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Linda Sventon und ihr Team haben diesmal einen äußerst kniffligen Fall zu lösen. Die schwangere Ehefrau und die beiden gemeinsamen Töchter von Aron Gunnarsson sind spurlos verschwunden und ein Rennen gegen die Zeit beginnt. Die Indizien verstärken sich, dass der Ehemann nicht ganz unschuldig an dieser Situation ist, doch er hüllt sich in Schweigen. Ein grausiger Fund lenkt die Ermittler in die richtige Richtung. Dennoch sinkt die Hoffnung, die Familienmitglieder rechtzeitig lebend zu finden, denn sämtliche Spuren verlaufen im Nichts. Obwohl das Team mit Hochdruck am Fall arbeitet, scheint die Lage aussichtslos zu sein.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Anmerkung
Protagonisten
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Nachwort
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Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Aron fuhr wie jeden Morgen die Einfahrt hinunter, die zu einem schmucken Einfamilienhaus gehörte. Der Neubau, der vor zwei Jahren errichtet worden war, verfügte über viel Platz und Wohnkomfort, wie man ihn sich nur erträumen konnte. Auch der großzügige Garten hinter dem Haus ließ keine Wünsche offen und war der ideale Platz für Kinder zum Toben.
Die Kinder.
Zwei Mädchen, fünf und sieben Jahre alt, und das dritte Kind, ein Junge, bereits unterwegs. Lilja hatte ihn vor zwei Monaten mit dieser freudigen Nachricht überrascht und sein größter Wunsch würde nun in Erfüllung gehen. Alles war perfekt, beinahe zu perfekt, denn hinter der Fassade brodelte es gewaltig.
Lilja war eine willensstarke und zielstrebige Frau, und genau aus diesen Gründen hatte er sich sofort in sie verliebt. Sehr zum Ärgernis seiner Eltern, die Lilja nicht für gut genug befanden. Dabei war seine Frau eine Kämpfernatur par excellence. Lilja hatte eine schwere Krankheit besiegt, und obwohl es danach hieß, dass sie keine Kinder mehr bekommen könne, war sie tatsächlich schwanger geworden.
Ihr war es auch zu verdanken, dass sie sich dieses großzügige Anwesen überhaupt hatten leisten können. Voller Ehrgeiz hatte sie sich in jungen Jahren die ersten eigenen vier Wände allein erwirtschaftet, eine großartige Leistung in seinen Augen, damals jedenfalls …
Heute ging ihm Liljas Charakterstärke gehörig auf den Geist. Sie bestimmte in der Beziehung, wo es langging, und duldete nur selten Widerspruch. Ja, sie hatte ihr Leben gut im Griff, ging sogar arbeiten, trotz Kinder, Haus und Schwangerschaft. Aber er fühlte sich eingeengt, mit jedem Tag mehr. Das Gekreische der Mädchen, die endlosen Diskussionen, was als Nächstes angeschafft werden sollte und, und, und …
Er hatte das Gefühl, zwischen dem ganzen Trouble auf der Strecke geblieben zu sein. Natürlich wollte Lilja noch Sex, ganz besonders während der Schwangerschaft, aber er verspürte keine Lust mehr auf sie und verweigerte sich ihr sogar.
Hätte er damals doch nur auf seine Eltern gehört, jetzt saß er in der Falle. Lilja stand mit seiner Mutter auf Kriegsfuß, es kam ständig zu Streitereien zwischen den Frauen. Erst letztens waren wieder die Fetzen geflogen, weil seine Mutter Nora Nussplätzchen gegeben hatte. Lilja war regelrecht ausgeflippt, weil ihr kleines Mädchen auf Nüsse allergisch reagierte. Dabei hatte es seine Mutter bestimmt nicht absichtlich getan.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus, setzte den Blinker und bog auf die Schnellstraße. Arbeiten, Familie, essen, schlafen. Wo zum Teufel blieb da der Spaß am Leben?
Früher war er eher der gemütliche Typ gewesen – ein paar Kilos zu viel und immer ein freundliches Lächeln im Gesicht. Aber irgendwann hatte er sich gefragt, ob das alles war, was da noch kommen würde, und hatte sein Leben komplett umgekrempelt.
