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Als die reservierte Véro Wilhelm eines Tages spurlos verschwindet, scheint das niemanden so richtig zu kümmern – nur Melissa Braun verspürt nagende Sorge um ihre neue Freundin und macht sich auf die Suche nach ihr. Und muss bald darauf entdecken, dass Véro gar nicht gefunden werden will. Was steckt hinter dem mysteriösen Abtauchen der jungen Frau? Und wer ist der Unbekannte, der sich so auffällig für Véros Verbleib interessiert? Melissa Braun wird auf Véros Spuren erneut zur Ermittlerin wider Willen und stolpert gemeinsam mit ihrem Begleiter, dem Karateprofi Paul Kempf, in einen Fall, der ihre schlimmsten Befürchtungen weit übertrifft.
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Seitenzahl: 497
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Tödliche Macht
Kriminalroman
von Esther Pauchard
Umschlagbild: Fotolia
Lektorat: KAISERworte, Esther Kaiser Messerli
Gestaltung: arsnova, Horw
Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck
© 2018 Buchverlag Lokwort, Bern
Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag
ISBN 978-3-906806-19-8
www.lokwort.ch
Inhalt
1. Kapitel 5
2. Kapitel 23
3. Kapitel 38
4. Kapitel 50
5. Kapitel 64
6. Kapitel 75
7. Kapitel 85
8. Kapitel 100
9. Kapitel 115
10. Kapitel 125
11. Kapitel 134
12. Kapitel 149
13. Kapitel 167
14. Kapitel 177
15. Kapitel 187
16. Kapitel 197
17. Kapitel 212
18. Kapitel 232
19. Kapitel 241
20. Kapitel 247
21. Kapitel 267
22. Kapitel 276
23. Kapitel 288
24. Kapitel 296
25. Kapitel 305
26. Kapitel 317
Epilog – ein knappes Jahr später 325
Dank 332
1. Kapitel
«Véro ist verschwunden!»
«Hmmmrrr – bitte was? Melissa, bist du das? Was zum – weisst du überhaupt, wie spät es ist? Es ist mitten in der Nacht!»
«Das weiss ich», entgegnete ich sachlich. «Ich würde nicht anrufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Véro ist verschwunden, hörst du nicht?»
Nina stöhnte. «Was soll das? Was ist mit Véro? Hör mal, ich bin erst vor einer halben Stunde eingeschlafen – Jonas hatte Koliken, und wir mussten ihn stundenlang herumtragen, ehe er zu schreien aufhörte und endlich zur Ruhe kam. Ich bin nicht in der Verfassung, um ...»
«In Ordnung, ich verstehe. Da will ich dich nicht weiter behelligen», erwiderte ich resigniert, und fügte dann mit schlecht verhohlener Gereiztheit hinzu: «Du bist ja jetzt schliesslich Mutter und kannst dich nicht mit derlei Bagatellen herumschlagen. Entschuldige vielmals.»
«Melissa ...», begann Nina empört.
Ich beendete das Gespräch, ohne ihre Antwort abzuwarten, und warf mein Handy frustriert neben mich auf die Bettdecke.
Es war, wie Nina festgestellt hatte, mitten in der Nacht – viertel vor zwei, um genau zu sein. Der Schein meiner Nachttischlampe warf einen konischen Lichtkegel in die Dunkelheit meines Schlafzimmers.
Bis auf das leise Ticken meines mechanischen Weckers – ein bildschönes Modell aus den Sechzigerjahren, Schnäppchen vom Flohmarkt – war alles still, die Geräusche des Alltags und das beständige Brausen des Verkehrs draussen waren zum Erliegen gekommen, nächtlicher Frieden hatte sich über die Stadt gelegt. Nur mir war nicht friedlich zumute.
Es war nicht so, dass ich das verschlafene Desinteresse meiner besten Freundin nicht verstand, auch wenn ich mir gewünscht hätte, in der überforderten Mutter eines unruhigen achtwöchigen Säuglings Spuren der Frau zu finden, die sie einmal gewesen war – der loyalen Zuhörerin, die immer ein Ohr für mich gehabt hatte, ungeachtet der Umstände oder Tageszeit, wenn sie gemerkt hatte, dass es dringend war. Und es war dringend.
Nervös fuhr ich mir über die Stirn. Sie war schweissnass.
Ich hatte geträumt – wirre Fetzen düsterer Erinnerungen, ein beklemmender Angsttraum, wie so oft. Vier eiskalte Finger, die aus einem festgetretenen Haufen von Schnee ragten, erstarrte Finger mit blutrot lackierten Nägeln.
Nur dieses Mal war etwas anders gewesen. Unvermittelt hatten sich die toten Finger zu rühren begonnen, hatten den harten Schnee aufgerissen, sich zur Faust geballt, während ich, in wortlosem Entsetzen wie gelähmt, bewegungslos daneben gestanden und beobachtet hatte, wie sich die grässliche Hand langsam hob, einen eisblauen, starrgefrorenen Unterarm aus dem Schnee auftauchen liess, dann eine steinharte nackte Schulter. Ich hatte die Augen geschlossen, unfähig, mich zu rühren, so lange, bis ich den frostigen Atem der Toten auf meinem Gesicht gespürt hatte.
«Melissa», hatte sie gesagt. Es war nicht die Stimme gewesen, die ich erwartet hatte. Und als ich die Augen geöffnet hatte, hatte ich nicht das Gesicht gesehen, vor dem ich mich gefürchtet hatte, nicht die dunklen Augenhöhlen und gemeisselten Züge der Leiche von Sylvie-Anne Bernard, sondern ich hatte in die hellgrünen Augen von Véro geblickt.
«Melissa», hatte sie wiederholt, und ihre Stimme hatte ganz und gar unirdisch geklungen. «Ich bin nicht tot – noch nicht.»
Da war ich schreiend aufgewacht, um mich schlagend, in kaltem Schweiss gebadet. Und ich hatte in diesem einen Augenblick vollkommener Klarheit gewusst, dass Véro nicht das Interesse an mir verloren hatte oder sich rarmachte, sondern dass sie verschwunden war, richtig verschwunden, ernsthaft verschwunden. In Gefahr.
Jetzt sass ich da, aufrecht an das verschnörkelte Kopfteil meines französischen Metallbetts gelehnt, und dachte angestrengt nach.
Lag ich richtig? Oder häkelte mein Gehirn verworrene Zusammenhänge, wo keine waren?
Schauernd zog ich unter der rauchblauen Bettdecke die Knie an den Körper, schlang meine Arme darum. Mir war kalt.
Ich hatte Sylvies Tod nicht überwunden, noch immer nicht. Ich hatte auch den Mord an meinem Chef nicht überwunden, ihn und all die anderen Toten. Es war mehr als vier Monate her, und ich hatte den Schatten noch immer nicht abschütteln können.
Sah ich Gespenster? Sylvie und Véro, zwei neue Freundschaften, die mir wie Sand durch die Finger gerieselt waren, zwei französische Namen, zwei Frauen, die ihr Innerstes gut verbargen. War ich paranoid?
Nein, hielt ich dagegen, während ich mich aus meiner zusammengekauerten Haltung löste und den Kopf hob. Nein, ich war nicht paranoid. Ich hatte damals gewusst, dass Sylvie in Gefahr war, und ich hatte recht gehabt. Mein Gefühl täuschte mich auch dieses Mal nicht.
Entschlossen klopfte ich mein Kopfkissen zurecht, knipste dann das Licht aus, drehte mich auf die Seite und kuschelte mich in meine Decke, bemüht, eine entspannte Position zu finden.
Ich brauchte Schlaf, um zur Ruhe zu kommen. Denn morgen, das war mir klar, würde ich mich auf die Suche nach Véro machen.
«Du bist so abwesend», schmeichelte die seidenweiche Stimme von Jan Berger, während seine langen Künstlerfinger versuchsweise nach meiner Hand griffen.
Es war Abend, neun Uhr. Wir sassen im Kornhauscafé, Kerzenschein spiegelte sich in den beiden Gläsern mit Rotwein, die auf dem kleinen Tisch zwischen uns standen.
«Ach», entgegnete ich mürrisch und zog meine Hand weg, «ich weiss. Mir geht viel im Kopf herum. Ich hatte den ganzen Tag schon Mühe, mich auf die Arbeit zu konzentrieren – und wurde deshalb mehrfach von Martina angepflaumt.»
«Martina?»
«Sie ist ebenfalls als medizinische Praxisassistentin in der Gruppenpraxis angestellt, in der ich arbeite. Eine wenig sympathische Person», fügte ich naserümpfend hinzu, «zwölf Jahre älter als ich, eine langjährige, erfahrene Mitarbeiterin, wenn auch nicht brillant – aber sie selber sieht das natürlich anders, sie fühlt sich als Hauptstütze der Praxis. Als die bisherige Chef-MPA schwanger wurde, ging Martina ganz selbstverständlich davon aus, dass sie als die Erfahrenste im Team deren Nachfolgerin werden würde. Dass nun stattdessen ich vor zwei Monaten eigens als Stellvertreterin der Chefin angestellt wurde und für deren Posten aufgebaut werden soll, passt ihr gar nicht. Das lässt sie mich spüren, regelmässig und mit Genuss.»
Jan lächelte träge, flirtend. «Und was geht dir so den ganzen Tag im Kopf herum? Denkst du an mich?»
Ich warf ihm einen konsternierten Blick zu. «Nein», entgegnete ich knapp. «Es geht um eine Freundin von mir. Sie ist verschwunden, seit über einer Woche schon. Wir kennen uns noch nicht sehr lange, erst seit Silvester, aber seitdem haben wir uns mindestens einmal in der Woche getroffen und mehrfach telefoniert. Wir haben uns immer ausgezeichnet verstanden und hatten viel Spass miteinander. Und dann auf einmal – gar nichts mehr. Véro reagiert nicht auf meine SMS und E-Mails, ihr Mobiltelefon ist ständig ausgeschaltet. Als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Einfach so, ohne Vorwarnung. Ich mache mir Sorgen.»
