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Eine Mauer des Schweigens.
Der Tod einer jungen Frau, die angeblich von einem Balkon gestürzt ist, beunruhigt ganz Wismar und die private Ermittlerin Emma Klar. Vor vielen Jahren hat sie als Polizistin den Mord an deren Mutter nicht aufklären können. Hat Anna Bohn, die Tochter, mehr über das Schicksal ihrer Mutter herausgefunden und musste daher sterben? Auf Bitten der Polizei beginnt Emma zu recherchieren. Dabei stellt sie nicht nur fest, dass Annas Freund am Hafen Drogen verkauft, sondern dass ihr Vater kaum Trauer zeigt und sich mit seinen Kindern wie in einer Festung verschanzt ...
Der neue Ostsee-Krimi der Bestsellerautorin von „Schiffsmord“ und „Todesstrand“.
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Seitenzahl: 433
Eine Mauer des Schweigens.
Der Tod einer jungen Frau, die angeblich von einem Balkon gestürzt ist, beunruhigt ganz Wismar und die private Ermittlerin Emma Klar. Vor vielen Jahren hat sie als Polizistin den Mord an deren Mutter nicht aufklären können. Hat Anna Bohn, die Tochter, mehr über das Schicksal ihrer Mutter herausgefunden und musste daher sterben? Auf Bitten der Polizei beginnt Emma zu recherchieren. Dabei stellt sie nicht nur fest, dass Annas Freund am Hafen Drogen verkauft, sondern dass ihr Vater kaum Trauer zeigt und sich mit seinen Kindern wie in einer Festung verschanzt.
Der neue Ostsee-Krimi der Autorin der Bestseller »Schiffsmord« und »Todesstrand«
Über Katharina Peters
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.
Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord«, »Fischermord« und »Schiffsmord« lieferbar.
Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung«, »Toteneis« und »Abgrund« lieferbar.
Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge« und »Todesklippe« lieferbar.
Zuletzt erschien von ihr: »Bornholmer Schatten«.
Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com
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Katharina Peters
Todeswall
Ein Ostsee-Krimi
Inhaltsübersicht
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Impressum
Er war fast tot gewesen, als die seltsame Alte ihn mitten im Wald gefunden hatte. Schneekopfmoor am Teufelskreis holt die jungen Männer zu sich, Schneekopfmoor am Teufelskreis, das ist die alte Weis, hatte sie in einem seltsamen Singsang unablässig vor sich hingemurmelt, und er war zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt gewesen, längst gestorben zu sein oder auf dem besten Weg dahin zu sein. Es gab nur diesen alles ausfüllenden Gedanken und die seltsame, singende Alte, der er sich einfach überließ, die dröhnende Qual seines in Aufruhr geratenen Körpers und den übermächtigen Geruch der Angst. Keine Erinnerung an das, was geschehen war, kein Ich mit einer Geschichte, die alles erklären und den schwarzen Abgrund seines Bewusstseins füllen könnte. Verletzt im Wald im Schneekopfmoor am Teufelskreis. Schmerzen, die mit aller Macht über ihn hereinbrachen, ein rasendes Herz. Eine alte Frau, die ihn in ihr Haus schleppte, wo er das Bewusstsein verlor – wieder verlor.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als neben dem Gesicht der Alten ein zweites auftauchte. Ein Arzt, wie ihm später klar wurde. Dann gleißendes, flackerndes Licht, noch mehr Gesichter, Motorengeräusche, ein Krankenhaus. Das immerhin erkannte er. Irgendwann sprach ihn jemand mit einem Namen an, den er auch nicht kannte. Mit dem Namen stimmte etwas nicht. Aber es stimmte ja auch sonst nichts. Dann tauchte die verrückte Alte wieder auf – und nahm ihn mit. Komm mit, komm mit, es ist besser so, es ist besser so, viel besser. Er fühlte so etwas wie Dankbarkeit in all der Verzweiflung, und er wusste, dass sie recht hatte, ohne dass sich eine schlüssige Erklärung dafür anbot. Wer bin ich? Wo komme ich her? Was ist passiert? Welcher Dämon hat mir alles genommen?
Wochen später kehrten erste Bruchstücke von Erinnerungssplittern wie aufzuckende Blitze zurück – zunächst im Traum, später überfielen sie ihn zu jeder Tageszeit, ohne dass er sie einordnen konnte. Eine Zugfahrt, Sommerwetter, Gesichter, eine Großstadt, das Antlitz einer jungen Frau und einer älteren, eine Stadt am Meer. Die verrückte Alte mit dem schönen Namen Helma, die gar nicht so verrückt war, erklärte ihm schließlich, dass sie ihn schwerverletzt im Wald gefunden hatte, als sie ihre übliche Runde am Schneekopfmoor gemacht hatte – eine Route, die nur sie kannte, so hatte sie gedacht.
»Aber du warst auch da, wenn auch halb verbuddelt – blutüberströmt, und geatmet hast du nicht«, führte sie in gemütlichem Thüringisch aus. »Dann habe ich dir den moorigen Sand aus Mund und Nase gepult und so lange auf deiner Brust herumgekloppt, bis du Luft geholt hast. So ein junger Kerl sollte nicht einfach mit dem Leben aufhören, selbst wenn sein Zustand übel ist.«
Er hatte nach wie vor nicht die geringste Ahnung, was geschehen und wie er dorthin gekommen war – mitten in den Thüringer Wald, wo die Alte ihn gefunden hatte, der es völlig egal war, wer er war. Ein junger Kerl, der leben sollte. Die ihn zum Atmen gebracht, einfach ins Leben zurückgeholt hatte und unbeirrbar und mit allergrößter Selbstverständlichkeit dafür sorgte, dass es so blieb.
Sein Name war ihm völlig suspekt, aber da ihm alles andere auch suspekt erschien, sollte ihn das wohl kaum noch verwundern. Frank Holbert, fünfundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in irgendeinem Kaff in Niedersachsen. Die Sache war allerdings die, dass der Ausweis Verwirrung gestiftet hatte, als das Krankenhaus ihn überprüfen ließ. Die Daten ergaben keinen Treffer – weder in Niedersachen noch anderswo. Man hatte den Arzt befragt, den Helma hinzugezogen hatte, der wiederum die verrückte Alte informierte. Und keinen Tag später hatte Helma ihn einfach abgeholt, klammheimlich, so dass es niemand mitbekam, und auf ihre Hütte im Wald gebracht, wo hin und wieder der Arzt nach ihm sah. »Weil es besser ist und bevor jemand Fragen stellt, die niemand beantworten kann oder will«, hatte sie gesagt. Einfach so. Weil irgendein Scheiß passiert ist, vor dem sie ihn beschützen wollte, hatte er gedacht. Weil sie auf ihre Art entschied, wem sie vertraute und wem nicht. Und der Arzt hatte keine Miene verzogen.
Die Kopfverletzungen heilten gut, und einige Erinnerungen kehrten stückweise und langsam zurück, allerdings lediglich in kleinen Schüben, ohne Gesamtzusammenhang und mit unverständlichen Bildern und Gefühlen, die ihn verwirrten. Helma versorgte ihn in ihrer Waldhütte, und als es körperlich aufwärts mit ihm ging, lief er jeden Morgen die schätzungsweise zwei Kilometer quer durch den Wald und das Moor und half ihr auf ihrem Hof, um abends nach dem gemeinsamen Essen zurückzukehren in die Stille und den Schutz des dunklen Waldes, wo ihn niemand suchte und er sich wohlfühlte. Helma bewirtschaftete seit Jahrzehnten in Eigenregie einen kleinen Hof mit Ziegen und Kleinvieh sowie Obst- und Kräuteranbau, und jede Hilfe war willkommen. Im nächsten Dorf galt sie als schrullige Alte, die man am besten in Ruhe ließ, wenn man keinen Ärger wollte. Außerdem verkaufte sie den besten Ziegenkäse weit und breit, und ihre Kräuter hatten den besten Ruf.
Helma hat mir das Leben gerettet und dafür gesorgt, dass mir keiner hinterherschnüffelt, dachte er eines Tages, als der erste Schnee fiel. Er wusste immer noch nicht, wer er war, und die aufflackernden Bilder nahmen ihm manchmal den Atem, bedrängten sein Herz, aber das war nur eine Seite seines Lebens. Die andere war: Helma. Selbstlos, fleißig, ein wenig verrückt und offensichtlich bemüht, ihm einen Platz in ihrem Leben anzubieten, an dem er sein konnte, ohne sich erklären zu müssen.
