3,49 €
Der letzte Fall für Linda Sventon hat es in sich und wird für sie zu einer erneuten Bewährungsprobe. Mittlerweile hat sich Linda in Stockholm eingelebt und ihren Job als Kommissarin wieder aufgenommen. Das Leben verläuft in ruhigen Bahnen, bis eine Tragödie geschieht – Alex wird angeschossen. Linda ist alarmiert und bringt ihre Töchter in Sicherheit, um Schlimmeres zu verhindern. Doch die Ermittlungen gestalten sich schwierig, sie hat es mit einem perfiden Gegner zu tun. Zum gleichen Zeitpunkt vermisst Nova Sjödin ihre einjährige Tochter. Ein Unbekannter hat das Kind gekidnappt und verlangt Unfassbares von ihr. Sie muss sich nun entscheiden – für das abgrundtief Böse und das Leben ihrer Tochter oder ihre moralischen Vorsätze.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Anmerkung
Protagonisten
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Weitere Bücher der Autorin
Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Alex hatte das Gefühl, von einem glühend heißen Pfeil durchbohrt zu werden. Seine Fingerspitzen färbten sich rot, als er die Wunde betastete. Blut quoll aus seinem Bauch und er ging keuchend in die Knie. Die Kugel hatte ihn erwischt und er ahnte, dass es nicht gut für ihn aussah. Seine Überlebenschancen standen fifty-fifty und verschlechterten sich mit jedem Atemzug.
„Bitte, nicht schießen …“, keuchte er und streckte seine Hand flehend nach vorn.
Einen weiteren Schuss aus nächster Nähe würde er garantiert nicht überleben und seine Gedanken wanderten zu Linda, Lillemor und Elina. Sie waren zu seinem Lebensinhalt geworden, gaben ihm Halt und Kraft. Außerdem hatte er noch so viel vor, es durfte einfach nicht vorbei sein.
Lass dich fallen und stell dich tot, riet seine innere Stimme, der er widerspruchslos gehorchte. Der Aufprall war hart und er konnte das Blut schmecken. Dann atmete er geräuschvoll aus und hielt die Luft an. Sein Blick war nun starr in die Ferne gerichtet und es raubte ihm fast den Verstand, den Gegner nicht mehr im Visier zu haben.
Zögerliche Schritte näherten sich ihm und eiskalte Finger tasteten nach seinem Puls. Er durfte nicht blinzeln und bereute, die Augen offen gelassen zu haben. Seine Lungen brannten und schrien nach dem belebenden Sauerstoff.
„Er ist tot“, sagte eine Stimme neben ihm.
War er das wirklich?
Alex hörte das leise Rascheln von Kleidung und wie sich die Schritte entfernten. Er fühlte sich schwach, viel zu schwach, um das Smartphone aus seiner Tasche zu ziehen und den Notruf abzusetzen. Er hatte sich totgestellt, um einem weiteren Schuss zu entgehen, anstatt die Hände auf die Wunde zu pressen und die Blutung zu stoppen. Nun schien das Leben unaufhaltsam aus seinem Körper zu weichen, und er konnte nichts dagegen tun.
Seine Lider wurden schwer und er versuchte vergebens, sich der bleiernen Müdigkeit zu erwehren. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen und die Stille hüllte ihn ein.
Die Spatzen veranstalteten vor dem Schlafzimmerfenster einen Heidenlärm und Nova schlug blinzelnd die Augen auf. Yva, die Rentnerin, die eine Etage tiefer wohnte, fütterte ständig die Vögel. Sehr zum Ärgernis der restlichen Mieter.
Nova drehte sich leise seufzend auf die andere Seite und warf einen Blick auf den Wecker, der neben ihrem Bett stand. Überrascht setzte sie sich auf. Es war bereits kurz nach sieben und Leni hatte noch keinen Mucks von sich gegeben. Ziemlich ungewöhnlich, dass ihre einjährige Tochter um diese Uhrzeit noch schlief.
Hastig schlug Nova die Bettdecke zurück und tappte barfuß durch die offene Tür nach nebenan. Besorgt beugte sie sich über das Kinderbett und taumelte mit einem erstickten Laut zurück. Das Bett war leer.
„Leni?“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein leiser Hauch.
Panisch schaute Nova unter dem Bett nach, im Schrank und durchsuchte schließlich alle Zimmer. Doch ihr geliebtes Töchterchen blieb unauffindbar. Kein fröhliches Glucksen, kein Brabbeln, nichts.
Die Polizei!