Jan hob sein Weinglas an die Lippen und nahm einen Schluck Primitivo. «Frauen», meinte er dann fachkundig. «Sie haben bisweilen ihre Launen. Vielleicht PMS?»
Finster schob ich die Brauen zusammen. «Vergiss PMS. Es ist mir ernst.» Ich lehnte mich vor und blickte ihn auffordernd an. «Jan, kannst du mir einen Rat geben? Ich möchte nicht einfach abwarten und hoffen, dass nichts passiert ist, ich möchte handeln. Aber wie? Es ist peinlich, aber ich kenne nicht einmal Véros Adresse. Wir waren immer auswärts oder in meiner Wohnung, nie bei ihr. Du weisst ja, wie das ist. Man tauscht Telefonnummern aus, vielleicht E-Mail, man befreundet sich auf Facebook. Keine Wohnadressen. Ich weiss, dass sie in Bern lebt und in Thun arbeitet, in einem Gartencenter. Dort habe ich bereits angerufen. Sie habe sich aus heiterhellem Himmel wegen eines familiären Notfalls telefonisch abgemeldet und komme auf unbestimmte Zeit nicht zur Arbeit. Die junge Frau, die ich an der Strippe hatte, war einerseits irritiert, andererseits mindestens so beunruhigt wie ich, und hat mir mehr Fragen gestellt als beantwortet. Die Sache ist mir ein Rätsel. Was würdest du an meiner Stelle tun?»
Jan versuchte mit wenig Erfolg, ein Gähnen zu unterdrücken. «Was weiss ich», meinte er dann vage. «Wenn sie sich nicht bei dir meldet, will sie vielleicht schlicht in Ruhe gelassen werden. Ich meine, Menschen verschwinden nicht einfach, sie hat sicher ihre Gründe. Vielleicht ein Mann, mit dem sie durchgebrannt ist? Irgendein reicher Typ, der sie auf eine spontane Kreuzfahrt in die Karibik eingeladen hat?»
Frustriert schüttelte ich den Kopf. «Véro scheint mir nicht der Typ für so etwas zu sein, für romantische Impulse und unüberlegte Brüche. Sie ist vernünftig, nüchtern sogar. Wirklich, Jan, die Sache macht mir Bauchschmerzen. Ich habe Angst, dass ihr etwas zugestossen sein könnte.»
«Keine Sorge, Kleines», versicherte Jan und schenkte mir einen sehr tiefen, sehr verführerischen Blick aus dunklen Augen, die, wie er sehr gut wusste, ihre Wirkung auf Frauen nie verfehlten. «Ich bin sicher, es ist nichts. Hör auf, darüber nachzudenken. Lass mich dich auf andere Gedanken bringen.» Er schob sich ein wenig näher an mich heran. «Hast du dieses Wochenende schon etwas vor?», flüsterte er vertraulich. «Ein paar Freunde von mir haben diese absolut geniale Ferienwohnung im Tessin. Ich kriege die Schlüssel, wann immer die Wohnung frei ist, ganz nach Belieben. Was meinst du – ein Wochenende zu zweit, nur wir beide?»
Überrascht sah ich zu ihm auf. Hatte ich richtig gehört? Eine Einladung für ein gemeinsames Wochenende, ausgesprochen von Jan Berger, dem ewig Zaudernden, Unerreichbaren?
Wortlos betrachtete ich den Mann, der mich erwartungsvoll anstrahlte. Der über Monate hinweg Inhalt meiner sehnsüchtigen Tagträume gewesen war – mit seiner ganzen lässigen Nonchalance, der beiläufigen Attraktivität, der Aura eines verkannten Genies.
Ich seufzte innerlich. Noch im vorigen Herbst hätte ich alles, wirklich alles für so eine Einladung gegeben. Aber jetzt? Jetzt war Frühling, und ich war eine andere. Und ob ich wollte oder nicht, heute sah ich beklemmend klar.
«Ich bitte dich, Melissa.» Eine sarkastische, tiefe Männerstimme drängte sich aus der Tiefe meiner Erinnerungen unerwünscht in meine Gedanken. «Der Junge ist ein Weichei, er ist nichts für dich. Ein verwöhntes Muttersöhnchen ohne persönliche Reife. Sag – ist er verlässlich, zeigt er Interesse, ist er präsent, ist er für dich da? Trägt er dir den Müll raus?»
Nein. Jan Berger tat nichts dergleichen. Er lächelte und hielt meine Hand, wenn er sie denn zu fassen kriegte, und wob süsse Worte zu lockenden Versprechen. Aber er taugte nichts. Er hörte mir nicht einmal richtig zu. Er sah mich gar nicht wirklich, er sah nur eine junge Frau, die sich nicht mehr in dem Masse für ihn interessierte, wie er es gewohnt war, und die darum für ihn ungeheuer interessant geworden war. Ein Spiel. Und ich war keine Frau, die mit sich spielen liess. Nicht mehr.
Ich hatte mich verändert.
«Tut mir leid», erwiderte ich freundlich, aber sehr bestimmt, und nahm mit distanziertem Mitgefühl zur Kenntnis, wie der Ausdruck siegessicherer Vorfreude abrupt von Jans schönem Gesicht rutschte, «aber daraus wird nichts. Lass uns zahlen, ich will nach Hause.»
Jan Berger sollte nicht der Einzige bleiben, der meine Sorge um Véronique Wilhelm als fehlgeleitet oder übertrieben abtat.
Nina, die ich am nächsten Abend kurz zu Hause besuchte, setzte mir, während sie erfolglos versuchte, ihr überreiztes Baby in den Schlaf zu wiegen, entnervt auseinander, dass ich von den «hässlichen Morden letzten Winter» tief verunsichert sei und lernen müsse, wieder Vertrauen in die Alltäglichkeit des Lebens zu gewinnen. Dabei sah sie selbst indes aus wie jemand, der von der Alltäglichkeit des Lebens meilenweit entfernt und in einem Strudel von Schlafmangel, Chaos und vollgespuckten Sabbertüchern gestrandet war. Um meine Freundin, die sichtlich am Rande eines Nervenzusammenbruchs balancierte, nicht weiter zu provozieren, nickte ich lediglich begütigend, wusch wortlos die Stapel von dreckigem Geschirr ab, die sich in ihrer verwahrlost wirkenden Küche auftürmten, und suchte dann bald das Weite.
Matthias, ein weiterer guter Freund, überraschte mich anlässlich eines gemeinsamen Mittagessens nach der Darlegung meiner Sorge um Véro mit einer langen, innigen Umarmung. «Ich vermisse Sylvie auch», flüsterte er schliesslich heiser, «ich muss immer an sie denken. Ihr Tod hat uns alle schwer getroffen. Wir müssen loslassen, Melissa. Wir müssen endlich loslassen.»
Und Tea, eine sportbesessene Kollegin, schüttelte lediglich den Kopf und meinte: «Cara, mach kein Theater. Es werden nicht jeden Tag Leute ermordet, weisst du? Ich bin sicher, mit Véro ist alles in Ordnung. Trink ein Bier, das hilft.»
Grübelnd liess ich die Reaktionen meiner engsten Freunde vor meinem inneren Auge Revue passieren, als ich später zuhause in meiner Dreizimmer-Mietwohnung an der Berner Morillonstrasse vor dem Fernseher sass und mir eine Handvoll saure Pommes in den Mund stopfte – die Süssigkeiten gingen völlig in Ordnung, fand ich, hatte ich doch zuvor einen vitaminreichen Frühlingssalat zu Abend gegessen, mit Radieschen und Schnittlauch, sehr biologisch, sehr gesund, mit Vollkornbrot und ein wenig Ziegenkäse, vorbildlich.
Hatten Nina, Matthias und Tea recht? Die Frage liess mich nicht los, lenkte mich von der seichten amerikanischen Krimiserie ab, die über den Bildschirm flimmerte. Hatten die Ereignisse des letzten Winters nachhaltige Spuren in meiner Psyche hinterlassen, tiefe Narben und Schrunden? War ich tatsächlich so verunsichert und paranoid, wie sie alle vermuteten?
Ich schauderte. Es war nicht unmöglich. Da waren die wiederholten Alpträume. Und die Schreckhaftigkeit, die ich an mir bemerkte, wann immer ich allein durch dunkle Strassen ging, das Herzklopfen, das Zittern meiner Knie. Eine leichte, aber beunruhigende Neigung, fremden Menschen zu misstrauen, die ich an mir sonst nicht kannte. Ich war nicht mehr die Gleiche wie früher.
Ungeduldig griff ich nach der Fernbedienung, die neben mir auf dem Sofa lag – einem alten, nicht allzu bequemen Klappsofa, verborgen unter einer weissen Baumwolldecke – und schaltete den Fernseher aus. Ich ertrug das Geschwafel nicht, ich musste nachdenken.
Ich stand auf, nahm den Tee aus frischer englischer Minze mit, der vor mir auf dem Couchtischchen stand, durchquerte den Raum und trat auf meinen kleinen Balkon. Liess mich, die Tasse in der Hand, auf die Holzbank sinken, die ich vor einigen Wochen eigenhändig in einem hellen Türkiston gestrichen hatte. Atmete die milde Frische des kühlen Aprilabends ein, ganz tief, den Geruch von Regen und Bäumen und Strassenverkehr und den ersten zarten Trieben von Grün, von Basilikum und Petersilie, die ich hoffnungsvoll und viel zu früh in bunten Tontöpfen ausgesät und ins Freie gestellt hatte.
Es konnte, so gestand ich mir schliesslich beklommen ein, durchaus sein, dass ich nicht mehr unvoreingenommen dachte. Dass mein Urteil von Verlustangst, mehr noch, von realen Verlusten geprägt und verfälscht war, dass ich überreagierte.
