uns damals an der Uni getroffen, fiel Emma ein – auf ihren Vorschlag hin. Vielleicht hat sie dort studiert. Sie schrieb Padorn eine kurze Nachricht, bevor sie sich an Christoph kuschelte und endlich einschlief.
2
Jana Kühn hieß eigentlich Vanessa Dietrich, gebürtige Rostockerin, neunundzwanzig Jahre alt, Journalistin. Emma hatte ihr Gesicht am nächsten Tag unter Hunderten von Studierenden entdeckt, die Padorn bei seiner Netzrecherche im Umfeld verschiedener Universitäten aus dem Netz gezogen hatte. Und obwohl das Foto bereits vor einigen Jahren entstanden war, zögerte Emma nach stundenlangem Suchen keine Sekunde – sie war sich hundertprozentig sicher, dass es sich um Jana handelte. Die anschließende Recherche zu ihrem Klarnamen und familiären Hintergrund war kein Problem für Padorn und führte schnell zu weiteren Treffern.
»Der Vater war Ingenieur, Mutter Lehrerin …«
»War?«
»Sie sind beide pensioniert«, erklärte Padorn. »Janas älterer Bruder ist Arzt geworden, die Schwester arbeitet als Innenarchitektin, verheiratet, ein Kind.« Er warf Emma einen fragenden Blick zu. »Willst du zu denen Kontakt aufnehmen?« Ein leises Zögern hatte sich in seine Stimme geschlichen.
»Eigentlich schon.« Sie nickte langsam. »Ohne mit der Tür ins Haus zu fallen natürlich. Wir sollten nur beiläufig nach ihr fragen und nicht unnötig die Pferde scheu machen.«
»Ganz meine Meinung.«
Sie teilten sich die Anrufe, und wenig später stand fest, dass sich Jana – oder auch Vanessa – schon lange nicht mehr im Familienkreis gemeldet hatte. »Das ist allerdings keine Überraschung, umgekehrt würde ich mich eher wundern«, wie Janas Schwester, der sich Emma als Kollegin aus der Hauptstadt vorgestellt hatte, in kaum verhülltem beißendem Tonfall hinzufügte. »Sie hat es nicht so mit der Familie – bedeutet ihr einfach nichts, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ja, so ungefähr.«
»Zufällige Übereinstimmungen in der DNA – was heißt das schon? Das war einer ihrer Lieblingssprüche.«
Kann ich gut verstehen, bei mir ist es ganz ähnlich, dachte Emma, verkniff sich aber den Hinweis. »Ach so, nun, da kann man nichts machen«, entgegnete sie stattdessen höflich. »Ich dachte, Sie könnten mir mit ihrer Telefonnummer weiterhelfen. Ich habe ein neues Handy, und mir fehlt ein Teil meiner Kontakte …«
»Tut mir leid. Am besten versuchen Sie es in ihrer Redaktion.«
»Das mache ich, danke.«
Die Reaktionen der anderen Familienmitglieder gestalteten sich ganz ähnlich. Damit waren sie erneut in einer Sackgasse gelandet. Aber Padorn wirkte alles andere als entmutigt. »Schauen wir mal, ob wir Freunde ausfindig machen können«, schlug er vor.