Zuerst hatte er gejoggt, dann seine Ernährung umgestellt und sich schließlich im Keller eine Hantelbank aufgebaut, um regelmäßig zu trainieren. Das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen – ein durchtrainierter Kerl in den besten Jahren.
Aber er wollte mehr, wollte höher hinaus, wollte sich mit dem Erreichten nicht mehr zufriedengeben. Endlose Diskussionen standen mit Lilja auf der Tagesordnung und seine kleinen Töchter weinten, weil sich Mama und Papa ständig uneins waren. Und jetzt war auch noch ein drittes Kind unterwegs.
Wer hielt das auf Dauer schon aus? Er jedenfalls nicht.
Trotz allem hatte er Gewissensbisse, seine Familie zu verlassen. Die Leute würden sich das Maul über ihn zerreißen, dabei wollte er nur frei sein, frei wie der Wind. Er wusste, dass es Lilja auch allein schaffen würde, und genau dieser Umstand wurmte ihn am meisten. Die Männer drehten sich oft nach seiner Frau um, und selbst jetzt war dieser Gedanke unerträglich für ihn. Teilen kam für ihn auf gar keinen Fall infrage.
Er würde demzufolge eine Entscheidung treffen müssen, eine Entscheidung, die gut für ihn wäre. Und dann könnte er die Zukunft mit offenen Armen empfangen.
Finna drückte vergebens auf den Klingelknopf und horchte angestrengt. Doch aus dem Haus drang kein einziger Laut nach draußen. Kein fröhliches Gekicher der Mädchen, keine mahnende Stimme von Lilja. Nur der kleine Mischling der Familie hob ab und an seine Stimme, weil er sich anscheinend alleingelassen fühlte.
„Felix, ist ja gut“, beschwichtigte Finna ihn.
Verdammt, wo steckte Lilja nur? Dabei hatten sie sich zum Brunch verabredet.
Es war noch nie vorgekommen, dass ihre beste Freundin einen Termin vergessen oder nicht eingehalten hatte. Immer, wirklich immer hatte sie vorher abgesagt oder das Treffen verschoben.
Finna konnte den genauen Grund nicht benennen, aber sie spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu und ihre Hände zitterten leicht.
Abermals drückte sie auf den Klingelknopf, dann trommelte sie mit den Fäusten gegen die Tür.
„Lilja, alles okay?“
Nichts. Nur Felix echauffierte sich.
Finna zog ihr Smartphone aus der Hosentasche, um Aron, Liljas Ehemann, anzurufen.
„Hast du eine Ahnung, wo Lilja stecken könnte?“, fragte sie, als er endlich ans Telefon ging.
„Nein, warum?“ Aron klang ungewöhnlich distanziert.
„Weil wir verabredet waren und sie die Tür nicht öffnet. Das hat sie noch nie gemacht. Könnte sie mit den Mädchen zum Arzt gefahren sein?“
„Dann hätte sie mich informiert.“
„Aber …“
„Mach dir nicht so viele Gedanken, es wird wahrscheinlich einen ganz banalen Grund für ihr Fortbleiben geben.“
„Dass du so ruhig bleiben kannst“, wunderte sich Finna. „Ich möchte dich trotzdem bitten, herzukommen und die Tür aufzuschließen, ja?“
„Finna, ich kann hier nicht weg, das weißt du doch genau.“
„Jetzt hör mir mal zu …“, hob Finna ihre Stimme, doch Aron hatte das Gespräch bereits beendet. Ein derbes Schimpfwort lag ihr auf der Zunge, das sie widerwillig hinunterschluckte.
In ihrer Verzweiflung wählte sie die Nummer von Liljas Eltern. Vielleicht war Lilja im Krankenhaus, weil sich eine ihrer Töchter verletzt hatte. Alles war möglich und es musste einen triftigen Grund geben, davon war sie felsenfest überzeugt.