Ich lehnte mich zurück, in die bunten Kissen aus indischem Stoff, die ich liebevoll auf meiner Holzbank assortiert hatte, und griff nach meinem Tee. Pfefferminze, so fand ich, hatte eine ungeheuer beruhigende, erfrischende Wirkung, sie klärte die Gedanken. Ich atmete tief ein.
Ich brauchte einen Rat, entschied ich, während ich einen langen Schluck nahm. Von einem Profi.
«Ich muss gestehen, ich bin ein wenig erstaunt.»
Der Mann, der mir gegenüber an dem kleinen Tisch sass, musterte mich nachdenklich, mit einem hintergründigen, entspannten Lächeln auf dem Gesicht. Er trug einen dunkelblauen Pullover, der seine breiten Schultern betonte und ihm ausnehmend gut stand.
«Mein Anruf kam also unerwartet?» Meine Stimme klang ein wenig höher als sonst. Um meine Nervosität zu überspielen, griff ich nach meinem Weinglas – Pinot grigio, gut gekühlt und von wunderbarer Farbe. Ich nahm einen Schluck, zu hastig, ich verschluckte mich beinahe und konnte die zarte Note von Ananas im Abgang nicht würdigen.
Er lächelte. «Allerdings. Aber ich habe mich trotzdem gefreut, Sie wiederzusehen, Frau Braun.»
Ich gestikulierte abwehrend. «Wir sollten uns nicht mehr siezen, finde ich. Ist irgendwie seltsam, oder? Ich meine, ein gemeinsames Abendessen, aber sich siezen? Geht gar nicht.» Reiss dich am Riemen, Mädchen, schalt ich mich innerlich. Du benimmst dich wie ein aufgeregter Teenager, nicht wie eine Dreissigjährige. Entschlossen streckte ich ihm meine Hand entgegen. «Melissa.»
Er nahm meine Hand in seine, sie fühlte sich warm und trocken an, beruhigend. «Markus.»
Als hätte ich seinen Vornamen nicht gekannt, als hätte ich ihn nicht dauernd vor Augen gehabt, als beständige Drohung. Damals, als er mich noch des Mordes an meinem Chef verdächtigt hatte.
Ich nickte und lächelte dünn.
Markus Gerber, Regionalfahnder der Berner Polizei, liess meine Hand los, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich sinnierend.
Es war Dienstagabend, wir sassen im Nooch, dem kleinen, wuseligen, immer übervollen Lokal an der Aarbergergasse, um uns herum herrschte hektische Betriebsamkeit. Markus Gerber wirkte inmitten von Bewegung und Stimmengewirr vollkommen ruhig, gelassen, ein Fels in der Brandung.
«Also, Melissa. Was möchtest du mit mir besprechen?»
Donnerwetter, der Mann hielt nichts von einleitendem Smalltalk. So hatte ich das nicht geplant. Ich hatte vorgehabt, perlende Konversation zu betreiben, einen angenehmen Abend zu verbringen, im Verlaufe dessen ich irgendwann, ganz beiläufig und unauffällig, auf den Punkt gekommen wäre, um den es mir ging. Aber ich hatte nicht bedacht, dass Markus Gerber berufsmässig Verhöre führte.
Zum Glück trat in diesem Augenblick ein Kellner an unseren Tisch und nahm unsere Bestellung auf. Wir einigten uns auf eine üppige Sushiplatte, die wir uns teilen wollten, und auf Jasmintee. Das war mir nur recht – das eine Glas Pinot grigio war genug, befand ich, ich musste einen klaren Kopf bewahren.
Sobald der Kellner abgezogen war, begann ich rasch, Markus Gerber in ein Gespräch über Restaurants in Bern zu verwickeln, über steigende Preise und darüber, welche Lokale wir am meisten mochten. Gerber zog mit, folgte dem leichten Gesprächsthema, obwohl etwas in seinem Blick mir vermittelte, dass er sich auf Dauer nicht mit seichten Gewässern begnügen würde, dass er wusste, dass mehr hinter diesem von mir angeregten Abendessen steckte.
Die Platte mit den Sushi kam, ein herrliches, buntes, liebevoll angerichtetes Angebot von Nigiri und verschiedenen Maki. Ich stürzte mich heisshungrig auf das Essen, und während ich mir einen Leckerbissen nach dem anderen in den Mund schob, plauderten wir über den zu erwartenden Sommer in der Stadt, über das Schwimmen in der Aare, Picknicks auf dem Gurten und Spaziergänge durch den Tierpark Dählhölzli – wir mochten, so fanden wir heraus, beide die Eulen am liebsten.
Während ich ass und redete, merkte ich zu meiner Überraschung, dass ich mich wohlfühlte. Es hatte etwas eigenartig Intimes, mit Markus Gerber an diesem kleinen Tisch zu sitzen, zu plaudern und Sushi zu teilen, aber es fühlte sich natürlich an, stimmig. Er war ein angenehmes Gegenüber, ein guter Zuhörer, witzig, aufmerksam, warmherzig. Zugänglich, menschlich. Es fiel mir schwer, in ihm den zugeknöpften, einschüchternd integren Polizeibeamten zu sehen, der mir nur wenige Monate zuvor eine Heidenangst eingejagt und mich durch seine amtliche Verschwiegenheit zur rasenden Verzweiflung getrieben hatte. Markus Gerber als Privatmensch war, so überlegte ich, ein Mann, den ich mögen, dem ich vertrauen könnte.
«Worüber denkst du nach?», fragte Markus. Offenbar war ich länger in nachdenklichem Schweigen verharrt und hatte ihn auffälliger angestarrt, als mir bewusst gewesen war. Sein gut aussehendes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. «Planst du eine Straftat?»
Ich riss verblüfft die Augen auf.
Er deutete auf die Platte zwischen uns. «Vergiss nicht, ich bin Polizist, ich habe eine Nase für so etwas. Du hast es auf das letzte Futomaki abgesehen, stimmt’s? Das definitiv meins wäre, nachdem du bereits fünf der insgesamt acht Stück vertilgt hast – also Diebstahl, ganz offensichtlich. Wo packt eine winzige Person wie du all das Essen überhaupt hin?»
Ich lächelte bezaubernd. «Sushi gehen direkt ins Hirn, nicht auf die Hüften. Und ein optimal funktionierendes Hirn wie meins erfordert sorgfältigen Unterhalt.» Rasch liess ich meine Stäbchen vorschnellen, schnappte und stopfte mir das besagte Futomaki flugs in den Mund. «Wieder ein paar IQ-Punkte mehr», mümmelte ich undeutlich, «hervorragend.»
Markus Gerber schüttelte amüsiert den Kopf. «Skrupellos. Das sollte mich nicht überraschen, so habe ich dich schliesslich kennengelernt: vorwitzig, dickköpfig, beharrlich, mutig. Und eben, skrupellos.»
Ich spürte, wie mir das Lächeln vom Gesicht rutschte.
Das schien auch Markus aufzufallen. Er wurde ernst, legte seine Stäbchen beiseite. Und musterte mich aufmerksam.
«Was hast du auf dem Herzen, Melissa? Komm schon, sag es mir.»
Ich zögerte einen Augenblick. Dann sprudelte es aus mir heraus. «Markus, denkst du, dass Menschen, die Verbrechen miterleben, Morde, Gewalt – denkst du, dass solche Menschen sich verändern, dass sie Schaden nehmen? Dass sie am Ende nicht mehr die sind, die sie waren?»
Sein Blick war sehr ruhig, mitfühlend. «Menschen wie du?»
Ich nickte unsicher.
Markus Gerber nahm sich Zeit für seine Antwort. «Ja, solche Erlebnisse verändern einen. Ich muss es wissen – in meinem Beruf habe ich mit den hässlichsten Seiten des Lebens zu tun. Nicht nur, aber es kommt vor. Ich bin heute nicht mehr der Mann, der vor gut zwanzig Jahren mit einem Kopf voller Ideale und Illusionen in den Polizistenberuf eingestiegen ist. Aber», seine Miene wurde sanft, während er mein Gesicht musterte, das, so fürchtete ich, ängstliche Anspannung und eine Spur von Flehen ausdrücken musste, «diese Veränderungen sind nicht nur negativ, im Gegenteil. Das Menschsein in seinen Höhen und Tiefen zu kennen, auch die Schluchten und die Dunkelheit auszuloten, hat mich reifer gemacht, sicherer und ruhiger. Ich habe viel gelernt – auf einiges davon hätte ich gerne verzichtet, aber ich habe trotzdem gelernt und bin gewachsen. Auch du wirst an dieser Geschichte wachsen, Melissa.»
Ich schluckte. «Kommt es vor, dass du Anzeichen von Paranoia an dir feststellst? Immer gleich das Schlimmste befürchtest? Dass du übertrieben reagierst, bei ganz alltäglichen Dingen?»
Markus beugte sich vor, sein Blick hatte nun etwas Intensives. «Ist es bei dir so, Melissa? Was macht dir Angst?» Wie immer kam er rasch und ohne Umschweife auf den Punkt.
Die ganze Geschichte erzählen oder nicht, das war die Frage. Um Zeit zu gewinnen, langte ich mit blossen Fingern nach einem Nigiri, kaute es gründlicher, als nötig gewesen wäre. Markus Gerber wartete in geduldigem Schweigen.
«Ich habe da eine Freundin», begann ich zögernd. «Sie ist verschwunden.»
«Verschwunden? Was heisst das konkret?» Die Veränderungen waren fast unmerklich, und doch registrierte ich die leichte Straffung in Markus’ Körperhaltung, den fokussierten Blick. Der Fahnder in ihm war erwacht.
«Sie hat sich seit zehn Tagen nicht mehr gemeldet und reagiert auf keinen meiner Versuche, sie zu kontaktieren. Ihr Mobiltelefon ist dauernd ausgeschaltet. Ihrem Arbeitgeber habe sie telefonisch mitgeteilt, dass sie wegen eines familiären Notfalls auf unbestimmte Zeit nicht verfügbar sei – sonst nichts. Ich mache mir Sorgen.»
