Todesgrüße nach Frankfurt - Helmut Flender - E-Book

Todesgrüße nach Frankfurt E-Book

Helmut Flender

4,4

Beschreibung

Klassenfahrt in den Tod. Als ein mit zwei Frankfurter Schulklassen vollbesetzter Bus beschossen wird und es zu einem schrecklichen Unfall kommt, haben sich Medien und Polizei schnell auf vermeintliche Täter festgelegt: islamistische Terroristen. Die Journalistin Eva Maler, Augenzeugin des Verbrechens, begibt sich auf ihre eigene Suche nach der Wahrheit. Schnell wird ihr bewusst, nichts ist, wie es scheint. Schrecken und Erlösung offenbaren sich als zwei Seiten derselben Medaille.

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Seitenzahl: 437

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Das Buch

Ein mit zwei Schulklassen vollbesetzter Bus hat einen schrecklichen Unfall auf der A5 bei Frankfurt. Eben noch sind die Insassen mit ihren kleinen Sorgen und Alltagsnöten beschäftigt, als unvermittelt die Katastrophe über sie hereinbricht.

Die Journalistin Eva Maler wird zufällig Augenzeugin des vermeintlichen Unfalls, jedoch enthüllen die Aufnahmen der Dashcam ihres Freundes den wahren Charakter der Ereignisse: Schüsse auf den Fahrer und den Lehrer Peter Schneider haben die Tragödie eingeleitet.

Während Polizei und Medien ein islamistisch motiviertes Attentat in der Mainmetropole als wahrscheinlichste Erklärung heranziehen, macht sich Eva Maler auf, um jene Personen im Umfeld der Schule zu befragen, welche den Opfern nahestanden. Schnell wird deutlich, dass einige der Toten dunkle Geheimnisse umgeben. Als ein weiterer Lehrer der Hermann-Miegel Schule auf brutale Weise ermordet wird, entwickeln sich die Ermittlungen zu einer rasanten Hexenjagd mit ungewissem Ausgang.

Der Autor

Helmut Flender wurde 1969 im Ruhrgebiet geboren und wuchs in der Nähe von Bad Hersfeld auf. Nach dem Abitur studierte er in Bonn zunächst Mathematik und Physik, orientierte sich aber um und schloss 1999 das Studium der Literaturwissenschaften und Chemie ab. Nach einer beruflichen Tätigkeit in Offenbach zog er in die Nähe von Fulda, wo er heute mit seiner Familie lebt und arbeitet.

Im Anschluss an eine Auslandstätigkeit in Südamerika begann Flender unter dem Pseudonym Max Mann Science Fiction, Thriller, Kurzgeschichten und Erzählungen zu veröffentlichen, welche auf skurrile Weise im Grenzbereich zwischen Fiktion und Realität angesiedelt sind. Mit „Todesgrüße nach Frankfurt“ legt der Autor seinen ersten Kriminalroman bei mainbook vor.

(Autorenhomepage: www.helmutflender.de)

ISBN 978-3-946413-11-0Copyright © 2016 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Gerd FischerCovergestaltung: Carolin MüllerCovermotive: © fotolia Darya Gribovskaya, stockphoto-graf, Thomas Söllner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:www.mainbook.de

Helmut Flender

Todesgrüße nach Frankfurt

Ein Eva Maler-Krimi

Für Miriam

Prolog

Seine Lippe juckte, ihm schwirrte der Schädel und mit seinem Magen war auch etwas nicht in Ordnung. Eine schwärende Entzündung blühte direkt unter der zarten Haut zwischen Lippe und Nase. Sobald er mit den Fingerspitzen die entsprechende Stelle berührte, breitete sich der Schmerz in alle Richtungen aus. Er würde Herpes bekommen! Das war der Stress, der ihm das Immunsystem ramponierte, soviel stand fest. Der Job schlug einem auf die Gesundheit, und dann las man noch in der Zeitung, was für ein Faulenzerleben so ein Lehrer doch hatte. Die Leute wussten ja nicht, wovon sie sprachen. Monatelang hatte er sich mit den Vorbereitungen der Klassenfahrt beschäftigt, als habe er nichts Besseres zu tun. Allein das Eintreiben der Gelder war eine Vollbeschäftigung gewesen, für die er im Grunde genommen eine Sekretärin benötigt hätte. Noch letzte Woche hatte er die Einzahlungen auf dem extra eingerichteten Konto überprüft und festgestellt, dass zwei Elternpaare mit der letzten Rate in Verzug waren. Erst drei Tage vor Abfahrt hatten sie das Geld endlich bezahlt, nachdem er ihnen – wieder einmal – hinterher telefoniert hatte, als sei er ein schmieriger Schutzgelderpresser der Mafia, der ihnen die letzten Penunzen aus den Rippen leiern wollte. „Du nicht zahlen, ich dir meine Männer vorbeischicken und schlechte Noten geben!“