Eines Morgens, gut zwei Jahre nachdem Helma ihn im Wald gefunden hatte, wachte er in aller Herrgottsfrühe auf. Der Morgengesang der Vögel hatte gerade eingesetzt. Er stand auf, trat vor die Tür, und plötzlich öffnete sich in ihm ein schwerer Vorhang, der, von unsichtbarer Hand bewegt, Stück für Stück zur Seite rückte. Ein Schauer rieselte ihm über den Rücken, Tränen schossen ihm in die Augen, seine Hände zitterten. Mein Name ist Heinke Bär. Und nun kehrten die Erinnerungen nicht zurück – nein, sie durchfluteten ihn wie ein endloser Strom, der Farben und Bilder, Gerüche und Stimmen, Angst und Verzweiflung, Schmerz und Panik, Scham und Reue mit ganzer Wucht in ihm hochspülte. Minutenlang starrte er in den erwachenden Wald und wusste plötzlich, was er auf keinen Fall tun durfte: sich zu erkennen geben.
Vergiss alles wieder, dachte er wenig später. Das war unmöglich, aber: Es gab kein Zurück. Es war gut, wie es war, es war sogar perfekt. Kein Risiko, keine Gefahr, keine Lebensgefahr, für niemanden. Dieses Motto verinnerlichte er bis zu dem Tag, an dem er in einer alten Zeitschrift, die Helma für ihre Fischabfälle in einer Kiste in der Küche stapelte und in der er manchmal herumstöberte, einen kurzen Artikel über den tragischen Tod einer Wismarer Abiturientin entdeckte, die mit Drogen vollgepumpt vom Balkon gestürzt war. Ihre Mutter war sechs Jahre zuvor in Dresden auf schreckliche Weise ermordet worden. Nun war die Tochter tot.
Niemand konnte die Vergangenheit leugnen – oder nur für eine gewisse Zeit. Er spürte mit allen Sinnen, dass diese Zeit abgelaufen war.
Emma loggte sich aus ihrem Bankkonto aus und unterdrückte ein Seufzen. Finanziell hatte es schon einmal besser ausgesehen. Die Auftragslage war bescheiden, dabei hatte Christophs Vorschlag, die Detektei zukünftig gemeinsam zu betreiben und um Security-Angebote zu erweitern, durchaus vielversprechend geklungen. Aber ein erfolgreich anmutendes Geschäftsmodell bedeutete noch lange nicht, dass die Kundschaft Schlange stand und die Kasse klingelte – schon gar nicht im beschaulichen Wismar und Umgebung. Und solange das BKA nicht mit von der Partie war, für das Emma bei Bedarf als freie Mitarbeiterin tätig war, floss auch von dieser Seite kein Honorar, lediglich ein Zuschuss zur Sozialversicherung. Zudem wurden die lukrativen und langfristigen Aufträge für Objektüberwachung und Personenschutz meistens an größere Firmen vergeben und nicht an eine Zwei-Personen-Detektei. Blieb also das übliche und nicht unbedingt sprudelnde Geschäft – ab und an untreue Eheleute überwachen, Mitarbeiterüberprüfung bei Verdacht auf Untreue oder Diebstahl und ähnlich wenig anspruchsvolle Aufgaben.
Kein Grund zur Klage, dachte Emma. Ich habe immerhin die freie Wahl. Ich könnte ja auch wieder als fest angestellte Polizistin arbeiten. War das eine Option? Nein. Ansonsten leben wir in einer bezaubernden Stadt an der Ostsee, wir haben uns und … Noch einmal: Wir leben. Das war das Wichtigste.
Im Zusammenhang mit den letzten BKA-Ermittlungen war Emmas Partner als Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma in die Schusslinie geraten, entführt, misshandelt und schwer verletzt worden. Er war kaum genesen, als das Unternehmen seinen Rostocker Standort aufgegeben und einem Teil der Mitarbeiter gekündigt hatte – so auch Christoph. Seine Aussichten, wieder eine ähnliche Anstellung zu finden, waren alles andere als gut. Ohne entsprechende Kontakte lief an dieser Stelle wenig, zumal er als fünfzigjähriger vorbestrafter Exberufssoldat nicht gerade über ideale Voraussetzungen verfügte.
Emma drehte sich um, als die Tür knarzte. Christoph füllte den Rahmen fast vollständig aus. Der Mann war groß und muskulös wie ein Schwergewichtsboxer, sein Oberkörper war mit Narben übersät und einigen Knasttätowierungen geschmückt. Außerdem war er nackt. Sie lächelte.
»Alles okay?«, fragte er.
Sie nickte.
»Frühstück?«
»Gerne.«
Er hielt ihren Blick einen Moment fest. Zehn Minuten später saßen sie in der kleinen Küche am Esstisch. Christoph war bei der zweiten Stulle angelangt, als er das Wort ergriff. »Padorn hat vielleicht einen Job für mich. Zumindest einen guten Tipp.«
Emma hob den Blick. Jörg Padorn – freier Journalist, Texter, Recherchespezialist – war Christophs ältester und engster Freund; sie war anfangs nicht mit ihm klargekommen, umgekehrt hatte das Gleiche gegolten. Sie hatten jeweils nicht allzu viel füreinander übriggehabt, könnte man allgemein formulieren, sich inzwischen jedoch ausgesöhnt. Als Christoph entführt worden war, hatte Padorn keine Mühen gescheut, sie zu unterstützen.
»Es gab in der letzten Zeit etliche Einbrüche in einer schicken Eigenheimsiedlung am Schweriner See«, fuhr Christoph fort. »Er meint, dass ich da mal nachhaken soll, und zwar ganz persönlich. Das macht mehr her als Werbebriefchen, die ohnehin keiner liest.«
»Klinkenputzen?«
»Genau. Da wohnen durchgehend Leute mit dem nötigen Kleingeld, und manchen reicht es nicht, eine Kamera zu installieren. Sie fänden es beruhigender, wenn jemand durch die Gegend fährt und abseits von Routinen ihr Grundstück kontrolliert – meint Padorn. Außerdem bin ich gebürtiger Schweriner und kenne mich gut aus. Damit lässt sich zusätzlich punkten.«
»Verstehe.«
»Wir könnten das Geld gebrauchen, oder?«
Emma spitzte die Lippen.
»Ich merke, dass du dir Sorgen machst«, fügte er leise hinzu. »Die Aufträge sprudeln nicht gerade, und auch wenn wir nur noch die Miete für eine Wohnung und das Büro zahlen müssen und das Hin-und-her-Fahren Geld und Zeit spart, ist es gerade etwas eng. Aber es gibt Schlimmeres.«
»Du sagst es. Und von Sorgen würde ich nicht sprechen.« Notfalls musste sie mal wieder eine Runde im Netz pokern. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie finanzielle Durststrecken mithilfe ihrer Spielbegabung überwand.
»Dann ist ja gut.«
»Unbedingt – lass deinen Charme spielen.«
Als Christoph aufgebrochen war, setzte Emma sich nach unten ins Büro und fuhr den Laptop hoch, um Nachrichten zu lesen. Die erste Meldung aus Wismar ließ sie stutzen. Eine achtzehnjährige Abiturientin war nach der nächtlichen Rückkehr von einer Feier vom Balkon des Elternhauses gestürzt und an ihren Verletzungen gestorben. Nach einer ersten Einschätzung von Rechtsmedizin und Kriminaltechnik ging die Polizei davon aus, dass sie Partydrogen konsumiert, die Orientierung verloren und schließlich vom Balkon gefallen war.
Emma ließ sich in die Stuhllehne zurücksinken. Achtzehn Jahre, dachte sie. Was für ein schreckliches Unglück! In den sozialen Netzwerken waren Videos und Beiträge von Freunden und Schulkameraden gepostet worden. Das Entsetzen war groß. Emma brauchte nicht lange, um den Namen des Mädchens zu recherchieren. Anna Bohn. Der Familienname ließ sie aufhorchen, er kam ihr bekannt vor. Emma stand auf und holte sich frischen Tee. Den Rest des Tages kaute sie immer wieder auf dem Namen herum, ohne dass sie ihn zuordnen konnte. Schließlich schob sie die Grübelei beiseite. Sollte es tatsächlich eine Erinnerung geben, würde sie früher oder später auftauchen.