«Sonst standet ihr regelmässig in Kontakt? Das Verhalten deiner Freundin ist also unüblich?»
«Absolut. Sie hat immer sehr rasch auf meine Nachrichten und Anrufe geantwortet, und wir hatten häufig Kontakt, mehrmals pro Woche. Wir waren wirklich gut befreundet, wenn auch erst seit einigen Monaten.»
«Ihr hattet keinen Streit?»
«Nein. Nichts dergleichen.»
Markus Gerber nickte. «Hast du es in ihrer Wohnung versucht?»
Ich spürte, wie ich errötete. «Ich weiss nicht, wo sie wohnt.»
Markus Gerber hob eine Augenbraue, verzichtete aber netterweise auf einen Kommentar.
«Gibt es sonst Hinweise, dass ihr etwas zugestossen sein könnte? Hat sie sich letzthin ungewöhnlich verhalten?»
Ich hob hilflos die Achseln. «Nicht wirklich ungewöhnlich. Unser letztes Treffen war Samstag vor einer Woche. Wir waren zusammen im Starbucks-Café am Waisenhausplatz, da ist sie mir völlig normal vorgekommen, fröhlich und entspannt. Wir gingen dann noch zu mir nach Hause, um uns gemeinsam eine DVD anzuschauen. In meiner Wohnung angekommen, klagte sie auf einmal über Schwindelgefühle und niedrigen Blutdruck, sie war blass und nervös. Als die üblichen Hausmittel nicht halfen, besorgte ich ihr rasch ein Antihypotonikum.» Ich bemerkte seinen verwirrten Blick und fügte rasch hinzu: «Ein Mittel, um den Blutdruck zu heben, aus der Apotheke. Das half, sie erholte sich und ging bald nach Hause.»
«Allein?» Markus’ Blick war scharf.
«Ja, sie bestand darauf, obwohl ich ihr anbot, sie zu begleiten, und sie wollte auch nicht bei mir übernachten. Sie ist so ein Typ Mensch, sehr eigenständig, hat ihren eigenen Kopf und klare Vorstellungen.» Ich lächelte entschuldigend. «Es ging ihr wirklich schon deutlich besser, also liess ich sie ziehen.»
«Sind solche Schwindelattacken etwas Ungewöhnliches? Könnte dieser Blutdruckabfall Anzeichen für ein ernstes Leiden sein?»
Ich schüttelte den Kopf. «Gerade bei jungen Frauen kommt so etwas häufig vor, und es ist weitgehend harmlos. Ich kann natürlich nicht völlig ausschliessen, dass doch mehr dahintersteckte, aber sie erzählte mir, dass sie nicht selten solche Schwindelattacken erlebe, und ärgerte sich, dass sie ihr Effortil zu Hause vergessen habe. Deshalb ging ich und besorgte ihr das Medikament. Nein, ich glaube nicht, dass der Schwindel etwas zu bedeuten hatte.»
«Vielleicht ein Anzeichen für Stress?»
Ich zuckte mit den Schultern. «Eher unwahrscheinlich. Bei Stress steigt der Blutdruck üblicherweise, bei ihr passierte das Gegenteil. Und wie gesagt, beim Kaffee im Starbucks schien sie mir noch völlig entspannt und gut gelaunt.»
«Hat sie vor der Schwindelattacke einen Anruf erhalten? Eine Nachricht?»
Nachdenklich biss ich mir auf die Lippe. «Nein», antwortete ich gedehnt, «nein, nicht dass ich wüsste.»
«Also keine offensichtlichen Auslöser. Und wann hat sie sich an ihrer Arbeitsstelle abgemeldet?»
«Am folgenden Montagmorgen, ganz früh.»
Markus Gerber nickte kurz. «In Ordnung. Also können wir wohl ausschliessen, dass sie am Samstag auf dem Nachhauseweg zusammengesackt und an einem Herzinfarkt gestorben ist. Immerhin.»
Ich zuckte angesichts seiner ungerührten Sachlichkeit zusammen.
«Was kannst du mir sonst über sie sagen? Worin könnte der familiäre Notfall, den sie erwähnte, bestehen?»
Verlegen strich ich mit beiden Händen meinen Rock glatt, einen Traum aus puderfarbenem Tüll. «Ich weiss nichts über ihre Familie. Sie ist erst im Winter nach Bern gezogen, hat keine Verwandten in der Nähe. Sie lebt allein, und ich kenne ihre Freunde nicht – ich weiss nicht, mit wem sie sonst verkehrt.» Ich kam mir ein wenig dumm vor. Wie konnte man mit jemandem befreundet sein und doch so wenig über ihn wissen?
Markus schien meine Gedanken zu erahnen. «Sie ist wohl eine reservierte Person, was? Nicht die Art Frau, die ihr Herz auf der Zunge trägt und ungefragt ihre ganze Lebensgeschichte ausbreitet?»
Ich lachte erleichtert auf. «Du sagst es. Sie ist alles andere als einsilbig, im Gegenteil, wir haben uns immer lebhaft unterhalten. Aber sie erzählt sehr wenig über sich, über ihre Vergangenheit und ihr Umfeld, und ich habe das respektiert.» Unvermittelt richtete ich mich auf. «Aber jetzt, wo du mich fragst, fällt mir etwas ein, etwas Wichtiges. Sie hatte Probleme mit einem Mann. Gravierende Probleme.»
«Ja?» Er beugte sich interessiert vor.
«Es ist schon eine ganze Weile her, sie hat es nur einmal erwähnt, und, wie es ihrer Art entspricht, ist dabei nicht ins Detail gegangen. Aber es muss sich um einen Ex-Freund handeln, der nicht akzeptieren konnte, dass sie sich von ihm getrennt hatte. Er habe nicht aufgehört, ihr nachzustellen, sie mit Anrufen und Textnachrichten zu belästigen, ihr aufzulauern. Eine schreckliche Geschichte, die sich offenbar über Monate hinzog.»
Markus nickte grimmig. «Stalking», sagte er nur.
«Genau. Er war der Grund für ihren überstürzten Umzug nach Bern. Um ihm zu entkommen, hat sie alles hingeschmissen, Wohnung, Job, und noch einmal neu angefangen, weit weg.» Konzentriert runzelte ich die Stirn, bemüht, meine Erinnerungen zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. «Und mehr als das. Sie hat offenbar Angst, dass er sie wieder aufspüren könnte. Grosse Angst sogar. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich sie nie ganz und gar entspannt erlebt – sie kommt mir vor wie jemand, der dauernd über die Schulter späht, um zu kontrollieren, ob sich kein Feind von hinten nähert, verstehst du? Nervös. Streckenweise verhält sie sich beinahe paranoid. Sie will auf keinen Fall, dass ich sie fotografiere, und hat mich inständig gebeten, keinerlei Posts auf Facebook zu machen, die auf sie verweisen. Meinen Freunden gegenüber ist sie zurückhaltend, fast scheu. Wann immer wir zu zweit sind, blüht sie auf, aber in Gegenwart von anderen weicht sie zurück, wird beinahe transparent. Wie ein Chamäleon, das mit dem Hintergrund verschmilzt, um sich zu schützen. Das hat doch etwas zu bedeuten.»
«Hässlich», konstatierte Markus. «Die Frau hat offenbar viel durchgemacht. Und sonst? Gibt es einen neuen Mann in ihrem Leben? Weisst du sonst etwas?»
«Nein. Mir kam es nicht so vor, als hätte sie Interesse, sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Sie hat mir von Alltagsdingen erzählt, von ihrem Job – sie ist gelernte Floristin und arbeitet in einem Gartencenter in Thun, und ihre grosse Leidenschaft sind Orchideen und Kinofilme.»
«Hmm.» Er dachte einen Moment nach. «Ich verstehe deine Sorge, Melissa», sagte er dann. «Es ist durchaus möglich, dass ihr Ex-Freund wieder aufgetaucht ist und dass sie es deshalb vorzieht, sich eine Weile aus dem Staub zu machen. Möglich ist auch, dass sie doch ein ernstes gesundheitliches Problem hat, das sie nicht mit dir oder anderen besprechen will. Oder dass tatsächlich ein familiärer Notfall eingetreten ist, dass ein Elternteil oder ein Geschwister schwer erkrankt ist. Wir können nur spekulieren. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass sie sich ordnungsgemäss an ihrer Arbeitsstelle abgemeldet hat. Und», er blickte mich entschuldigend an, «dass sie nicht mit dir reden will.»
«Du meinst, sie will einfach nichts mehr mit mir zu tun haben? Weil sie Probleme hat, über die sie mit mir nicht sprechen will, oder auch», ich stockte, «einfach so?»
Markus hob die Hände. «Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, dass ihr etwas zugestossen ist. Die Art, wie sie sich bei ihrer Vorgesetzten abgemeldet hat, ist ein wenig seltsam, aber sie hat sich abgemeldet. Sie ist nicht einfach spurlos verschwunden.» Er nahm meinen aufkeimenden Widerspruch vorweg, indem er rasch einwarf: «Ja, natürlich könnte es sein, dass ihr etwas passiert ist. Es ist nicht ausgeschlossen. Aber viel wahrscheinlicher scheint mir, dass sie sich aus freien Stücken zurückgezogen hat, ganz gezielt. Dass sie sich eine Auszeit genommen hat, aus welchen Gründen auch immer. Und dass sie damit dein Vertrauen gebrochen, dich zurückgelassen und enttäuscht hat», nun war seine Stimme ganz weich, «das kommt vor. So traurig und unverständlich es für dich auch ist.»
Ich liess den Kopf hängen. «Du denkst, ich kann einfach nicht akzeptieren, dass sie nichts mehr von mir wissen will.»
Er zögerte. «Du hast in Sylvie-Anne Bernard unter grässlichen Umständen eine Freundin verloren. Es wäre kein Wunder, wenn du ein wenig allergisch auf Verluste reagieren würdest.»