Es war zum Haare raufen! Das nächste Mal würde er sich ganz einfach weigern, eine Klassenfahrt anzubieten, sollte die Schulleitung ihn doch für einen Faulpelz und Drückeberger halten. Was wussten die schon in ihren schallisolierten, lichtdurchfluteten, vor allem aber schülerlosen Büros? Der Strack, dieser Aushilfs-Direktor, saß wie eine Qualle in seinem ergonomisch geformten Sessel, ließ von Mal zu Mal seine monotone Stimme durch die Sprechanalage erschallen und lustwandelte einmal pro Tag durchs Lehrerzimmer, um seinen Untergebenen zuzulächeln wie der Sonnenkönig höchstpersönlich. Der Drecksack hatte doch keine Ahnung davon, was es bedeutete, eine solche Fahrt zu organisieren, sechs Tage mit einer Klasse unterwegs zu sein und nachts um zwei durch die Gänge einer Jugendherberge zu wandeln, um hormonübersäuerte Schüler am Kopulieren zu hindern!

Schneider atmete aus, ließ sich in seinen Sitz zurücksinken und betrachtete die vorbeiziehenden Autos. Sie lagen nur eine knappe halbe Stunde hinter seiner Planung. Kevin war natürlich 20 Minuten zu spät gekommen und hatte unter dem Gejohle seiner Mitschüler den Bus bestiegen. Es war immer das gleiche: Je dümmer einer war, desto schneller avancierte er zum Star. Gewiss, jede Klasse benötigte ihren Clown, was aber tat man, wenn pro Klasse ein halbes Dutzend Kinder den Kasper gaben und diejenigen, die lernen wollten, zur bedrohten Minderheit mutierten? Schneider hatte in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass die Dummen sich ähnlich rapide vermehrten wie Zombies in einem billigen Horrorfilm. Ende des Prozesses abzusehen: Irgendwann würden nur noch geistig minderbemittelte Scherzkekse durch die sterilen Gänge der Schule schwanken, die Ohren mit Kopfhörern verstopft, die ihnen das letzte bisschen Verstand rausbliesen.

Er atmete tief ein, durch den Mund wieder aus – so hatte es die Yogalehrerin bei der Schnupperstunde erklärt – und sah aus dem Fenster, um sich zu entspannen.

Gott sei gelobt waren, sie nun vollzählig – 45 Schüler und vier Kollegen – schaukelten über die A3 in Richtung Süden und passierten geraden den Flughafen. Ein Jet stieg neben ihnen empor wie eine überdimensionierte Metallröhre mit angeklebten Flügeln. Aus der Nähe betrachtet mochte ein solches Flugzeug imposant wirken. Immerhin wurden hier die Gesetze der Schwerkraft ausgehebelt und ein viele Tonnen schweres Gebilde aus Stahl schraubte sich mühelos in den Himmel. Wenn man allerdings wie er lange Zeit in Sachsenhausen gewohnt hatte, tagtäglich am Schreibtisch saß und versuchte, sich auf hieroglyphische Schülertexte zu konzentrieren, während im Minutentakt Flugzeuge über einen hinwegdonnerten, so schwand sehr schnell die Bewunderung für Flugzeuge und die technische Finesse, die sich dahinter verbarg.

