Tödliche Praxis - Esther Pauchard - E-Book

Tödliche Praxis E-Book

Esther Pauchard

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  • Herausgeber: LOKWORT
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Der streitlustige Berner Hausarzt Franz Wasem wird ermordet in seinem Sprechzimmer aufgefunden. Melissa Braun, seine Praxisassistentin, findet sich unversehens in der Rolle einer Verdächtigen wieder. Um ihre Unschuld zu beweisen, beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln, deckt ein verfilztes Netz aus alter Bitterkeit und neuen Feindschaften auf und kommt beim Entwirren der einzelnen Fäden dem Täter immer näher. Gemeinsam mit ihrer Freundin Sylvie-Anne Bernard und dem undurchsichtigen Paul Kempf dringt Melissa in die Untiefen eines Falles vor, der ihr bald zum Verhängnis zu werden droht.

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Seitenzahl: 502

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Tödliche Praxis

Kriminalroman

von Esther Pauchard

Umschlagbild von Esther Pauchard

Lektorat: KAISERworte, Esther Kaiser Messerli

Gestaltung: arsnova, Horw

Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck

© 2016 Buchverlag Lokwort, Bern

Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag

ISBN 978-3-906806-06-8

www.lokwort.ch

Kapitel 1

In dem Moment, als ich mit dem Hinterkopf hart auf Asphalt prallte, war mir klar, dass dies kein guter Tag werden würde.

Stöhnend tastete ich mit den Fingern in meinen Haaren herum. Eine Beule, die rasch auf die Masse eines mittelgrossen Hühnereis anschwoll. Ein wenig Blut. Als ich mich aufzusetzen versuchte, wurde mir übel, also legte ich mich wieder flach auf den Rücken. Am morgendlichen Novemberhimmel, dessen trübe Schwärze erst allmählich in ein düsteres Anthrazitgrau überzugehen begann, flammten Sterne auf, die da eigentlich nicht hätten sein sollen. Ich blinzelte.

Unvermittelt tauchte ein Gesicht in meinem Blickfeld auf. Ein älterer Mann.

«Sind Sie gestürzt?»

Ah, ein Humorist. Dachte er, ich hätte mich hier zum Sonnenbaden hingelegt?

«Leider. Ich bin auf dem Glatteis ausgerutscht.»

Der Mann nickte weise. «Ist tückisch um diese Jahreszeit. Besonders», er musterte meine untere Körperhälfte, «wenn man derart unvernünftige Schuhe trägt.»

Ich zog meine Füsse unter mich, um meine hochhackigen Wildlederstiefel, die zugegebenermassen tatsächlich nicht das ideale Schuhwerk für frostige Tage, dafür aber wirklich schick waren, vor seinen vorwurfsvollen Blicken zu verbergen, und versuchte erneut, mich aufzurichten. Mein Schädel brummte, und meine linke Schulter schmerzte dumpf.

«Warten Sie.» Der Passant ergriff meinen Arm und zog mich mit einer raschen, erstaunlich kraftvollen Bewegung auf die Füsse. «Geht es?»

«Natürlich», murmelte ich mit wenig Überzeugungskraft und versuchte, Herrin über meine zitternden Knie zu werden. Vorbeihastende warfen mir neugierige Blicke zu, ein Teenagerpaar wandte sich offen gaffend nach mir um. Die Situation war mir peinlich.

«Wo wollen Sie hin?», fragte mein Retter und verstärkte seinen Griff um meinen Oberarm. Offenbar befürchtete er, dass ich jeden Moment umkippen könnte. Ich musste besorgniserregend aussehen.

«Da rüber.» Ich deutete schwächlich in Richtung des Gebäudeeingangs. «Es sind nur wenige Schritte. Das schaffe ich schon.»