Ja natürlich, sie musste die Behörden informieren und lief in den Flur zum Telefon. Sie wollte gerade den Hörer abnehmen, als ihre Hand zurückzuckte. Ein Zettel lag dort, den sie zitternd an sich nahm.
Guten Morgen Nova,
wie ich sehen kann, bist du endlich aufgewacht und hast meine Anweisungen gefunden.
Nova hob den Blick und betrachtete die Deckenlampe. Hatte jemand ohne ihr Wissen Kameras installiert?
Der Zettel raschelte leise in ihrer Hand, als sie sich wieder den Zeilen widmete.
Du wirst dich sicher fragen, wo deine Leni steckt. Keine Sorge, ich kann dir versichern, dass sie bei mir in guten Händen ist. Eine erste Warnung meinerseits – verzichte darauf, dich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, sonst wirst du dein kleines Mädchen nie wiedersehen. Hast du mich verstanden?
Kommen wir nun zum Wesentlichen. Dein Leben verlief bisher alles andere als in geregelten Bahnen und du erscheinst mir eher wie ein Blatt im Wind. Aber ich möchte, dass du über dich hinauswächst, dass du diese Chance ergreifst und dir nie wieder etwas gefallen lässt.
Nova ließ das Blatt Papier sinken. Woher wusste der Schreiber von ihren Problemen? Und was ging hier eigentlich vor sich? Sie beschloss, das Schriftstück zu Ende zu lesen und anschließend die Polizei zu verständigen. Ihr wurde ganz übel vor lauter Sorge um Leni und der Magen rebellierte bereits. Nun war ihr schlimmster Albtraum Wirklichkeit geworden und sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so hilflos und verloren gefühlt wie in diesem Augenblick. Sie wollte ihr kleines Mädchen zurück, egal, was es kosten würde.
Nova, jetzt wirst du mir bitte ganz genau zuhören: Ich will, dass du vier Menschen tötest. Ja, du hast richtig gelesen. Das Leben deiner Tochter im Tausch gegen das von vier Männern. Soweit alles verstanden? Wunderbar.
Je schneller du dich dazu überwinden kannst, dein Vorhaben in die Tat umzusetzen, desto eher wirst du Leni wieder in deinen Armen halten. Du bist dir doch im Klaren darüber, wie sehr sie dich braucht? Sie ist schließlich der erste Mensch in deinem Leben, der dir wirklich etwas bedeutet, nicht wahr?
Diese ausschweifenden Sätze raubten Nova den letzten Nerv. Der oder die Schreiber sollten endlich auf den Punkt kommen und ihre Bedingungen mitteilen. Sie wollte Leni zurück und konnte es kaum erwarten, zum Hörer zu greifen, um den Notruf zu wählen. Mit klopfendem Herzen widmete sie sich wieder den Zeilen.
Folgendes: Du wirst jetzt die oberste Schublade aufziehen und das Smartphone an dich nehmen. Die Nummer ist eingespeichert, also scheue dich nicht, mich sofort anzurufen. Solltest du dich anders entscheiden, wird das Folgen haben. Tödliche Folgen für Leni. Ich will Gerechtigkeit, und ich werde sie mir holen, egal zu welchem Preis.
Also, zögere nicht und rufe mich an.
Minutenlang verharrte Nova im Flur, ohne sich zu einer Entscheidung durchringen zu können. Gerade eben hatte sie noch beschlossen, für Leni durchs Feuer zu gehen, bis sich das Blatt urplötzlich gewendet hatte. Sie konnte keinen Menschen töten, das war geradezu absurd.
Zögerlich öffnete sie die Schublade und starrte auf das Smartphone, das in einer schwarzen Hülle steckte. Eine unheilvolle Farbe, die das Böse regelrecht heraufbeschwor, und Nova fürchtete sich davor, nach ihm zu greifen.
„Verdammt, was soll ich nur tun?“
In ihrer Verzweiflung schlug sie die Hände vors Gesicht, das konnte nur ein böser Albtraum sein. Gleich würde sie von Lenis fröhlichem Brabbeln geweckt werden und sich schlaftrunken über die Augen reiben. Nova kniff sich in den Arm, um zu überprüfen, ob sie auch tatsächlich wach war. Nein, das hier war die bittere Realität.
Das Klingeln des Telefons ließ sie zusammenzucken. Zögerlich streckte sie die Hand aus, wagte aber nicht, das Gespräch anzunehmen. Erst als der Anrufbeantworter ansprang und sie die kratzige Stimme ihrer Mutter hören konnte, erwachte sie aus ihrer Starre.