„Was ist los? Du siehst gestresst aus?“

Katrin Mittmann nahm neben ihm Platz, lächelte ihm zu und nickte aufmunternd. Schneider erwiderte das Lächeln, so gut er es eben vermochte. Katrin war fraglos die Sonne am Horizont seines von Wolken gesäumten Lebens. Seit sie vor zwei Jahren an die Hermann-Miegel-Schule gekommen war, ging er wieder gerne in die Schule; zumindest ins Lehrerzimmer. Seit sie den parallel laufenden Leistungskurs Deutsch unterrichtete, waren sie sich nähergekommen. Zu nahe vielleicht.

Schneider schielte durch die Lücke zwischen den Sitzen. Die Schüler würden sich den Mund zerreißen. Es gab ohnehin schon Gerüchte, er hätte etwas mit Frau Mittmann. Das halbe Kollegium tratschte bereits darüber. Sollten sie doch. Wichtig war nur, dass Katrin auf dieser Klassenfahrt mit an Bord war.

„War anstrengend heute Morgen“, antwortete er mit dünner Stimme. „Kevin mit seiner Zuspätkommerei, dann die Anwesenheit kontrollieren, während alle durcheinanderwuseln. Außerdem Celina, die fast nicht mitgefahren wäre, weil sie schon den ersten Heimwehanfall hat, bevor wir im Bus sitzen. Und dann noch die Sache mit Sekin im Vorfeld der Reise. Außerdem belastet mich immer noch die Geschichte mit Gabriel. Dich ja wahrscheinlich auch.“

Sie nickte verständig, ein Schatten zog über ihr Gesicht, verflüchtigte sich aber genauso schnell, wie er gekommen war. „Ja, schon, aber jetzt sind alle da, wir sitzen bequem im Bus und lassen uns nach Südfrankreich chauffieren. Das ist doch was, oder? Einfach mal abschalten und genießen!“

Katrin versprühte einen unerhörten Optimismus, eine Zuversicht, wie er sie auch einmal sein Eigen genannt hatte, die ihm im Laufe von 13 Jahren Schule aber irgendwo zwischen Pausenaufsicht und Förderplänen abhandengekommen sein musste und nicht wiederzufinden war. Gerade wegen ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und positiven Ausstrahlung hatte er sich in sie verliebt.

„Ja, das ist was“, erwiderte er mit gespielter Euphorie und schob sich näher an ihr Ohr. „Und dass wir jetzt eine Woche Montpellier vor uns haben, kann ich immer noch nicht so ganz fassen.“

„Hoffentlich auch mal ein bisschen Ruhe“, flüsterte sie kokett, sodass er ihren warmen, nach Pfefferminzbonbon riechenden Atem an seinem Hals wahrnahm. Schneider spürte, wie sich in ihm etwas regte. Eine Klassenfahrt war gewiss kein romantisches Wochenende in einem Landhaushotel am Tegernsee, bot aber dennoch die Möglichkeit, ein bisschen Zeit miteinander zu verbringen.

In Frankfurt war es ihnen kaum möglich, sich zu treffen. Nur Katrins Wohnung war ihnen ein Refugium, das Schutz vor den neugierigen Blicken einer missbilligenden Welt bot. Und selbst hier bestand die Möglichkeit, von Katrins psychopathischem Ex heimgesucht zu werden, der immer noch nicht verstanden hatte, dass sie definitiv nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Der Typ war ein Pflegefall wie aus dem Lehrbuch und wenn es etwas an Katrin gab, das Schneider nicht verstand, war es, wie sie mit einem solchen Vollpfosten eine Beziehung hatte haben können. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Helfersyndrom, was die Frage aufwarf, ob er selbst ihr nächstes Sozialprojekt war oder sie ihn wirklich aus tiefster Seele begehrte.

