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Mörderische Ermittlungen.
Als Valentin Wolff, ein Polizeipsychologe aus Rostock, bei einem Motorradunfall stirbt, sieht alles zunächst nach einem gewöhnlichen Unglück aus. Doch die Schwere seiner Kopfverletzung lässt Johanna Krass vom BKA Berlin misstrauisch werden. Sie gibt Emma Klar, Privatdetektivin in Wismar, den Auftrag, zu recherchieren. Emma beschäftigt sich mit den Fällen, die Wolff zuletzt bearbeitet hat, und stößt auf die Akte eines Polizisten, der erst entführt und dann erschossen wurde. Könnte es sein, dass Valentin Wolff mehr über diesen Mord wusste?
Der neue Ostsee-Krimi der Bestsellerautorin Katharina Peters.
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Seitenzahl: 378
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.
Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff« und »Todeswoge« lieferbar.
Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord« und »Fischermord« lieferbar.
Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung« und »Toteneis« lieferbar.
Mörderische Ermittlungen.
Als Valentin Wolff, ein Polizeipsychologe aus Rostock, bei einem Motorradunfall stirbt, sieht alles zunächst nach einem gewöhnlichen Unglück aus. Doch die Schwere seiner Kopfverletzung lässt Johanna Krass vom BKA Berlin misstrauisch werden. Sie gibt Emma Klar, Privatdetektivin in Wismar, den Auftrag, zu recherchieren. Emma beschäftigt sich mit den Fällen, die Wolff zuletzt bearbeitet hat, und stößt auf die Akte eines Polizisten, der erst entführt und dann erschossen wurde. Könnte es sein, dass Valentin Wolff mehr über diesen Mord wusste?
Der neue Ostsee-Krimi der Bestsellerautorin Katharina Peters
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Katharina Peters
Todesklippe
Ein Ostsee-Krimi
Inhaltsübersicht
Über Katharina Peters
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Impressum
Er hatte mit der Kirche eigentlich nie was am Hut gehabt. Aber 1980 war ein Gemeindehaus in Rostock nicht der schlechteste Ort für einen Achtzehnjährigen, der andere, nämlich West-Musik hören wollte und keine Lust hatte, am sozialistischen Einheitsbrei mitzurühren. Das klang ziemlich gut, etwas frech und verwegen, doch genau genommen hatte er damals auf gar nichts Lust gehabt, was über Musikhören, Feten und Abhängen mit Freunden hinausging, zwei, drei oder auch mehr Bierchen inklusive. Die Schule ödete ihn genauso an wie sein Elternhaus und das Gebaren dieses Staates.
Nach einer dieser Feten im Clubraum des Gemeindehauses hatte irgendjemand die grandiose Idee, den Wartburg des Pfarrers zu knacken und noch eine Spritztour nach Warnemünde zu unternehmen. Matthias war mit von der Partie, weil das Mädchen, das er anhimmelte, vor Begeisterung fast ausflippte. Die Vopos waren hinter ihnen aufgekreuzt, kaum dass sie die Innenstadt verlassen hatten. Es wäre klug gewesen, einfach ruhig weiterzufahren, irgendwo abzubiegen und den Polizeiwagen passieren zu lassen, aber Klugheit war in dieser Nacht nicht angesagt, Gelassenheit schon mal gar nicht. Matthias’ Kumpel am Steuer wurde nervös, gab Gas und versuchte, den Polizeiwagen abzuhängen. Das Ganze endete nach einer ebenso kurzen wie dramatischen Verfolgungsjagd, bei der der Wartburg im Straßengraben landete und Matthias’ Schwarm, obwohl niemandem auch nur ein Haar gekrümmt worden war, in hysterisches Schreien ausbrach. Bei den Vernehmungen auf der Wache behauptete sie später, die Jungs hätten sie überredet, in den Wagen zu steigen, vorneweg Matthias. Das hätte der Tiefpunkt der Nacht werden können.
Als Matthias sich Stunden später auf dem Heimweg machte und die Ereignisse mit einer Mischung aus Resignation und Erschöpfung Revue passieren ließ, mühte sich gerade die Sonne über den Horizont hinter dem Hafen. Der Mann, der ihm am Warnowufer entgegenkam, fiel ihm erst auf, als ein Sonnenstrahl die Gestalt erfasste. Er war älter als Matthias, ein drahtiger Typ, vielleicht Mitte zwanzig; wahrscheinlich arbeitete er am Hafen und war auf dem Weg zur Frühschicht. Irgendetwas kam Matthias bekannt an ihm vor, aber er konnte es nicht zuordnen. Er ging langsam weiter, während der andere plötzlich stehenblieb und ihm entgegenblickte. Vielleicht wartet er auf jemanden, dachte Matthias, einen Arbeitskollegen, oder er verwechselt mich. Leise Irritation stieg in ihm auf, sein Herzschlag beschleunigte sich, und einen Moment überlegte er, umzudrehen und einen anderen Weg einzuschlagen – wo es weniger dunkle Ecken an diesem frühen Morgen gab.
»Hast du Feuer?«, erklang plötzlich die Stimme des Mannes.
Matthias lächelte erleichtert und tastete nach seinem Feuerzeug, während er seine Schritte beschleunigte und schließlich vor dem Typen stehenblieb. »Klar.« Rauch kräuselte sich kurz darauf vor seinem Gesicht.
»Danke. Willst du auch eine?« Der Mann griff nach seinem Zigarettenpäckchen.
Matthias schüttelte den Kopf.
»Nichtraucher?«
»Nein. Aber ich habe genug für heute.«
»Sicher?« Der Mann taxierte ihn.
»Ja.« Matthias fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er wollte gerade weitergehen, als der Typ seine Zigarette fallen ließ, sie einen Moment sinnierend betrachtete und schließlich austrat. Als er hochsah, stand eine eigentümliche Schärfe in seinem Blick. Er hob eine Hand, formte sie blitzschnell zur Faust und rammte sie Matthias in die Magengrube. Der Schlag war so wuchtig, dass ihm sekundenlang die Luft wegblieb. Er ging ächzend auf die Knie und schnappte verzweifelt nach Luft, als der Mann seinen Haarschopf packte, den Kopf zurückriss und erneut zuschlug. Matthias hörte das Knirschen seines Kiefers, noch bevor der Schmerz explodierte. Ein Tritt in die Nieren brachte ihn an den Rand einer Ohnmacht, und die Frage, was hier warum geschah, spielte keine Rolle mehr. Es war nur noch wichtig, weiterzuatmen, vielleicht Worte für ein Gebet zu finden.
Als der Typ Minuten später endlich mit ihm fertig war, steckte er sich eine Zigarette in den Mund, nestelte nach Matthias’ Feuerzeug und inhalierte dann tief und genussvoll. Schließlich beugte er sich zu ihm herunter, betrachtete eine Weile sein zerschundenes Gesicht und lächelte plötzlich ein absurd glückliches Lächeln, was im nächsten Moment wie weggewischt war. Ungläubige Bestürzung trat an seine Stelle. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er etwas sagen oder erklären, dann deutete er ein Kopfschütteln an, erhob sich und verschwand.
Matthias schloss die Augen. Wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht, aber irgendwann hörte er Stimmen, später den Klang eine Sirene. Er wurde mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht.