„Hej Ingrid, Finna hier. Ich war mit Lilja zum Frühstück verabredet, aber sie öffnet nicht die Tür. Ich hege mittlerweile die Befürchtung, dass etwas passiert sein könnte.“
„Lilja ist nicht da?“, wunderte sich auch Ingrid. „Sie wollte doch am Nachmittag mit Aron zum Ultraschall.“
„Eben“, bekräftigte Finna. „Ich entschuldige mich vorab, falls es falscher Alarm ist. Aber ich mache mir inzwischen wirklich große Sorgen.“
„Ich mir auch. Dass Lilja grundlos einen Termin vergisst, ist so gut wie noch nie vorgekommen. Sie kann manchmal sehr anstrengend sein, aber sie ist der zuverlässigste Mensch, den ich kenne.“
„Ingrid, was meinst du? Soll ich die Polizei verständigen? Oder willst du vorbeikommen und die Haustür aufschließen? Du hast doch einen Schlüssel, wenn ich mich nicht irre.“
„Natürlich habe ich einen Schlüssel, aber Anders ist nicht da, um mich zu fahren.“
„Mist“, fluchte Finna leise.
„Es wird das Beste sein, wenn du die Polizei informierst. Ich habe hier keine ruhige Minute mehr.“ Ingrid war den Tränen nahe.
„Alles klar. Ich melde mich wieder bei dir, sobald die Polizei im Haus gewesen ist.“
„Danke Finna, ich sehne deinen erlösenden Anruf förmlich herbei und wünsche mir, dass mit meiner Tochter und meinen Enkelchen alles in Ordnung ist.“
Umgehend wählte Finna den Notruf. Erst wurde sie vertröstet, bis sie ihrem Unmut lautstark Luft gemacht hatte, und die Frau am anderen Ende der Leitung versprach, einen Streifenwagen vorbeizuschicken.
Nervös lief Finna vor dem Haus auf und ab und beruhigte Felix, der in regelmäßigen Abständen wie ein Wahnsinniger kläffte. Ständig kontrollierte sie die Uhrzeit und wurde fast verrückt, weil mittlerweile schon fünfzehn kostbare Minuten sinnlos verstrichen waren.
Als endlich der Streifenwagen um die Ecke bog, fiel Finna eine tonnenschwere Last von den Schultern. Jetzt war sie mit ihrem Kummer nicht mehr allein.
„Hej“, grüßte der Mann in Uniform. „Gibt es einen Schlüssel zum Haus?“
„Nein. Liljas Ehemann kann nicht von der Arbeit weg“, antwortete sie.
„Das wird er aber müssen. Haben Sie seine Nummer?“
Finna nickte und nannte dem Beamten Arons Telefonnummer.
„Er wird gleich hier sein, um die Tür aufzuschließen“, sagte der Polizist, nachdem er Aron angerufen hatte.
Finna fuhr sich mit beiden Händen nervös durchs lange blonde Haar. Diese Warterei machte sie noch verrückt. Es dauerte geschlagene zwanzig Minuten, bis Aron endlich den Wagen vor dem Haus abstellte.
„Jetzt mach schon …“, drängte Finna voller Ungeduld und konnte nicht verstehen, dass Aron die Ruhe in Person war. Das Schlüsselbund klimperte leise, als Aron die Tür aufstieß.
„Lilja, Nora, Ella, seid ihr zu Hause?“, rief er.
Felix kam wie ein Wirbelwind angefegt und sprang an seinem Herrchen hoch. Doch Aron stieß ihn achtlos zur Seite.
„Lass das, nicht jetzt“, herrschte er den Mischling an.
Finna schob sich an Aron vorbei. Auch sie rief mehrmals den Namen ihrer besten Freundin, ohne eine Antwort zu erhalten.
„Ich möchte einen Blick in die Garage werfen“, sagte der ältere der beiden Polizisten und Aron kam bereitwillig seiner Aufforderung nach. „Ist das der Wagen Ihrer Frau?“
„Ja“, lautete Arons knappe Antwort.
„Seltsam, dass das Fahrzeug hier steht. Könnte Ihre Frau von jemandem abgeholt worden sein?“
Aron zuckte ratlos mit den Schultern. „Nicht, dass ich wüsste“, antwortete er.
„Ich muss die Vermutung der besorgten Freundin teilen, dass hier etwas nicht stimmen kann“, fuhr der Beamte fort.