„Nova? Bist du da?“
„Hallo Mam, wo sollte ich denn sonst sein.“
„Warum nimmst du nicht ab?“, fragte ihre Mutter mit vorwurfsvollem Ton. „Du wolltest mir Leni vorbeibringen. Haben sich deine Pläne geändert?“
„Oh, entschuldige“, stammelte Nova.
Sie hatte den Arzttermin völlig vergessen und jetzt war es ohnehin zu spät.
„Es ist so still bei dir. Schläft Leni noch?“
Nova wollte gerade erwidern, dass Leni es bevorzugte, sie schon um sechs Uhr morgens aus den Federn zu holen, besann sich dann aber eines Besseren.
„Ja, sie hat wohl Fieber, ihre Stirn ist ganz heiß.“
„Dann wird es wohl das Beste sein, wenn sie heute bei dir bleibt.“ Ihre Mutter klang erleichtert.
„Das denke ich auch“, stimmte Nova ihr zu. „Du, ich muss jetzt wieder …“
„Schon in Ordnung, kümmere dich wieder um Leni.“
Ihre Mutter hatte aufgelegt und erst jetzt begriff Nova, welche Chance sie vertan hatte.
Das Smartphone lag noch immer unangerührt in der obersten Schublade und das dunkle Display, in dem sich ihr Gesicht verzerrt spiegelte, schien sie zu verhöhnen. Irgendetwas lief hier ganz gewaltig verquer. Erneut las Nova Zeile für Zeile und ließ anschließend das Blatt Papier resigniert sinken. Sie hatte gar keine andere Wahl und würde die eingespeicherte Nummer anrufen müssen, wenn sie das Leben ihrer Tochter retten wollte.
Widerstrebend nahm sie das Smartphone an sich und drückte die Taste, um es zum Leben zu erwecken. Das Display leuchtete auf und eine ihr unbekannte Nummer erschien. Novas Daumen hing in der Luft, weil sie sich nicht überwinden konnte, anzurufen.
Los jetzt, mach schon, drängte ihre innere Stimme.
„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann“, erklang eine verzerrte Männerstimme.
Nova schluckte und brachte keinen einzigen Ton hervor.
„Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?“
Worte voller Hass und Abscheu lagen ihr auf der Zunge, die sie nicht auszusprechen wagte, weil sie befürchtete, Leni sonst nie wiederzusehen.
„Hallo?“
„Ja“, raunte sie.
„Sehr gut, dass du dich an meine Anweisungen gehalten hast“, sagte die verzerrte Männerstimme.
„Wo ist meine Tochter?“, presste Nova mühsam hervor.
„Das habe ich dir doch geschrieben. Leni geht es gut.“
„Ich will ihre Stimme hören“, forderte sie geistesgegenwärtig. „Ansonsten werde ich sofort die Polizei informieren.“
„Na, na, na, du bist hier nicht in der Position, um Forderungen zu stellen.“
Wie zum Beweis hörte sie im Hintergrund ein leises Greinen.
„Leni!“, schrie sie voller Verzweiflung. „Halten Sie ihr sofort das Telefon ans Ohr, damit sie mich hören kann.“
„Du scheinst vergessen zu haben, dass ich am längeren Hebel sitze. Befolge meine Anweisungen und deinem Wunsch wird nichts im Wege stehen.“
Nova erschauderte. Ihr zerriss es das Herz, Leni im Hintergrund weinen zu hören, und sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit die Polizei zu verständigen.
„Denke nicht einmal daran“, sagte der Kerl, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ich habe dir den Schlüssel zu einem Schließfach hinterlassen. In diesem befindet sich die Waffe, mit der du die vier Männer töten wirst.“
„Nein, ausgeschlossen!“, widersprach sie energisch. „Ich kann keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn, einen Menschen umbringen.“
„Dann wirst du dich dazu überwinden müssen. Oder hat dich deine Vergangenheit nichts gelehrt?“
Die Erinnerung an ihre Kindheit traf sie mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Sie war auf die schiefe Bahn geraten, weil ihr der Halt eines intakten Elternhauses gefehlt hatte. Ihr Vater hatte sich kurz nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht, während ihre Mutter mit ständig wechselnden Liebhabern und dem Alkohol beschäftigt gewesen war. Keine guten Voraussetzungen für einen soliden Start ins Leben.