Matthias brauchte Monate, um wieder gesund zu werden; enge Freunde behaupteten, dass er nach dieser Nacht nie wieder ganz der Alte wurde.
Das neue Jahr hatte mild und trocken begonnen. Emma war ein paar Tage unterwegs gewesen, hatte ihren Großvater in Niedersachsen besucht und war auf dem Heimweg nach Wismar. Die ursprünglich geplante Stippvisite hatten ihre Eltern kurzfristig abgesagt, was ihr nur recht gewesen war. Sie hatten sich ohnehin nicht viel zu sagen – noch nie zu sagen gehabt, um genau zu sein. Als Teenager war Emma davon überzeugt gewesen, dass sie adoptiert war – anders war die Distanz zwischen ihnen kaum erklärbar. Das war natürlich Unsinn. Irgendwann später begrub sie das Thema mehr oder wenig achselzuckend, und doch erinnerte sie sich noch mit irritierender Deutlichkeit an die Reaktion ihrer Mutter, als sie ankündigte, dass sie Polizistin werden wollte. Ihr Blick sprach Bände; er spiegelte eine Mischung aus ungläubigem Entsetzen und empörter Verwirrung. Sie hatte sich mit theatralischer Geste an Emmas Vater gewandt, der nur die Stirn gerunzelt hatte. Wenig später hatten die beiden sich zurückgezogen, um zu streiten, wer von ihnen beiden den größeren Anteil an der seltsamen Entwicklung ihrer Tochter trug. Das war lange her und spielte keine Rolle mehr.
Als ihr Smartphone klingelte, hatte sie gerade die Ausfahrt Uelzen hinter sich gelassen. Sie war sicher, dass Christoph wissen wollte, wann sie zu Hause eintreffen würde, und stellte die Verbindung her, ohne aufs Display zu schauen.
»Hi.«
Das war eindeutig nicht Christophs Stimme. Sie blickte kurz aufs Handy, obwohl sie sofort erkannt hatte, dass es Florian war. Sie zögerte.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Ein wenig«, gab sie zu.
Florian hatte in der Rostocker Detektei gearbeitet, mit der Emma und Johanna Krass vom BKA Berlin im letzten Sommer eine Kooperation gebildet hatten. Zwei Fälle hatten sie höchst erfolgreich gemeinsam gelöst und waren sich dabei sehr nahegekommen. Um genau zu sein, waren sie ein harmonisches Paar gewesen, dachte sie – bis Christoph Klausen aufgetaucht war, der sie vom ersten Moment an fasziniert hatte. Inzwischen hatte Florian ein vielversprechendes Fortbildungsangebot vom BKA angenommen.
»Wir haben nie richtig miteinander gesprochen«, ergriff er plötzlich das Wort. »Ich bin meinen Weg gegangen, du deinen. Keine Zeit für Abschiedsworte?«
Ein bisschen haben wir uns wohl beide davor gedrückt, dachte Emma. Ich wollte ihm nicht wehtun, er hielt wahrscheinlich an seiner Hoffnung fest, dass wir doch noch gemeinsam neu durchstarten würden – irgendwann, irgendwie. »Wahrscheinlich«, antwortete sie schlicht. »Ich bin nicht sonderlich souverän in solchen Gesprächen.«
»Das sind die meisten nicht, ich auch nicht.«
Emma atmete tief aus. »Tut mir leid, wenn …«
»Schon gut.«
»Was macht die Karriere?«
»Das BKA hat mir einen Job angeboten. Sie suchen Leute für ein neues Team bei Europol. Ich werde wohl unterschreiben und in Kürze nach Wiesbaden umziehen.«
»Ich gratuliere.«
»Danke.« Er räusperte sich. »Ihr habt erst kürzlich einen verzwickten Fall gelöst, wie Johanna erzählt hat.«
Verzwickt war eine gewaltige Untertreibung. Ingo Beyer – ein Spieler, Blender, zutiefst menschenverachtender Typ – hatte mehrere Dienststellen eine ganze Weile an der Nase herumgeführt, viele Jahre, um genau zu sein. Ein Menschenleben hatte ihm nicht das Geringste bedeutet. Und ja – es war mal wieder verdammt brenzlig geworden für Emma.
»Ich hoffe, er kriegt hundert Jahre«, sagte sie leise. »Was für ein grausamer, kranker Kerl …« Sie schüttelte den Kopf und schob die Bilder beiseite, die sie seit der Aufklärung des Falls immer wieder bedrängten. Sie wusste, dass Beyer ihren Seelenfrieden noch eine ganze Weile stören würde. »Egal jetzt. Ich bin jedenfalls auch wieder im BKA-Boot – wenn auch lediglich als externe Mitarbeiterin. Das lässt mir einige Freiheiten.«
»Die wichtig sind für dich.«
»Genau.«
»Klingt vielsprechend.«
Die kurze Unterbrechung mündete in ein verlegenes Schweigen. Es gab nichts mehr zu sagen – oder aber sehr viel.
»Ich wünsche dir alles Gute, Florian«, sagte Emma schließlich.
»Wollte ich auch gerade sagen.«
Einen Augenblick blieb es still, dann legten sie fast zeitgleich auf. Zwei Stunden später traf Emma zu Hause ein. Christoph war noch unterwegs. Er arbeitete in einer Sicherheitsfirma – schlecht bezahlt, aber durchaus interessant und abwechslungsreich, wie er immer wieder betonte. Und wenn sie einen Fall hatte oder einen Auftrag als Privatdetektivin verfolgte, war er häufig an ihrer Seite. Sie öffnete das Küchenfenster und blickte über die Dächer von Wismar. Der Anblick war ihr vertraut, als würde sie seit Jahren hier leben, dabei hatte sie erst im letzten Frühsommer ihren Lebensmittelpunkt an die Ostseeküste verlegt. Eine gute Entscheidung, die sie nach wie vor keine Sekunde bereute.
Johanna hatte beschlossen, die dritte Sitzung an diesem Tag zu schwänzen, und schlich aus dem Besprechungsraum. Eine billige Ausrede, die ihr niemand abnahm, würde ihr ganz sicher noch einfallen. Sie war das Gerede um teambildende Maßnahmen und Konfliktlösungsstrategien oder Fallanalysen nach amerikanischem Vorbild leid und hatte nicht das geringste Interesse, sich weitere ungezählte Stunden zum Thema Sicherheit im Netz schlau zu machen, obwohl sie zugegebenermaßen gerade in diesem Punkt Nachholbedarf hatte. Notfalls hatte sie ihre Tage bekommen.
Sie lächelte, während sie auf den Fahrstuhl wartete. Es sollte Frauen geben, die mit Mitte fünfzig noch in der Tamponabteilung einkaufen mussten, sie gehörte jedoch definitiv nicht dazu; bei ihr war Anfang vierzig Schluss gewesen – wie schön. Johanna lechzte nach einem starken Kaffee, begleitet von zwei, drei Stücken Kuchen, wahlweise einer großen Packung Kekse und der wundervollen Stille in ihrem Büro.