„Nun ja …“, hob Aron zögerlich seine Stimme. „Lilja und ich hatten am Morgen einen heftigen Streit und sie hat mir angedroht, mich zu verlassen. Vielleicht wollte sie keine Spuren hinterlassen und hat sich ein Taxi genommen.“
„Das ist doch totaler Blödsinn“, schaltete sich Finna dazwischen.
„Warum?“, fuhr Aron sie an.
„Sie hat mich immer angetextet, sobald es wieder zwischen euch gekracht hat.“
Aron schnaubte. „Aber sonst geht es dir gut?“
„Nein, geht es mir nicht, weil Lilja spurlos verschwunden ist“, fauchte sie.
„Hatten Sie des Öfteren Streit“, hakte der Polizist nach.
„In letzter Zeit schon“, gestand Aron kleinlaut.
„Was war der Grund?“
Aron atmete tief durch und verbarg seine Hände in den Hosentaschen. Er war sichtlich nervös, so hatte Finna ihn noch nie erlebt.
„Ich bin überarbeitet und meine Frau ist zum dritten Mal schwanger. Da kommt wahrscheinlich eines zum anderen.“
„Aha“, kommentierte der Beamte kurz und dachte sich wohl seinen Teil.
„Liljas Tasche steht noch auf der Kommode“, rief Finna aus dem Schlafzimmer in Richtung Flur und riss anschließend die Schranktüren auf. Die Fächer quollen regelrecht über, es schien kein einziges Kleidungsstück zu fehlen und in den Kinderzimmern der Mädchen das gleiche Bild. Finna wusste, dass Ella ohne ihre Lieblingsdecke nirgendwo hingehen würde. Da war Zwergenterror vorprogrammiert.
„Es muss etwas passiert sein“, sagte sie, als sie die Treppe wieder nach unten lief. „Ellas Kuscheldecke ist noch da und es scheint kein einziges Kleidungsstück zu fehlen.“
„Schön, dass du den Überblick hast“, brummte Aron verstimmt und wippte unruhig auf und ab.
„Wir werden Verstärkung anfordern und die Nachbarn befragen. Vielleicht haben die etwas gesehen.“
Das Funkgerät knackte leise, als sich der Polizist an die Zentrale wandte.
Finnas Nacken kribbelte, so als würde sie jemand von hinten anstarren, und sie drehte sich ruckartig um.
„Lilja? Bist du da?“
Aron musterte sie skeptisch mit zusammengekniffenen Augen. „Ist etwas?“, fragte er.
„Ich weiß nicht“, murmelte Finna. „Mit einem Mal fühle ich mich so unwohl. Keine Ahnung, woran das liegen könnte.“
„Du machst dich nur unnötig verrückt“, sagte Aron. „Vielleicht klärt sich die Situation in ein paar Minuten auf und wir lachen am Ende darüber.“
„Das glaubst du doch selbst nicht“, zischte Finna. „Verdammt, du musst doch spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.“
Arons Worte wollten so gar nicht zu seinem momentanen Zustand passen. Ständig rieb er sich die Hände, wippte nervös auf und ab, während sein Blick hektisch durch den Raum geisterte. Er schien das reinste Nervenbündel zu sein.
„Ein Nachbar will uns sprechen“, wandte sich der Polizist an seinen Kollegen. „Würdest du hierbleiben?“ Mit einem unauffälligen Nicken deutete er in Arons Richtung.
„Klar.“
„Dürfte ich Sie begleiten“, bat Finna.
„Von mir aus“, erwiderte der Beamte und Finna folgte ihm nach nebenan.
Der Nachbar führte sie ins Wohnzimmer, wo ein überdimensionaler Flachbildfernseher die Geräuschkulisse dominierte. „Entschuldigung“, sagte er und schaltete das Gerät mit der Fernbedienung aus.
„Was gibt es denn?“, fragte der Polizist.
„Keine Ahnung, ob das wichtig für Sie ist, aber ich habe gestern eine Beobachtung gemacht“, sagte Lennard, der Nachbar.
Finna kannte ihn vom Sehen und nickte ihm zu.
„Dann schießen Sie los“, forderte der Beamte ihn auf.