Am Nachmittag kehrte Christoph mit guten Nachrichten zurück. Es gab drei Interessenten – zwei Geschäftsleute sowie eine vermögende Familie –, die sich einen individuellen Objektschutzauftrag teilen wollten. Na bitte, dachte Emma.
Zwei Tage später stand Hauptkommissar Torsten Friedmann vor der Tür. Sie kannten sich seit Emmas erstem Fall in Wismar; der Dienststellenleiter war erfreulich pragmatisch und hatte keinerlei Berührungsängste – weder dem BKA noch einer ehemaligen LKA-Kommissarin gegenüber, die nun auch als private Ermittlerin unterwegs war. Dass ihre Methoden nicht immer den Polizeivorgaben entsprachen, lag in der Natur der Sache.
»Ich habe zufällig gerade in der Gegend zu tun«, begrüßte er Emma mit einem Anflug von Verlegenheit. »Und ich komme um vor Kaffeedurst.«
»Dagegen lässt sich etwas tun.« Emma lächelte. »Du solltest dich mit Johanna zusammentun. Sie trinkt literweise Kaffee – dazu isst sie pfundweise Kuchen und Kekse, und zwar nicht nur, wenn es gerade stressig ist.«
»Klingt bedenklich«, sagte Friedmann und trat ein. »Geht es der BKA-Frau gut?«
»Ich denke schon. Ab und an dürfte ihr langweilig sein auf ihrem Vorgesetztenposten, aber ich bin sicher, dass sie Möglichkeiten findet, für Abwechslung zu sorgen.« Emma holte eine Tasse für Friedmann, der sich in einen Ledersessel setzte und seltsam unentschlossen auf sie wirkte.
»Ihr habt genug zu tun?«, fügte er höflich hinzu, nachdem er einen Schluck getrunken hatte.
»Wir können uns kaum retten vor Aufträgen.« Sie zog eine Braue hoch, dann zuckte sie mit den Achseln und nahm ihm gegenüber Platz. »Wir müssen unsere Fühler ausstrecken. Die Situation ist nicht neu. In Wismar ist die Auftragslage eher bescheiden.«
Das beschauliche Ostseestädtchen war ideal, als Emma sich entschloss, an die Küste umzusiedeln und im Schatten einer kleinen Detektei den Mann zu jagen, der vor einigen Jahren alles verändert hatte. Teith. Doch das war inzwischen Geschichte, und einiges hatte sich anders entwickelt, als es ursprünglich geplant war.
Friedmann nickte und blickte eine Weile zum Fenster hinaus. Emma folgte seinem Blick – Wismar am Beginn des Frühlings, es war kühl und neblig, die Nächte waren frostig, und am Tag ließ sich die Sonne nur selten sehen. Am Strand herrschte graublaues Windwetter, und man brauchte einen dicken Wollpullover unter der Jacke, wenn man länger unterwegs war.
»Was ist los?«, fragte sie schließlich. »Mein toller Kaffee allein hat dich nicht hergeführt, oder?«
Er wandte ihr das Gesicht zu. »Dieser Fall lässt mir keine Ruhe, der eigentlich gar kein Fall ist.«
»Das junge Mädchen, das vom Balkon stürzte?«
Friedmann nickte.
»Ein tragischer Unfall.«
»Ja.«
»Und was daran lässt dir keine Ruhe – abgesehen davon, dass ein junges Mädchen tot ist?«
»Alles Mögliche …« Er zögerte einen Moment, und Emma winkte ab.
»Ist mir schon klar, dass du über Details nicht reden darfst«, sagte sie. »Falls dir doch etwas herausrutschen sollte, werde ich natürlich schweigen.«
»Natürlich.« Er sah sie prüfend an und stellte seine Tasse beiseite. »Vielleicht spinne ich auch, aber … Also, es gibt keine Zweifel am Unfallgeschehen, keine Hinweise auf Fremdeinwirkung. Wie es aussieht, hatte das Mädchen Partydrogen geschluckt, offenbar eine ordentliche Menge – die genaue Zusammensetzung des Zeugs wird noch analysiert –, ist auf die Balkonbrüstung geklettert und abgestürzt. Aber die Sache ist die – das Szenario passt weder zu diesem Mädchen noch zu der Feier, von der sie zurückgekehrt war. Sie war auf der Geburtstagsparty einer Freundin, und dort ist es harmlos zugegangen. Es gab ein paar Drinks und Prosecco, niemand hatte Drogen konsumiert – so haben es alle Gäste ausgesagt.«
Das muss nichts heißen, dachte Emma. Mit achtzehn hatten sie und ihre Freunde den Eltern nicht nur einen Bären aufgebunden, sofern es notwendig war, einen guten und vor allen Dingen überzeugenden Eindruck als Unschuldslämmer zu machen.
»Kann natürlich auch nur eine nette Geschichte sein, auf die sich alle geeinigt haben«, griff Friedmann nach einem Blick in ihr Gesicht den Gedanken auf. »Ist mir auch klar. Aber die Darstellungen klingen glaubwürdig. Das Mädchen ist nie zuvor durch Drogenkonsum aufgefallen, so die einheitliche Aussage von Freunden, in der Familie, im Umfeld der Schule, in den Polizeiakten sowieso. Auch unter den Partygästen haben wir keinen einzigen Treffer«, betonte er.
Friedmann hatte bereits in deutlich größerem Umfang recherchiert, als es bei einem zweifelsfreien Unfallgeschehen üblich war, überlegte Emma überrascht. Spielraum bot ihm einzig und allein der Drogenbefund.
»Anna war der Typ der artigen, strebsamen Schülerin – unauffällig, zielstrebig, zuverlässig, hat sich seit Monaten auf die bevorstehenden Abi-Prüfungen konzentriert. Mehr als einen kleinen Schwips traut ihr niemand zu«, berichtete er weiter.
»Klingt ja nicht gerade nach aufregender Jugend.« Bei mir ging es etwas anders zu, dachte Emma.
»Nein. Und klingt schon mal gar nicht nach einer jungen Frau, die sich komplett zudröhnt und die Kontrolle verliert.«
Emma hob kurz die Hände. »Sie könnte das brave Mädchen gespielt haben. Oder sie hat zum ersten Mal Drogen genommen und zu viel geschluckt. Was sagt der Rechtsmediziner dazu?«
»Noch nichts Endgültiges. Anzeichen für einen regelmäßigen Konsum hat er jedenfalls nicht entdeckt. Falls sie hin und wieder etwas genommen hat, würde das Ergebnis allerdings kaum anders aussehen.«
»Hatte sie einen Freund?«
»Nicht mehr. Sie hat sich kürzlich von ihm getrennt. Es gibt übrigens auch keine Hinweise auf Geschlechtsverkehr.« Friedmann zuckte mit den Achseln. »Der Ex kann sich auch nicht vorstellen, dass Anna Pillen eingeworfen hat.« Er trank einen Schluck Kaffee.
»Vielleicht hat man ihr was untergejubelt«, schlug Emma nach kurzem Überlegen vor. »Wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.«
»Dafür gibt es keinen Anhaltspunkt – nicht im Kreis dieser Gäste. Als sie die Feier verließ, war sie fröhlich und fast nüchtern. Also muss danach etwas passiert sein.«
Emma nickte. »Wie sieht es mit dem genauen zeitlichen Ablauf aus?«
Friedmann wiegte den Kopf. »Gute Frage. Es gibt nur einen groben Rahmen. Die Gastgeberin meint, dass Anna kurz nach Mitternacht aufgebrochen sei, andere sind unsicher oder gehen von einem späteren Zeitpunkt aus. Letztlich haben wir keine zuverlässige Aussage, wann sie die Feier verlassen hat. Und wann sie zu Hause eingetroffen ist, kann auch niemand bestätigen, Eltern und Geschwister haben geschlafen. Die Funkzellenauswertung wird uns auch nur dann weiterhelfen, falls Anna nicht direkt nach Hause gegangen sein sollte – die beiden Adressen liegen nicht weit genug voneinander entfernt, um detailliertere Rückschlüsse zu ziehen. Im Handy haben wir nichts Verdächtiges bemerkt, die Überprüfung läuft aber noch. Den Laptop werden wir uns noch ansehen – aufgrund des Drogenkonsums sind wir in der Lage, genauer nachzuforschen. Fest steht, dass der Notruf um kurz nach halb drei Uhr einging – laut Zeugenaussage war das Unglück gerade passiert.«
»Es gibt also eine zeitliche Lücke, in der alles Mögliche passiert sein könnte.«
»So sieht es aus, zumindest für mich.«
Das Mädchen hatte noch eine andere Verabredung, dachte Emma. Mit jemandem, den keiner kennt. Auch eine artige und zuverlässige Schülerin kann ein Geheimnis haben. Sie war achtzehn, Single, hatte plötzlich Lust, mal etwas auszuprobieren. Oder sie hat jemanden getroffen, der ihr was angeboten hat, und nach der artigen Geburtstagsparty entwickelte sich im Laufe der Nacht etwas ganz anderes.