Ziellos war Nova durch diese Welt geirrt und an Weggabelungen einige Male falsch abgebogen. Sie war als naiver Teenager auf der Suche nach Coolness gewesen, hatte mit Drogen experimentiert und diese auch reichlich konsumiert. Das hatte sich bis ins Erwachsenenalter hingezogen und Leni war wahrlich kein Wunschkind gewesen. Nach unzähligen One-Night-Stands war Nova plötzlich schwanger geworden. Sie hatte sich geschämt, den Vater nicht angeben zu können, weil es zu viele Männer gewesen waren. Auf der Suche nach Liebe hatte sie sich völlig verrannt und war in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten.
Erst kurz nach der Geburt – als der Hormoncocktail eingesetzt hatte – war es zu einer inneren Wandlung gekommen. Die überschäumenden Gefühle der Liebe waren erwacht und Nova konnte gar nicht anders, als diesem Impuls zu folgen. Von diesem Moment an wurde Leni ihr Ein und Alles, ihr Glück, ihre Liebe, ihr Leben. Dieses Kind konnte und wollte sie nicht verlieren.
„Hallo? Bist du noch dran?“
„Ja“, antwortete sie und ihre Entschlossenheit, niemals wieder etwas Unrechtes zu tun, geriet ins Wanken. Sie war ein Freak, ein ehemaliger Junkie, eine Frau, die ihr Leben einfach nicht in den Griff bekam. Dieser Typ hatte sie ganz bewusst ausgewählt, denn sie war wie ein flatterndes Blatt im Wind.
„Neben der Waffe liegt ein Zettel mit dem Namen des ersten Opfers. Ich würde dir raten, alles genau durchzuplanen, damit dir kein Fehler unterläuft. Du willst doch am Ende deine Tochter wieder in die Arme schließen, nicht wahr?“
Was für ein perverser Mistkerl hatte sich da in ihrem Leben breitgemacht?
„Was starrst du so hasserfüllt in die Luft?“, fragte er. „Die Zeit läuft gegen dich.“
Nova hob ruckartig ihren Kopf.
„Schön, dein Antlitz zu sehen“, höhnte die verzerrte Männerstimme.
„Ist es das, was ich vermute?“, fragte sie.
„Glaubst du etwa, dass ich alles dem Zufall überlasse? Ich werde dich gut im Auge behalten, damit du gar nicht erst auf dumme Gedanken kommst.“
„Wann haben Sie die Kameras in meiner Wohnung angebracht?“ Ihre Stimme klang außergewöhnlich hart.
„Mäßige deinen Tonfall“, rügte er. „Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche.“
Nova hatte Schwierigkeiten, seinen Worten zu folgen. In ihr tobte ein Hurrikan, das Gefühlschaos war kaum zu bändigen. Im Hintergrund konnte sie Leni noch immer leise greinen hören, und das brachte sie fast um den Verstand. Sie wollte ihr kleines Mädchen auf den Arm nehmen, ihr tröstend über die blonden Locken streicheln und ihr versichern, dass alles wieder gut werden würde, weil ihre Mama keine eiskalte Killerin war.
„Alles so weit verstanden?“
„Ich kann überhaupt nicht schießen“, brach es unvermittelt aus ihr heraus und sie war erleichtert über diesen Geistesblitz.
Aber es schob sich noch ein weiterer Gedanke in den Vordergrund. Wenn sie absichtlich danebenschießen und anschließend verhaftet werden würde, könnte das alles ein Ende haben. Doch schon im nächsten Atemzug wurden ihre Hoffnungen jäh zunichtegemacht.
„Ach ja, solltest du erwischt werden, wird das deine Tochter nicht überleben.“
Seine zynischen Worte hatten das zarte Pflänzchen im Keim erstickt.
„Sie sind abartig“, rief Nova aufgewühlt.
„Ich bevorzuge lieber den Ausdruck, vom Leben geprägt worden zu sein.“ Er räusperte sich. „Auf deinem Laptop befindet sich bereits eine entsprechende Anleitung, wie du mit der Waffe umgehen musst. Außerdem habe ich noch ein Simulationsspiel installiert, bei dem du das Abfeuern und die Treffsicherheit üben kannst.“
Nova stöhnte leise auf. Nicht nur, dass dieser kranke Typ sie ausspioniert hatte, nein, er war auch noch ganz nebenbei in ihre persönlichsten Bereiche vorgedrungen. Das kam einem Seelenstriptease gleich, wenn nicht noch schlimmer.