Sie war beim zweiten Stück Kuchen angelangt und hatte gerade zum dritten Mal Kaffee nachgegossen, als es an der Tür klopfte. Sie seufzte unterdrückt. Es klopfte erneut. »Ich bin nicht da«, rief sie. »Sitzungsmarathon. Kommen Sie in vierzehn Tagen wieder, oder schreiben Sie eine Mail. Dies ist eine automatische Ansage.«
Lautes Lachen. Die Tür wurde einen Spaltbreit aufgeschoben. »Johanna, wie sie leibt und lebt.« Sekunden später schob sich ein baumlanger Kerl mit breitem Grinsen in den Raum. »Ich darf doch, oder? Hier riecht es nach echtem Kaffee.«
Johanna lächelte. »Das dürfte sich in meinem Büro wohl von selbst verstehen.«
Moritz Tambach war ein Kollege aus alten Berliner Zeiten, ein paar Jahre jünger als Johanna, und leitete seit einigen Monaten die Kriminalpolizeiinspektion Rostock. Ihr letztes Zusammentreffen lag noch nicht allzu lange zurück. Der Kollege nahm sich Kaffee und einen Stuhl, und einige Minuten schwelgten sie in alten und neueren Geschichten.
Schließlich warf Johanna ihm einen langen Blick zu. »Nett, mit dir zu plaudern, Moritz. Nun rück schon mit der Sprache raus – warum genau bist hier? Also mal abgesehen davon, dass du der Hauptstadt einen Besuch abstattest und bei der Gelegenheit alte Kollegen abklapperst und Kaffee schnorrst.«
Moritz blies die Wangen auf. »Merkt man das so schnell?«
Johanna nickte. »Gibt es Probleme in der Hansestadt?«
Moritz wiegte den Kopf. »Möglich.«
»Schieß los.«
Moritz zog die Beine heran. »Vor ein paar Tagen gab es einige Kilometer südwestlich von Rostock einen schweren Motorradunfall, bei dem der Fahrer ums Leben kam.«
»Nun, mitten im Winter dürfte es wohl nicht die klügste Idee sein, mit dem Motorrad durch die Gegend zu fahren«, warf Johanna ein.
»Es ist gerade sehr mild und trocken – eingefleischte Biker nutzen solchen Phasen, um ihre Kisten wenigstens mal für ein paar Stunden rauszuholen.«
»Na schön.« Johanna zuckte mit den Achseln. »In diesem Fall war das aber wohl dennoch kein guter Einfall.«
»Wie es aussah, ist der Fahrer in einer langgestreckten Kurve gestürzt. Die Techniker meinen, dass es womöglich einen Wildwechsel gab, von dem er überrascht wurde, so dass er plötzlich bremsen musste und das Gleichgewicht verlor.«
»Aha. Und?«
»Der Fahrer galt als souveräner und sicherer, wenn auch manchmal etwas risikofreudiger Biker«, fuhr Moritz fort. »Er kannte die Rostocker Landstraßen wie seine Westentasche – bei jeder Wetterlage – und hatte noch nie einen Unfall.«
Einmal ist immer das erste Mal, dachte Johanna, verkniff sich aber die Bemerkung. »Diesmal ist aber wohl einiges schiefgegangen.«
»Ja.«
»Lass mich raten – du kennst ihn?«
Moritz nickte. »Es handelt sich um einen Kollegen, Valentin Wolff, sechzig, Polizeipsychologe, war zwanzig Jahre für das LKA in Mecklenburg-Vorpommern tätig, wobei er schwerpunktmäßig im Einzugsbereich Rostock gearbeitet hat. Ab und an hat er zusätzlich überregional als beratender Psychologe fungiert und Fortbildungen geleitet. Ich habe ihn in der kurzen Zeit, seit ich oben an der Küste bin, persönlich noch nicht besonders gut kennengelernt, aber er hatte einen guten Ruf. Die Kollegen schätzten seine Umsicht und Ausgeglichenheit. Seine Stärke lag in der Unterstützung bei schweren Gewaltverbrechen, unter deren Nachwirkungen Ermittler litten. Er half bei Wiedereingliederungsmaßnahmen nach längerer Krankheit und beriet im Zusammenhang mit polizeilichen Großmaßnahmen. Darüber hinaus war er die erste Anlaufstelle, wenn ein Kollege im Einsatz die Nerven verloren hatte. Ein rundum erfahrener Mann, der mal als Polizist angefangen und später die Ausbildung zum Psychologen hinterhergeschoben hatte.«
»Keiner vom grünen Tisch also.«
»Genau.«
»Und wo ist das Problem?«, fragte Johanna. »Misstraust du der Unfalltheorie?«
»Einer meiner Leute, der Wolff sehr gut kannte, hat sich dafür starkgemacht, den Vorfall noch mal genauer ins Visier zu nehmen, ohne das Ganze an die große Glocke zu hängen – genauer gesagt: Niemand sollte etwas mitbekommen.«
»Und was macht ihn skeptisch?«
Moritz rieb sich das Kinn. »Nach seinen Worten wäre Wolff in dieser Kurve niemals gestürzt …«
Johanna blies die Wangen auf. »Klingt nach einem richtig überzeugenden Beweis.«
»Es gibt an der Stelle so gut wie keine Wildwechsel mehr, schon gar nicht tagsüber«, fuhr Moritz ungerührt vor. »Und falls da doch was über die Straße gehüpft wäre, hätte man es sehen können.«
Sie hob die Brauen. »Ist das alles?«
»Nein. Die Kopfverletzungen, an denen er gestorben ist, waren ganz erheblich. Und sie passen nach Ansicht des Kollegen nicht hundertprozentig zu dem Sturzverlauf, den die Techniker rekonstruiert haben.«
»Aha. Warum?«
»Angeblich ist Wolffs Maschine beim Bremsvorgang weggerutscht, und er knallte seitlich mit dem Kopf an einen Baum – Schädelbasisbruch, Hirntrauma mit massiven Einblutungen und Halswirbelverletzungen, Ende. Der Kollege hat die Fotos gesehen und ist der Auffassung, dass Wolffs Verletzungen – den angenommenen Unfallablauf vorausgesetzt – ungewöhnlich heftig seien.«
Johanna lehnte sich zurück. »Zu heftig für den Sturz? Will er darauf hinaus?«
»So in etwa.«
»Und was sagen die Techniker zu diesem Einwand?«
»Die Verletzungen seien tatsächlich bemerkenswert, aber keineswegs ausgeschlossen. Zudem fänden sich auf dem Helm entsprechende Spuren von der Baumrinde, und das reiche aus, um von einer gesicherten Unfalltheorie zu sprechen. »
Johanna hob die Hände. Einen Augenblick blieb es still. Moritz blinzelte und wirkte plötzlich verlegen. »Ich weiß, die Einwände hören sich nicht besonders aufregend an, aber der Mann, der mit seinen Zweifeln zu mir gekommen ist, genießt mein einhundertprozentiges Vertrauen. Wenn er behauptet, dass da was stinkt, dann sollte man an den richtigen Stellen ein zweites Mal nachfassen. Du weißt, dass es solche Ermittler oder auch Fälle gibt, die einen nicht in Ruhe lassen. Wenn ich mich recht erinnere, hast du auch immer viel auf Nase und Bauchgefühl gegeben.«
»Wohl wahr.« Johanna beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Was glaubt dein Mann mit dem guten Riecher eigentlich, was tatsächlich passiert ist? Dass jemand den Unfall provozierte, Wolff anschließend den Schädel einschlug und das Ganze dann so überzeugend drapierte, dass zumindest die Techniker darauf reinfielen?«
»Nun …«
»Und wie soll das abgelaufen sein? Der Rechtsmediziner kann sicherlich zwischen einer Kopfverletzung aufgrund stumpfer Gewalt und dem Aufprall nach einem Sturz unterscheiden, bei dem der Kopf mit einem Helm geschützt war.«
Moritz nickte. »Natürlich. Falls da jemand was einfädelte, müsste er einige Sachkenntnis besitzen und das Ganze sorgfältig geplant und umgesetzt haben.«
»Wer hätte ein Motiv, einen Polizeipsychologen auf derart aufwendige Art zu töten?«
»Das dürfte die entscheidende Frage sein. Mein Mitarbeiter, der im Übrigen auf keinen Fall genannt werden möchte, hat noch erwähnt, dass Wolff in letzter Zeit häufig gestresst und unausgeglichen wirkte, was normalerweise überhaupt nicht bei ihm vorkommt, egal, was im Job gerade los ist.«
Ich wirke ständig gestresst und unausgeglichen, dachte Johanna, aber das ist wohl kein gutes Gegenargument; sie behielt die Bemerkung für sich. »Wie stellst du dir meine Unterstützung vor?«
»Ich dachte an dein Wismarer Team«, antwortete Moritz. »Die Erfolge an der Küste haben sich herumgesprochen, und ich weiß, dass du offen bist, wenn es um ungewöhnliche Ermittlungsansätze geht, die in keinem Lehrbuch erwähnt werden.«
»Besser ist es.« Johanna lächelte. »Denn man könnte es auch anders ausdrücken: Wir halten selten die geforderten Richtlinien und Bestimmungen ein, von Gesetzen mal ganz zu schweigen, und nur der Erfolg schützt mich und meine Leute.« Emma tanzt eigentlich ständig aus der Reihe und bringt sich damit oft genug in allergrößte Gefahr, fügte sie stumm hinzu.