„Also, Aron lässt seinen Wagen immer, und die Betonung liegt auf immer, an der Straße stehen. Ihm ist das viel zu umständlich, sich mit dem Geländewagen in das Nadelöhr von Einfahrt zu fädeln.“
„Und weiter?“
„Na ja, was soll ich sagen, ausgerechnet gestern ist er direkt bis ans Haus gefahren. Ich habe ihn wie immer gegrüßt, aber er hat so getan, als würde er mich nicht sehen. Sonst lässt er sich keinen Plausch entgehen.“
„Sie haben Kameras am Haus?“, fragte der Polizist.
Lennard nickte.
„Dürfte ich die Aufzeichnungen sehen?“
„Aber sicher doch.“ Lennard schaltete das Monstrum von Fernseher wieder ein und steuerte von seinem Smartphone aus die Aufnahmen. „Bitteschön.“
Leider war der Winkel der Kamera sehr ungünstig auf das Nachbarhaus gerichtet, aber man konnte immerhin erkennen, dass Aron den Kofferraum entweder be- oder entladen hatte.
„Schade, ich hatte mir mehr erhofft“, sagte der Beamte. „Meine Kollegen werden ein Backup der Aufnahme machen.“
„Kein Problem. Sie sollen einfach bei mir klingeln.“
„Sehr gut.“
„Ist dir noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Finna hing gebannt an seinen Lippen.
„Leider nein. Ich habe mich auch nur an die Aufnahme erinnert, weil ich dich so verzweifelt rufen gehört habe.“
„Es muss etwas passiert sein. Lilja würde niemals ihre Tasche vergessen oder den Wagen in der Garage stehen lassen, wenn sie mit den Mädchen irgendwohin wollte. Selbst die Schuhe ihrer Töchter stehen noch im Flur. Außerdem würde sie es mir sagen, falls sie sich von Aron getrennt hätte.“
„Ich kann nur hoffen, dass die anderen Nachbarn etwas bemerkt haben. Vielleicht löst sich der ganze Spuk recht bald auf.“
„Danke dir, Lennard.“
Mit hängenden Schultern kehrte Finna in Liljas Haus zurück und bedachte Aron mit einem giftigen Blick. Er war so anders als sonst, wirkte hypernervös und stand völlig neben sich. Allerdings schien sich seine Sorge wegen Lilja und der Kinder in Grenzen zu halten und Finna beschloss, zum Angriff überzugehen.
„Du kannst sagen, was du willst, aber ich glaube dir kein einziges Wort, wenn du behauptest, nichts von Liljas plötzlichem Abtauchen zu wissen. Sie würde niemals einen Ultraschaltermin sausen lassen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“
„Jetzt reiß dich mal zusammen, Finna“, zischte Aron ungehalten. „Ich bin in großer Sorge um Lilja und meine beiden Mädchen.“
„Klar, das merke ich. Erst die Polizei musste dich hierher zitieren, damit du die Haustür aufschließt.“
„Lass es gut sein.“
Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen und Finna erstarrte. Aron hatte sich total verändert, und das gewiss nicht zu seinem Vorteil. Aus dem gemütlichen Familienvater war ein muskulöses egomanes Kraftpaket geworden, der inzwischen mehr auf sein Äußeres als auf seine Kinder achtete.
Lilja hatte Finna in letzter Zeit sehr oft ihr Leid geklagt. Dass sie seit der Schwangerschaft keine Zärtlichkeiten mehr mit Aron austauschte, dass er sie beim Sex nicht nur einmal zurückgewiesen hatte. Dass die Mädchen schon bei Kleinigkeiten von ihm ausgeschimpft wurden. All das war ungefiltert auf Finna niedergeprasselt.
„… werden Leichenspürhunde anfordern …“
Finna hob ruckartig den Kopf und ihr Puls schnellte in die Höhe. Hatte der Beamte tatsächlich Leichenspürhunde gesagt?
„Wie … wie kommen Sie denn auf die Idee mit den Hunden?“, stammelte sie und ballte die Hände zu Fäusten.
„Weil wir den Verdacht haben, dass hier eine Straftat vorliegen könnte.“
Finna schluckte.
„Bitte setzen Sie sich, sobald die Kollegen mit der Arbeit beginnen.“
Die Polizisten führten einige Telefonate. Zuerst würden die Hunde zum Einsatz kommen und anschließend die Kriminaltechniker. Erst jetzt wurde sich Finna der Tragweite des Ganzen bewusst – Lilja musste tatsächlich in Schwierigkeiten stecken. Aber warum? Bis auf die Eheprobleme hatte nichts darauf hingedeutet.