„Du hast den restlichen Tag Zeit, dich an die neuen Umstände zu gewöhnen und dich mit der Waffe und deren Anwendung vertraut zu machen. Morgen werde ich dich zum Schließfach führen. Falls du meinst, irgendwelche Dummheiten anstellen zu müssen, so möchte ich dich vorwarnen. Es wird mir nicht schwerfallen, dir ein Ohr oder einen Finger zukommen zu lassen …“
„Elender Bastard“, schrie sie aufgebracht.
„Du solltest deine Energie lieber in die Vorbereitungen stecken“, erwiderte er.
Nova ballte zornig die Hände zu Fäusten. Schon in Kürze würde sie eine Waffe besitzen, und dieser Gedanke war beinahe berauschend.
„Leni, ich werde alles versuchen, um dich zu retten, das schwöre ich dir“, murmelte sie und ein Fünkchen Hoffnung kehrte zurück.
Alex schnappte sich in Eile die Aktentasche und beugte sich zu Linda herunter.
„Tut mir leid, mein Schatz, aber ich muss los“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich wünsche dir einen schönen Tag.“
„Schön ist relativ, wenn man gerade in einem Mordfall ermittelt“, seufzte sie.
„Liebes, du weißt doch, wie ich das meine“, erwiderte er entschuldigend.
„Natürlich, und jetzt geh schon.“
Die Haustür fiel mit einem Klicken ins Schloss, dann sprang der Motor seines Wagens an. Elina kam die Treppe hinunter und setzte sich zu Linda an den Frühstückstisch.
„Guten Morgen, meine Kleine“, sagte Linda und strich ihrer Jüngsten eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis auch Elina flügge wurde und ihre Schwingen ausbreitete, um sich auf und davon zu machen?
Lillemor war bereits ausgezogen und wohnte mit ihrem Freund in einem Studentenwohnheim. Und ja, es hatte ihr das Herz gebrochen, als sie dem Wunsch ihrer Ältesten schließlich nachgegeben hatte. Sie sahen sich zwar regelmäßig, aber das war nicht dasselbe. Lillemor hatte eine klaffende Lücke hinterlassen. Und genau diese Lücke war es auch gewesen, die Linda dazu veranlasst hatte, sich wieder als ermittelnde Kommissarin zu bewerben. Natürlich hatte Alex als gefragter Fallanalytiker hinter ihrem Rücken seine Kontakte spielen lassen. Was ihr im Nachhinein, als sie davon erfahren hatte, ein wenig peinlich gewesen war. Aber sie liebte ihren Job zu sehr, um ihm deswegen lange böse zu sein.
„Mam?“
„Entschuldige, was hast du gesagt?“
„Ob ich am Nachmittag mit Lukas zum See fahren darf.“
Linda lupfte fragend eine Augenbraue.
„Wer, bitte schön, ist Lukas?“
Elina errötete leicht. Aha, sie hatte demnach ins Schwarze getroffen. Wo sie doch gerade noch daran gedacht hatte, dass ihre Jüngste bald …
„Darf ich nun? Oder darf ich nicht?“, unterbrach Elina ungeduldig ihre Gedankengänge.
„Einverstanden. Aber zum Abendessen bist du pünktlich zurück.“
„Kein Problem, wenn du es auch bist“, konterte Elina.
Ja, sie musste ihrer Tochter recht geben, sie schaffte es meist nicht rechtzeitig zum Abendessen. Da war Alex um Längen besser dran, wenn nicht gerade seine Expertise zu einem heiklen Fall angefragt wurde. Aber Elina war mittlerweile so selbstständig, dass sie auch ohne ihre Mutter auskam. Auf der einen Seite war Linda unheimlich stolz, aber auf der anderen durch und durch eine Glucke.
„In der Schule läuft es gut?“
„Das wirst du dann am Jahresende sehen“, grinste Elina.
„Jetzt mal Spaß beiseite“, erwiderte Linda.
„Es ist alles in bester Ordnung, auch wenn ich mit Lillemors Notendurchschnitt niemals mithalten kann. Aber ich habe sowieso keine Lust, mich später an der Uni zu bewerben.“
„Dich zwingt auch keiner dazu.“
„Na ja, dann bin ich aber die Einzige, die …“
„Elina, bis dahin wird noch eine Menge Zeit vergehen. Es ist dein Leben, und nur du allein kannst darüber bestimmen. Egal, wie du dich in ein paar Jahren auch entscheiden wirst, Alex und ich werden dich immer unterstützen.“
„Ihr seid die Besten“, strahlte Elina erleichtert.