»Sie lebt zurückgezogen«, gab Emma zu bedenken. »Und traut niemandem.«
»Aber das war doch nicht immer so.« Padorn wies auf die Bilder aus der Uni. »Damals war noch alles in Ordnung, oder? Als Journalistin hat sie außerdem nun mal mit Menschen zu tun. Darüber hinaus hat sie laut Meldedaten mal in einer WG gelebt. Damit lässt sich auch was anfangen.«
Padorn sollte recht behalten. Eine ehemalige Mitbewohnerin und Kommilitonin, die inzwischen in Hamburg lebte, hatte schließlich den richtigen Tipp. »Sie war eng mit einer Musikerin befreundet … Warten Sie, ja: Josephine Kronsgard. Die ist damals durch Bars getingelt und hat ab und an mal mit irgendeiner kleinen Band ein paar Stücke aufgenommen. Eine echte Frohnatur und Lebenskünstlerin. Vielleicht weiß sie mehr … Warum genau suchen Sie eigentlich nach Vanessa?«, schob die Frau plötzlich nach. »Ist etwas passiert?«
Emma sah kurz zu Padorn hinüber, der bereits den Namen eingetippt hatte und sofort den Daumen hob. »Nein, nein, keine Sorge. Ich kann sie auf den üblichen Wegen nicht erreichen. Es geht um eine Reportage.«
»Ach so. Na dann – viel Glück.«
Padorn blickte auf, als Emma das Smartphone beiseitelegte. »Josephine Kronsgard tingelt immer noch durch Bars, sie sitzt am Piano und spielt Blues und Folk. Morgen Abend kann man sie in Schwerin sehen und hören – im KlangWert, das ist ganz in der Nähe des Doms. Da findet übrigens alles Mögliche statt: Theater, Kabarett, Musik, dazu gibt es nette Drinks.« Er lächelte. »Ich habe mal einen längeren Artikel dazu geschrieben.«
»Aha.«
»Kann ja nicht schaden, auch mal wieder was für die kulturelle Bildung zu tun, oder?«
»Unbedingt.«
Emma hätte für Augenblicke fast vergessen können, warum sie die Bar besuchte. Das Ambiente war wunderbar, und Josephine Kronsgard am Piano zu erleben war ein Genuss. Hinzu kam, dass Christoph neben ihr saß und ähnlich fasziniert schien. Eine gute Stunde schien die Welt völlig in Ordnung. Das sollten wir öfter machen, dachte Emma, nachdem die Sängerin zwei Zugaben spendiert hatte und der Applaus allmählich verklang. Während Christoph die Drinks bezahlte, ging Emma vor und fragte sich zur Garderobe durch. Vor der Tür standen zwei junge Männer, die sich um die Technik gekümmert hatten, wie sie sich erinnerte. Emma wollte durchgehen und anklopfen, doch einer der beiden – ein mittelgroßer breitschultriger Typ mit auffallend grünen Augen – stellte sich ihr sofort in den Weg. »Kann ich helfen?« Er hob den Blick und musterte sie forschend.
»Nein, danke. Ich möchte mit Frau Kronsgard sprechen.«
»Wollen Sie ein Autogramm?«
»Vielleicht.«
»Das können Sie online machen.«
»Mag sein. Ich möchte einfach nur ein paar Worte mit ihr …«
»Alles in Ordnung?«, ertönte Christophs Stimme vom Flureingang. Er kam rasch näher und fixierte die beiden Typen.
»Josephine möchte nicht gestört werden«, erklärte der andere Mann in besonnenem Ton – er schien ein paar Jahre älter, sein Backenbart war gut geschnitten, der Hauch eines guten Eau de Toilette lag in der Luft.
»Es ist wichtig«, erklärte Emma. »Und falls Josephine jetzt keine Zeit hat, werde ich lediglich einen Termin mit ihr vereinbaren.«
»Das können Sie auch online erledigen«, warf der Jüngere ein.
Christoph hob beide Brauen. »Ich schlage vor, wir lassen Josephine selbst entscheiden«, meinte er, schob sich zur Tür durch und klopfte zweimal. »Das kriegt sie auch nach einem Auftritt hin.«
»Was gibt es?«, erklang nur einen Augenblick später Josephines Stimme.
»Hier will jemand was von dir!«, erklärte der Grünäugige.
»Das wollen viele.« Leises Lachen folgte der Bemerkung. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Josephine war mitten im Abschminken. Sie fasste Christoph ins Auge, musterte ihn von oben bis unten und zwinkerte ihm zu. »Suchen Sie einen Job?«
»Tut er nicht«, warf Emma ein. »Ich muss Sie dringend sprechen. Es geht um Vanessa. Besser gesagt: um Jana.«
Die Sängerin kniff die Augen zusammen, dann nickte sie und schob die Tür auf. »Kommen Sie herein.«
Die Garderobe war eng, es roch nach Kaffee und Parfüm. Josephine wies auf einen Stuhl neben dem Spiegel, während sie sich in einen knallroten Sessel setzte und nach einem Sektglas griff. »Was ist los? Ist sie in Schwierigkeiten?«
»Das halte ich für möglich«, erwiderte Emma und berichtete von dem anonymen Anruf und ihren Nachforschungen.