Der Mann liess es nicht darauf ankommen. Wortlos legte er seinen zweiten Arm um mich, stützte mich beidhändig und führte mich mit langsamen Schritten an einer BEKB-Bankfiliale vorbei bis zur offenen Lifthalle des Hochhauses. Ich tappte auf unsicheren Beinen neben ihm her, kam mir einerseits albern und unbeholfen vor, konnte andererseits aber nicht umhin, die überraschende Fürsorge ein wenig zu geniessen.

«Hier ist es.» Ich löste mich vom Arm des Fremden. «Danke für Ihre Hilfe. Das war nett von Ihnen.»

Der Mann ignorierte meine Dankesworte, studierte stattdessen die Hinweistafel, die über die verschiedenen im Gebäude ansässigen Institutionen aufklärte. Botschaften, Fachstellen, ein Hilfswerk, Praxen.

«Arbeiten Sie hier?»

Ich nickte, während ich die «Berner Zeitung» aus unserem Briefkastenfach zog. «Allerdings. In einer der Arztpraxen.» Ich deutete auf das Schild, das für die «Hausärztliche Gemeinschaftspraxis Eigerplatz, Dres med Wasem und Weibel» warb, und zuckte zusammen – ich musste mir die Schulter schlimmer geprellt haben als vermutet.

«Tatsächlich? Dann machen Sie hier Ihre Lehre?»

Ich spürte, wie das freundliche Lächeln von meinem Gesicht rutschte. «Nein», entgegnete ich kühl und überdeutlich jedes Wort betonend. «Ich bin nicht mehr in Ausbildung. Ich bin voll ausgebildete medizinische Praxisassistentin und dreissig Jahre alt.»

«Oh! Das sieht man Ihnen wirklich nicht an», meinte der Fremde launig. «Kopf hoch, in zehn Jahren werden Sie sich glücklich schätzen, so jung zu wirken.»

Ich lächelte eisig, deutete dann ein knappes, ungnädiges und sehr abschliessendes Nicken an und drehte dem Unglücksmenschen entschlossen den Rücken zu, um den Lift zu rufen. Der Mann hatte den Wink offenbar verstanden – ich hörte, wie seine Schritte sich entfernten und schliesslich verklangen, während ich, die Zeitung unter den versehrten Arm geklemmt, ein Taschentuch hervorholte und mir damit den Hinterkopf abtupfte. Die Blutung hatte aufgehört.

Als ich die Eingangstür zur Praxis aufschloss, lagen die Räume hinter dem kurzen Korridor dunkel und verlassen da. Ich war die Erste heute Morgen. Gut. Mir blieb also noch ein wenig Zeit vor der unvermeidlichen Konfrontation.

Mechanisch machte ich Licht, drehte alle Storen hoch und öffnete kurz die Fenster, um die eisige Winterluft einzulassen. Nachdem ich meinen Mantel abgelegt und den eintönig weissen Arbeitskittel übergezogen hatte, legte ich die Tageszeitung ins Wartezimmer und rückte Magazine und Stühle zurecht. Im kleinen Büroraum fuhr ich den Computer hoch und knipste die Kaffeemaschine an, ehe ich im Labor die Diagnosegeräte anschaltete und die Becher für die geplanten Blutuntersuchungen kontrollierte. An der Theke schlug ich die Praxisagenda auf und überprüfte, ob die Krankengeschichten für den heutigen Tag vollständig und in korrekter Reihenfolge bereitlagen. Der Chef konnte schlampige Arbeit nicht ausstehen.

Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, als ich zur Sprechzimmertür hinsah. Franz Wasems Reich. In das ich jetzt gleich eintreten würde, um zu lüften, das Licht und den Leuchtkasten für die Röntgenbilder anzuschalten, den PC hochzufahren. Um zu prüfen, ob ausreichend Rezeptformulare bereitlagen, ob die sterilen Wundversorgungssets, die Wattestäbchen, Tupfer, Verbandsmaterialien und Ampullen mit Lokalanästhetikum aufgefüllt waren. So, wie mein Chef es haben wollte.