„Das will ich doch schwer hoffen“, lachte Linda. „Beeile dich bitte, wir müssen gleich los.“
Linda setzte Elina vor der Schule ab und fuhr weiter in die Behörde. Ihr neuer Partner und sie mussten nach weiteren Zeugen in einem verzwickten Mordfall suchen und hatten bis jetzt noch keine heiße Spur.
„Guten Morgen, Anders“, sagte Linda, als sie das Büro betrat.
„Ebenso“, brummte er und schaute kurz von seinem Bildschirm auf.
„Schlecht geschlafen?“
Er nickte. „Ich hasse es, wenn es nicht vorangeht.“
„Dann sind wir ja schon zu zweit.“
Linda stellte die Tasche neben dem Schreibtisch ab und weckte ihren Computer aus dem Schlafmodus.
„Soll ich uns einen Kaffee holen?“, fragte sie.
„Gute Idee. Ich bin übrigens gerade dabei, die Überwachungskameras zu checken.“
„Dann viel Erfolg, ich bin gleich zurück.“
Linda verließ das Büro und schritt den langen Flur entlang. Sie grüßte die Kollegen, die meist in Eile waren und keine Zeit für einen kurzen Plausch hatten. Aber so war das nun einmal und Linda war froh darüber, dass Lillemor und Elina es ihr nicht verübelt hatten, dass sie ihren Dienst als Kommissarin wieder aufgenommen hatte.
Sie musste oft an Jörgen denken und vermisste ihn. Er war der beste Partner gewesen, den sie je an ihrer Seite gehabt hatte. In Stockholm ging es um Welten anstrengender zu, daran würde sie sich noch gewöhnen müssen. Aber das war sicher nur eine Frage der Zeit. Ihr neuer Partner war zwar wortkarg, aber ein patenter Kerl mit einem überaus wachen Verstand. Sie waren ein gutes Team mit einer Aufklärungsrate, die sich sehen lassen konnte.
Linda zog am Automaten zwei Becher Kaffee und kehrte wieder ins Büro zurück.
„Danke“, sagte Anders abwesend und trank einen Schluck. „Schade, dass niemand bereit ist, meine Frau einzustellen. Sie kocht den besten Kaffee der Welt.“
„Das glaube ich dir aufs Wort“, antwortete Linda lachend. Das Gebräu aus dem Automaten schmeckte fade, aber die meisten Kollegen waren Koffeinjunkies wie Linda. Trotzdem hatte sie es schon einige Mal zustande gebracht, mit geröteten Augen über den Akten einzuschlafen. Das blieb bei einem aufreibenden Job wie diesem nun einmal nicht aus.
„Hast du etwas gefunden?“, erkundigte sie sich bei Anders.
„Nichts, absolut nichts.“ Er klang frustriert.
Junge Kriminelle hatten sich zusammengerottet, um eine Schlägerei anzuzetteln, bei der ein Kompagnon ums Leben gekommen war. Die jungen Männer deckten sich untereinander, sodass Anders und Linda ihnen nichts nachweisen konnten. Jetzt waren sie gezwungen, akribisch nach Hinweisen zu suchen, und das konnte dauern. Eines war jedenfalls jetzt schon sicher – es würde wieder ein langer, langer Tag werden.
Nova hockte schon seit Stunden vor dem Computer und schaute sich wieder und wieder die Videos zur Benutzung der Waffe an. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie sich je dazu überwinden könnte, einen Menschen zu töten. Und selbst wenn, dann würde sie an den simpelsten Dingen scheitern. Schalldämpfer, Abzugshebel, dies, das, jenes … ihr schwirrte schon der Kopf von all dem technischen Zeug.
Und dann der Simulator, der war eine Katastrophe. Wie sollte man eine Computeranimation bitte auf die Realität übertragen? Und war es überhaupt möglich, sich dem Opfer ohne Zeugen zu nähern? Das alles konnte doch nur ein schlechter Witz sein.
Sie hatte sich die gesamte Zeit über zusammengerissen, sich voll und ganz auf diese Aufgabe konzentriert, aber jetzt brachen alle Dämme. Schluchzend sank sie in sich zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte schon eine ganze Menge Mist in ihrem Leben verzapft, aber das toppte alles. Verdammt, warum hatte sie nicht Stockholm den Rücken gekehrt, als die Möglichkeit dazu bestanden hatte? Jetzt war es definitiv zu spät.
Und nun sollte sie einen Mord planen, einen Mord! Das konnte doch nur das Todesurteil für sie selbst bedeuten. Einer der Männer könnte ihr zum Beispiel die Waffe entreißen, gegen sie richten und aus Notwehr abdrücken. Nova malte sich die verrücktesten Szenarien aus und begriff, dass die Forderungen dieses Mistkerls unmöglich umzusetzen waren.