»Es ist doch wie immer, Johanna – wenn alles klappt, werden beide Augen zugedrückt, was die Vorgehensweise angeht. Man klopft uns auf die Schultern, bis es kracht, während der Staatsanwalt die Lorbeeren erntet. Geht es schief, fällt uns die Scheiße direkt vor die Füße, und zwar kübelweise.«
»Da gerät man doch wirklich ins Grübeln, warum wir den Job schon so lange machen, oder?«
»Tja …«
Johanna rieb sich die Nase. Moritz war kein Kollege, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ oder an jeder Ecke böse Verbrechen und Verschwörungen vermutete. Wenn er der Einschätzung eines Mitarbeiters derart viel Gewicht beimaß, war vielleicht tatsächlich etwas dran, und es könnte nicht schaden, einen zweiten kritischen Blick darauf zu werfen. Ich könnte Emma losschicken, dachte Johanna. Sie und den starken Mann im Hintergrund, mit dem sie neuerdings alles teilte. Sie räusperte sich und fasste Moritz ins Auge. »Schick mir die Hintergrundinfos. Emma Klar wird sich mit dir in Verbindung setzen.«
»Großartig.« Er zögerte einen Moment. »Es ist außerordentlich wichtig, dass das Ganze keinen offiziellen Anstrich bekommt. Die Kollegin kann nicht einfach aufkreuzen und Fragen stellen. Sie soll sich einfach nur mal etwas umschauen und unauffällig recherchieren. Unter Umständen …«
»Schon verstanden. Wir bleiben unter jedem Radar, solange sich keine Möglichkeit bietet, offiziell zu ermitteln. Soll ja niemand annehmen, dass du den Rostocker Kollegen nicht zutraust, ihren Job richtig zu machen, nicht wahr?«
»Das ist der Punkt. Danke, Johanna.«
»Du weißt doch – eine Hand wäscht die andere.«
Keine zehn Minuten, nachdem Moritz sich verabschiedet hatte, traf seine Mail mit den Daten ein, dazu Bildmaterial und ein paar Hintergrundinformationen zu Wolf sowie einige Kontaktdaten von Kollegen und Freunden. Johanna kaute noch eine Viertelstunde auf der Geschichte herum, dann erteilte sie Emma den Auftrag, den Unfall von Valentin Wolff kritisch und verdeckt zu prüfen.
Der Vorgang klang alles andere als spektakulär. Emma hatte sich den Unfallort zweimal angesehen, einmal allein kurz nach Johannas Anruf und dem Eintreffen der Unterlagen, das zweite Mal am darauffolgenden Tag gemeinsam mit Christoph. Das Resultat blieb das gleiche, nämlich eindeutig. Wolff war auf der Bundesstraße 103 in der Nähe von Kritzmow unterwegs gewesen, als es ihn in einer langgestreckten Kurve erwischt hatte. Wahrscheinlich war er viel zu schnell gefahren und musste abrupt abbremsen, oder es hatte ihm nach zwei Monaten Winterpause an Übung gefehlt. Möglicherweise hatte ihn auch irgendetwas erschreckt. Die Berichte der Kriminaltechnik und des Rechtsmediziners ließen nicht den geringsten Zweifel an der Unfalltheorie aufkommen. Wolff war seitlich mit dem Kopf an einen Baum geschleudert worden und kurz darauf an einer schweren Hirnblutung gestorben. Die Einschätzungen wirkten an keiner Stelle überzogen oder lückenhaft, und die Kopf- und Halswirbelverletzungen waren zwar beträchtlich, aber sachlich nicht zu widerlegen. So sah es auch Emma, und Christoph stimmte ihr zu. Der Hinweis von Tambachs Kollege, dass die Heftigkeit der Verletzungen nicht hundertprozentig zum Sturzablauf passte und der Unfall womöglich ein anderes Geschehen verdecken sollte, ließ Emma lediglich einen kurzen Moment stutzen. Der Rechtsmediziner schätzte die Situation anders ein. Kurzum: Auf den ersten Blick sprach nichts dafür, dass jemand nachgeholfen hatte.
Johanna hatte Emma gebeten, der Sache stillschweigend nachzugehen und auf keinen Fall als offizielle Ermittlerin aufzutreten – zumindest vorerst nicht. »Darin hast du ja Übung«, hatte sie in süffisantem Tonfall hinzugefügt.
»Schon klar. Aber wie soll ich nachhaken, wenn niemand wissen darf, dass der Unfall misstrauisch beäugt wird?«
»Dein Ansprechpartner ist Moritz Tambach. Den Rest überlasse ich komplett deiner Fantasie. Recherchiere einfach mal ein bisschen im Hintergrund und in bewährter Manier, tob dich im Netz und in den Datenbanken aus, und dann sehen wir weiter.«
»Warum hakt Tambach eigentlich nicht selbst nach? Ist nicht so schwierig …«
»Er ist noch nicht lange Chef der KPI. Er will sich weder eine Blöße geben noch seine Leute vor den Kopf stoßen.«
»Verstehe.«
»Prima. Dann leg mal los.«
Wolff war geschieden und arbeitete seit zwanzig Jahren in Rostock. Ersten allgemeinen Recherchen zufolge war er Single und lebte zurückgezogen – die Liste seiner Freunde war überschaubar –, ein dreißigjähriger Sohn lebte mit seiner Familie in Berlin. Der Polizeipsychologe galt als einfühlsamer Berater, seine Laufbahn war gerade verlaufen, dunkle Flecken schien es nicht zu geben, zumindest nicht auf den ersten Blick. Er war beliebt gewesen und hochgeschätzt für sein berufliches Engagement, wie Moritz Tambach ausführlich erläutert hatte. Kontobewegungen und Profil waren unauffällig. Im Netz fand sich nichts über ihn, auch nicht als Patrick, ein ehemaliger Kollege aus dem LKA Dresden, nachforschte.