Sie setzte sich in den Sessel und wartete ungeduldig darauf, was als Nächstes geschehen würde. Die Beamten hatten ihr untersagt, zu gehen, und so hob sie Felix auf den Schoß, der verstört durchs Haus gelaufen war.
„Wir müssen den Hund wegbringen“, sagte der Polizist, und eine Frau mit einer Gitterbox betrat das Wohnzimmer.
„Nein!“, widersprach Finna heftig. „Ich werde Felix zu mir nehmen.“
„Das geht jetzt nicht, die Hunde sind bereits da. Der kleine Kläffer würde nur stören.“
Die Frau steckte Finna eine Visitenkarte zu, dann schnappte sie sich Felix. Sie war vom Amt und würde den Hund vorübergehend in einer Auffangstation unterbringen. Finna zerriss es das Herz, wie Felix jaulend am Gitter kratzte, während er von einem Polizisten nach draußen zum Wagen getragen wurde.
Dann wurden mehrere Kameras aufgebaut, um die Suche zu dokumentieren. Schließlich begannen zwei Hundeführerinnen mit der Spurensuche und erteilten knappe Kommandos. Die Hunde hefteten ihre Nase auf den Boden, um die Gerüche aufzunehmen.
„… lebend entkommen …“
„Was zum Teufel …“, rief Finna und sprang auf.
„Bitte setzen Sie sich sofort“, forderte der Beamte mit scharfer Stimme.
„Aber Sie müssen die Stimme doch gehört haben“, erwiderte Finna verwirrt.
„Lassen Sie die Hunde in Ruhe ihre Arbeit machen“, lautete die unmissverständliche Aufforderung des Beamten.
Finna schluckte, die Stimme war klar und deutlich zu hören gewesen. Aber nicht nur das, sie hatte auch wie die von Lilja geklungen.
Die Hunde waren gerade dabei, die Küche zu untersuchen, als Finna mehrmals hintereinander ein „Nein“ hörte. Setzte ihr der Stress dermaßen zu, dass sie halluzinierte?
Ihr Blick wanderte zu Aron, der leichenblass im Sessel hockte und stark zu schwitzen schien. Hatte er die Worte auch vernommen?
Im Schlafzimmer der Eltern hielten sich die Hundeführerinnen besonders lange auf.
„Das ist mein Haus …“
„Da! Da war es wieder“, flüsterte Finna, während ihr die Nackenhaare zu Berge standen. Der Polizist nickte ihr zu und schaute sich dann suchend um. Nein, sie war nicht verrückt, er hatte es ebenfalls gehört. Was ging hier vor sich?
Die Hundeführerinnen wechselten ins Spielzimmer.
„Wow!“, entfuhr es einer von ihnen.
„Mein Güte, hast du das auch gehört?“, fragte die ältere ihre jüngere Kollegin.
„Das hat sich wie das Kichern eines Kindes angehört.“
„Aber die Hunde haben bis jetzt nichts gefunden.“
„Ja, das wundert mich auch.“
Finna hatte das Gefühl, gleich zu hyperventilieren. Alle Anwesenden hatten das Kinderlachen hören können. Die Einzigen, die bisher keinerlei Reaktion gezeigt hatten, waren die Spürhunde.
„Aron, ist das Kichern nicht unheimlich?“, flüsterte Finna in seine Richtung.
„Welches Kichern?“
Er zog fragend die Stirn kraus, aber Finna sah ihm an, dass er sich absichtlich dumm stellte. Seine Atemfrequenz hatte sich erhöht und er schwitzte noch stärker als zuvor.
Genau in diesem Moment kehrten die Hundeführerinnen ins Wohnzimmer zurück. „Wir haben keinerlei Spuren gefunden“, verkündeten sie.
„Vielen Dank. Dann kann ich nur hoffen, dass die Kriminaltechniker mehr Glück haben.“ Der Beamte wandte sich an Aron und Finna. „Sie werden uns auf die Behörde begleiten.“
„Muss das wirklich sein?“, legte Aron lautstark Protest ein.