Nach ein paar Minuten hatte sie sich wieder im Griff und ging in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen. Sie litt mittlerweile unter heftigen Kopfschmerzen und Panikattacken. Alles erschien ihr so surreal, es gab nichts mehr, an das sie sich hätte klammern können, um Halt zu finden.
Ihre Hand zitterte stark, als sie die Tasse anhob.
„Autsch …“
Jetzt hatte sie sich noch die Lippe verbrannt. Wenn es einmal schlecht lief, dann aber richtig. Sie kehrte an ihren wackeligen Schreibtisch zurück und schaute sich nochmals die wichtigsten Sequenzen an. Sobald sie für weitere Instruktionen bereit wäre, sollte sie dem Typen ein Zeichen geben. Nein, sie würde niemals bereit sein.
Als in die Stille hinein das Telefon klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen.
„Nova, Nova, Nova, du kochst dir lieber Kaffee, anstatt deiner Tochter zu helfen“, rügte die verzerrte Männerstimme. „Wie weit bist du mit deinen Aufgaben?“
„Wie geht es Leni?“
„Ich habe dich etwas gefragt und erwarte eine Antwort.“
„Bevor ich nicht weiß, wie es meiner Tochter geht, werde ich gar nichts sagen.“
„Du willst mich provozieren?“
Die klirrende Kälte in seiner Stimme ließ sie erschaudern. Sie hatte es mit einer durch und durch kranken Persönlichkeit zu tun und ihr wurde erneut schmerzlich bewusst, dass das Leben ihrer Tochter tatsächlich auf dem Spiel stand. Sie bezweifelte, dass er sie nach den Auftragsmorden ungeschoren davonkommen lassen würde.
Wahrscheinlich würde sie sich der Illusion einer Rettung nur hingeben, um nicht daran zu zerbrechen. Sie wusste, dass sie nach den Morden eine lästige Zeugin für ihn wäre, die es zu beseitigen galt. Leni würde dann in der Obhut einer Pflegefamilie aufwachsen, und somit wäre ihr chancenloser Lebensweg bereits vorprogrammiert. Wenn Nova sich diesem Kerl also schon von Anfang an verweigern würde, wäre es für Leni und sie umso schneller vorbei. Kein langer Leidensweg, kein sinnloses Hoffen, nur friedvolle Stille am Ende eines sehr kurzen Weges.
Außerdem, wie sollte sie mit der Schuld, vier Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, überhaupt weiterleben? Wahrscheinlich würde sie letzten Endes in der Psychiatrie landen, weil sie dem Verfolgungswahn und der immerwährenden Angst, doch noch aufzufliegen, gar nicht gewachsen war. Die wankelmütigen Entscheidungen, die sie bisher getroffen hatte, sprachen schließlich für sich. Da brauchte sie sich nichts schönzureden.
„Hallo? Noch anwesend?“
„Weißt du, was ich mir gerade überlegt habe?“, antwortete sie und blickte nach oben zur Lampe, in der sie eine Kamera vermutete.
„Ich höre“, entgegnete er schroff.
„Ich werde es beenden, hier und jetzt“, sagte sie.
„Was beenden?“
„Diese ganze verkorkste Sache. Wenn du jemanden umbringen willst, dann kümmere dich gefälligst selbst darum.“
„Möchtest du diese Entscheidung nicht noch einmal überdenken? Deinem Kind zuliebe?“
„Nein. Ich habe das Für und Wider abgewogen, es kann nur diesen einen Weg für mich geben.“
Es herrschte einen Moment lang Stille und Nova hegte die Hoffnung, dass er einlenken und die Sache abblasen würde. Doch da hatte sie sich getäuscht.
„Jetzt pass mal auf, du kleine Nervensäge. Entweder, du sagst mir jetzt, dass du bereit bist, den nächsten Schritt zu gehen, oder aber du wirst die Konsequenzen tragen müssen.“
„Mach doch, was du willst“, fauchte Nova. Sie hatte jeglichen Respekt vor ihm verloren und auf das Siezen verzichtet.
Plötzlich ertönte ein lautes Jammern am anderen Ende der Leitung.
„Hör sofort auf damit!“, schrie sie verzweifelt. „Was hast du meiner Tochter angetan?“
„Ich habe ihr nur das Spielzeug weggenommen, als kleine Warnung sozusagen.“
Nein, sie konnte sich ihm nicht verweigern, dazu war sie emotional nicht in der Lage. Allein die Vorstellung, was er Leni antun könnte …
„Ich bin bereit“, hauchte sie und verachtete sich gleichzeitig abgrundtief für diese Worte.