Emma sprach ausführlich mit dem Leiter der KPI in Rostock, aber zusätzliche erhellende Informationen, die einen Verdacht aufkeimen ließen, konnte sie nicht gewinnen. Auch die klammheimliche und von Johanna stillschweigend geduldete Durchsuchung von Wolffs Wohnung, bei der Christoph sie in gewohnter Weise unterstützte, brachte nichts ein. Seinen Laptop hatte Wolff hauptsächlich zum Streamen von Filmen genutzt, die gespeicherten Fotos stammten überwiegend von Ausflügen mit dem Motorrad. Wolff war am liebsten die Küste rauf und runter gefahren, hatte an versteckten Naturstränden gezeltet und Lagerfeuerromantik genossen, häufig allein, manchmal mit zwei, drei anderen Bikern, Polizisten aus Rostock. Wie es aussah, war ein angesehener Polizeibeamter aufgrund eines tragischen Unfalls gestorben, der von einem sehr wahrscheinlich ähnlich geschätzten Kollegen, der sich nicht damit abfinden wollte, angezweifelt wurde.
Nach drei Tagen war Emma nicht einen Schritt weitergekommen. Die Überlegung, Kontakt zur Familie in Berlin aufzunehmen, verwarf sie nach kurzer Prüfung. Solange es nicht den kleinsten Hinweis gab, aus welcher Ecke der Wind wehen könnte, war es völlig zwecklos, Leute zu befragen – zudem würde ihre Initiative genau die Unruhe stiften, die Tambach nicht wollte. Sie kontaktierte ihn erneut.
»Es scheint alles perfekt«, erklärte Emma. »Bei meinen bisherigen Recherchen bin ich auf nichts gestoßen, was mich misstrauisch machen könnte. Erwähnenswert scheint mir, dass der Mann offenbar nicht allzu viele Freunde hatte, außerdem spielten Frauen in seinem Leben keine Rolle, soweit ich es bislang in Erfahrung bringen konnte, aber das kann alles Mögliche bedeuten, oder? Falls tatsächlich etwas vertuscht wurde oder ein Profi am Werk war, müssen wir in die Tiefe gehen, was wiederum bedeutet, dass ich entweder aus der Deckung komme oder …«
»Eine offizielle Ermittlung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vertretbar«, unterbrach Tambach sie rasch. »Das muss ich Ihnen kaum näher erläutern.«
»Müssen Sie nicht.«
»Und ich halte es auch nicht für eine gute Idee, Sie zum Beispiel ins Team zu schleusen, solange wir nicht das Geringste wissen.«
»Auch in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu. Dann muss eben Ihr skeptischer Mitarbeiter deutlicher werden. Ich brauche etwas mehr als den Hinweis, dass da seiner Einschätzung nach was nicht stimmt und Wolff in letzter Zeit ein bisschen unausgeglichen wirkte. Geht es um eine Ermittlung? Gab es Stress unter den Kollegen? Eine Liebesgeschichte? Wo soll ich anfangen? Wer könnte mehr wissen? Ich muss mit ihm reden, um mir ein umfangreicheres Bild machen zu können.«
»Das wird ihn nicht erfreuen.«
»Gut, dass ich so was grundsätzlich nicht persönlich nehme. Sagen Sie ihm, dass er mir vertrauen muss, sonst können wir das Ganze vergessen. Oder ich stochere hier und da noch ein bisschen herum und gebe schließlich einen Bericht ab, in dem ich betone, dass ich keinerlei Auffälligkeiten entdeckt habe. Das dürfte wohl kaum in Ihrem Sinne sein, oder?«
»Nein. Ich spreche mit ihm. Und dann sehen wir weiter.«
Emma beendete das Telefonat. Eins stand fest – Tambach vertraute dem Urteil seines Mitarbeiters auf ganzer Linie, und der wiederum machte es ziemlich spannend. Weil eine schmutzige Geschichte vertuscht worden war, in die er selbst involviert war? Weil jemand im Team die Fäden in der Hand hielt, vor dem er Angst hatte, und Tambach ahnte was davon? Durchaus vorstellbar, doch angesichts einer Ausgangslage, die rein sachlich im Augenblick nicht den geringsten Anhaltspunkt bot, waren das hochspekulative Überlegungen.
Emma beschloss nach kurzem Nachdenken, sich bei einem Spaziergang an der Küste Richtung Hoben den Kopf freipusten zu lassen. Das Wetter war frostig und klar, die See aufgewühlt, der scharfe Wind trieb Emma die Tränen in die Augen. Das denkmalgeschützte ehemalige Fischer- und Büdnerdorf unweit der Seebrücke bot einen einmaligen Blick auf die Wismarer Bucht und die Insel Walfisch; es war von Wiesen und Feldern sowie einem breiten Flachwasserstreifen umgeben. Im Sommer nutzten unzählige Radler den Fernradweg »Ostseeküste«, doch zurzeit war kaum jemand unterwegs. Die Wellen schlugen schäumend auf den Strand, zogen sich mit leisem Zischen zurück und nahmen einen neuen Anlauf, immer und immer wieder.
Emma hatte sich vorgenommen, irgendwann in diesem Winter ein Eisbad zu nehmen, gemeinsam mit Christoph und gut geschützt durch einen Neoprenanzug. Angeblich sollte es ein spektakuläres Erlebnis sein, sofern man sich erst einmal überwunden hatte. Im Moment konnte sie sich allerdings nicht einmal vorstellen, ihre dicke Jacke auszuziehen.
Die SMS erreichte sie nach einer knappen Stunde Fußweg. Sie zog das Handy aus der Tasche und suchte Schutz hinter einer sturmzerzausten Baumgruppe. »Der Fall Röhler«. Als Absender war ein Mix aus Buchstaben und Zahlen angegeben. Sehr wahrscheinlich hatte der Schreiber einen anonymen Online-Dienst benutzt. Emma schob das Smartphone wieder in die Tasche zurück und machte sich eilig auf den Rückweg.
Tambach verstaute das Tablet im Wandtresor seines Büros und verließ die KPI über das Treppenhaus und den Hinterausgang. Wenn ihm jemand vor einem halben Jahr erzählt hätte, dass er mit verdeckten und gezinkten Karten spielen würde, um den Tod eines Kollegen aufzuklären, hätte er schallend gelacht. Eine absurde Vorstellung, selbst wenn man berücksichtigte, dass es in vielen Dienstjahren genügend Situationen gegeben hatte, in denen ihm nichts anderes übriggeblieben war, als auch mal mittels einer Finte zu agieren. Der direkte Weg war nicht immer zu empfehlen. Dennoch – im Moment täuschte er sein Team und sogar Johanna und deren Ermittlerin, um so versteckt wie möglich den Hintergründen auf die Schliche zu kommen und dabei keine schlafenden Hunde zu wecken. Falls diese überhaupt existierten, aber davon war er eigentlich längst überzeugt. Tambach sah sich einige Male prüfend um, bevor er in seinen Wagen stieg und vom Parkplatz fuhr.