Seine Worte sackten wie ein Mühlstein in meinen Magen und blieben dort liegen, schwer und kantig und bedrückend. «Kann schon sein», meinte ich schliesslich mit leiser Stimme.
«Es tut mir leid, dass ich nicht helfen kann», sagte Markus sachte. Es klang sehr aufrichtig.
Ich blickte zu ihm auf, begegnete der wohltuenden Wärme seiner Augen und lächelte zaghaft. «Du hast mir geholfen. Es ist gut, darüber sprechen zu können. Du hast meine Sorge immerhin ernst genommen.» Ich presste die Lippen aufeinander. «Aber für den Fall, dass doch mehr dahinter steckt, für den Fall, dass ihr etwas passiert ist, etwas Schlimmes, Gewaltsames ...» Ich liess meine Worte unschlüssig in der Luft hängen.
«Ja?»
«Würdest du während der Arbeit ein Auge offen halten? Schauen, ob ihr Name irgendwo auftaucht, ob es verdächtige Vorfälle in der Umgebung gegeben hat? Vielleicht», ich schluckte hart, «einen Unfall, einen ungeklärten Todesfall?» Ich sah die dienstliche Skepsis in seiner Miene auftauchen.
«Bitte», doppelte ich nach.
Er schwieg eine Weile, seufzte dann. «Es kann sicher nicht schaden, wenn du mir ihren Namen nennst», brummte er schliesslich widerstrebend.
Ich strahlte. «Danke, Markus. Ich weiss sehr zu schätzen, dass du um meinetwillen deine Vorschriften ein klein wenig verbiegst.» Der verbiesterte Zug in seinem Gesicht brachte mich zum Lachen. «Sie heisst Véronique Wilhelm. Kurz Véro.»
Die Wirkung, die dieser Name auf ihn hatte, war eklatant. Es war, als ob eine stählerne Wand herabstürzte, wie ein Fallbeil. Markus Gerbers Körperhaltung und Miene veränderten sich nicht im Mindesten, aber ich sah, wie sich seine Pupillen weiteten, unwillkürlich, und wie etwas in seinem Inneren einrastete, einfror. Und obwohl er nicht weiter als eine Armlänge von mir entfernt sass, obwohl ich nur eine Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren, schien es mir, als wäre er unvermittelt meilenweit von mir entfernt.
«Wunderbar, das kann ich mir merken, danke sehr. Ich werde die Augen offenhalten», erwiderte er nach einer winzigen Pause, mit einer Stimme, die so vollkommen beherrscht und unbeschwert klang, dass sie mich beinahe getäuscht hätte. Beinahe.
«Was ist los?», fragte ich beklommen.
Er hob den Blick, scheinbar verständnislos. «Was soll sein?»
«Ihr Name. Er hat etwas in dir ausgelöst. Du kennst ihren Namen.»
Markus hob die Augenbraue. «Ihr Name? Aber nein. Ich habe ihn noch nie gehört, du täuschst dich.»
Ich sass unbewegt da, atemlos, die Augen unverwandt auf mein Gegenüber gerichtet.
Seine Hände lagen entspannt auf dem Tisch, alles an ihm strahlte Gelassenheit und Ruhe aus, unbewegte Ruhe, und er erwiderte meinen suchenden Blick unbeeindruckt und offen.
Undurchdringlich. Es war, als ob jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über mir ausgeleert hätte – Ernüchterung machte sich in mir breit, Enttäuschung und Schrecken. Der warme Privatmann Markus, der aufmerksame Zuhörer und witzige Gesprächspartner, den ich hätte mögen, dem ich hätte vertrauen können, war verschwunden, ersetzt durch den kalten, unberührbaren Polizisten. Der etwas wusste, etwas Wichtiges. Und es mir verschwieg.
Nach einem sich ins Endlose dehnenden, unbehaglichen Schweigen war ich es, die als Erste sprach, tonlos, aber entschlossen.
«Wir sollten zahlen.»
2. Kapitel
«Melissa, hast du die Blutentnahme bei Frau Wenger schon gemacht? – Melissa?»
Beat Weibel wedelte irritiert mit der Hand vor meinem Gesicht herum. «Hörst du mir zu?»
Ich schreckte hoch. «Natürlich, entschuldige bitte, Beat. Ja, habe ich. Blutbild und Chemie, wie angeordnet, die Resultate liegen bereits vor. Sie sitzt im Wartezimmer – soll ich sie aufrufen und in dein Sprechzimmer begleiten, bist du soweit?»
«Ja, gern», entgegnete Beat kurz angebunden und entschwand.
Ich holte tief Luft. Verdammt, ich musste mich konzentrieren. Ich spürte den hämischen Blick von Martina Rohrer im Nacken – wir hatten heute beide Frühdienst, sie stand in meiner Nähe an der Empfangstheke, hatte den Vorfall selbstverständlich registriert und freute sich diebisch, mich in einem unaufmerksamen Moment ertappt zu haben.
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, setzte ich mich in Bewegung, durchquerte den weitläufigen Raum und öffnete nach einem kurzen Anklopfen die Tür zum Wartezimmer.
Das Ärztezentrum Berncare in Wabern wies eindrückliche Dimensionen auf, an die ich mich noch immer nicht ganz gewöhnt hatte: ein grossräumiges, einstöckiges Gebäude, in dem nicht nur die Sprechzimmer von fünf Grundversorgern und sieben Spezialisten verschiedenster Fachrichtungen untergebracht waren, sondern auch ein kleiner Operationssaal mit eigener Sterilisationskammer, Labor, Röntgen und diverse Nebenräume. Ein Grossbetrieb, der siebzehn medizinische Praxisassistentinnen beschäftigte, ein betriebsamer Bienenstock, der straff organisiert und gut geführt werden wollte.
Dass ich die Position als Stellvertreterin der leitenden MPA hatte antreten können, verdankte ich Beat Weibel. Der junge Arzt, der bis zu dessen gewaltsamem Tod der Praxispartner meines ehemaligen Chefs, Franz Wasem, gewesen war, hatte nach dem Mord in der Gemeinschaftspraxis am Berner Eigerplatz befunden, dass er eine Veränderung brauchte. Als sich die Gelegenheit ergeben hatte, den Praxisraum eines erst kürzlich in Pension gegangenen Allgemeinpraktikers im Ärztezentrum Berncare zu übernehmen, hatte er nicht lange gezögert, zumal er den Leiter des Zentrums persönlich kannte und schätzte. Und als dieser dann mit der Frage an ihn herantrat, ob er eine kompetente MPA mit Führungsqualitäten empfehlen könnte, hatte Beat Weibel sofort mich ins Boot geholt – und nicht, wie ich voll Schadenfreude zur Kenntnis genommen hatte, die mir zutiefst unsympathische Verhaltensblondine Claudia Mühlemann, mit der er zuvor in der Praxis am Eigerplatz eng zusammengearbeitet hatte.
Ich öffnete die Tür zum Wartezimmer und blickte mich um. «Frau Wenger?»
Die zarte ältere Dame, die, einen Rollator vor sich aufgebaut, stirnrunzelnd in einer neuen Ausgabe der Schweizer Familie blätterte, hob den Kopf und meldete sich mit einem resoluten «Hier bin ich, Fräulein!» zu Wort.
Während ich Frau Wenger zu Beats Sprechzimmer begleitete – die alte Dame legte mit ihrem Rollator eine erstaunlich zackige Gangart vor – liess ich meinen Blick zufrieden umherschweifen. Ich begegnete Chantal, einer jungen MPA, die heute den Dienst im Röntgenraum übernommen hatte und eine junge Frau an Gehstöcken zur Untersuchung führte, wir zwinkerten einander zu. Dann kreuzte ich den Weg von Stefanie, der Fachärztin für Gynäkologie, die, einige Laborbefunde in der Hand, in Richtung der gemeinsamen Küche eilte, wahrscheinlich, um sich rasch einen Cappuccino zu gönnen. «Tolle Schuhe», raunte sie mit einem raschen Blick auf meine petrolgrün-weiss gepunkteten Ballerinas. «Danke sehr», trällerte ich und erwiderte ihr Grinsen kameradschaftlich.
Ich mochte Berncare. Es herrschte – mit wenigen Ausnahmen – eine erstaunlich angenehme Arbeitsatmosphäre für so einen grossen Betrieb, die Stimmung war herzlich und kollegial. Weil hier Ärzte ganz unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenarbeiteten, war der Alltag abwechslungsreich, und die Geschäftsleitung war nicht kleinlich in der Gewährung bezahlter Weiterbildungen, die ich zur Festigung meiner Führungskompetenzen brauchte. Ich konnte mich glücklich schätzen, die Stelle ergattert zu haben.
Ich führte Frau Wenger ins Sprechzimmer, übergab sie dem bereits wartenden Beat Weibel, den sie mit einem kräftigen Händedruck und einem strengen «So, junger Mann, was haben Sie mir über meine Blutwerte zu berichten?» begrüsste, und ging zurück ins Labor, um einen Überblick über die anstehenden Untersuchungen zu gewinnen. Und während ich noch auf die pendenten Aufträge starrte, weisse Plastikbecher mit verschiedenen Blutentnahmeröhrchen, schweiften meine Gedanken einmal mehr ab.
Markus Gerber, dieser unselige Vollblut-Beamte. Der sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als mir, einer durchaus charmanten jungen Frau, die ihm sichtlich nicht unsympathisch war, die Wahrheit über ihre verschwundene Freundin zu sagen.
Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er etwas Gewichtiges über Véro wusste. Markus und ich waren am Vorabend nicht im Guten auseinandergegangen. Er wusste, dass ich wusste, dass er etwas wusste – und dass er den Ahnungslosen mimte und mich damit dumm hinstellte, verletzte mich tief, mehr noch als die Tatsache, dass er nicht mit der Wahrheit herausrückte. Ich konnte polizeiliche Paragraphenreiterei ertragen, aber nicht diesen Verrat.