»Warum zweifelst du an der Variante, dass sie offenbar nicht ganz so artig war, wie es alle beteuern, und einfach mal über die Stränge geschlagen sein könnte?«, fragt Emma. »Sie hat sich irgendwo was besorgt, von einem Freund, den keiner kennt, den sie zufällig getroffen hat, und sie hat zu viel genommen. Zu Hause kam ihr dann plötzlich die blödsinnige Idee, auf die Balkonbrüstung zu klettern. Unter Drogen hat man schon mal seltsame Ideen. So etwas passiert.«
»Sprichst du aus Erfahrung?« Er winkte ab. »Vergiss es – und um deine Frage zu beantworten: Zum einen gibt es ältere Spuren von Gewalt«, entgegnete Friedmann mit ernster Miene. »So hat sich der Rechtsmediziner geäußert.«
Emma runzelte die Stirn.
»Nichts Dramatisches – Prellungen am Oberkörper. Vielleicht hat sie Kampfsport betrieben oder ist mit dem Rad gestürzt. Das werde ich noch überprüfen …« Friedmanns wasserblauer Blick hielt sie einen Moment fest. »Aber da ist noch etwas. Ich habe mal ein bisschen recherchiert. Sagt dir der Name Bohn nichts?«
Emma hob eine Braue. »Das ist eine interessante Frage. Tatsächlich habe ich gestutzt. War da mal was?«
»Kann man so sagen.« Friedmann drehte seine Kaffeetasse zwischen den Händen. »Liegt ungefähr sechs Jahre zurück. Die Familie hat damals in der Nähe von Dresden gelebt. Karin Bohn war die erste Ehefrau von Alexander und die Mutter von Anna und ihren beiden Geschwistern …«
Emma atmete tief ein. Die Erinnerung flammte plötzlich in ihr auf. »Sie ist von einem Unbekannten vergewaltigt und ermordet worden«, warf sie ein. »Der Fall konnte nie geklärt werden, eine ziemlich schräge Geschichte. Ich gehörte damals zur Ermittlergruppe, allerdings lediglich als sehr junge und unerfahrene Assistentin ganz am Beginn meiner Laufbahn. Doch ich kann mich gut erinnern, dass wir alle unzufrieden waren, als die Akte unerledigt geschlossen werden musste.«
Sie sah Friedmann an, der sie gespannt im Blick behielt und plötzlich ein leises Lächeln aufsetzte. »War eine gute Idee, bei dir vorbeizuschauen.«
»Das ist fast immer eine gute Idee. Ich nehme an, du willst mehr zu dem Fall wissen.«
»Natürlich. Interna nach Möglichkeit. Ich habe ja nur einen oberflächlichen Blick in die Akte werfen können.«
»Im Laufe der Ermittlungen stellte sich heraus, dass Karin Bohn Mitglied in einer Sexgruppe war, die sich online in einem Chat austauschte und Treffen vereinbarte. Sie hatte sich mit einem Mann verabredet, der jedoch trotz vielfältiger Bemühungen nicht identifiziert werden konnte«, berichtete Emma. »Er hatte seine Spuren professionell verwischt, womöglich waren es sogar zwei Täter. Auch die sonstige Spurenlage gestaltete sich mager. Die vagen Hinweise, dass es um die Ehe nicht zum Besten stand, wehrte der Witwer vehement ab. Das Bild von der Mutter und Hausfrau Karin Bohn, die in anonymen Sex-Chats unterwegs war und sich heimlich mit unbekannten Männern traf, wirkte seltsam schräg. Aber das war natürlich kein gutes Argument.«
»Es wirkte wahrscheinlich ähnlich schräg wie das Bild von der artigen Tochter, die mit Drogen vollgepumpt vom Balkon fällt«, meinte Friedmann nachdenklich. »Zumindest bleiben leise Zweifel zurück, oder?«
Emma nickte nachdenklich. »Alexander Bohn war seinerzeit als Leiter der Technik im Wonnemar-Erlebnisbäder-Betrieb in Bad Liebenwerda tätig«, erinnerte sie sich weiter.
»Das ist er immer noch. Kurz nach dem Mord an seiner Frau hat er sich zu einem Umzug nach Wismar entschlossen«, berichtete Friedmann weiter. »Hier arbeitet er ebenfalls im Wonnemar-Betrieb auf dem gleichen Posten. Er hat ein Haus in bevorzugter Lage in der Nähe des Wallensteingrabens gekauft und kaum ein Jahr nach dem Mord an seiner Frau eine Kollegin geheiratet.«
Emma schlug ein Bein über das andere. Friedmann rieb sich den Nacken. »Ich muss dir nicht erklären, dass es keinen Ermittlungsspielraum gibt. Mir sind die Hände gebunden, und ich dürfte meinen Hut nehmen, wenn herauskäme …«
»Nein, du musst nichts erklären.«
»Und du ahnst längst, worauf ich hinauswill.«
»Ich soll mal ein bisschen recherchieren, und zwar inoffiziell und möglichst unauffällig.«
Friedmann seufzte. »Ja. Vielleicht irre ich mich, und in der Familie hat das Unglück gleich zweimal böse zugeschlagen. So etwas soll es ja geben. Oder …«
»Da stimmt was nicht, wo auch immer.«
»So ist es. Vielleicht übersehen wir etwas. Vielleicht gibt es keinerlei Zusammenhang. Es wäre mir aber lieber, wenn du … na, du weißt schon.« Er rieb sich das Kinn.
»Ich hake mal nach. Dazu brauche ich ein paar Interna und …«
»Kriegst du.«
»Und falls ich Hilfe benötige?« Sie meinte natürlich in erster Linie Christoph, den sie in ihre Nachforschungen einweihen würde.
»Dann verlasse ich mich auf deine Entscheidung und deine Intuition. Und falls sich aufgrund deiner Recherchen Ermittlungsspielraum ergibt, kümmere ich mich unverzüglich darum, dass du ein Honorar abrechnen kannst.«
»Klingt fair.«
Friedmann machte sich wenige Minuten später auf den Weg. Er war zutiefst besorgt, so viel stand fest. Kein Dienststellenleiter plauderte mal eben so aus dem Nähkästchen und bat eine Externe um detaillierte Nachforschungen.
Emma unternahm einen Spaziergang zum Alten Holzhafen, drehte dort ihre übliche Runde und ließ ihre Gedanken kreisen. Sie erinnerte sich eindringlich an die Situation, als Alexander Bohn, damals vierzig Jahre alt, beim Besuch der Kommissare, die die Todesnachricht überbrachten, in seinem Haus auf dem Sofa gesessen und seine drei Kinder um sich geschart hatte. Der Älteste, Richard, war damals sechzehn Jahre alt gewesen – er hatte sich in einen Sessel verkrochen und die Arme um seinen Oberkörper geschlungen –, Anna zwölf und Meike neun. Der Mann war bleich gewesen, seine dunklen Augen hatten lange starr ins Leere geblickt, während er die beiden Töchter umklammert und an sich gezogen hatte. Die Jüngste hatte geweint, wahrscheinlich ohne zu begreifen, was geschehen war. Anna, ein zierliches Mädchen mit noch überwiegend kindlichen Zügen, hatte sich irgendwann dem Griff des Vaters entzogen und war ein Stück abgerückt.