Wolffs Unfalltod hätte für sich allein betrachtet kaum dieses Unbehagen bei ihm ausgelöst. Wahrscheinlich hätte er den Verlust des Kollegen zutiefst bedauert und nicht den geringsten Zweifel an der Unfalltheorie gehegt. Der tragische Tod des Polizeipsychologen erschien erst in einem anderen Licht, als Tambach mit der Nase auf den Zusammenhang mit einer anderen Straftat gestoßen wurde – auch sie scheinbar geklärt.
Jakob Röhler, ein junger Kollege von der Schutzpolizei, war vor vier Monaten erschossen im Hafen aufgefunden worden. Seinerzeit war Tambach erst wenige Wochen Leiter der KPI, und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Wie würde der neue Mann aus Berlin sich an der Spitze der Rostocker Polizei bewähren, nachdem der Mord an dem siebenundzwanzigjährigen Kollegen die Hansestadt erschüttert hatte? Tambach hatte nicht lange gefackelt und unverzüglich eine Sonderkommission eingerichtet, die den Täter innerhalb weniger Tage anhand von DNA-Spuren und der benutzten Waffe sehr schnell im Umkreis der organisierten Kriminalität identifizieren und nach wenigen Tagen mit Hilfe eines mobilen Einsatzkommandos festnehmen konnte.
Der Ermittlungserfolg verschaffte Tambach einen überzeugenden Start und großen Respekt, was ihm zugegebenermaßen durchaus geschmeichelt hatte. Dass der Festgenommene den Mord energisch bestritt und ein Bezug zum organisierten Verbrechen in keiner Weise zu Röhlers Aufgabenfeld passte, geriet angesichts der Beweislage zur Nebensächlichkeit; sein Alibi spielte auch keine Rolle, es wurde als gekauft deklassiert, wie das meiste, das mit dem organisierten Umfeld zu tun hatte. Wie erwartet hatte das Gericht ohne Zögern die Höchststrafe ausgesprochen.
Tambach hatte nach der Verhandlung eine kurze Erklärung vor der versammelten Presse abgegeben und sich anschließend eilig auf den Weg zum Parkplatz gemacht. Er wollte gerade in seinen Wagen steigen, als eine junge Frau auf der Beifahrerseite auftauchte und ihn mit erhobenem Kinn anblickte. »Haben Sie noch zwei Minuten, Herr Tambach?«
Er runzelte die Stirn. »Sind Sie von der Presse?«
»Ja.«
»Ich habe meiner Erklärung nichts hinzuzufügen.« Das klang auch in seinen Ohren blasierter, als es beabsichtigt war, aber die Journalistin nickte mit leisem Lächeln, als hätte sie keine andere Erwiderung erwartet.
»Sie stehen gut da mit Ihrem Team.«
»Frau …«
»Jana Kühn«, erklärte sie schwungvoll. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört. Ich schreibe für verschiedene Online-Nachrichtenmagazine und bin bekannt für meine gründlichen Recherchen.«
»Nein, tut mir leid, Ihr Name sagt mir nichts, aber ich freue mich, dass Sie verantwortungsvoll recherchieren, dennoch …«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind«, unterbrach sie ihn erneut. »Aber vielleicht nehmen Sie sich doch ein paar Minuten und …«
»Es geht nicht um die Zeit«, fiel nun Tambach ihr ins Wort. »Ich will nicht zwischen Tür und Angel befragt werden und eine Viertelstunde später irgendwo im Netz zitiert werden – womöglich unvollständig und widersprüchlich.«
»Eher fünf Minuten.«
»Wie bitte?«
»Ich brauche keine Viertelstunde, um einen Beitrag zu posten, allerhöchstens fünf Minuten.« Sie zwinkerte ihm zu. »Aber darum geht es mir nicht.«
»Worum geht es Ihnen dann?«
»Haben Sie sich mal näher mit Röhler beschäftigt?«
»Selbstverständlich.« Das war natürlich gelogen, bestenfalls übertrieben. Tambach hatte gar keine Zeit gehabt, sich ausführlich mit dem Kollegen zu befassen, der zudem bei der Schutzpolizei seinen Dienst versehen hatte. Im Vordergrund hatten die Ermittlungen und die schnelle Täterergreifung gestanden.
»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass ein Beamter der Schutzpolizei von einem Typen erschossen wird, der normalerweise mit Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu tun hat und im weiten Feld der organisierten Bandenkriminalität sein Unwesen treibt? Da stellt sich doch unmittelbar die Frage, was das Opfer mit denen am Hut hatte, oder?«
Tambach schüttelte den Kopf. »Frau …«
»Jana Kühn. Leicht zu merken. So bin ich nun mal.« Sie lächelte charmant.
Er warf ihr einen unwilligen Blick zu, den sie schlicht ignorierte. Er schätzte es nicht, ständig unterbrochen zu werden. »Frau Kühn, ich werde sicherlich keine internen Ermittlungsergebnisse mit Ihnen diskutieren. Die Beweislage ist, wie Sie wissen, eindeutig gewesen. Es gab nicht den geringsten Zweifel an der Schuld des Täters, und das Gericht hat dementsprechend sein Urteil gefällt.«
»DNA-Spuren, eine Waffe, die schnell identifiziert werden konnte und zum Täter führte – das passte wirklich alles sehr gut zusammen. Zu gut, finden Sie nicht?«
»Ich finde gar nichts«, entgegnete Tambach nun deutlich ruppig. »Das ist auch gar nicht meine Aufgabe. Der Angeklagte ist zweifelsfrei überführt worden, den Kollegen Röhler hinterrücks erschossen zu haben. Über sein Motiv hat er uns im Unklaren gelassen. Das ist im Übrigen sein gutes Recht …«
»Er hat die Tat bestritten.«
»Dann hat er eben gelogen. Das ändert in der Sache nichts. Wir können nicht immer nachvollziehen, wodurch eine Straftat ausgelöst wird, und wir können auch nicht alle überführten Täter davon überzeugen, dass es letztlich klüger ist, zu gestehen, noch dazu, wenn die Tat derart überzeugend nachgewiesen wurde. Da kann man nichts machen.« Damit schob er sich hinters Steuer, startete den Motor und fuhr los.
Jana Kühn trat zwei Schritte zurück und starrte ihm nach, wie Tambach im Rückspiegel erkennen konnte. Er war wütend. Es hatte nicht geklärt werden können, wie Röhler in das Visier dieser Leute geraten konnte. Das kam vor. Nicht jede Tat konnte lückenlos und in allen Details aufgeklärt werden, nicht immer passte ein Puzzlestück zum anderen, was manchmal sehr unbefriedigend war. Aber Polizeiarbeit musste vor allem eines sein: pragmatisch und zielorientiert. Der Mörder war eindeutig überführt. Ende. Der Rest spielte keine Rolle. Natürlich gab es Presseleute, die sogleich Unheil witterten – und darin eine gute Möglichkeit sahen, ihr Blatt besser zu verkaufen oder Klicks im Netz zu sammeln.