Und dennoch. Seine unmissverständliche Reaktion hatte deutlich gemacht: Ich lag richtig mit meiner Besorgnis. Dass der Name von Véronique Wilhelm einem Regionalfahnder der Berner Polizei etwas sagte, liess nichts Gutes vermuten.
Nur – was bedeutete es? War ihr tatsächlich etwas zugestossen?
Mir ging nicht aus dem Kopf, was sie über den zudringlichen Ex-Freund erzählt hatte, der sie über lange Zeit belästigt hatte. Wusste man, was in den Köpfen solcher Menschen vorging? Wer einer abtrünnigen Freundin derart entschlossen nachstellte, sie bedrohte und ängstigte, war womöglich auch zu Schlimmerem fähig.
Hatte Markus Gerbers Reaktion etwas mit dieser Geschichte zu tun? Und falls ja – warum schwieg er so beharrlich, warum weihte er mich nicht ein? Dienstgeheimnis hin oder her.
Schluss jetzt. Spekulationen brachten mich nicht weiter. Ich musste handeln.
«Geschätzte Melissa.» Ich fuhr herum. Die überaus liebenswürdige Anrede stammte von Martina Rohrer, natürlich. «Wärst du so gut und würdest beiseitetreten? Damit die, die in diesem Raum wirklich arbeiten müssen, auch an die Laborbecher können?»
Ich erwiderte Martinas süssliches Lächeln mit Mühe, trat wortlos zur Seite und blickte auf meine Armbanduhr. Halb vier. Um fünf endete mein Dienst, die Frühschicht. Das würde mir gerade genug Zeit lassen, um nach Thun zu fahren und vor Ladenschluss in dem Gartencenter einzutreffen, in dem Véro arbeitete.
Ich blickte mich ratlos in der weiten Verkaufshalle um. Pflanzen, soweit das Auge reichte. Ich hatte Mühe, mich in den Reihen von Töpfen, Containern und zugehörigen Produkten zurechtzufinden, und fühlte mich wie eine Dilettantin. Unglaublich, was man in einem Gartencenter alles kaufen konnte, wenn man sich denn auskannte. Ich für meinen Teil kannte mich nicht aus. Mein Wissensstand reichte nicht über die Grundlagen hinaus – brauchte man zum Gärtnern tatsächlich mehr als Erde, Sonne und Wasser, eine Schaufel und einen Terrakottatopf? Mich beschlich eine stille Ahnung, warum ich in meinen Versuchen, selbst Pflanzen zu ziehen, nie über mickrig-kränkelnde Küchenkräuter hinausgekommen war.
Einerlei, ich war nicht wegen dem Grünzeug hier. Wahllos schnappte ich mir einen Plastiktopf, irgendeinen, und marschierte damit auf eine junge, sympathisch wirkende Angestellte im grünen Kittel zu, die sich geschäftig an einer Auslage mit gefühlten tausend verschiedenen Unkrautvertilgern zu schaffen machte.
«Guten Abend», grüsste ich artig. «Sagen Sie, kann ich das hier auf meinen Balkon pflanzen?»
Die junge Frau, eine etwas rundliche Person mit kurzem blondem Haar, musterte die Pflanze und schenkte mir dann ein ungläubig-mitleidiges, aber gleichwohl warmes Lächeln. «Nun, ich würde es Ihnen nicht empfehlen. Es handelt sich hierbei um einen Riesenkürbis, der rankt meterweit und würde Ihren Balkon innert kürzester Zeit überwuchern. Wenn er nicht vorher eingeht – er braucht genügend Erde, um richtig wachsen zu können.»
«Oh», erwiderte ich betreten, und musterte den Pflanzencontainer argwöhnisch. «Meterweit, sagen Sie? Beeindruckend. Dann vielleicht doch nicht.» Ich drückte der verdattert wirkenden Frau den Topf kurzerhand in die Hände. «Dumm von mir, ich weiss. Ich habe keine Ahnung von Pflanzen. Normalerweise würde ich mich mit meiner Frage an Véro wenden – Véronique Wilhelm, kennen Sie, ja? Aber sie ist nicht hier, deshalb musste ich Sie belästigen.» Ich strahlte unbekümmert.
Die junge Frau starrte mich einen Augenblick an. Dann hoben sich ihre Augenbrauen. «Jetzt weiss ich, warum mir Ihr Gesicht so bekannt vorkommt! Sie sehen Véro unheimlich ähnlich, meine Güte! Sind Sie ihre Schwester?»
Wunderbar, dachte ich insgeheim. Natürlich war mir bewusst, dass Véro und ich uns glichen. Wir waren von ungefähr gleicher Grösse – beziehungsweise mangelnder Grösse – und schmaler Statur, beide hatten wir halblange Locken, wenn ihre auch ein wenig dunkler waren, und eine kleine Nase. Darin erschöpften sich die Parallelen allerdings, denn Véros Augen waren hellgrün, meine caramelbraun, sie hatte eine schmale Lücke zwischen ihren Vorderzähnen und ausgeprägtere Wangenknochen. Aber auf den ersten Blick fielen die Unterschiede nicht ins Auge.
So war es auch zu der Verwechslung gekommen, durch die wir einander kennengelernt hatten. In der vergangenen Silvesternacht hatte ich, wie viele Berner es gerne taten, mit meinen Freunden auf der Münsterplattform auf den Jahreswechsel angestossen. Tea, die an Feiertagen eine beklagenswerte Neigung zu übermässigem Alkoholgenuss aufwies, hatte sich im Taumel der allseitigen Neujahrswünsche einer jungen Frau um den Hals geworfen – und zu spät gemerkt, dass es sich dabei nicht um mich, sondern um eine Fremde handelte. So war ich mit Véro ins Gespräch gekommen.
Dass die Verkäuferin uns für verwandt hielt, konnte mir, so fand ich, nur nützlich sein.
«Nein, nicht die Schwester – die Cousine», log ich beherzt. «Mein Name ist Melissa.»
«Freut mich – ich heisse Celine», erwiderte die junge Frau und schüttelte mir die Hand. Doch dann verflog ihr Lächeln, und Sorge verdüsterte ihre Miene. «Kannst du mir sagen, was mit Véro los ist? Sie fehlt nun schon seit fast zwei Wochen, und niemand weiss, wo sie steckt. Die Chefin mag sie gerne und schätzt ihre Fähigkeiten, aber wenn Véro sich nicht umgehend meldet, muss sie mit einer fristlosen Kündigung rechnen. Ist sie krank?»
Ich schüttelte ernst den Kopf. «Ich weiss es auch nicht. Ich versuche schon seit Tagen, sie zu erreichen, aber sie reagiert nicht.»
Celine machte ein bedrücktes Gesicht. «Bei mir ist es das Gleiche. Unheimlich. Das hätte ich nie von ihr gedacht. Sie kam mir immer so zuverlässig vor.»
«Sag, Celine», begann ich vorsichtig. «Du hast nicht zufällig eine Ahnung, warum Véro nicht mehr zur Arbeit kommt? Hat sie irgendetwas gesagt? Über Schwierigkeiten gesprochen? Vielleicht über einen Mann, der ihr Probleme machte?»
«Nein, hat sie nicht. Sie ist immer sehr nett, aber nicht besonders gesprächig. Erzählt nicht viel über sich selbst und so. Ich kann mir nicht vorstellen, was passiert ist. Und du? Du bist doch immerhin ihre Cousine, du müsstest doch etwas wissen!» Auffordernd sah sie mich an.
«Nun», improvisierte ich aufs Geratewohl, «ich bin gerade erst von einem längeren Sprachaufenthalt in England zurückgekehrt und habe Véro daher schon lange nicht mehr gesehen. Wir wollten uns eigentlich treffen, aber dazu kam es nicht mehr. Ich kenne», ich verzog zerknirscht das Gesicht, «nicht einmal ihre aktuelle Wohnadresse. Dabei möchte ich unbedingt einmal nach dem Rechten schauen gehen. Kannst du mir damit allenfalls weiterhelfen?»
«Leider nein. Sie hat nie jemanden von uns zu sich nach Hause eingeladen. Sie wohnt in Bern, aber das weisst du wohl schon?»
Mist. «Und von deinen Kolleginnen? Könnte eine von denen die Adresse kennen?»
Celine schüttelte den Kopf. «Das ist unwahrscheinlich. Véro hat hier keine engen Bekanntschaften geschlossen. Wie schon gesagt, sie war nett, aber verschlossen. Irgendwie geheimnisvoll.»
Dann hatte offenbar nicht nur ich das so empfunden. Interessant.
Ich war nicht bereit, mich so leicht geschlagen zu geben. «Aber irgendwo muss doch ihre Adresse erfasst sein, wenn sie hier angestellt war, oder? Habt ihr keine Personaldossiers?»
«Doch, schon. Aber an die komme ich nicht ran», erwiderte sie mit sichtbarem Bedauern. «Das ist Sache des Personaldienstes.»
Ich biss mir auf die Unterlippe. «Celine, es ist wirklich wichtig – ich mache mir ernsthafte Sorgen um Véro. Es würde mir ungeheuer helfen, wenn ich ihre Adresse erfahren könnte.»
Celine zögerte. Dann sagte sie: «Ich frage mal meine Kolleginnen – warte einen Augenblick.»
Sie verschwand, und ich tat wie geheissen, ich wartete und studierte dabei abwesend die Aufschrift auf einer Packung Kakteendünger, ohne auch nur im Geringsten zu erfassen, was ich da las.
Nach wenigen Minuten kehrte Celine zurück. Sie strahlte und wedelte mit einem kleinen Notizzettel durch die Luft. Mein Herzschlag beschleunigte sich.
«Bingo!», rief sie erfreut. «Wir haben kürzlich Einladungen für ein kleines Fest verschickt, ein langjähriger Lagermitarbeiter wurde pensioniert, und ihm zu Ehren wurde ein Apéro veranstaltet. Die Liste mit den Adressen, die uns die Abteilung Human Ressources überlassen hat, lag noch im Office.»