»Irgendwas stimmt da nicht«, hatte der Ermittlungsleiter seinerzeit nach wenigen Tagen mit grüblerischer Miene festgestellt. »Hier passt eines nicht zum anderen, aber die Fakten sprechen eine klare Sprache. Das ist einer dieser Fälle, bei denen wir einfach nicht weiterkommen. Keine Spuren, keine Beweise, lediglich einige nachdenkliche Fragen und Schlussfolgerungen. Und doch habe ich ein mulmiges Gefühl, das sich nur schwer ignorieren lässt.«
So ähnlich hatte Friedmann sich auch geäußert.
Als Emma nach einer guten Stunde durchgefroren nach Hause zurückkehrte – das Haar voller Salzgeruch und im Ohr noch den Schrei der immer hungrigen Möwen –, hatte Friedmann ihr von einem privaten Account Kopien der Ermittlungsakte geschickt. Zu den beteiligten Personen aus dem Familien- und Freundeskreis gab es ihrer Ansicht nach lediglich magere Hintergrundinformationen, was ohne weitergehenden Ermittlungsbeschluss nicht verwunderte. Um an der Stelle weiterzukommen, waren Nachforschungen nötig. Emma war keine Spezialistin, was Netzrecherche anging, und es würde Tage dauern, wenn sie sich auf die übliche Weise durch die Liste der Namen aus Annas gesamtem Umfeld arbeiten würde. Ein Exkollege aus Dresdner Zeiten, der sie in solchen Fällen häufig unterstützte, besuchte zurzeit eine Fortbildung und fiel bedauerlicherweise aus.
»Frag doch mal Padorn«, schlug Christoph vor, als er am frühen Abend nach Hause kam und sie ihm von Friedmanns Anliegen berichtet hatte. »Der findet entscheidende Sachen zehnmal so schnell wie du und ich.«
»Wahrscheinlich noch schneller. Außerdem kennt er jede Menge Tricks. Aber es gibt kein Honorar, im Moment zumindest nicht. Und so dicke hat er es auch nicht, dass er aus Lust und Laune mitmachen kann.«
»Überlass ihm doch die Entscheidung. Und falls ein Fall daraus wird, kannst du ihn beteiligen.« Christoph stand auf und holte sich ein Bier. »Außerdem seid ihr doch jetzt fast so etwas wie Freunde.« Er lächelte und schüttelte dann den Kopf. »Möchte bloß mal wissen, warum ihr euch immer so angezickt habt.«
Möchtest du nicht, dachte Emma und lächelte unschuldig zurück. Sie hatte im Laufe einer Ermittlung eine brisante Geschichte in der Vergangenheit seines besten Freundes enthüllt, aber zwischen Padorn und ihr herrschte die stillschweigende Übereinkunft, dass das Ganze verjährt war und sie ihre Klappe halten würde.
»Die Idee ist gut«, meinte sie schließlich. »Und ich schaue mir morgen gleich mal den Exfreund an.«
Oliver Lärch war sechsundzwanzig und damit acht Jahre älter als Anna, was zumindest in dieser Lebensphase ein erheblicher Altersunterschied war – selbst wenn man berücksichtigte, dass junge Frauen im Allgemeinen reifer waren als gleichaltrige Männer. Zurzeit jobbte er in einem Imbiss am Hafen. Auf die Schnelle hatte Emma herausgefunden, dass der Exfreund in den letzten Jahren nach zwei Studienabbrüchen durchgehend Aushilfsjobs vorwiegend in der Gastronomie und Touristikbranche angenommen hatte. Andere Details würde vielleicht Padorn bald liefern können, der ohne Zögern seine Unterstützung zugesagt hatte. Emma würde gerne in Erfahrung bringen, was eine strebsame und artige Oberstufenschülerin mit einem deutlich älteren Studienabbrecher verbunden hatte.
Am Vormittag eines kühlen Frühlingstages war noch nicht allzu viel los; als Emma am Hafen entlangschlenderte und schließlich den Imbiss betrat und ein Fischbrötchen bestellte, war sie die einzige Kundin. Lärch war attraktiv – blaue Augen, dunkelblond, schlank. Er setzte ein charmantes Lächeln auf. »Kaffee dazu? Oder ein anderes Getränk?« Er zwinkerte und sah kurz zur Uhr. »Bisschen früh für härtere Sachen, aber manchmal …«
»Nein, danke, das Brötchen reicht mir.«
Sie blieb am Tresen stehen, nahm einen herzhaften Bissen und nickte anerkennend. Lärch machte Anstalten, in die Küche zu gehen.
»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Er wandte sich wieder um. »Sind Sie Touristin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht um Anna.«
Er sah sie verdutzt an und schluckte. »Sie sind von der Polizei?«
»So ähnlich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich ermittle privat und manchmal auch im Auftrag polizeilicher Dienststellen.« Sie zückte ihren Ausweis mit dem BKA-Emblem, obwohl sie – genau genommen – unter den gegebenen Umständen nicht die geringste Befugnis hatte. Doch zum einen entsprach ihre Erklärung der Wahrheit, und zum anderen hätte Friedmann sicher die richtige Antwort parat, falls Lärch sich beschweren oder in der Wismarer Dienststelle nachfragen würde.
»Bundeskriminalamt?« Er wirkte unsicher. »Ich habe schon ausgesagt und außerdem … Es war ein Unfall, oder?«
»Was denken Sie?«
Lärch machte eine unbestimmte Geste und warf einen kurzen Blick zur Tür. Neue Kundschaft war nicht in Sicht. »Ich weiß nur, dass Anna vom Balkon gefallen ist, weil sie eine Menge Zeug geschluckt hatte. So heißt es zumindest.«
»Aber Anna und Drogen – das passt nicht zusammen, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, eher nicht.«
»Der Cocktail, den sie intus hatte, war beachtlich – so was nimmt man nicht aus Versehen zu sich.«
»Nein? Na ja … wenn sich jemand auskennt …« Er biss sich auf die Unterlippe.
Emma behielt ihn im Blick. »Verstehe. Können Sie sich vorstellen, wer einen Grund gehabt haben könnte, Anna mit Drogen vollzupumpen und einen Unfall womöglich zu provozieren?«
»Natürlich nicht!« Er starrte sie entsetzt an. »Sind Sie deshalb hier – weil Anna übel mitgespielt wurde?«
»Das ist ein naheliegender Gedanke, finden Sie nicht? Man sollte ihn zumindest nicht ausschließen – nicht bei einer jungen Frau, die nie Drogen nahm, soweit wir wissen, und nur eines im Sinn hatte: ein gutes Abi hinzulegen.«
Er atmete tief durch. »Anna hatte keine Feinde.«
»Das wissen Sie genau?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wir waren zwar nicht lange zusammen, aber …«
»Wie lange?«
»Ungefähr sechs Monate – im letzten Sommer sind wir zusammengekommen, Ende des Jahres war dann Schluss. In einem halben Jahr lernt man sich ganz gut kennen.«
»Wirklich?«
»Ich denke schon. Auf jeden Fall hätte ich doch mitgekriegt, wenn sie mit jemandem Zoff gehabt hätte oder so was in der Art.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Vielleicht ist in den letzten Wochen etwas geschehen, was Sie gar nicht mehr mitgekriegt haben können.«
Er zuckte mit den Achseln. »Dazu kann ich Ihnen dann aber auch nichts sagen. Doch wie gesagt – sie ist nicht der Typ, der sich Feinde gemacht hat.« Er ließ die Arme sinken, kratzte sich im Nacken und trat von einem Bein aufs andere.
Er ist nervös, überlegte Emma. Warum eigentlich?