Ich stand vor dieser geschlossenen Tür und realisierte, dass ich Angst hatte. Nicht vor der durchaus gewöhnlichen, lichtgrau gestrichenen Tür, sondern vor dem, wofür sie stand. Vor dem, was kommen musste, wenn Doktor Franz Wasem in Kürze die Praxis betreten würde, wenn seine Wut, vor der ich am Vorabend rebellisch und hilflos zugleich geflohen war, wieder über mich hereinbrechen würde.

Ich schluckte. Und beschloss, zuerst die Toilette aufzusuchen.

In dem engen, von einer trüben Deckenleuchte erhellten Raum stellte ich mich vor den Spiegel. Während ich mit einem mit Händedesinfektionsmittel getränkten Papierhandtuch vorsichtig das geronnene Blut von der Schwellung an meinem Hinterkopf tupfte, betrachtete ich mich kritisch, schob mein Gesicht ganz nah an den Spiegel heran.

Ich war blass, die Sommersprossen auf meiner Nase bildeten einen auffälligen Kontrast zu meiner milchweissen Haut, und die hellbraunen Locken, die ich zu Hause schlaftrunken zu zwei Zöpfen geflochten hatte, damit sie einigermassen ordentlich aussahen, waren nach meinem würdelosen Sturz zerzaust. Aber die eigenwillige Caramelfarbe meiner Augen (die ein jugendlicher Bewunderer einmal als katzenhaft gepriesen hatte) blitzte lebhaft unter meinen durchaus ansehnlichen langen Wimpern und einem akkurat gezogenen Sechzigerjahre-Lidstrich hervor; und konnte ich auch mit keiner nennenswerten Oberweite aufwarten, so bot ich doch mit dem zarten Knochenbau, meiner kleinen Stupsnase und den gar nicht so üblen, recht vollen Lippen, die mit meinem neuen, matt korallenfarbigen Lippenstift regelrecht spektakulär aussahen, den Anblick einer interessanten jungen Frau – «irgendetwas zwischen ätherischer Fee und frechem Kobold», meinte meine beste Freundin Nina gerne – und sah keineswegs wie eine Halbwüchsige aus. Der alte Knacker von vorhin, befand ich trotzig, musste halbblind gewesen sein.

Ungeduldig rubbelte ich die letzten Blutreste aus meinen Haaren, wusch mir die Hände und entriegelte die Tür.

Alles ruhig. Die Praxis lag verlassen vor mir. Die Wanduhr zeigte sieben Uhr dreizehn.

Wasem musste jeden Moment eintreffen, es war also höchste Zeit.

Entschlossen das ungute Gefühl in meiner Magengrube ignorierend, öffnete ich die Tür zu Wasems Sprechzimmer und drückte auf den Lichtschalter.

Dann blieb die Zeit stehen.

Einige Herzschläge lang stand ich nur da, seltsam unbeteiligt und ohne zu atmen, bis mein Hirn stotternd seinen Betrieb wieder aufnahm und ich realisierte, dass ich doch nicht allein in der Praxis war, denn Franz Wasem würde nicht erst kommen, er war schon da, und doch war ich allein, so allein wie nie zuvor in meinem Leben, denn mein Chef sass nicht wie üblich steif aufgerichtet in seinem ergonomischen Bürostuhl, er sass überhaupt nicht, er lag im weissen Arztkittel auf dem Fussboden, halb auf der Seite, in einer Hand lag etwas Dunkles, Schimmerndes, und ich brauchte nicht erst die kreisrunde, rötlich-schwarze Wunde an seiner Schläfe zu sehen, um zu begreifen, dass Franz Wasem nicht aufstehen und sich mit mir streiten würde – um zu begreifen, dass Franz Wasem nie wieder mit einem Menschen streiten würde.

Nie wieder.

Kapitel 2

«Frau Braun? Hören Sie mich? Ist mit Ihnen alles in Ordnung?»