„Ja. Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, warum Sie unter Verdacht stehen? Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin.“
„Gewaltverbrechen?“ Aron erblasste.
„Ihre Frau und Ihre Töchter werden nicht barfuß dieses Haus verlassen haben.“
Wortlos und mit gesenktem Kopf ging Aron zum Streifenwagen. Finna folgte ihm und fragte sich, ob er tatsächlich etwas mit dem Verschwinden von Lilja und den Mädchen zu tun hatte.
Linda Sventon ließ sich von einem Kollegen kurz auf den neuesten Stand bringen, während sie mit Jörgen Persson die Vernehmung von Aron Gunnarsson vorbereitete.
Jetzt saßen sie zu zweit vor dem Monitor und schauten die Aufnahme an, in der die Hunde das Haus durchsuchten.
„Unglaublich“, murmelte Jörgen. „Man kann die Stimmen und das Kinderlachen klar und deutlich hören“, sagte er und selbst Linda rieb sich fröstelnd über die Arme.
„Ich habe so etwas während meiner gesamten Laufbahn noch nie erlebt“, antwortete sie.
„Das sind sogenannte EVPs, electronic voice phenomenon.“
„Ich weiß schon, diese Abkürzung für Tonbandstimmen. Aber ich habe diesem Phänomen nie eine größere Bedeutung beigemessen und schon gar nicht in einem Mordfall. Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter, wenn ich die Stimme höre, die flüstert, dass es ihr Haus ist.“ Linda stand auf. „Ehrlich gesagt bin ich jetzt schon ein wenig voreingenommen, was das mysteriöse Verschwinden von Lilja Gunnarsson und ihren Töchtern betrifft.“
„Mich macht dieser Umstand ebenfalls nachdenklich, obwohl die Aufnahmen geradezu grotesk sind“, bestätigte auch Jörgen. „Ich meine, wer glaubt schon an Geistergeschichten?“
„Darauf kann ich dir leider keine Antwort geben. Auf mich wirkt das Ganze eher verstörend.“
„Nun gut. Kümmern wir uns lieber um diesen Aron, er macht auf mich einen völlig überdrehten Eindruck.“
„Dann auf ins Getümmel“, sagte Linda voller Tatendrang und lief zur Tür.
Aron Gunnarsson hatte auf einen Anwalt verzichtet, warum auch immer. Er schwitzte stark und war sehr nervös. Alles an ihm schrie danach, ihn gehörig in die Zange zu nehmen.
Nach der knappen Begrüßung eröffnete Linda die Vernehmung und drückte die Taste des Aufnahmegerätes.
„Aron Gunnarsson, Sie sind zum jetzigen Zeitpunkt die letzte Person, die Ihre Frau Lilja und Ihre Töchter Nora und Ella lebend gesehen hat. Stimmt das?“
„Ja.“ Er wischte sich die feuchten Hände an seiner Jeans ab.
„Von Finna Löv haben wir erfahren, dass sie am gestrigen Abend mit Ihrer Frau noch ein Telefongespräch geführt hat. Die Stimmung Ihrer Frau soll wegen des anstehenden Ultraschalltermins freudig gewesen sein. Hatten Sie danach einen Streit?“
Aron Gunnarsson schluckte, bevor er antwortete.
„Wir haben uns gestritten, wie so oft in letzter Zeit. Lilja will immer mit dem Kopf durch die Wand, sie gibt nie nach oder schließt einen Kompromiss, und sei er noch so klein.“
„Ihre Frau ist demnach eine starke Persönlichkeit?“, fragte Linda.
Er nickte stumm.
„Worum ging es in diesem Streit?“
Der Kiefer von Gunnarsson mahlte. „Ich habe mir schon immer einen Sohn gewünscht, und jetzt geht dieser Wunsch in Erfüllung. Allerdings hat Lilja ohne mein Wissen die Pille abgesetzt und mich vor vollendete Tatsachen gestellt.“
„Das hat zu Spannungen in Ihrer Ehe geführt?“
Linda fiel auf, dass Aron Gunnarsson nicht in der Vergangenheitsform von seiner Frau sprach. Hoffentlich war das ein gutes Zeichen.