Josephine stellte ihr Glas wieder ab, während sie aufmerksam und mit gerunzelter Stirn zuhörte.
»Wir haben uns bei einem Fall Anfang des Jahres kennengelernt«, erklärte Emma weiter. »Ich arbeite als freiberufliche Ermittlerin und fürs BKA. Ich kann nicht ausschließen, dass ich aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit schneller hellhörig werde oder auch mal überreagiere. Vielleicht steckt nichts dahinter, aber Jana erzählte mir, dass sie mal Opfer eines Übergriffs wurde, und ich halte es für möglich, dass sie in Schwierigkeiten ist.«
Die Sängerin nickte nachdenklich. »Ich habe sie damals ins Krankenhaus gefahren.« Sie sah kurz zu Boden. »Sie war furchtbar zugerichtet … Es waren drei Männer, und sie hatten nichts ausgelassen, um ihr Schmerz und Erniedrigung in Vollendung zuzufügen«, flüsterte sie. »Ich war davon überzeugt, dass sie sich nie wieder davon erholt. Kaum eine Frau tut das.«
»Aber ihr ist es gelungen.«
»Ja – erstaunlicherweise. Es dürfte sie viel Kraft gekostet haben und sie immer wieder an ihre Grenzen führen, aber sie ist eine Kämpferin. Sie hat sich wieder aufgerappelt und macht ihren Job – unter anderen Bedingungen und Einhaltung strenger Vorkehrungen. Kaum jemand kennt ihre Identität. Sie hat fast sämtliche Spuren getilgt …«
»Aber ich habe sie dennoch gefunden, wenn auch mit Hilfe eines versierten IT‑Profis«, wandte Emma ein. Das schaffen andere auch, fügte sie in Gedanken hinzu.
Josephine nickte ernst. »Was haben Sie vor?«
»Ich würde mich gerne in ihrer Wohnung umsehen. Vielleicht finde ich Hinweise zu ihrem neuesten Projekt.«
Erneutes Nicken, wenn auch zögerlich.
»Sie können sich gerne mit der Rostocker Kripo in Verbindung setzen oder das BKA nach mir fragen – falls Sie befürchten, dass ich …«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube Ihnen. Es ist nur … Ich bin ihre Vertraute, und ihr geheimer Unterschlupf ist ihr außerordentlich wichtig. Und nun muss ich ihn preisgeben. Es fühlt sich ein bisschen wie Verrat an, auch wenn ich weiß, dass es nicht so ist.«
»Ich verstehe Sie.«
Josephine sah sie lange an. »Warum geben Sie sich mit der Geschichte ab?«
»Ich hatte ein ähnliches Erlebnis wie Jana – ich nenne sie übrigens weiterhin so, wenn es Ihnen recht ist.«
»Natürlich. Ich auch und die meisten, mit denen sie zu tun hat. Sie hat Vanessa – die gequälte und misshandelte Frau – aus ihrem Leben gestrichen, denke ich.« Josephine behielt Emma im Blick.
»Ich habe mich auch wieder aufgerappelt und mache meinen Job«, fuhr Emma in leisem Ton fort. »Das ist das eine.« Und über meinen alten Namen denke ich kaum noch nach, dachte sie. Eine weitere interessante Parallele.
»Und was ist das andere?«
»Wenn ich die Gelegenheit erhalten hätte, mich zu rächen, hätte ich nicht gezögert. Aber ich kam zu spät.«
»Ich verstehe.« Josephine stand auf und begann, ihre Tasche zu packen. »Lassen Sie uns fahren.« Sie hielt inne. »Der große Kerl da draußen …«
»Mein Lebensgefährte – außerdem arbeitet er in der Sicherheitsbranche. Niemandem vertraue ich mehr als ihm.«
»Okay.«
Wenig später befanden sie sich zu dritt auf dem Weg nach Rostock. Emma fuhr in Josephines Wagen mit. »Wann haben Sie zum letzten Mal von Jana gehört?«
»Das liegt ein paar Wochen zurück«, antwortete die Sängerin. »Ich war aus den Niederlanden zurückgekehrt, und wir haben uns zum Essen bei mir getroffen.« Sie überlegte kurz. »Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt.«
»Hat sie von einem neuen Projekt erzählt?«
Josephine schüttelte den Kopf. »Sie hat wenig von ihrer Arbeit erzählt – höchstens mal eine Andeutung gemacht.«
»Können Sie sich an eine Bemerkung erinnern?«
»Nein … Tut mir leid.«
»Die Frage ist vielleicht müßig, aber … hatte Jana einen Freund? Oder gab es jemanden, den sie mochte?«
»Ich denke nicht. Ihr Vertrauen zu Männern war wohl eher bescheiden.«
Wir reden bereits in der Vergangenheit von ihr, stellte Emma fest. Das sollten wir nicht tun.