Ich stand an der Theke, umklammerte mit beiden Händen die Praxisagenda wie eine Ertrinkende den Rettungsring, und versuchte zu begreifen, was mit mir passierte. Verwirrt betrachtete ich das Chaos um mich herum: Beat Weibel redete wild gestikulierend auf einen uniformierten Polizisten ein, der sich am Metallschrank mit unseren Krankengeschichten zu schaffen machte. Claudia Mühlemann war in Tränen aufgelöst auf einem Besucherstuhl zusammengesackt, Menschen in weissen Papieroveralls duckten sich unter Schranken aus Absperrband hindurch, schleppten eigentümliche Ausrüstungsgegenstände herum und unterhielten sich leise, während auf dem Pult vor mir unaufhörlich das Telefon schrillte. In meinem Kopf war alles leer.

«Frau Braun!»

Endlich drang die Stimme zu mir durch. Benommen wandte ich mich zu ihrem Ursprung um und blickte in ein paar dunkle, ruhige Augen.

«Frau Braun. Bitte sprechen Sie mit mir.»

Ich nickte und räusperte mich. Meine Stimme klang brüchig. «Entschuldigung. Ich war wohl nicht ganz bei der Sache.»

Der Mann lächelte. «Das wundert mich nicht im Geringsten.»

Meine Welt stand Kopf. Seit ich an diesem Morgen um sieben Uhr dreizehn das Sprechzimmer meines Chefs betreten und Franz Wasem tot am Boden vorgefunden hatte, waren erst neunzig Minuten vergangen. Neunzig Minuten, in denen die vertraute Alltäglichkeit meines Arbeitsortes den Bach runter gegangen war, und zwar komplett.

Ich hatte die Notrufnummer der Polizei gewählt, natürlich, und keine zehn Minuten später (zehn Minuten, die ich zusammengekauert in einem Stuhl im Wartezimmer verbracht hatte, die Arme eng um meine Knie geschlungen) waren zwei Uniformierte eingetroffen, ein Mann und eine Frau, die nach einem raschen Rundblick über die Situation das Sprechzimmer meines Chefs mit Plastikband abgesperrt, mich befragt und umgehend Verstärkung angefordert hatten. Innert kürzester Zeit waren zwei Regionalfahnder eingetroffen, zudem ein Rechtsmediziner im weissen Kittel, der gemeinsam mit einem Kollegen vom kriminaltechnischen Dienst unter Zuhilfenahme von papierenen Fussüberzügen im Sprechzimmer verschwunden war, während die beiden Uniformierten sich vor der Praxistür postiert hatten, um die nach und nach hereintröpfelnden Patienten abzufangen. Durch die angelehnte Tür hatte ich verfolgt, wie die beiden Polizisten geduldig die drängenden Fragen der Eintreffenden beantwortet hatten: «Die Praxis ist geschlossen. Nein, wir können aktuell nicht mehr sagen. Rufen Sie zu einem späteren Zeitpunkt an. Tut mir leid, wir können wirklich nicht …»

Beat Weibel, Wasems Praxispartner, war kurz vor acht eingetroffen, blass und erschüttert, gefolgt von Claudia Mühlemann, seiner Praxisassistentin, deren üppige kirschrot geschminkte Unterlippe gezittert hatte wie bei einem weinenden Kind, als man ihr die Nachricht von Wasems Tod vermittelt hatte.

Und dann war der Rechtsmediziner aus dem Sprechzimmer getreten und hatte sich im Flüsterton mit den Regionalfahndern unterhalten, woraufhin diese ernste Telefongespräche geführt und noch mehr Verstärkung angefordert hatten, zwei weitere Fachleute vom kriminaltechnischen Dienst in Overalls aus Papier und einen orangefarben gewandeten Mann vom unfalltechnischen Dienst, der mit einem seltsamen Gerät auf einem Stativ geduldig in einer Ecke wartete. Dass man meine Fingerabdrücke abgenommen hatte, hatte mir eingeleuchtet – sie mussten überall im Sprechzimmer zu finden sein, und natürlich wollte die Polizei meine von fremden unterscheiden können. Aber der Rechtsmediziner hatte zu meiner Verwirrung auch meine Hände auf ein feuchtes Löschpapier gedrückt, deren Konturen nachgezeichnet, und ich hatte nicht begriffen, was diese Massnahme bedeutete. Und dann, als die beiden Fahnder vom Dezernat Leib und Leben eingetroffen waren, hatte ich begriffen, dass hier etwas ganz und gar Ernstes vor sich ging, und ich hatte realisiert, dass ich hyperventilierte, ohne dass ich etwas daran zu ändern vermochte.