Erst zu Hause entdeckte Tambach die Visitenkarte der Journalistin hinter dem Scheibenwischer. Sie hatte handschriftlich einen Link zu einem Zeitungsbericht notiert. Tambach zerriss die Karte, aber die Linkadresse hatte sich ihm längst eingeprägt. Mitten in der Nacht stand er auf und rief den Bericht einer Tageszeitung auf, in dem es um ein Fußballspiel ging, bei dem randalierende Fans in Schach gehalten werden mussten. Ein Polizist hatte in der aufgeheizten Stimmung die Nerven verloren, sich provozieren lassen und einen Fan so übel zusammengeschlagen, dass er tagelang im Krankenhaus lag. Die Szene war gefilmt worden, und der Polizist musste sich intern verantworten. Ein Name wurde in dem Bericht nicht genannt, und Tambach forschte am nächsten Tag nach, obwohl ihm längst klar war, um wen es sich handelte. Röhler hatte häufig bei Großveranstaltungen seinen Dienst versehen. Das war eine anspruchsvolle und aufreibende Herausforderung, und es kam vor, dass Kollegen dem Druck nicht standhielten.
Dem Bericht zufolge hatte Jakob Röhler allerdings komplett die Selbstbeherrschung verloren. Es hatte einen Eintrag in der Personalakte gegeben, und in der Folge hatte er mehrere Sitzungen bei Wolff absolvieren müssen. Der Vorgang war neu für Tambach. Als er Wolff darauf ansprach, reagierte der Psychologe irritiert und brach das Gespräch nach knappem Wortwechsel mit einer Ausrede ab; einen vereinbarten Besprechungstermin ließ er kurzfristig platzen. Das war ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass offenbar im Verlauf der Ermittlungen an keiner Stelle auch nur die Frage gestellt worden war, ob diese Schlägerei womöglich etwas mit dem Mord an Röhler zu tun gehabt haben könnte. Wenige Tage später war Wolff mit seinem Motorrad verunglückt. Als Tambach von dem Unfall erfuhr, war er für Momente sprachlos, dann spürte er plötzlich, wie ihn der spitze Stachel des Zweifels durchdrang.
Im Unfallbericht wurde die Möglichkeit eines geplanten Fremdeinwirkens nicht einmal erwähnt, doch die eine oder andere Frage im Zusammenhang mit dem Auslöser des Sturzes und den Verletzungen ließ einen gewissen Interpretationsspielraum. Tambach wartete zwei Tage ab, aber das Unbehagen ließ nicht nach. An einem Sonntagmorgen fuhr er in aller Herrgottsfrühe in die KPI. Die Kollegen vom Bereitschaftsdienst saßen im Gruppenraum zusammen und beachteten ihn nicht. Sie gingen davon aus, dass er liegengebliebenen Bürokram erledigte. Das war an sich keine schlechte Idee, doch an diesem Morgen schlich er mit dem Generalschlüssel in Wolffs Büro.
Der Mann hatte Papieraufzeichnungen und herkömmliche Akten fast vollständig aus seinem Arbeitsalltag verbannt. Berichte und Gesprächsprotokolle waren komplett digitalisiert; handschriftliche Notizen gab es so gut wie keine, zumindest nicht in Wolffs Büro. Tambach hielt einen Moment inne, dann schob er seine Bedenken beiseite, loggte sich mit seiner ID in den Computer ein und überspielte Wolffs Datenbank auf eine externe Festplatte. Was genau er damit vorhatte, war ihm selbst noch nicht klar, aber es konnte nicht schaden, zu gegebener Zeit auf fundiertes Material zurückgreifen zu können. Und falls sich herausstellen sollte, dass er Gespenster gesehen und Zusammenhänge hergestellt hatte, die nicht das Geringste miteinander zu tun hatten – womöglich aus einem unbewussten Schuldgefühl heraus –, würde er die Festplatte einfach wieder löschen, und niemand erfuhr von seinem eigenmächtigen Vorgehen.
Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg nach Berlin.
Der Fall des Polizisten Jakob Röhler war ein ganz anderes Kaliber – das wurde schon nach wenigen Minuten Recherche in der BKA-Datenbank deutlich und spiegelte sich auch in Medienberichten. Der junge Polizist war mit einem Kopfschuss förmlich hingerichtet worden. Emma holte einige Mal tief Luft, als sie das Bildmaterial bei einer großen Kanne Tee sichtete. Die Frage, womit der Beamte den Zorn der ganz bösen Jungs auf sich gezogen hatte, blieb unbeantwortet, was auf der einen Seite angesichts der eindeutigen Beweislage nur allzu verständlich war. Der Täter – im Milieu einschlägig bekannt als Schläger und Auftragsmörder – konnte schnell gefasst werden und erhielt die Höchststrafe. Ob Röhler womöglich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, zufällig etwas mitbekommen hatte und darum sterben musste oder gar über Verbindungen verfügt hatte, von denen keiner etwas ahnte, spielte für das abgeschlossene Verfahren keine Rolle mehr. Auf der anderen Seite durfte man sich aber fragen, ob Röhler ein Rädchen in einem Getriebe gewesen war, zu dem auch noch andere gehörten.
Emma goss Tee nach und vertiefte sich in Röhlers Biographie und Werdegang. Der Kollege war gebürtiger Niedersachse und gehörte den Dienststellen in Hildesheim und Bremen an, bevor er vor zwei Jahren nach Rostock versetzt wurde. Ausbildung und Werdegang waren nicht problemlos verlaufen – in einer internen Anmerkung hieß es dazu, dass Röhler ein zuverlässiger Beamter und begabter Polizist sei, der sich jedoch nicht immer in der angemessenen Weise in der Gewalt habe. Das hieß auf gut Deutsch: Er war aggressiv geworden und hatte zugeschlagen, und zwar mehrfach.
Nach seiner Strafversetzung hatte zunächst Ruhe geherrscht. Rostock schien ihm gutgetan zu haben – bis er vor einigen Monaten im Einsatz bei Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fußball-Fangruppen einen jungen Mann auf übelste Weise verprügelt hatte.
Emma stellte ihre Tasse ab und las weiter. Röhler war haarscharf an einer Kündigung vorbeigeschrammt. Sein direkter Vorgesetzter hatte sich dafür starkgemacht, dass er eine letzte Chance erhielt, wenn er sich bereit erklärte, therapeutische Hilfe beim Polizeipsychologen in Anspruch zu nehmen. Und hier kommt wahrscheinlich Wolff ins Spiel, dachte Emma, und das Ganze wird allmählich interessant. Die Frage war nur, warum Tambachs Mann nicht sofort mit beiden Namen herausgerückt war. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke. Vielleicht hatte er gehofft, dass sich der Zusammenhang bei den Recherchen rund um Wolff von selbst ergeben würde. Er gab nur so viel preis, wie es erforderlich war und keine Rückschlüsse auf ihn zuließ.
Emma runzelte die Stirn. Derart merkwürdig verhielt sich ein Polizist doch nur, wenn er in seinem eigenen Team Fragwürdigkeiten entdeckt hatte. Nach kurzem Überlegen vertiefte sie sich wieder in Röhlers Biographie und suchte im Netz nach ihm. Der Kollege hatte nach seiner Versetzung das Kitesurfen entdeckt und tauchte auf einigen Fotos und Kurzvideos auf, die von zwei Surfschulen veröffentlicht worden waren – eine war in Bad Doberan ansässig, die zweite befand sich ganz in der Nähe am Salzhaff bei Pepelow, zirka zwanzig Kilometer nordöstlich von Wismar.