»Der Typ, mit dem sie zusammen war, als das damals passierte, hat sie wenig später sitzengelassen«, fuhr Josephine fort. »Er kam damit nicht klar.«
Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jana wohnte im Dachgeschoss eines Gewerbehofes in der Satower Straße. Der Eigentümer war ein Freund ihres Vater, wie Josephine berichtete. Die Gewerbeeinheiten wurden von einer Objektschutzfirma kontrolliert, und es gab eine Videoüberwachung. Sie parkten außerhalb des Hofes und betraten das Gelände über einen Seiteneingang. Christoph sah sich aufmerksam um, wie Emma bemerkte. Es gab zwei Eingänge zu dem vierstöckigen Gebäude, in dem sich Janas Wohnung befand. Der Fahrstuhl endete im vierten Stock, von dort führte ein Aufgang in einem kleinen Technikraum ins Dachgeschoss. Die Wohnung war bescheiden und karg eingerichtet – nur das Nötigste, stellte Emma fest, während sie den Blick schweifen ließ: Wohn- und Essbereich mit einer Arbeitsecke, die aus einem Regal sowie einer Holzplatte auf zwei Stützen bestand, die als Schreibtisch diente. Kein PC oder Laptop. Das Schlafzimmer war klein – die Bettdecke war zurückgeschlagen, als wäre Jana gerade erst aufgestanden. Kleidungsstücke waren auf einem Korbstuhl verteilt. Das Bad war winzig.
»Sie hat sich hier tatsächlich wohlgefühlt«, erklärte Josephine, und in ihre Stimme mischte sich Verwunderung. »Sicherheit hatte Priorität. Alles andere war zweitrangig.«
»Tut es immer noch«, wandte Emma in leisem Ton ein.
»Wie bitte?«
»Ich finde es bedrückend, in der Vergangenheit von ihr zu sprechen.«
Josephine schloss kurz die Augen. »Stimmt, Sie haben recht. Das ist mir gar nicht aufgefallen. Gut, dass Sie darauf hinweisen.«
Auf den ersten Blick fanden sich keine Hinweise auf eine Auseinandersetzung oder unerwünschten Besuch. In der Spüle standen eine benutzte Tasse und ein Teller, der Inhalt des Kühlschranks war kaum der Rede wert. Jana hielt offensichtlich nicht viel von Vorratshaltung; wahrscheinlich aß sie auswärts oder brachte sich ihre Mahlzeiten von unterwegs mit. Der Mülleimer war geleert. Während sich Josephine an den kleinen Esstisch setzte und Christoph das Regal neben dem Schreibtisch näher in Augenschein nahm, ging Emma zurück ins Schlafzimmer. Die Tür des Kleiderschranks war halb geöffnet. Sie zog sie weiter auf. Ob Kleidung und Taschen fehlten, ließ sich nicht feststellen. Emma tastete die Bodenplatte des Schranks ab, wandte sich dann um zu der Wäschekommode. Im Sockenfach entdeckte sie schließlich in einem Karton einen Hefter. Er enthielt ausgedruckte Dokumente – ein Arztbrief mit zahlreichen Belegen, wie Emma feststellte. Sie sah hoch, als Josephine in der Tür auftauchte.
»Der ärztliche Befund aus dem Krankenhaus«, erklärte die Sängerin nach kurzem Blick auf die Unterlagen. »Besser gesagt: die Dokumentation ihrer Verletzungen. Sie wissen sehr wahrscheinlich besser als ich, dass betroffene Frauen in Fällen ohne Spurensicherung entscheiden können, ob sie die Unterlagen selbst aufbewahren wollen oder ob sie in der Klinik beziehungsweise in einer Gewaltschutzambulanz verbleiben.«
Emma nickte. »Zehn Jahre hat das Opfer Zeit, Anzeige zu erstatten«, fügte sie hinzu.