Mit offenkundigem Stolz überreichte sie mir den Zettel.
Eine Stunde später stand ich im Berner Breitenrainquartier und blickte zu einem Mehrfamilienhaus mit von Abgasen geschwärzter Sandsteinfassade empor. Eine nette Gegend, fand ich, ein wenig abgeschossen vielleicht, aber familiär und unkompliziert. Kleine Vorgärten, in denen Tulpen und Narzissen sprossen.
Eines der Namensschilder im Hauseingang zeigte die Aufschrift «V. Wilhelm». Ich atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf. Nichts. Ich drückte noch einmal, lange und anhaltend. Wieder nichts.
Natürlich.
Entmutigt blieb ich im Hauseingang stehen und starrte hilfesuchend auf das Namensschild, unschlüssig, was ich jetzt tun sollte. Und kam mir dabei dumm vor. Was hatte ich mir erhofft? Dass Véro nach dem ersten Klingeln öffnen, mich freudig in die Arme schliessen und mir ihre ganze Geschichte erzählen würde? Lächerlich.
«Suchen Sie etwas?»
Ich fuhr herum. Ein älterer Mann in blauer Arbeitshose, mit stattlichem Bauch und einer Kappe auf dem dünnen grauen Haarschopf näherte sich mir von rechts. Er sah handfest und gemütlich aus, sein Blick war offen und zugewandt.
«Sind Sie der Hausmeister?»
Der Mann nickte behäbig. «Der bin ich.»
Ich lächelte unsicher. «Es geht um eine Mieterin dieses Hauses, um Véronique Wilhelm. Kennen Sie sie?»
Wieder nickte er. «Habe sie schon eine Weile nicht mehr gesehen.»
«Das ist», konfabulierte ich hektisch, «kein Wunder – sie ist nämlich überraschend verreist. Und – ach, es ist mir so irrsinnig peinlich!»
Der Hausmeister schob sich seine Kappe in den Nacken. «Peinlich? Na, was ist denn passiert?»
«Ich bin Véros Cousine. Und sie hat mich gebeten, ab und zu in ihrer Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Die Orchideen zu giessen, und», ich öffnete Véroniques Briefkasten und zog nonchalant einen unordentlichen Stapel Wurfsendungen heraus, «den Briefkasten zu leeren. Und wissen Sie, was ich fertiggebracht habe? Ich habe ihren Wohnungsschlüssel verlegt. So etwas Saublödes. Und jetzt weiss ich nicht, was ich machen soll. Wenn die Orchideen wegen meiner Nachlässigkeit eingehen, wird Véro mich über kleinem Feuer rösten, das kann ich Ihnen sagen. Und völlig zu Recht, die Dinger sind furchtbar teuer.» Reuevoll blickte ich zu ihm auf.
Der Mann musterte mich skeptisch. Was ich ihm nicht verdenken konnte. Ich bemühte mich um einen offenen, harmlosen Rehblick.
«Nun ja», meinte er schliesslich und rieb sich das Kinn. «Könnte ja jeder kommen und so etwas behaupten. Aber», er hob den Finger an seine Nase, «Ihnen sieht man an, dass Sie mit Frau Wilhelm verwandt sein müssen. Sehen ihr mächtig ähnlich, aber das wissen Sie sicher. Ausser, was Ihre Kleidung angeht, natürlich.» Stirnrunzelnd musterte er meine pinkfarbene Haremshose mit dem türkisfarbenen Corsagentop, das mir, so fand ich, besonders gut stand. «Und Sie wissen auch über die Orchideen Bescheid. Sie sind schon in Ordnung. Warten Sie, ich hole den Nachschlüssel.»
Und damit öffnete er die schwere Haustür aus Sicherheitsglas mit seinem Schlüssel, hielt sie für mich auf und bat mich mit einer auffordernden Geste ins Haus.
Nur wenige Minuten später, ich konnte mein Glück kaum fassen, stand ich in Véronique Wilhelms Wohnung. Der hilfsbereite Hauswart hatte mir den Schlüssel ohne Zögern überlassen, nachdem ich ihm versprochen hatte, diesen sofort nach Gebrauch wieder bei ihm abzugeben, und hatte mich dann allein gelassen.
Etwas beklommen spähte ich aus dem engen Korridor in die verschiedenen Räume. Mein Herzschlag beschleunigte sich, während ich in die kleine Küche schaute, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, schliesslich das winzige Bad. Als ich mich überall umgeschaut hatte, wurde ich ruhiger.
Keine Leiche. Keine Blutflecken, keine Anzeichen eines Kampfes. Gut.
Ich wischte mir die feuchten Handflächen am dünnen Voilestoff meiner Hose ab und unterzog die Wohnung einer genaueren Prüfung.
Die Küche war einfach eingerichtet, ein kleiner, hellgelb gestrichener Holztisch, zwei einfache Stühle. Allerdings fehlte alles Persönliche. Keine Magnete an der Kühlschranktür, keine Souvenirs oder Fotos, keine bunten Dekorationsgegenstände, wie sie meine eigene Küche im Übermass zierten, keine interessanten Zeitungsartikel. Alles war nüchtern und austauschbar. Nicht, was ich von Véro erwartet hätte.
Ich öffnete den Kühlschrank. Er war fast leer. Einige Joghurts, eine Dose mit Butter, eine angebrochene Milchpackung, die – ich schnüffelte vorsichtig an der Öffnung und verzog angewidert das Gesicht – sauer geworden war. Mit gerümpfter Nase schüttete ich die verdorbene Milch in den Ausguss.
Nacheinander öffnete ich die verschiedenen Schränke. Geschirr besass Véro nur wenig – sie schien meine unselige Neigung, in Brockenhäusern und auf Flohmärkten nach schönen Tellern oder alten Kristallgläsern zu stöbern, nicht zu teilen. Alles war spartanisch, sehr sauber, reduziert. Nur das Nötigste. Im Brotkasten hatte ein Rest Schwarzbrot Schimmel angesetzt, ich sah Plastikbehälter mit Mehl, Reis, Teigwaren und Zucker. Im Gewürzschränkchen fand ich Salz, Pfeffer und Paprika. Sonst nichts. Keine angegammelten Gewürzmischungen, die einmal begeistert gekauft und dann nie gebraucht worden waren, nichts Aussergewöhnliches.
Stirnrunzelnd ging ich durch den schmalen, schmucklosen Korridor mit seinen kahlen Wänden ins Wohnzimmer. Hier spielten tatsächlich Orchideen die glamouröse Hauptrolle. Auf einer breiten Fensterbank standen sie dutzendweise: Plastiktöpfe, Keramiktöpfe, üppige Blütenkaskaden in allen Schattierungen von Purpur, Rosa, Weiss, sogar Hellgrün. Ein Meer exotischer Schönheit. Daneben wirkten das schlichte schwarze Ledersofa, der einfache Holztisch mit den vier Stühlen und das Fernsehgerät unscheinbar und seelenlos. Auch hier fehlten Bilder und Dekorationsgegenstände. Wären nicht die Blumen gewesen, hätte das hier ohne weiteres eine Ferienwohnung sein können – funktional, sauber, anonym.
Eine mit Wasser gefüllte Giesskanne aus Kupfer stand in Griffnähe der Orchideen bereit, der einzige Gegenstand im Raum, der etwas Individuelles an sich hatte. Mir schwante, dass schlichtes Giessen den verwöhnten Ansprüchen dieser Edelpflanzen nicht würde gerecht werden können – wahrscheinlich hätte ich die Dinger düngen, baden und ihnen huldigen müssen. Seufzend griff ich nach der Kanne. «Tut mir leid, Mädels», murmelte ich, während ich ehrfürchtig ein wenig Wasser in jeden einzelnen Topf rinnen liess, «aber das ist alles, was ich hinbekomme. Bitte nicht eingehen, versprochen?»
Nach diesem kümmerlichen Einsatz als Ersatzgärtnerin stellte ich die Kanne zurück und sah mich weiter in der Wohnung um. Es blieb nicht mehr viel übrig. Auch das Schlafzimmer war schlicht und sachlich eingerichtet, auch hier fehlte alles Private und Schmückende. Kurzerhand warf ich alle Skrupel über Bord und durchstöberte die Schubladen des Schreibtisches, der in einer Ecke des Raumes stand. Ich fand ein perfektes, schlankes Ablagesystem für Rechnungen und Korrespondenz, einen Ordner mit wichtigen Unterlagen – Mietvertrag, Krankenkassenpolice, Anstellungsvertrag, Unterlagen eines Mobilfunkanbieters, Haftpflichtversicherung. Einige Arbeitszeugnisse. Alles wohlgeordnet und durchdacht. Nicht zu vergleichen mit meinem eigenen Dokumentenordner, in dem schon lange überholte Dokumente in ältliche Plastikzeigetaschen gestopft vor sich hinknitterten, Wichtiges von Unwichtigem kaum zu trennen war. Meine Dokumentensammlung war ein Kaleidoskop meines gesamten Lebens, ein Rückblick ohne Überblick. Véros Ordner hingegen, ich blätterte nachdenklich durch die Seiten, war auf dem neuesten Stand, die meisten Dokumente reichten nur wenige Monate zurück.
Ich war überrascht. Véro war keine Chaotin, sicher, ich hatte sie als durchaus organisierten und zielgerichteten Menschen kennengelernt. Aber das hier? Diese sterile Methodik? Darin erkannte ich sie nicht wieder. Ich hatte sie als eine Frau erlebt, die in romantischen Filmen schwelgte, gerne gefühlvollen Jazz hörte und bei unseren regelmässigen Besuchen im Starbucks die fantasievollsten Kaffeezubereitungen und das kalorienreichste Süssgebäck wählte. Die Frau, der die Wohnung hier gehörte, würde nichts ausser Espresso trinken, schwarz, ohne Milch und Zucker, am liebsten auch ohne Löffel.