»Ich habe in der Küche noch einiges zu tun. Also, wenn Sie …«
»Warum war eigentlich Schluss?«
»Muss ich dazu was sagen?«
»Nein, das müssen Sie nicht.«
Er kniff die Lippen zusammen. »Schickt Sie der Vater von Anna?«
»Warum sollte er?«
Er zuckte mit den Achseln. »Der will immer alles ganz genau wissen. Und unsere Beziehung hat ihn gestört. Ich war ihm nicht gut genug für seine …« Er winkte ab. »Ist ja auch egal.«
»Sie sind seit einigen Monaten kein Paar mehr, warum sollte er mich ausgerechnet jetzt schicken?«
»Keine Ahnung. Aber mehr sag ich jetzt nicht mehr.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Emma aß in aller Seelenruhe ihr Fischbrötchen auf, während Lärch ihr mit zusammengezogenen Brauen jeden Bissen in den Mund zählte und unübersehbar erleichtert war, als sie den Laden verließ. Sie ging hundert Meter weiter und setzte sich auf eine Bank. Seine Exfreundin war auf tragische Weise ums Leben gekommen. Die Beziehung lag nicht viele Jahre, sondern lediglich einige Monate zurück. Warum reagierte Lärch nervös und dezent unwirsch? Es hatte schon vorher Probleme mit Alexander Bohn gegeben. Er hatte die Beziehung mit Argwohn betrachtet – seine zielstrebige fleißige Tochter sollte sich nicht mit einem Studienabbrecher abgeben. Es steckte mehr oder auch etwas anderes dahinter, und Lärch hatte etwas zu verbergen. Emma kaute eine Weile auf den Gedanken herum und machte sich schließlich auf den Heimweg.
Zwei Stunden später rief Padorn an und bestätigte ihren Eindruck. »Lärch ist ein ziemlich bunter Vogel. Postet viele Fotos von Events und Partys, fährt einen schicken Wagen, und ich gehe jede Wette ein, dass er diesen Lebensstil nicht durch einen Aushilfsjob finanzieren kann. Fischbrötchen verkaufen bringt nicht so viel ein, oder? Haben die Wismarer Kollegen da nicht genauer nachgehakt?«
»Es besteht kein Anlass – noch nicht. Vielleicht unterstützt ihn jemand. Und solange wir keinen Grund finden …«
»Den wirst du finden«, unterbrach Padorn sie. »Behaltet den Imbiss und Lärch mal ein paar Tage im Blick, und ich wette, dass da auch Kundschaft auftaucht, die weniger wild auf Hering ist als auf bunte Pillen oder was auch immer.«
Damit hätte Friedmann dann einen Grund weiterzuermitteln, dachte Emma.
»Noch einen Tipp gefällig?«
»Immer.«
»Falls sich der Verdacht bestätigt, könnte sich Christoph mal als Kunde für besondere Fischhappen tarnen.«
Emma nickte nachdenklich. »Du tippst auf die Zusammensetzung und einen Abgleich mit den Drogen, die Anna im Blut hatte?«
»So in etwa.«
»Gute Idee, Padorn.« Oder man hängt sich an einen Kunden ran, überlegte Emma weiter.
»Weiß ich.«
»Und die anderen Namen auf der Liste …«
»Sind als Nächstes dran, aber ich brauche etwas Zeit. Hab ja auch noch einen anderen Job.«
»Das ist mir klar, wie gesagt – sobald ein Honorar winkt, bist du mit von der Partie.«
»Das klingt gut.«
Emma und Christoph behielten Lärch wechselweise im Blick. Der Imbiss war über den Tag mäßig gut besucht, aber in den späten Nachmittags- und Abendstunden florierte das Geschäft. Gleichzeitig bemühte Emma sich, Kontakt zu Annas Familie aufzunehmen – ohne Erfolg. Die Bohns hatten sich komplett zurückgezogen; der älteste Bruder Richard besuchte zurzeit keine Vorlesungen, und Meike war vom Schulunterricht befreit, Vater Alexander hatte Urlaub eingereicht, wie Emma auf Nachfrage in seiner Firma erfuhr, und seine Frau, die als Diplombuchhalterin zu Hause arbeitete, war auch für niemanden zu sprechen. Das war verständlich, nachvollziehbar und wirkte doch, ja – auffallend rigoros.
Vor sechs Jahren hatte Alexander Bohn ähnlich konsequent reagiert. Seinerzeit hatte ihm ein Anwalt geraten, sich nirgendwo ohne seine Anwesenheit zu äußern – weder vor der Presse noch bei der Polizei –, und er hatte sich hundertprozentig an die Vorgabe gehalten, wie Emma sich erinnerte. Und kaum hatte sich seinerzeit der erste Aufruhr gelegt, war er in den Alltag zurückgekehrt und hatte sich wenig später auf den Weg nach Wismar gemacht. Ein Neuanfang nach einem Drama. Eine Flucht vor alten Geistern. Geister lassen sich nicht beirren – über einen Umzug lachen sie nur.
Drei Tage nach dem ersten Besuch am Imbiss hatte Emma Christoph am frühen Abend abgelöst, als wenig später ein Lieferwagen vorfuhr, der ihr sofort auffiel. Es handelte sich nicht um dasselbe Fahrzeug, das an den anderen Tagen Ware geliefert hatte, wie Emma im Abgleich mit den Fotos feststellte; auch der Fahrer war ein anderer. Er trug einige Kisten in den Imbiss, plauderte kurz mit Lärch und machte sich wieder auf den Weg. Emma fotografierte das Nummernschild. Einen Moment lang überlegte sie, dem Wagen zu folgen, dann entschied sie sich dagegen.
Eine knappe Stunde später, als es gerade empfindlich kalt wurde, beobachtete sie einen Mann, der sich mehrfach betont unauffällig umsah, bevor er den Laden betrat. Emma verließ ihren Posten und schlich im Schutz der einbrechenden Dunkelheit näher heran. Der Kunde – Mitte zwanzig, korpulent, Jeans und Lederjacke – verschwand nach kurzer Begrüßung in Lärchs Küche. Drei Minuten später verließ er den Imbiss wieder – mit tief in den Taschen versengten Händen und ohne Fischbrötchen.
Emma heftete sich an seine Fersen, schickte Friedmann eine Nachricht und ihren Live-Standort. Der Mann lief die Ulmenstraße hinunter bis zur Spielothek, wo sein Wagen auf dem Parkplatz stand – Lübecker Kennzeichen. Er zückte seinen Autoschlüssel, und Emma überlegte gerade, wie sie ihn aufhalten könnte, als Friedmann um die Ecke bog und sein Fahrzeug so parkte, dass die Ausfahrt versperrt wurde. Emma nickte ihm zu.
Der Mann mit der Lederjacke drehte sich um und sah irritiert von einem zum anderen, als Friedmann ausstieg und auf ihn zuging. »Augenblick, bitte. Ich würde gerne mal Ihren Ausweis sehen.«
»Wie jetzt?« Er zog die Hände aus den Taschen, warf Emma einen raschen Blick zu und holte tief Luft.
»Ihren Personalausweis, bitte«, wiederholte Friedmann.
Der Mann griff in die Innentasche seiner Jacke und zog sie wieder heraus. »Hab ich wohl vergessen.«
»Dann muss ich Sie bitten, mich auf die Dienststelle zu begleiten.«
»Was soll der Scheiß?«
»Personenkontrolle.«
»Dazu haben Sie kein Recht.«
»Doch, habe ich.«
»Sie müssen mir einen Grund nennen.«
Emma behielt den Typen scharf im Auge. Ihrer Ansicht nach überlegte er, ob er es wagen sollte, einfach abzuhauen. Sie war durchaus fit genug, die Verfolgung aufzunehmen, Friedmann dürfte mehr Mühe haben. Die Frage war nur, ob sie allein – und natürlich unbewaffnet – in der Lage war, ihn zu überwältigen. Christoph schätzte ihre Zweikampf- und Verteidigungsfähigkeiten als durchaus ausbaufähig ein, besser gesagt: wenig überzeugend, aber das wusste ja der Typ nicht.
Sie ging zwei Schritte näher. »Sie haben gerade im Fischimbiss am Hafen eingekauft«, meinte sie in beiläufigem Ton und warf ihm einen gespielt gelangweilten Blick zu.
Er starrte sie verdutzt an. »Ist das etwa verboten? Dann hätten Sie ja viel zu tun.« Er versuchte es mit einem Grinsen.
Sie zog eine Braue hoch. »Lassen Sie doch das Theater.« Sie streckte die Hand aus. »Ich habe den Laden schon eine Weile im Blick. Wir wissen doch beide, was da abgeht.«
Er atmete tief durch und musterte sie eine Weile finster. »Habt ihr eigentlich nichts Wichtigeres zu tun? Mein Gott, ja, ich habe mir ein paar Pillen besorgt, um es mir auf einer Party gut gehen zu lassen.« Er zog ein Tütchen aus seiner Tasche. »Eigenbedarf.«
»Darüber reden wir auf der Dienststelle«, erklärte Friedmann.