»Aber das hatte Jana nie vor.«
»Ich weiß.« Emma sah Josephine an. »Hat sie eine Spur entdeckt? Seien Sie bitte ehrlich!«
»Das bin ich, und ich kann Ihnen nur sagen, dass ich es nicht weiß.«
»Sie tun ihr keinen Gefallen, wenn sie …«
Josephine schüttelte den Kopf. »Wenn mir klar wäre, dass sie sich auf einem Rachefeldzug befindet, zu dem nach Möglichkeit niemand etwas wissen darf, hätte ich Sie garantiert nicht hierhergebracht, oder?«
Ja und nein, dachte Emma. Vielleicht drohte das Ganze, aus dem Ruder zu laufen.
»Es war ihr natürlich klar, aus welcher Ecke der Wind damals wehte«, ergriff Josephine wieder das Wort. »Sie hatte im Rotlichtmilieu recherchiert und war jemandem gewaltig auf die Füße getreten. Das dürfte wohl unbestritten sein. Aber wer genau hinter dem späteren Überfall steckte und ihr das antat, und ob es ihr je gelingen würde, mehr herauszufinden …« Die Sängerin hob beide Hände. »Vielleicht hat ihr Verschwinden auch nicht das Geringste mit der alten Sache zu tun – immerhin sind inzwischen einige Jahre vergangen. Es kann alles Mögliche passiert sein – oder auch nichts dahinterstecken. Und Sie und ich reagieren womöglich vorschnell, weil wir aufgrund der alten Geschichte hellhörig werden.«
Hoffentlich ist es genau so, dachte Emma. Als sie das Gelände verließen, waren gut zwei Stunden vergangen. Josephine versprach, sich umgehend zu melden, falls sie etwas erfuhr oder ihr im Nachhinein noch etwas einfiel, und machte sich auf den Heimweg, während Emma zu Christoph in den Wagen stieg. Sie war müde und aufgekratzt zugleich. »Ist dir etwas aufgefallen?«, fragte sie, als Christoph den Motor startete.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Weder in der Wohnung noch auf dem Gelände. Die Kameras der Videoüberwachung gehören zu einer Modellreihe gehobenen Standards, so weit ich das mit einem Blick aus der Ferne beurteilen kann. Vielleicht kann Padorn sich dazu schlauer machen.«
Emma warf ihm einen Seitenblick zu. »Du meinst, er könnte auf die Schnelle feststellen, wann die letzten Aufzeichnungen gespeichert wurden?«
»So was in der Art. Würde ich jedenfalls nicht ausschließen.«
»Klingt gut. Wie er seine Spuren verwischt, muss ihm wohl auch niemand erklären.«
»Nö. Ich habe ihm das Modell und den Standort bereits zugeschickt.« Christoph klang fast vergnügt, er lächelte breit. »Mal sehen, was ihm dazu einfällt.«
Als sie in Wismar eintrafen, war es drei Uhr früh. Christoph hatte noch Hunger und genehmigte sich einen Imbiss, während Emma todmüde ins Bett fiel. Sie wurde wach, als er sich neben ihr ausstreckte und an ihrem Ohr zu knabbern begann. »Bist du immer noch nicht satt?«, murmelte sie verschlafen.
»Etwas fehlt noch.«
Sie drehte sich um. »Du bist ein total verfressener Kerl«, flüsterte sie, während ein wohliger Schauer ihren Rücken hinunterkroch.
»Hm. Das klingt so gar nicht vorwurfsvoll.«
Sie lächelte.
3
In jeder Abteilung in allen Behörden auf der Welt gab es mindestens einen Mitarbeiter oder eine Kollegin, die jedes Gerücht kannten, noch bevor es so richtig hochgekocht war, über jedes noch so kleine oder auch schmutzige Geheimnis im Detail Bescheid wussten und deren Antennen für Veränderungen, Regelüberschreitungen und Fehltritte immer ausgefahren waren. Tambach wandte sich stets an die Verwaltungsfachfrau Gisela Möck, wenn er mal schneller informiert sein wollte oder musste oder schlicht auf dem Schlauch stand. Möck war eine Allrounderin und gehörte seit dreißig Jahren zum Stammpersonal in Rostock – ohne sie lief wenig und schon gar nichts schnell. Möck maß gut eins achtzig, sie war füllig und rothaarig, hatte Haare auf den Zähnen und vor niemandem mehr Respekt als unbedingt nötig. Wer sich mit ihr nicht gut stellte, hatte schlechte Karten. Und wer was von ihr wollte oder dringend eine Auskunft von besonderer Tragweite benötigte, sollte ein Fläschchen schottischen Whisky und eine Schachtel Zigarillos dabeihaben – und nicht am falschen Ende sparen.