«Frau Braun», wiederholte der Mann mit den dunklen, ruhigen Augen, und die ständige Nennung meines Namens hatte eine hypnotische Wirkung auf mich, «mein Name ist Markus Gerber, erinnern Sie sich? Ich bin Regionalfahnder und möchte Sie gerne eingehender befragen. Bitte folgen Sie mir ins Büro.»

Die Hand auf meinem Unterarm war warm und vermittelte Sicherheit, also löste ich meine steifen Finger von der Praxisagenda, setzte mich in Bewegung und folgte ihm.

Im Büro war es vergleichsweise friedlich. Gerber wies mich an, mich zu setzen, und schloss die Tür hinter uns, so dass nur noch wenig von der bienenstockartigen Betriebsamkeit draussen zu uns durchdrang. Die Stille war wohltuend. Ich atmete tief durch.

Markus Gerber setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl. Der Raum war klein, der Mann sass kaum einen Meter von mir entfernt, so dass ich sein Gesicht im harten Licht der unvorteilhaften Deckenlampe genau studieren konnte. Es war ein gutes Gesicht – ein warmer, verständnisvoller Blick, symmetrische, klare Gesichtszüge unter kurz geschnittenem dunkelbraunem Haar. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig, er trug zivil, einen dunkelblauen Pullover über Jeans. Als ich ihn mir so ansah, kam es mir vor, als wäre er unter all den Menschen, die heute an mir vorbeigezogen waren, unter all den Namen und Funktionen der Einzige, den ich scharf sehen konnte, der mehr war als eine verschwommene Silhouette. Der einzige reale Mensch.

«Das muss alles sehr schwierig für Sie sein. Wie geht es Ihnen?» Seine Stimme war tief und beruhigend.

«Nicht besonders.» Meine Stimme klang kläglich dünn. «In meinem Kopf dreht sich alles, ich kann keinen klaren Gedanken fassen. All die Menschen, der Betrieb, und dann die Patienten, denen man nichts sagen darf … Es ist etwas viel auf einmal.»

«Absolut verständlich. Lassen Sie sich Zeit, versuchen Sie, sich zu entspannen.»

Entspannen. Netter Versuch, dachte ich zynisch.

«Lassen Sie uns zuerst die Formalitäten erledigen. Diese erste Befragung mache ich, um einen Überblick zu gewinnen. Später, vielleicht heute Nachmittag, werde ich Sie für eine schriftliche Einvernahme in der Hauptwache am Waisenhausplatz einladen. Ihr Name ist Melissa Braun, und Sie sind Arztgehilfin?»

Ich nickte. Und fügte ungefragt hinzu: «Ich bin medizinische Praxisassistentin, richtig. Ich arbeite seit Anfang August für Franz Wasem, also erst seit dreieinhalb Monaten.»

«Und zuvor?»

«Zuvor hatte ich eine Stelle in einer internistischen Praxis in Meiringen. Dort war ich sieben Jahre tätig.»

Gerber machte sich Notizen. «Weshalb haben Sie sich eine neue Stelle gesucht?»

Ich geriet kurz ins Stocken, was dem Mann zweifellos auffiel. «Ich … brauchte eine Veränderung. Ich stamme aus Meiringen, habe dort meine Ausbildung gemacht und später bei verschiedenen Ärzten gearbeitet. Ich wollte einfach mal woanders hin. Deshalb bin ich nach Bern gezogen.»

Gerber nickte, sagte jedoch nichts dazu. «Sie mögen Ihren Beruf?»