»Sie wollen mich wegen ein paar Pillen mitnehmen?«
Friedmann seufzte. »So ist es.«
Bei Lärchs Kunden handelte es sich um Rolf Kulmer aus Lübeck, von Beruf Eventmanager. Was er als Eigenbedarf bezeichnet hatte, entpuppte sich als bunter Mix für die unterschiedlichsten Anlässe – zum Entspannen, Abschalten und Aufmuntern, wie er eilig erläutert hatte. Eine bemerkenswert oberflächliche Darstellung, denn darunter befanden sich auch sogenannte K.-o.-Tropfen sowie Speed und Ecstasy. Und Kulmer hatte nicht nur ein einzelnes Tütchen dabei, sondern ungefähr die zehnfache Menge in den weiten Taschen seiner Jacke verstaut – mit Eigenbedarf hatte das nicht mehr viel zu tun.
Beim Abgleich mit der Zusammensetzung der Substanzen, die in Annas Blut nachgewiesen wurde, stellte sich bei einer Schnellanalyse eine hohe Übereinstimmung heraus, wie Friedmann am nächsten Tag telefonisch berichtete.
»Anna könnte sich demnach auch bei Lärch etwas besorgt haben«, überlegte Emma. »Oder …«
»Er hat ihr was untergejubelt.«
»Ohne zu ahnen, was passieren könnte?«
»Nun, das werden wir herausfinden. In jedem Fall habe ich jetzt etwas in der Hand, um weiterzuermitteln. Lärch sitzt bereits nebenan, dieser Kulmer ebenfalls. Wir haben ihn über Nacht in Gewahrsam genommen – Flucht- und Verdunklungsgefahr. Er beliefert offenbar ein paar Klubs in Lübeck und Umgebung, die Kollegen dort kümmern sich um weitere Einzelheiten. Ich bin gespannt, wie die beiden sich äußern.« Er klang zufrieden.
War das die Spur, nach der Friedmann gesucht hatte? Möglich. Sie könnte immerhin den Hintergrund von Annas Tod erhellen. Und was war mit dem Mord an ihrer Mutter? Womöglich hatte das eine mit dem anderen doch nicht das Geringste zu tun. »Hältst du mich auf dem Laufenden?«
»Was ist denn das für eine Frage? Komm vorbei und sieh dir die Befragungen an – wir wissen ja noch gar nicht, was das Ganze tatsächlich zu bedeuten hat und ob es einen Zusammenhang mit Anna Bohns Tod gibt, der alle Fragen hinreichend beantwortet.«
»Und in welcher Eigenschaft? Ich bin da ja sonst nicht so pingelig, wenn es spannende Fragen zu klären gibt, aber in …«
»Ich weiß.« Friedmanns Stimme klang nach einem breiten Lächeln. »Deine BKA-Chefin möchte es möglicherweise auch etwas genauer wissen, falls die Geschichte Fahrt aufnimmt.«
»Nicht auszuschließen.«
»Nun, ich betrachte dich als externe Ermittlerin, die bei diesem oder jenem Fall mit von der Partie ist, und zwar auf eher unbürokratische Weise. Jetzt haben wir einen Fall, und sei es lediglich eine Drogensache. Außerdem bin ich hier der Chef.« Das klang selbstbewusst.
Emma lächelte.
»Du hast hier längst einen guten Ruf«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Meine Dienststelle ist von überschaubarer Größe. Wir sind nicht immer gegen alles gewappnet, wie du weißt, aber dafür reden uns auch nicht fünf Staatsanwälte und Polizeidirektoren in die tägliche Arbeit rein, von irgendwelchen Spezialisten ganz zu schweigen. Und wann ich die Kollegen aus Schwerin einschalte, liegt in meinem Ermessensspielraum. Außerdem kennen die dich ja inzwischen auch.«
Friedmanns Pragmatismus vereinfachte manches, wie Emma bereits mehrfach erfahren hatte. Darüber wirkte er überaus erleichtert, den Fall nicht einfach zu den Akten legen zu müssen. Sie lächelte. »Alles klar. Ich bin unterwegs, Chef.«
Als sie in der Dienststelle eintraf und ihren Platz im Nebenzimmer einnahm, hatte sich Friedmann gerade zu Lärch gesetzt. Der attraktive Imbissverkäufer wirkte angeschlagen. Friedmann legte seine Hände auf den Tisch – große, starke Hände mit Prankencharakter. Lärch warf einen Blick darauf und richtete sich auf. Er sah Friedmann abwartend an. Der gähnte, öffnete die Akte, in der einige lose Blätter, Berichte, Auflistungen und Fotos lagen, sah sich die Dokumente an und verlor kein einziges Wort. Emma lächelte.
Lärch schüttelte den Kopf. »Können wir bald mal anfangen?« Seine Stimme klang nervös und unwirsch zugleich.
»Haben Sie noch was vor heute?«
Lärch atmete tief aus. »Ich habe längst zugegeben, dass ich manchmal Pillen verticke. Mehr sage ich nicht.«
»Das ist schade. Sie könnten Ihre Situation erheblich bessern, indem Sie uns Ihre Kontakte …«
»Vergessen Sie es.« Lärch winkte ab. »Ich liefere Ihnen weder Namen noch …«
»Den Lübecker haben wir ja schon. Über ihn lässt sich dann die Ermittlung beträchtlich ausweiten. Ich denke, es geht um einiges mehr – harmloses Pillenverticken? Wohl kaum.«
Lärch zuckte mit den Achseln, aber die Lässigkeit nahm Emma ihm nicht ab. Er war aufgeflogen mit seinem Drogenumschlagsplatz, der ihm seit geraumer Zeit ein beträchtliches Zubrot beschert hatte, und saß zum ersten Mal in einer Vernehmung. Dafür hielt er sich ganz wacker. Allerdings wusste er noch gar nicht, dass es nicht allein darum ging.
»Na schön.« Friedmann gähnte. »Ich schätze, dass das Drogendezernat den Fall in Kürze übernehmen wird – da ist dann das LKA zuständig, und wir liefern hier vor Ort lediglich die regionalen Details.«
»Aha.«
»Wie ich das sehe, müssen Sie ohnehin mit U-Haft rechnen.«
Lärch blinzelte. »Sie machen wohl Witze.«
»Selten. Ich bin nicht unbedingt der Humortyp.« Friedmann gähnte erneut, plötzlich schärfte er den Blick. »Was glauben Sie eigentlich, worüber wir hier reden? Ein paar Partydrogen unter die Leute bringen, das kann doch nicht so ein großes Drama sein? Geht Ihnen so was durch den Kopf?«
Lärch schluckte.
»Vergessen Sie es! Sie verdienen schon seit geraumer Zeit kräftig an diesem Zusatzgeschäft – oder besser gesagt: Hauptgeschäft. Der Job im Imbiss fungiert als Tarnung – gar nicht mal schlecht, die Idee. Aber wenn man gleichzeitig mit seinem Lebensstil herumprotzt, muss man sich nicht wundern, wenn die Polizei hellhörig wird. Welcher Fischbrötchenverkäufer kann sich den Wagen leisten, mit dem Sie durch die Gegend kurven?«
Lärch sah zur Seite.
»Letztlich können wir froh sein, dass die meisten Menschen und damit auch Kriminelle eitel und selbstgefällig sind und auf diese Weise selbst die nötigen Beweise liefern.« Friedmann machte eine Pause. Dann zog er ein Foto aus dem Hefter.
Emma reckte den Hals, viel erkennen konnte sie nicht – doch als Lärch zurückzuckte, war nicht unschwer zu erraten, womit Friedmann ihn konfrontierte. »Was soll das denn jetzt?«
»Das ist Ihre Exfreundin, kurz nachdem sie vom Balkon gestürzt war.«
Lärch war bleich geworden.
»Sie hatte Drogen konsumiert.«
»Das weiß ich doch längst. Was …«
»Wissen Sie auch, dass die Zusammensetzung so ziemlich genau dem Zeug entspricht, das Sie verkaufen?«
Lärch lehnte sich langsam zurück. »Anna hat keine Drogen genommen, und wenn ihr jemand was untergejubelt hat, war ich es ganz bestimmt nicht«, entgegnete er leise. »Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Alle möglichen Leute kaufen bei mir, die meisten kenne ich nur mit Vornamen. Jeder hätte sich was bei mir besorgen können.«
Da war was dran, dachte Emma.