Ich stöberte weiter durch die Schubladen. Ich fand Büromaterial, einige Packungen Kaugummi, Haarbänder. Ein Hauch von Unordnung. Aber keine Briefe oder Ansichtskarten, keine Tagebücher, keine Fotos.
Entschlossen wandte ich mich dem Kleiderschrank zu. Auch hier hatte es von allem wenig. Véros Stil unterschied sich beträchtlich von meinem, das hatte der nette Hausmeister richtig beobachtet. Während ich gerne knallbunte Stücke in verspielter Form trug, bevorzugte Véro Kleidung mit schlichten Linien und in dezenten Farbtönen. Ich konnte nicht sagen, ob etwas fehlte, ich fand allerdings auch keinen Koffer, keine Reisetasche. Und ich hoffte inständig, dass das hier nicht ihre gesamte Garderobe war – Leute mit derart minimalistischem und wohlgeordnetem Kleiderschrank schüchterten mich ein.
Im angrenzenden kleinen Badezimmer fehlte fast alles. Eine halbleere Flasche mit Badezusatz – Lavendel – stand einsam auf dem Rand der Badewanne, im Spiegelschrank fand ich eine Tube Gesichtspeeling und Wattestäbchen. Sonst nichts. Keine Zahnbürste, kein Duschgel, kein Deo, gar nichts.
Nachdenklich ging ich in das Wohnzimmer zurück, blieb mitten im Raum stehen. Und schlang unwillkürlich die Arme um mich.
Diese Wohnung passte nicht zu Véro. Sie war unpersönlich, austauschbar, beklemmend neutral. Beinahe zwanghaft. Ich fand keinen Schimmer von Véros Persönlichkeit wieder, von ihrer Lebhaftigkeit, ihren Interessen. Wo waren die alten Kinofilme, die sie gemäss ihren Schilderungen so schätzte? Die wenigen Bücher, die ich gefunden hatte, waren neu und belanglos, profillose Romane, Massenware. Wo waren die Sachbücher, die sie sich im Laufe ihrer Berufsjahre gekauft haben musste, die Bildbände über Orchideen, die ich erwartet hätte? Wo waren die Zeugen ihres Lebens, ihrer Vergangenheit?
Nein, diese Wohnung erzählte mir nichts. Mehr noch: Sie hatte etwas Verschlossenes, Abweisendes an sich, als wäre sie nicht gewillt, mir auch nur das Geringste über ihre Besitzerin preiszugeben. Als wollte sie ein Geheimnis bewahren, die echte Véro vor meinen Augen verbergen.
Ich hätte beruhigt sein können. Ich hatte keine Hinweise auf gewaltsame Vorgänge gefunden. Véro, so schien es, hatte in aller Ruhe ein paar Kleider und ihre Toilettensachen zusammengepackt und ihre Wohnung verlassen. Ihre Handtasche, ihr dunkelblauer Trenchcoat, den sie gerne trug, ihre hellbraunen Stiefel und das Mobiltelefon fehlten, sie musste sie mitgenommen haben. Nichts Aussergewöhnliches.
Und doch. Ich war nicht beruhigt. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.
Ich fröstelte. Nach einem letzten Rundblick wandte ich mich um und ging.
Zuhause angekommen, lenkte ich meinen violetten Renault Twingo, steinalt und über alles geliebt, gedankenverloren auf meinen privaten Parkplatz neben dem Haus. Statt direkt auszusteigen, blieb ich einige Momente sitzen.
Und jetzt?
Ich fühlte mich hoffnungslos unzulänglich, stümperhaft. Ich hatte im Grunde nichts herausgefunden. Nach wie vor hatte ich keinen Schimmer, wo Véro sich aufhielt, was mit ihr passiert war. Ich hatte keine Hinweise darauf, dass ihr etwas zugestossen wäre, und mir fiel nichts ein, was ich noch hätte unternehmen können, um sie zu finden. Was blieb, war ein kaltes, nagendes Unbehagen.
Kopfschüttelnd öffnete ich die Fahrertür und stieg aus. Ich schloss die Tür ab – von Hand, natürlich, Kinkerlitzchen wie eine automatische Türverriegelung lagen weit über dem Komfortniveau meines Wagens – und trottete dann in Richtung Hauseingang.
Ein einzelner Passant kreuzte raschen Schrittes meinen Weg. Als er auf einer Höhe mit mir war, stutzte der Mann, hielt inne.
«He», sagte er, und seine Stimme klang erfreut. «Dich kenne ich doch!» Ein markanter Zürcher Dialekt.
Ich blieb stehen. Stirnrunzelnd sah ich zu ihm auf. Ein hochgewachsener, sehr gut aussehender junger Mann – zu jung für meinen Bedarf, vielleicht Anfang, Mitte zwanzig, aber zweifellos auffallend attraktiv. Pechschwarze, modisch geschnittene Haare – eine halblange, gekonnt frisierte Haartolle, der Rest darunter raspelkurz rasiert –, ein markantes Gesicht, das auf der Titelseite eines Hochglanzmagazins durchaus nicht deplatziert gewesen wäre. Ein offener, argloser Blick.
«Tut mir leid», erwiderte ich zurückhaltend. «Nicht, dass ich wüsste.»
«Aber doch», beharrte er. «Ich habe dich erst kürzlich im Starbucks gesehen – war es vor knapp zwei Wochen oder so? Samstagnachmittag? Vielleicht erinnerst du dich nicht. Du warst in Begleitung einer alten Bekannten von mir, die habe ich kurz begrüsst.»
Ich horchte auf. «Véro Wilhelm?», fragte ich rasch.
Der junge Mann nickte eifrig. «Genau! Lustig, dass ich dich hier wiedersehe. Ich heisse Michael! Michael Lang.» Impulsiv streckte er seine Rechte aus, und ehe ich es mir versah, hatte ich die Geste erwidert und eingeschlagen. Sein Händedruck war angenehm fest.
«Melissa Braun», entgegnete ich. «Du bist ein Bekannter von Véro?»
Michael nickte enthusiastisch. «Ich kenne sie von früher, ist aber schon Jahre her. Ich hatte sie eine Weile aus den Augen verloren – toller Zufall, dass ich ihr ausrechnet in Bern wieder über den Weg laufe! Sag mal ...» Sein Lächeln wurde breiter, charmanter. Vertraulich. «Du weisst nicht zufällig, wo ich sie finden kann. Ich würde Véro zu gern mal wieder treffen. Wo wohnt sie denn?»
Sein Auftreten hatte etwas unerhört Einnehmendes, Natürliches. Der warme Schimmer seiner dunklen Augen lud dazu ein, ihm zu vertrauen.
Pustekuchen.
«Nein, tut mir leid», erwiderte ich fest. «Ich weiss nicht, wo sie wohnt. Ich kenne Véro nur sehr oberflächlich und habe seitdem nichts mehr von ihr gehört.»
Der junge Apoll zögerte nur einen winzigen Augenblick. «Ach so», meinte er dann leichthin, und sein Lächeln verlor kein Jota seiner Strahlkraft. «Schade, da kann man nichts machen. Na, hat mich gefreut, dich zu sehen, Melissa. Wer weiss? Vielleicht laufen wir uns wieder einmal über den Weg? Ganz zufällig, so wie jetzt? Wäre doch nett, oder? Alles Gute! Ciao!» Er verabschiedete sich mit einer lässigen Geste, wandte sich ab und schlenderte entspannt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein charmanter, harmloser junger Mann.
Und ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihm nach, beobachtete, wie seine schlanke, hochgewachsene Gestalt sich entfernte, mit elastischen und unbekümmerten Schritten, weiter und weiter dem kleinen Quartiersträsschen entlang, in dem er, da hätte ich viel darauf gewettet, nichts verloren hatte.
Ich war mir sicher, ich hatte Michael Lang noch nie zuvor gesehen. Ganz sicher nicht an jenem Samstag im Starbucks, ganz sicher nicht auf die Weise, die er geschildert hatte.
Bewegungslos verharrte ich, bis der junge Mann aus meinem Blickfeld verschwunden war. Dann setzte ich mich in Bewegung, eilte rasch in Richtung Hauseingang.
Auf einmal wusste ich ganz genau, was ich zu tun hatte.
3. Kapitel
Der Lärm war absurd.
Ich stand steif in dem kleinen Vorraum, fühlte mich unwohl und fehl am Platz und wartete. Missbilligend starrte ich auf die geschlossene Tür direkt vor mir. Sie verwehrte mir die Sicht auf den dahinterliegenden Raum, vermochte aber nicht die Kakophonie zu dämmen, die von diesem ausging: Rufe im Befehlston, Stampfen, Ächzen, markerschütternde Schreie. Was, zum Geier, ging dort vor?
Immer und immer wieder schaute ich auf die Uhr. Schon nach sieben. Warum dauerte das so lange?
Unbehaglich sah ich mich um. Ich war nicht allein. Um mich herum standen oder sassen zehn, zwölf Jugendliche, ältere Teenager beiden Geschlechts, die sich unterhielten oder die eine oder andere Dehnungsübung vollführten. Alle trugen sie ein weisses Gewand und Gürtel in dunklen Farben, in Blau, Braun. Und Schwarz. Die Meisterklasse.
Ich bemühte mich, die neugierigen, spekulativen Blicke der Jugendlichen an mir abperlen zu lassen, die zu ergründen versuchten, was jemand wie ich, jemand in Zivil und ganz offenkundig keine der Ihren, hier zu suchen hatte, und blickte wieder zu der Tür. Komm schon.
Dann, endlich, war es soweit. Die Tür öffnete sich. Heraus quoll eine Gruppe von Kindern, dem Anschein nach im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren, mit verschwitzten Haaren und geröteten Gesichtern. Auch sie trugen weisse Gewänder und Gürtel, letztere jedoch vornehmlich in Weiss, Gelb, Orange und Grün. Sie schoben mich kurzerhand beiseite und trollten sich schwatzend und drängelnd in Richtung der Garderoben.
Nun denn. Ich holte tief Luft und trat in den Trainingsraum.