Überrascht sah ich auf. «Ja, ich mag ihn.» Als der Fahnder schwieg, fuhr ich zögernd fort. «Meine Tätigkeit ist interessant und vielseitig, ich trage Verantwortung, und ich schätze es, jeden Tag die verschiedensten Menschen um mich zu haben.»

«Der Kontakt zu den Patienten ist Ihnen wichtig?»

«Sehr», bekräftigte ich. «Die Menschen, die in die Praxis kommen, sind angeschlagen und verunsichert. Es ist wesentlich, wie man ihnen begegnet – sie brauchen Anteilnahme, Freundlichkeit und Verständnis genauso dringend wie medizinische Versorgung. Natürlich will und muss ich straff organisiert, zuverlässig und kompetent arbeiten – die Blutentnahme muss sitzen und der Arzttermin stimmen. Aber der menschliche Faktor ist das Zentrum meines Handelns.»

Gerber lächelte. «Gut für Ihre Patienten. Sie werden das zweifellos zu schätzen wissen. Sie arbeiten nur für Franz Wasem? Oder auch für dessen Partner?»

Mir fiel auf, dass er noch immer die Gegenwartsform verwendete. Vielleicht, um mich zu schonen, um die Endgültigkeit des Todes noch für eine Weile fernzuhalten. Aber konnte man für einen Toten arbeiten? Für eine Leiche? Hier gab es keine Gegenwartsform mehr.

«Ja. Beat Weibel und Franz Wasem arbeiteten zwar zusammen, hielten ihre Belange jedoch weitgehend getrennt. Eigene Patientenstämme, eigenes Personal, eigene Dokumentationssysteme. Die beiden waren sehr verschieden. Ich war die persönliche Praxisassistentin von Franz Wasem.»

«Inwiefern waren die beiden denn verschieden?»

«Beat Weibel ist erst seit wenigen Jahren als niedergelassener Hausarzt tätig. Er ist … er ist nett, ein besseres Wort fällt mir nicht ein. Ein harmloser, warmherziger, lebensfroher Mensch, der in seiner Freizeit gern Sport treibt und reist. Seine Patienten haben ihn sehr gern, sie schätzen seine herzliche, sympathische Art, auch wenn er fachlich bisweilen noch unsicher ist. Franz Wasem dagegen …»

Ich zögerte. Wie sollte ich meinen Chef beschreiben, den Mann, der jetzt nur wenige Meter von mir entfernt tot am Boden lag? Wie sollte ich ehrlich sein?

Gerber schien meinen inneren Zwiespalt wahrzunehmen. «Man soll nicht schlecht über die Toten sprechen, nicht wahr? Aber das hier ist eine ganz andere Situation. Ich bin kein Bekannter, kein Angehöriger. Ich bin Polizist. Bitte sagen Sie mir die Wahrheit, ungeschminkt. Nur auf diese Weise können Sie mir helfen. Mir und Ihrem verstorbenen Arbeitgeber.»

Ein beklemmendes Gefühl von Kälte überfiel mich. «Es war kein Suizid, nicht wahr? Sonst wären hier nicht so viele Leute, nicht so viel Betrieb.»

Markus Gerber nahm sich Zeit für seine Antwort, wog seine Worte sorgfältig ab. «Ich stehe unter Amtsgeheimnis, deshalb darf ich Ihnen nur wenig sagen. Aber Sie haben Recht: Wir gehen von einem Tötungsdelikt aus.»

Ein Tötungsdelikt. Was für ein banales Wort für etwas derart Entsetzliches. Ich mochte nicht einmal daran denken, was es wirklich bedeutete.

«Sind Sie sich sicher?» Meine Frage klang flehend, fast kindlich.

Wieder eine kurze Pause. «Die Rechtsmedizin hat ihre Methoden, um darüber Aufschluss zu geben, ob ein Schuss vom Opfer selbst ausgelöst wurde. Franz Wasem hat die Waffe nicht selbst abgefeuert.» Er legte den Kopf ein wenig schräg. «Hatten Sie Grund für die Annahme, es könnte sich um einen Suizid handeln?»