Schneider schüttelte unmerklich den Kopf. Die Frage war wenig erfreulich und seiner Stimmung nicht zuträglich. Die Treffen in Katrins Wohnung hatten eine eindeutige Sprache gesprochen: Kerzenlicht, Katrin in einem Wunderwerk aus Transparenz und Rüschen, die Flasche Wein auf dem Nachttisch. Das Problem war nicht ihr Zusammensein, sondern die Rückkehr in die reale Welt, die Trübnis des familiären Alltags. Ein halbes Dutzend Mal war er bisher in Katrins Wohnung gewesen und jedes Mal hatte ihn danach ein schlechtes Gewissen gequält. Wenn er dann aber am nächsten Tag beim Abendessen Sabine gegenübersaß und ihr fettiges Haar betrachtete, die langsam erschlaffende Mimik, blassblaue, abgeschliffene Augen, welche ins Leere blickten, sobald sie in seine Richtung sah, glaubte er wieder, jedes Recht zu haben, sich anderweitig zu engagieren. Zehn lange Jahre Ehe lagen hinter ihnen wie die Erinnerungen an eine Dürre oder eine andere Hekatombe, die sich in regelmäßigen Intervallen wiederholte. Seit die Kinder da waren, gab es kein eheliches Miteinander mehr, das über häusliche Pflichten und Einkaufen hinausging. Wer also wollte es ihm ernsthaft vorwerfen, wenn er Katrin gegenüber – Katrin, die das pure Leben war – Gefühle entwickelt hatte? Er war nicht aus Stein, kein Ehesklave und erst recht keine Lehrermaschine, die tagtäglich in Klassenräume ging, um frustrierten Schülern als menschlicher Blitzableiter zu dienen und sich dann noch in endlosen Konferenzen anzuhören, wie er die betreffenden Kinder zu fördern hatte, damit sie ihre drei Gehirnzellen einschalteten. Nächstes Jahr würde er vierzig werden. Es war Zeit, ein wenig zu leben.

„Wir haben bestimmt Zeit für uns“, antwortete Schneider eindeutig zu laut. Wahrscheinlich hatte Martin Rösling, der direkt hinter ihnen saß und in der Rundschau blätterte, mitgehört.

Katrin sah ihn plötzlich sorgenvoll an. Ihr Gesichtsausdruck war so furchteinflößend verwirrt, dass Schneider von einem auf den anderen Moment Angst überkam. Hatte er etwas Falsches gesagt?

„Was ist denn?“

„Du hast da einen Punkt!“ Sie deutete auf seinen Kopf. Schneider verstand nicht, hob aber die Hand und fuhr sich mit der Hand an die Lippe.

„Zahnpasta?“

„Ein Laserpointer!“, antwortete Katrin mit vibrierender Stimme.

„Ein ...“ Ein plötzlicher Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Sein Ohr, irgendetwas war mit seinem Ohr. Außerdem das Geräusch zerberstenden Glases. Was hatte Katrin gesagt? Er verstand nicht. Sie schrie jetzt und dieses völlig außer Kontrolle geratene Schreien war wie der Wahnsinn einer Ertrinkenden, die ihn mit in die Tiefe zog. Sie wich von ihm zurück, während er versuchte, sein Ohr zu ertasten. Es fühlte sich an, als hätte ihn etwas gebissen. Aber da war kein Ohr, nur ein ausgefranstes nasses Ding. Etwas Warmes lief ihm in den Kragen. Schneider spürte, wie ihm der Schreck die Sinne benebelte. Alles lief jetzt ab, als sei er Bestandteil einer Zeitlupensequenz in einem Kinofilm. Katrin, die sich in eine andere Sitzreihe flüchtete, die Schreie, welche wie Flammen von einem zum anderen sprangen, Rösling, der sich in den Fußraum warf, ein Loch in der Scheibe, das Spinnennetz der Risse im Glas und vor allem der Fahrer, welcher fassungslos in seine Richtung blickte. Da war ein kleiner roter Punkt, tatsächlich, und jetzt zielte er auf den Mann hinter dem Lenkrad. Ein schöner, leuchtender, magisch anmutender Punkt, der die angstzerfurchte Stirn des Mannes markierte.

1

Ich bin nicht gerne da, wo ich herkomme, ich bin nicht gern dort, wo ich hingehe und dennoch ist das Unterwegssein eine Betäubung, ein Hinübergleiten in die Welt der Gedanken, des Spekulativen, des Vergangenen und des Kommenden. Vor allem wenn ich nicht selbst am Steuer sitze, versinke ich in eine Art Trance, die mich Lichtjahre von dem wegführt, was um mich herum geschieht.

Das war schon immer so. Als Kind bin ich stets auf der Rücksitzbank unseres Ford Scorpios eingeschlafen, was meinen Vater regelmäßig in Rage versetzte. ‚Das Mädchen langweilt sich nur. Wir unternehmen hier die schönsten Ausflüge und da pennt die einfach.‘

Meine Mutter hatte mehr Verständnis, schlief sie doch selber meist mit halb geöffnetem Mund auf dem Beifahrersitz, einen Speichelfaden an der Lippe, den Kopf in den leeren Raum zwischen Tür und Kopfstütze geklemmt.