„Sehr gut, genau das wollte ich hören. Wir nähern uns allmählich an.“ Er klang zufrieden. „Bitte gehe jetzt zum Fenster und schau hinunter in den Hof.“
Nova befolgte seine Anweisung und schob die Gardine zur Seite.
„Kannst du den grauen Blumenkübel erkennen? Den mit der vertrockneten Hortensie?“
„Ja.“
„Am Unterboden befindet sich der Schlüssel zum Schließfach.“
„Also werde ich jetzt in den Hof gehen, um den Schlüssel zu holen?“, fragte sie.
„Stopp, einen Moment noch. Zuerst wirst du das oberste Fach der Kommode öffnen.“
Nova tat, was er ihr aufgetragen hatte.
„Was soll ich damit?“
„Die Bodycam und das Headset wirst du von nun an immer tragen.“
„Auffälliger geht’s nicht?“
„Modernste Technik und kaum sichtbar bei deinen langen Haaren. Viele Leute benutzen ein Headset, um zu telefonieren.“
„Ich weiß doch gar nicht, wie die Geräte funktionieren“, warf sie ein.
„Lege sie an und ich erkläre es dir anschließend“, sagte er barsch.
Nova gehorchte seiner Anweisung, ohne zu rebellieren. Lenis Jammern hatte sie zur Räson gebracht und die eben noch so kühnen Gedanken, einen Heldentod zu sterben, gehörten der Vergangenheit an. Sie musste bis zu ihrem letzten Atemzug um ihre Tochter kämpfen, das war sie ihrem kleinen Mädchen schuldig. Schließlich wollte sie es besser machen als ihre eigenen Eltern.
Der Gurt klickte leise, als sie die Bodycam angelegt hatte, dann setzte sie das Headset auf.
„Wunderbar, jetzt erkläre ich dir die Einzelheiten.“
Nova schaltete die Geräte ein, die auf Anhieb funktionierten. Wer hatte diese technischen Spielereien bloß erfunden? War sich derjenige überhaupt bewusst gewesen, was für ein Unsinn man damit anstellen konnte?
„Hast du es?“
„Ja.“
Jetzt schien es unmöglich, einen Plan gegen ihn auszuhecken und in die Tat umzusetzen. Dieser Mistkerl war quasi immer an Bord.
„Nun kannst du nach draußen gehen und den Schlüssel an dich nehmen.“
Auf dem Weg in den Hof musste Nova noch ein paar Korrekturen an der Bodycam vornehmen. Dann hob sie den Blumenkübel an und löste den Schlüssel, der am Unterboden befestigt war. Nervös hielt sie nach einem Nachbarn Ausschau, dem sie mit Handzeichen hätte verständlich machen können, dass sie in Lebensgefahr schwebte.
Leider war niemand zu sehen und so kehrte sie in ihre winzige Wohnung zurück, die ihr mit einem Mal schäbig vorkam. Der ausgetretene Läufer im Flur und die schiefe Kommode, an deren Ecken bereits das Furnier abgeplatzt war. Die uralte Küche, die sie vom Vormieter übernommen hatte, und das Bett im Schlafzimmer, das sie aus kostenlosen Paletten zusammengestückelt hatte. Obwohl die Bauanleitung im Internet richtig klasse ausgesehen hatte, entsprach Novas Endergebnis nicht ganz den Erwartungen. Nun ja, Schwamm drüber.
Der einzige Raum, der vor Lebensfreude regelrecht überquoll, war das Kinderzimmer. All das Geld, das Nova von der Behörde erhalten hatte, war in diese wenigen Quadratmeter geflossen. Eine kunterbunte Welt mit Bergen und Seen an den Wänden, luftigen Gardinen, weißen Möbeln und jeder Menge Spielzeug. Eine Wohlfühloase ohnegleichen.
„Du wirst dich jetzt zum Bahnhof Stockholm City begeben und nach dem Schließfach mit der Nummer 1298 Ausschau halten“, unterbrach er ihre Gedankengänge.
„Kann ich mich vorher noch umziehen?“, bat sie.
„Ich gebe dir fünf Minuten, mehr nicht.“
Sie schämte sich in Grund und Boden, als sie sich unter fremden Augen entkleiden musste. Sie konnte förmlich den Angstschweiß ihres getragenen Shirts riechen und warf es hastig in den Wäschekorb.