«Nein», entgegnete ich nach kurzem Überlegen. «Mein Chef war nicht der Mensch, der sich das Leben nehmen würde.»

«Was war er für ein Mensch?», fragte Gerber sanft.

Zittrig holte ich Luft. «Ein schwieriger. Er war ein guter Arzt, sicher – sehr erfahren, sehr versiert, um ständige Weiterbildung bemüht, fachlich auf dem neuesten Stand, so weit ich das beurteilen kann. Und ein Arbeitstier, ein Hausarzt alter Schule – er fühlte sich für seine Patienten verantwortlich, wollte rund um die Uhr für sie erreichbar sein und nahm dabei keine Rücksicht auf seine eigenen Grenzen oder sein Privatleben. Aber er war», ich rang nach Worten, «eher der ruppige Typ, barsch, scharfkantig, reizbar. Empathie war nicht seine Stärke, Geduld ebenso wenig. Er stiess Menschen vor den Kopf. Mein Chef war rechthaberisch, sehr von sich überzeugt und schnell bereit, andere zu verurteilen – und daraus machte er auch keinen Hehl. Es gab viele Konflikte.»

Gerber blickte mich sinnierend an. «Also kein angenehmer Arbeitgeber.» Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage.

Nervös lachte ich auf. «Nein, nicht wirklich. Oder besser: Nicht immer. Es ging recht gut, wenn ich mich an seine Regeln hielt.»

«Regeln?»

«Vorsintflutliche Regeln. Nach seiner Meinung war die Praxisassistentin als dienstbarer Geist ihrem Chef untergeordnet und unterworfen. Mitdenken war nicht erwünscht, Widerspruch verboten. Von Arbeitszeitregelungen hielt Franz Wasem wenig – er erwartete von mir die gleiche Opferbereitschaft und Allverfügbarkeit, die er sich selbst abverlangte. Überzeit-Kompensation war ein Wort, das in seinem Vokabular nicht vorkam. Er war ein Dinosaurier. Kein schlechter Mensch, aber verknöchert, ein Mann aus vergangenen Zeiten. Er hatte keine Ahnung von Personalführung, von Wertschätzung und Gesprächen auf Augenhöhe, und er hatte nicht die geringste Ahnung von Frauen. Das machte die Zusammenarbeit mit ihm zu einem täglichen Kraftakt.»

«Und die Zusammenarbeit zwischen Ihrem Chef und Beat Weibel? War die ähnlich konfliktgeladen?»

Ich zuckte die Achseln. «Beat Weibel hatte Wasem wenig entgegenzusetzen. Fachlich war mein Chef seinem jüngeren Praxispartner um Lichtjahre überlegen, und Beat schätzte seinen Rat und neigte deshalb dazu, sich auch in anderen Belangen unter den Willen des Älteren zu beugen. Wie ich schon sagte: Wenn man sich an Wasems Regeln hielt, kam man mit ihm zurecht.»

Der Fahnder nickte verständnisvoll, ohne mich aus den Augen zu lassen. «Fiel es Ihnen selbst leicht, sich an diese Regeln zu halten?»

Einen Moment lang sagte ich nichts. Dann: «Nicht wirklich.»

«Frau Braun, kam Ihnen Ihr Chef in letzter Zeit verändert vor?»

Ich überlegte. «Ich kannte ihn nicht besonders lange, wie gesagt. Aber in den letzten Wochen wirkte er reizbarer als sonst.»

«Gab es Gründe für dieses Verhalten?»

«Offenbar hatte er private Probleme. Doktor Wasem war verheiratet, oder besser: war noch verheiratet. Seine Frau hat sich erst kürzlich von ihm getrennt.»

Gerber kritzelte etwas auf seinen Block. «Und sonst? Gab es Probleme in der Praxis? Konflikte mit Patienten, Fehldiagnosen, juristische Probleme?»