Tambach suchte Möck am Tag nach dem Gespräch mit Emma kurz nach Feierabend auf. Sie fuhr gerade ihren PC herunter und warf ihm über den Rand ihrer Lesebrille einen langen Blick zu. Er stellte die Tüte auf dem Tresen ab. Es raschelte leise.
»Was ist los?«, fragte sie beiläufig.
»Ich brauche deine Hilfe, Kollegin.«
Sie stand auf, trat an den Tisch und sah in die Tüte. »Scheint wichtig zu sein.«
»Ja.«
Sie schob die Tüte beiseite und sah ihn an. »Ich höre.«
»Es ist ein bisschen kniffelig.«
»Das ist es fast immer.«
»Ich will niemandem ans Bein pinkeln.«
»Natürlich nicht.«
»Es gibt hier jemanden, der ab und an Informationen an eine Journalistin weitergibt.«
Möck hob beide Brauen und setzte ein betont missbilligendes Gesicht auf. »Unglaublich!«, fügte sie hinzu.
»Es geht mir nicht darum, den Kollegen an seine Pflichten zu erinnern oder scharfzüngige Vorträge zu halten«, erklärte Tambach.
»Nein?«
»Nein. Die Journalistin ist verschwunden, und es gibt einige Leute, die sich Sorgen machen. Vielleicht weiß der Kollege mehr. Sie heißt Jana Kühn.«
Möck nickte mit ungerührter Miene. »Ich höre mich mal um.«
»Danke.«
Möck ließ ihn zwei Tage später telefonisch wissen, dass es keine undichte Stelle gab.
»Geht das etwas genauer?«
»Ungern. Nur so viel: Ich habe zwei Kandidaten näher in Augenschein genommen, bei denen ich derartige Aktivitäten für vorstellbar hielt«, erklärte sie. »Aber da ist nichts.«
Tambach fragte nicht, worauf genau sie ihre Einschätzung stützte – darauf würde er ohnehin keine Antwort erhalten. »Da ist nichts«, wiederholte er leise. »Es existiert demnach kein Kontakt mit Jana Kühn?«
»Zumindest nicht mit denen, die ich im Visier hatte.«
»Das heißt, dass es jemandem im Team gelungen sein könnte, seine Aktivitäten komplett zu verbergen?«
»Klingt unfassbar, ist aber so. Der Kollege muss ganz besonders talentiert sein.«
»Oder es gibt ihn gar nicht? Zumindest nicht in Rostock?«
»Tja, das kann man wohl nicht völlig ausschließen.«
Tambach seufzte. »Na schön, da kann man nichts machen.« Er schickte Emma eine Nachricht, die ihn wenig später zurückrief.
»Schade«, sagte sie. »Wir sind auch nicht weitergekommen. Die Wohnung ist unauffällig, auch auf den Bildern der Videoüberwachung findet sich kein Hinweis.«
»Ich frage jetzt mal nicht, wie ihr da rangekommen seid.«
»Gute Idee.«
Tambach hörte das Lächeln in ihrer Stimme. »Dann würde ich sagen, wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft …«
»Nicht alle. Man könnte das Handy orten lassen.«
»Dir ist klar, dass ich das nicht darf und richtig Ärger kriege, wenn ich hier eigenhändig die Bestimmungen umgehe.«
»Das weiß ich.«
Pause. Tambach verdrehte die Augen. »Wenn sich auch übers Wochenende nichts tut, spreche ich Montag mit dem Richter. Ich kann ganz gut mit ihm.«
»Okay.«
Tambach ergriff bereits am späten Nachmittag bei einer spontan anberaumten Besprechung mit dem Richter die Gelegenheit; der Mann ließ sich erfreulicherweise nicht lange bitten, und in der Technik zog ein IT‑Kollege den Fall vor. Die Ortung ergab jedoch lediglich, dass Jana vor zehn Tagen im Umkreis von Rostock das letzte Mal eingeloggt war. Die Erkenntnis half nicht wirklich weiter. Womöglich hatte die Journalistin ihr Handy zu dem Zeitpunkt ausgestellt und benutzte ein zweites Smartphone. Sie war vorsichtig. Tambach gab die Informationen an Emma weiter und verabschiedete sich ins Wochenende. Wenn nichts dazwischenkam, hatte er zwei freie Tage vor sich.