»Tja, wie soll ich das mal sagen – Ihre Aussage allein hilft in diesem Moment nicht weiter«, meinte Friedmann. »Sehen wir uns doch mal Ihr Alibi an. Wo waren Sie am vorletzten Wochenende – speziell am Samstagabend und in der Nacht?«
Lärch überlegte nur kurz. »Ich war mit Freunden unterwegs. Wir haben uns ein Handballspiel angesehen und danach ein bisschen gefeiert.«
»Wo?«
»In Lübeck. Wir haben bei einem Freund übernachtet.«
Friedmann zog eine Braue hoch. »Der Lübecker, der nebenan auf seine Vernehmung wartet, eignet sich nur bedingt als überzeugender Alibigeber, sofern er der Einzige ist. Warum, muss ich wohl kaum näher erläutern. Das brauche ich deutlich konkreter.«
»Wir waren zu fünft unterwegs. Ich habe sogar noch die Eintrittskarte von dem Spiel.«
Friedmann musterte ihn mit unschlüssiger Miene. Emma konnte sich gut vorstellen, was in ihm vorging. Falls sich die Angaben bestätigten und sich auch bei weiteren Überprüfungen in Lärchs Umfeld keine Übereinstimmung ergab, dürfte die Spur ins Leere führen, und Lärch war aus der Sache raus.
»Lassen Sie uns noch mal über Ihre Zeit mit Anna reden«, ergriff Friedmann einen Moment später wieder das Wort.
»Was gibt es da noch zu reden? Ich habe schon erklärt, dass wir ein halbes Jahr zusammen waren und Ende des Jahres Schluss war. Noch einmal: Mit Annas Tod habe ich nichts zu tun.«
»Ihr Vater war nicht so begeistert von Ihnen, wie ich hörte?«
Lärch zuckte mit den Achseln. »Nein, war er nicht. Ich bin etliche Jahre älter und sicherlich nicht der Schwiegersohntyp, den Väter sich für ihre Töchter erträumen. Darüber hinaus … Ist ja auch egal.«
»Vielleicht nicht. Erzählen Sie doch mal ein bisschen, was da so los war.«
Lärch warf Friedmann einen langen Blick zu und winkte dann ab. »Kalter Kaffee.«
Friedmann sah plötzlich hoch in Richtung der verspiegelten Scheibe und deutete ein Nicken an. »Das finden wir nicht.«
Emma war froh über das Stichwort und betrat einen Augenblick später den Verhörraum.
»Ach Sie«, kommentierte Lärch. Begeistert klang das nicht, aber Begeisterung war angesichts seiner Situation ohnehin ziemlich fehl am Platz.
Emma rückte den Stuhl zurecht. »Zugegeben – ich habe Ihren Laden im Blick behalten und mitbekommen, was da läuft.«
Lärch hob den Daumen und lächelte sarkastisch. »Gratuliere.«
»Hätten wir das geklärt. Lassen Sie uns doch mal ein wenig über den kalten Kaffee reden.«
Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Warum interessieren Sie sich für diese belanglose Beziehungskiste?«
Emma wusste, dass es nicht ratsam war, einen Typen wie Lärch in Ermittlungsfragen einzuweihen, die bislang nur Friedmann und sie beschäftigten und sich bei entsprechender Verbreitung zu einem unangenehmen Bumerang entwickeln könnten. Andererseits würde er ohne jeglichen Anlass kaum in Plauderlaune geraten.
»Es geht weniger um die Beziehungskiste«, erklärte sie schließlich. »Sie waren nicht lange mit Anna zusammen, haben die Bohns aber näher kennengelernt. Halten Sie es für möglich, dass jemand aus der Familie Drogen nahm?«
Lärch hob beide Brauen. »Im Leben nicht«, entgegnete er sofort. »Und näher kennengelernt ist ziemlich schwammig. Ich war selten dort. Wir haben uns meist bei mir getroffen.«
»Verstehe. Aber Annas Vater hat Sie abgelehnt – das bedeutet ja wohl, dass er Sie kennengelernt hatte, oder war er grundsätzlich misstrauisch, was die Freunde seiner Kinder anging?«
»Interessante Frage.« Lärch blickte auf seine Hände und dann wieder hoch. »In meinem Fall brauchte es nicht allzu viel.«
So kommen wir nicht weiter, dachte Emma. Was hatte ein Typ wie Lärch von Anna gewollt? Was hatte er zu finden gehofft? Unwichtig – für den Moment jedenfalls. Sie tauschte einen kurzen Seitenblick mit Friedmann. »Der Rechtsmediziner hat Verletzungen festgestellt, die nicht mit dem tödlichen Sturz zusammenhängen«, sagte sie dann. »Kampfsport oder dergleichen hat sie nicht betrieben, wie wir wissen, ein anderer kleinerer Unfall ist auch nicht passiert. Haben Sie irgendeine Ahnung, woher die stammen könnten?«
Lärch schüttelte verdutzt den Kopf. »Was für Verletzungen?«
Emma hob die Achseln. »Das ist die Frage.«
»Und wie kommen Sie darauf, dass ich etwas darüber wissen könnte? Ich hatte keinen Kontakt mehr zu Anna – wie oft soll ich das denn noch betonen?«
»Nun, einen Versuch ist es wert, denn Freunde können uns nichts dazu sagen, und die Familie ist nicht gerade sehr gesprächig«, meinte Emma. »Haben Sie eine Ahnung, warum die Bohns derart zurückhaltend reagieren? Niemand ist bereit, ausführlicher mit der Polizei zu sprechen.«
»Das wundert mich nicht.«
Jetzt wird es vielleicht etwas interessanter, dachte Emma. »Geht das genauer?«
»Die sind so – wenig gesprächig.« Lärch verzog den Mund. »Um ehrlich zu sein, habe ich mich dort nie besonders wohlgefühlt. Die waren wie eine Festung, undurchdringlich, kühl, ein wenig steif …« Er lächelte verlegen. »Klingt etwas merkwürdig, das ist mir schon klar, aber mir fällt gerade keine andere Beschreibung ein. Und Anna war bei sich zu Hause immer ganz anders drauf, als wenn wir alleine waren. Irgendwie verschlossen, ernst. So etwas in der Art. Und ihre Geschwister wirkten ganz ähnlich.«
»Haben Sie Anna mal darauf angesprochen?«
Lärch nickte. »Sie meinte, dass sie es nicht anders kennt, aber seit dem Tod ihrer Mutter würden ihr Vater und auch seine zweite Frau ganz besonderen Wert auf familiären Zusammenhalt legen. Außerdem stehen bei denen Zuverlässigkeit und Disziplin hoch im Kurs. So oder so ähnlich drückte sie es aus.« Er hob die Hände. »Klingt merkwürdig, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, oder?«
Emma deutete ein Nicken an und wartete ab.
»Die Sache mit der Disziplin erschloss sich auf den ersten Blick, aber was hat dieses steife Getue mit Zusammenhalt zu tun? Offenheit und entspannte Atmosphäre sprechen doch nicht dagegen, oder?« Er zuckte mit den Achseln. »Für mich jedenfalls nicht.«
»Haben Sie Anna mal darauf angesprochen?«
»Nö. War nicht mehr wichtig. Wenig später war ja Schluss, und dass der Alte mich ablehnte, war von der ersten Sekunde an zu spüren. Hat mich auch nicht weiter verwundert. Dem war es nur recht, dass ich mich dort nicht sonderlich wohlfühlte.«
»Hat Anna je über den Tod ihrer Mutter gesprochen?«
»Nicht wirklich. Sie antwortete lediglich mal auf meine Frage, dass sie bei einem Überfall getötet wurde und niemand in der Familie darüber spricht. Muss schrecklich gewesen sein.« Er zögerte kurz. »Das Thema war komplett tabu. Es gibt nicht mal ein Bild von ihr.«
Emma sah ihn fragend an.
»Auf dem Kaminsims stehen Porträtfotos von der Familie – die Mutter ist nicht dabei. Finde ich seltsam, egal, wie sie ums Leben kam.«