Wehmütig fast bin ich, wenn ich an meine behütete Kindheit denke. Kindheit, diese Erfindung der Erwachsenen, mit der sie einen Bereich des Lebens abtrennen und jenen vorenthalten, die nach ihrem Erachten noch unreif und unwissend sind. Ich nenne es das Paradies, nicht alles zu wissen. Die Welt ist voll mit Grausamkeit und Schrecken. Wie gerne würde ich manchmal wieder in die Unbedarftheit fliehen, in das Glück meiner Kindertage, das magische Reich reinster Träume.

Vorbei!

Irgendwann habe ich die falsche Abzweigung genommen, nennen wir es Schicksal oder Berufung. Die Fakten sprechen dafür, dass ich nicht anders konnte. Mein Talent, sofern ich eines besitze, ist es eben, den Katastrophen, kleinen wie großen, tränenerfüllten und jenen, die sich mit einem Schulterzucken ins Vergessen befördern lassen, nachzugehen, sie zu sezieren, auszuleuchten und zu Papier zu bringen. Das ist mein Job und ich mache ihn gerne. Ich wollte nie etwas anderes sein als Eva Maler, die Journalistin, auch wenn meine Eltern seinerzeit die Meinung vertraten, es sei die größte Fehlentscheidung meines Lebens, eine Zeitungsschmiererin (Originalton Papa) zu werden.

Damals kannten sie ja auch noch nicht Karl, meinen Freund, der schweigend neben mir sitzt und den Navigator gibt. Seit ich mit ihm zusammen bin, hat sich die Problematik in den Augen meiner Eltern verlagert. Nun ist Partnerschaftsberatung angesagt, sobald ich – wie die letzten drei Tage – ein Wochenende bei ihnen verbringe.

„Ich weiß nicht, bist du denn wirklich glücklich?“, fragt meine Mutter zumeist, und dann folgt eine wenig sensible Belehrung, wie der ideale Partner auszusehen hat, was für einen Job er haben sollte (nicht Journalist in jedem Fall) und woran man erkennt, ob er für die Kinder ein guter Vater sein wird.

Hat sie sich erst einmal in Fahrt geredet, beginnt sie Karl vollends niederzumachen, zu demontieren, kein gutes Haar an ihm zu lassen.

Zu bieder für dich, zu egozentrisch, ein bisschen langweilig auch. Also du solltest dir das gut überlegen, du bist doch noch jung und siehst gut aus.

Zumeist bin ich von diesen Tipps so gestresst, dass ich kategorisch ausschließe, mich jemals von Karl zu trennen, was im Grunde absurd anmutet, denn sicher bin ich mir auch nicht, was unsere gemeinsame Zukunft angeht.

Wenn ich ehrlich bin, glaube ich manchmal, ich bin nur noch aus Trotz mit Karl zusammen. Streit haben wir oft genug gehabt. Mitunter geht er mir mächtig auf die Nerven, da ich aber den Standpunkt vertrete, menschliches Miteinander ist immer mit Konflikten angereichert, wie Zuchtvieh mit Antibiotika, versuche ich den Status Quo aufrecht zu erhalten. Immerhin haben wir über drei Jahre hinweg ein Band geknüpft, dreimal 365 Tage, 365 mal 24 Stunden. Viel Zeit für jemand wie mich, dem in puncto Beziehungsfähigkeit bestimmt nie das Bundesverdienstkreuz verliehen wird! Es fällt mir schwer, das alles wegzuwerfen, nur weil Karl vielleicht nicht mein Traumprinz ist. Und die Ich-wusste-es-doch-Gesichter meiner Eltern, wenn ich ihnen sage, ich hätte mich von meinem Freund getrennt, möchte ich mir wirklich ersparen.

Karl hat auch seine positiven Seiten. So vermag er, mir das Gefühl zu geben, behütet zu sein. So behütet, dass ich, wie in diesem Moment, ohne Probleme auf dem Beifahrersitz dösen kann. Manch eine würde das vielleicht als banal abtun, ich aber denke, es ist die Grundlage einer Beziehung, Vertrauen zu haben; selbst wenn diese mitunter ermüdend ist.