Das Diensthandy klingelte am Sonntagmorgen um kurz nach zehn, als er sich gerade auf den Weg ins Neptun-Schwimmbad machen wollte. Tambach stöhnte leise. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Er stellte die Verbindung her. »Ja?«
»Tut mir leid, Chef. Die PI Güstrow hat sich gemeldet. Es gab einen Leichenfund in Rerik. Es sieht auf den ersten Blick nach Suizid aus, aber die Lage ist noch unklar.«
»Und warum …«
»Es handelt sich um eine Rostockerin.«
Tambach hielt kurz die Luft an.
»Der Name findet sich allerdings nicht im Personenregister. Die Frau hatte einen Presseausweis bei sich und …«
»Jana Kühn?«, warf Tambach mit rauer Stimme ein.
»Woher weißt du das?«
»Schick mir die Daten«, sagte Tambach nach kurzer Pause. »Wir übernehmen das. Ich fahre selbst raus.«
»Okay.«
Tambach legte das Handy beiseite und starrte sekundenlang die Wand an. Er wusste jetzt schon, was Emma sagen würde.
»Nie im Leben hat sie Suizid begangen«, flüsterte Emma mit tonloser Stimme. »Darauf wette ich …«
»Ich weiß. Komm raus nach Rerik. Wir treffen uns dort. Ein kleines Team ist bereits unterwegs.«
»Ja.« Emma ließ das Handy sinken. Die Tränen standen ihr plötzlich in den Augen. Ein Zittern durchfuhr sie. Ihre alten Feinde haben Jana getötet, dachte sie. Hat sie wirklich geglaubt, sie könnte alleine mit denen klarkommen? Sie wischte sich mit beiden Händen über die Augen.
Hinter ihr knarzte die Tür. Christoph kam gerade aus der Dusche. Das nasse Haar hing ihm in die Stirn. Er musterte sie einen Moment, trat dann zu ihr und zog sie an sich. »Was ist passiert?«
»Jana. Sie haben sie tot aufgefunden, in Rerik. Ich fahre sofort hin …«
»Wir fahren hin«, warf er sofort ein. »Ich zieh mich nur an. Frühstücken können wir im Auto.«
Sie benötigten gut vierzig Minuten. Der kleine Bungalow lag am Salzhaff. Mehrere Behördenfahrzeuge umstanden das Grundstück. Emma erkannte den Wagen von Tambach. Sie stieg aus. Ihre Schritte waren bleischwer. Der Kommissar trat aus dem Haus und blickte ihr entgegen. Er hob nur kurz eine Hand zur Begrüßung und kam langsam näher. Emma blieb neben ihm stehen.
»Tabletten, wie es aussieht«, sagte Tambach leise. »Eine leere Schachtel lag auf dem Tisch. Wahrscheinlich ist sie gestern Abend gestorben. Keine Spuren von Gewalt. Das ist jedenfalls der erste Eindruck.«
»Darf ich sie sehen?«
»Der Rechtsmediziner ist gerade bei ihr.«
»Nur kurz.«
Tambach nickte.
Emma ging ins Haus – ein typischer kleiner Ferienbungalow, wie es ihn entlang der Küste zu Tausenden gab. Zwei Beamte und eine Kollegin der Spusi sicherten Spuren. Der Doktor hockte neben dem Sofa und notierte ein paar Daten. Er sah nur kurz hoch, als Emma neben ihn trat und Janas Antlitz musterte. Ihr Gesichtsausdruck war friedlich. Emma hatte Angst, eine Frage zu stellen. Sie traute ihrer Stimme nicht.