Emma hob die Brauen – ganz in der Nähe waren im letzten Herbst in einer verlassenen Ferienhausanlage zwei Mordopfer entdeckt worden, die den Auftakt für ihren zweiten Ostseefall gebildet hatten. Kein gutes Omen. Sie schüttelte den Kopf über diesen albernen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Bildmaterial. Röhler tauchte in mehreren Sequenzen neben einer attraktiven Surflehrerin auf, die er mit strahlendem Lächeln ansah. Auch in einem Videoausschnitt waren die beiden zusammen zu erkennen. Emma notierte sich den Namen der Frau und griff zum Telefon. Allzu große Hoffnungen hegte sie nicht, dass sie mitten im eisigen Winter jemanden in der Surfschule antreffen würde, doch zu ihrer Überraschung meldete sich nach dem zweiten Klingeln eine etwas atemlose junge Männerstimme. »Surf am Salzhaff, Sie sprechen mit Marvin Reiter.«
»Hallo – mein Name ist Emma Klar. Ich würde gerne mit Lizzy Kant sprechen.«
»Die ist gerade drüben in der Werkstatt. Geht’s um den Kurs übernächste Woche? Zwei Plätze sind noch frei.«
»Sie surfen mitten im Winter?«, entgegnete Emma verblüfft.
»Klar. Noch nie was von Snow- oder Icekiten gehört? Wenn es richtig kalt wird, friert das Haff zu. Man schnallt sich Skier oder Schlittschuhe unter. Da kommt dann so richtig Freude auf, das dürfen Sie mir gerne glauben. Das ist ein Riesenspaß. Ansonsten muss man nur das Richtige anziehen.«
»Verstehe.«
»Also, wollen Sie buchen?«
»Ich möchte eigentlich nur mit Lizzy Kant sprechen.«
»Kann sie zurückrufen?«
»Ich habe kein Problem damit, ein paar Minuten zu warten.«
Leises Seufzen.
»Es ist wichtig.«
»Na schön, bleiben Sie dran.«
Es dauerte fast zehn Minuten, bis Lizzy Kant sich mit leiser, dunkler Stimme meldete. »Ja?«
»Frau Kant, mein Name ist Emma Klar. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
»Nennen Sie mir ein Stichwort?«
»Jakob Röhler.«
Stille.
»Frau Kant?«
»Sind Sie von der Presse?«
»Nein.« Emma zögerte nur einen Moment. Wenn sie auch nur einen halben Schritt weiterkommen wollte, musste sie ihre Deckung zumindest teilweise aufgeben. »Ich bin externe Ermittlerin des BKA«, erklärte sie schließlich. »Der Mord an Röhler hat intern einige Fragen aufgeworfen, die ich zu klären versuche.«
»Interne Fragen? Was soll das heißen? Jakob ist von einem Killer erschossen worden.«
»Ja. Und der Killer ist längst verurteilt und sitzt im Gefängnis.«
»So ist es.«
»Wie gut kannten Sie ihn?«
»Darüber muss ich nicht mit Ihnen sprechen, oder?«
»Nein. Aber es wäre sehr wichtig.«
»Tatsächlich? Nun, Sie können mir viel erzählen, von wegen BKA und so weiter …«
»Wir können uns treffen, und ich zeige Ihnen meinen Ausweis«, erklärte Emma. »Außerdem gebe ich Ihnen die Telefonnummer meiner Chefin in Berlin. Sie wird Ihnen bestätigen, wer ich bin und welchem Fall ich nachgehe.«
Das Zögern war mit Händen greifbar. »Ich habe hier noch jede Menge zu tun«, sagte Lizzy Kant schließlich. »Wenn Sie unbedingt wollen, kommen Sie vorbei, aber ich bezweifle, dass ich Ihnen weiterhelfen kann.«
»Lassen wir es doch darauf ankommen. Bis gleich.« Emma legte auf und machte sich sofort auf den Weg. Als sie das Haus verließ, fuhr Christophs Wagen vor.
Er ließ das Seitenfenster herunter. »Soll ich dich begleiten?«
Typisch, dachte Emma. Er fragte gar nicht erst, was sie vorhatte, sondern stellte gleich die entscheidende Frage. Sie lächelte und beugte sich zu ihm hinunter. »Nicht nötig. Es wird wohl nicht lange dauern. Wartest du auf mich?«
»Aber ja.«
Eine Minute später fuhr Emma über die L 12 in nördlicher Richtung aus der Stadt. Linker Hand tauchte die Insel Poel auf. Frostiger Reif schimmerte auf den Wiesen. Es war still.
Lizzy verstaute die kontrollierten und durchnummerierten Neoprenanzüge wieder im Wandschrank und starrte einen Moment gedankenverloren über die Reihe der aufgestellten Boards, die sie sich als Nächstes vornehmen wollte. Sie zog mit leisem Frösteln die Schultern zusammen.
Jakob war wie ein Sturm über sie hereingebrochen. Anders konnte sie es nicht beschreiben. Im letzten Mai hatte er vor der Tür gestanden – mit breitem Lächeln und einer großen Portion Selbstbewusstsein. Nach nur einem Grundkurs, den er in Bad Doberan absolviert hatte, fühlte er sich schon als halber Profi auf dem Board, mindestens. Nun, er war tatsächlich gut gewesen, sehr begabt, hatte ein Gespür für den richtigen Wind gehabt, und sein Stand auf dem Board ließ tatsächlich kaum vermuten, dass er erst wenige Wochen in diesem Sport zu Hause war. Lizzy war begeistert gewesen – in jeder Hinsicht. Er flirtete mit ihr, und das tat ihr gut. Sie war mehr als zehn Jahre älter als Jakob, ihre Ehe bestand nur noch aus einem unbeachteten Scherbenhaufen, den weder sie noch ihr Mann Lust hatte zusammenzukehren. Es sprach nichts gegen eine Affäre mit diesem attraktiven, lebhaften jungen Mann, der vor Energie nur so sprühte und Gefühle in ihr entfachte, von denen sie bislang kaum etwas geahnt hatte.
Sein Temperament war nur eine Seite der Medaille, wie Lizzy mitbekam, sobald sie sich näher kennengelernt hatten. Yin und Yang. Himmelhochjauchzend und oftmals zu Tode betrübt. Jakobs überschäumende und ansteckende Fröhlichkeit, ja Wildheit, war der helle Gegenspieler zu seinen nachdenklichen und auch dunklen Stimmungen, in denen er manchmal wie getrieben wirkte, einsam, depressiv.
»So war ich schon immer«, hatte er gesagt, als sie ihn vorsichtig darauf ansprach. »Es geht steil hinauf und dann ebenso abrupt wieder hinunter, manchmal in rasendem Wechsel. Aber ich habe das im Griff. Und meistens bin ich gut drauf. Ich brauche keinen Psychodoktor, wenn du das meinst. Und Sorgen musst du dir schon mal gar nicht machen.«
Das bezweifelte Lizzy. Sie wusste, dass ihn seine Hochs und Tiefs seelisch erschöpften und dünnhäutig machten. Die Folge waren Aggressionen, die ihm immer wieder Probleme bereiteten, nicht nur im Job, und die dringend einer therapeutischen Aufarbeitung bedurften – ihrer Meinung nach. Aber in dem Punkt hatte er sich nicht hereinreden lassen.