Karl fährt stringente 120, meist mit Tempomat. Manchmal überholt uns sogar ein Wohnmobil oder ein Fahrzeug mit Anhänger. Er aber lässt sich nicht beirren, bleibt bei seinen ökologisch korrekten 120 und sitzt hinter dem Lenkrad wie eine originalgetreue, aufblasbare Version seiner selbst.

Wir reden nicht viel während der Fahrt. Manchmal wechselt er mit einem kurzen Handgriff den Sender. Ansonsten konzentriert er sich auf den Verkehr, setzt den Blinker, praktiziert den Schulterblick, welchen ich mir unmittelbar nach meiner Fahrprüfung wieder abgewöhnt habe. Er ist – gelinde gesagt ein vorsichtiger Mensch.

Vor ein paar Wochen erst hat er eine Kamera auf dem Armaturenbrett installiert, eine Dashcam mit 180 Grad-Bild. Er meint allen Ernstes, das könne ihm einmal zugutekommen, wenn er einen Unfall hat, an dem er nicht schuld ist, während der Unfallgegner das Gegenteil behauptet.

Ein wenig zu hypothetisch für mich, aber wenn es ihm Spaß macht, bin ich bereit, ihm seinen Glauben zu lassen.

In jedem Fall wird die Kamera schöne Bilder machen. Es ist 8.00, die Sonne steht tief, taucht die Landschaft in warmes rotes Licht. In der Ferne schrauben sich Flugzeuge in den Himmel und erwecken in mir den Wunsch, bald wieder zu verreisen, die Südsee vielleicht oder ein Wochenendtrip nach Spanien.

„War doch ganz nett bei deinen Eltern dieses Wochenende!“, sagt Karl und ich benötige einen Moment, um aus meinen Tagträumen zu erwachen.

„Ganz nett?“

„Ja, ich glaube, deine Eltern haben mich jetzt langsam akzeptiert.“

Ich zögere, ihm eine Antwort zu geben. Meine Eltern haben ihn so akzeptiert wie eine unheilbare Krankheit, die nicht verschwindet, nur weil man darüber klagt. Meine Mutter hat auch an diesem Wochenende jede Gelegenheit genutzt, mir zu verstehen zu geben, was sie von meiner Beziehung hält. Der krönende Schlusspunkt dieses unwürdigen Spektakels war das Fotoalbum, welches den Ostsee-Urlaub meiner Schwester, samt ihres übergewichtigen Mannes und ihrer zwei rotzgesichtigen Gören, dokumentierte.

„Schau nur, was für ein schönes Paar“, hat sie gesagt und Karl, der mit meinem Vater auf der Terrasse saß, vernichtende Blicke zugeworfen.

Wie Karl auf die Idee kommt, meine Eltern könnten ihn langsam ins Herz schließen, ist mir absolut unverständlich.

„Ja, scheint so“, sage ich bemüht gleichgültig und entgegen meiner Überzeugung. Der Morgen ist zu schön, um ihn seiner Illusionen zu berauben.

„Ich habe mich gut mit deinem Vater unterhalten“, merkt er an und nickt vor sich hin. Dann wechselt er den Sender, während ich durch die Seitenscheibe starre und mir wünsche, nicht über meine Eltern reden zu müssen. Ein paar Sekunden Schweigen, dann geschieht es.

„Was zum Teufel macht der denn?“, schreit Karl plötzlich und seine Worte sind wie ein Stich mitten in meinen Leib. Ich schrecke auf, weiß, dass etwas nicht stimmt und die dünne Hülle des Alltäglichen einen Riss bekommen hat. Und dann sehe ich es, sehe den Bus, der sich plötzlich in Richtung Mittelplanke bewegt, dabei Schräglage bekommt, für Augenblicke taumelt, als hätten die Gesetze der Schwerkraft ihre Gültigkeit verloren, und dann auf die andere Fahrbahn rast, wo ihm ein Lastzug entgegendonnert.