Der Arzt wandte den Kopf und sah sie einen Moment schweigend an. »Sie kannten die Frau?«
»Ja. Wir haben uns bei einem Fall kennengelernt«, erwiderte Emma leise.
»War sie depressiv?«
»Nein, ich denke nicht.« Woher wollte sie das so genau wissen? »Das heißt – ich gehe davon aus, dass sie es nicht war. Aber wir kannten uns gar nicht gut genug, wie mir gerade klar wird. Ich hielt sie für eine starke und kämpferische Frau, weit entfernt von …« Sie brach ab.
Der Arzt nickte und erhob sich. »Aber manchmal steckt hinter einer kämpferischen Persönlichkeit etwas anderes.«
»Zum Beispiel?«
»Eine sehr gute Schauspielerin. Depressionen können sich auf völlig unterschiedliche Weise äußern. Manchmal genügt ein auf den ersten Blick unscheinbarer Auslöser für eine Kurzschlusshandlung. Wir werden sehen.«
Emma wandte sich ebenfalls zum Gehen. Tambach wartete draußen. »Kann ich mich noch mal umsehen, wenn die Spusi durch ist?«, fragte Emma.
»Ja, natürlich.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Der Vermieter – sie hätte gestern abreisen müssen und hat sich nicht gemeldet. Es gab keinen direkten Nachmieter, also hat er ihr noch einen Tag gelassen – so dachte er zumindest. Heute früh war er dann hier und hat sie entdeckt.«
»Einbruchsspuren?«
»Nein. Nichts dergleichen. Sie lag auf dem Sofa, als würde sie schlafen, so hat er es beschrieben.«
»Aber es gibt keinen Abschiedsbrief?«
»Nein, noch haben wir nichts entdeckt.«
»Und ihr Handy und Laptop …«
»Emma!«, warf Tambach ein. »Wir machen unseren Job, und sobald erste Ergebnisse vorliegen, erfährst du es direkt von mir.«
Emma atmete tief durch. »Ja, schon gut, tut mir leid …« Sie brach ab. Christoph stand plötzlich hinter ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Sie wandte sich um und ging in Richtung Strand, Christoph blieb dicht neben ihr. Ein rauer Herbstwind hatte die See aufgewühlt. Wolkenfetzen flogen über den Himmel. Das Salz stach ihr in die Augen.
Sie blieben nebeneinander stehen. Nur der Wind und das Rauschen der See drangen auf sie ein. Der Schmerz war groß und bitter. Es war auch ihr eigener Schmerz, die tiefe Wunde, die Gewalttäter auch in ihr hinterlassen hatten und die immer wieder aufbrach. Sie wandte Christoph das Gesicht zu. »Niemals hat Jana sich selbst getötet«, sagte sie leise.
»Das kannst du nicht wissen.«
»Sie …«
Er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. »Wir werden herausfinden, was geschehen ist.«
Eine knappe Stunde später hatten die meisten Kollegen Haus und Grundstück verlassen. Zwei Beamte waren in der Nachbarschaft auf der Suche nach Zeugen, aber allzu viel Hoffnung machte Emma sich nicht. Im Spätherbst blieben die meisten Unterkünfte frei – von einigen Ostseeverrückten abgesehen, bei denen das Wetter und die Jahreszeit keine Rolle spielten und die nicht zu den üblichen Zeiten verreisten. Und ob einer von denen tatsächlich etwas Wichtiges beobachtet hatte, bezweifelte sie stark.
Jana hatte das Häuschen für anderthalb Wochen gemietet. Demnach hatte sie auf dem Weg von Rostock nach Rerik ihr Handy ausgeschaltet – oder zumindest ihr dienstlich genutztes Telefon, wie aus der Nachverfolgung bereits ersichtlich geworden war. Wenig später durchsuchte Emma gemeinsam mit Tambach Schränke, Kommoden, das Bad und Janas Reisegepäck. Sie entdeckten weder ihr Diensthandy noch ein zweites Smartphone und auch keinen Laptop oder Notizhefte, dafür ein paar Romane und Hörbücher – zwei Krimis aus Skandinavien und ein Liebesroman.
»Sie hat sich zurückgezogen«, stellte Tambach fest. »Vielleicht wollte sie einfach ausspannen und …«