Mein Kopf zuckt, ungläubig, die Augen weit aufgerissen. Alles geht zu schnell, um es zu erfassen. Wir sind vorbei und ich wage es, für Sekunden nicht zu atmen. Karl geht auf die Bremse, fährt auf die Standspur. Hinter uns schlagen Flammen empor, wir aber sind weit genug weg, um nicht in Gefahr zu geraten.

Ich konzentriere mich, schließe die Augen, atme langsam ein, langsam aus, bis mein Puls sich beruhigt hat. Das Schreckliche ist immer nah, immer nur einen Wimpernschlag entfernt. Es ist mein Job und manchmal hasse ich ihn.

Dann nehme ich die Dashcam vom Armaturenbrett, höre Karls fluchende Stimme wie aus einem Lautsprecher und steige aus, um den Blick auf das zu richten, was ich nicht sehen möchte. Blindheit aber ist keine Lösung, denn das Schreckliche schwindet nicht, weil wir schweigen oder darüber hinwegsehen. Es wächst in der Wortlosigkeit und breitet sich gleich einer verzehrenden Krankheit aus. Wie an unsichtbaren Fäden geführt, gehe ich in Richtung des Chaos aus Feuer, Eisen und pechschwarzen Rauchfahnen, die sich wie Schlangen aus der Zerstörung winden und das makellose Morgenleuchten in Dunkelheit tauchen.

2

Wie jeden Morgen war Hektik das Motto der Stunde. Tim zog sich einfach nicht an, obwohl neun Jahre, musste man ihm immer noch jede Socke einzeln nachtragen. Jana vertrat den Standpunkt, das habe er von seinem Vater. Der sei ja auch nicht in der Lage, seine Socken selber zu waschen oder auch nur in die richtige Schublade einzusortieren. Alles bliebe an ihr hängen und wenn sie auch nur einen Tag ausfalle, dann würde die ganze Wohnung im Chaos versinken, Weltuntergang inklusive.

Jens verkniff es sich, den Kopf zu schütteln und sie darauf hinzuweisen, dass sie keinen Kleinstaat im Nahen Osten regierte und ein paar ungewaschene Socken neben der Kommode keinen Bürgerkrieg nach sich zögen.

„Bringst du ihn in die Schule?“ Jana sah ihn über den Frühstückstisch hinweg an, während sie gleichzeitig Nutella-Reste aus Tims Mundwinkeln entfernte.

Formal gesehen handelte es sich zweifelsohne um eine Frage, Jens aber war empathisch genug zu erkennen, dass es sich um eine unmissverständliche Forderung handelte. Würde er sie auf seine Besprechung am heutigen Morgen hinweisen, standen Grundsatzdebatten an, die folgenschwere Repressionen nach sich ziehen konnten. Schlimmstenfalls waren ein paar Tage schlechte Laune angesagt, verkniffenes Schweigen, aktives Ignorieren, keine frischen Socken in der betreffenden Schublade. Es gab nur eine Option, diesem Szenario zu entgehen, auch wenn das bedeutete, dass er zu spät im Präsidium sein würde.

„Ja, klar Sonnenschein, ich bring ihn hin. Aber dann müssen wir jetzt wirklich los.“

Wirklich los definierte die minimale Zeit zwischen Aufbruchssignal und tatsächlichem Aufbruch, also ca. zwanzig Minuten. Als sie endlich die Wohnung verließen, war es bereits Viertel vor acht.

Jens trug die Piraten-Schultasche, Tim trottete hinter ihm her und betrachtete die parkenden Autos, als seien sie auf einem sonntäglichen Spaziergang ins Café Laumer.

Wenn er zu spät zur wöchentlichen Besprechung mit Römer kommen würde, konnte er sich warm anziehen. Der Polizeihauptkommissar war in letzter Zeit ohnehin nicht gut auf ihn zu sprechen, warf ihm im Flur Blicke zu, die wachsende Unzufriedenheit signalisierten. Römer war kinderlos, was in gewisser Weise sein mangelndes Verständnis für familiäre Probleme erklärte, und erwartete, dass seine Mitarbeiter funktionierten, pünktlich waren, ihrem Job nachkamen. Kinder, Grippeerkrankungen, gebrochene Gliedmaßen, verschwundene Kuscheltiere – all das zählte nicht, wenn es um Pflichterfüllung ging.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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