Hilflos hob ich die Achseln. «Er hat mir sehr wenig über seine Fälle erzählt – ich durfte ihn ja nicht einmal beim Vornamen nennen, war in seinen Augen nicht mehr als ein dümmliches Küken, ungeachtet meiner zehn Jahre Berufserfahrung. Aber er fluchte gerne und ausgiebig über ein Berner Röntgeninstitut, lag offenbar im Streit mit den dort ansässigen Radiologen. Dann ist da die unendliche Geschichte mit den Suchtmedizinern – Franz Wasem betreute eine ganze Anzahl von drogensüchtigen Patienten, verschrieb ihnen Methadon, Benzodiazepine, Schlafmittel. Die Spezialisten für Suchtmedizin hatten ihn offenbar auf dem Korn, waren der Ansicht, dass er unkritisch grosse Mengen an Beruhigungsmitteln verordne und damit den Schwarzmarkt nähre. Dieser Konflikt schwelt offenbar schon seit Jahren, und wie ich hörte, wurde sogar schon der Kantonsarzt beigezogen.»

Wieder machte sich Gerber Notizen. «Und die Patienten? Waren die alle mit ihrem Arzt zufrieden?»

«Nicht alle. Es kam immer mal wieder vor, dass jemand weinend oder schimpfend aus dem Sprechzimmer kam, aber das war der harschen Art meines Chefs zuzuschreiben. Ich weiss nicht, ob da etwas Ernsteres vorgelegen hat. Wenn dem so gewesen wäre, hätte er mir bestimmt nichts davon gesagt.»

«Gab es rätselhafte Telefonate? Eigentümliche Vorfälle? Irgendetwas Auffälliges?»

«Nein.»

«Lief die Praxis gut? Oder gab es finanzielle Probleme?»

«Die Auslastung war fast zu gut. Doktor Wasem hatte immer sehr viel zu tun. Über die finanzielle Situation bin ich nicht informiert, da könnte der Praxis-Treuhänder Ihnen mehr sagen. Aber ich spürte diesbezüglich keine Sorgen, keinen Druck.»

«War Ihr Chef gesund? Nahm er Medikamente?»

«Er schien mir bester Gesundheit zu sein. Vielleicht war sein Blutdruck ein wenig erhöht – kein Wunder angesichts seiner cholerischen Veranlagung.»

«Wissen Sie, wer Ihre Vorgängerin war? Wo man sie erreichen könnte?»

«Ich habe sie nie persönlich kennengelernt. Sie heisst Stephanie Glauser. Claudia Mühlemann, die Praxisassistentin von Beat Weibel, hat mir im Vertrauen erzählt, dass die junge Frau erst kürzlich aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden ist. Burn out, depressive Symptomatik, sogar von einem Suizidversuch war die Rede. Offenbar hat die Anstellung in dieser Praxis sie in die Krise getrieben.»

Gerber hob die Augenbrauen, hob zum Sprechen an, schloss den Mund dann aber wieder. Und machte sich eine weitere Notiz.

Ich lächelte schwach. «An potentiellen Feinden mangelt es in diesem Fall nicht, oder?»

Der Regionalfahnder gestattete sich ein diskretes Grinsen über meine unsachgemässe Bemerkung, ehe er wieder förmlich wurde. Ich mochte den Mann wirklich gut leiden. «Haben Sie allenfalls schon überprüfen können, ob in der Praxis etwas fehlt? Insbesondere Wertsachen? Medikamente, Betäubungsmittel?»

«Einer der uniformierten Polizisten hat mich zuvor schon danach gefragt: Nein, es fehlt nichts. Es gibt einen kleinen Vorrat an Bargeld hier in diesem Raum, weil gewisse Patienten Tests bisweilen selbst bezahlen», ich deutete auf eine verschlossene Schublade. «Das Geld ist noch da. Ebenso die elektronischen Geräte. Die Apotheke scheint mir unverändert, obwohl ich das natürlich noch im Detail überprüfen muss. Der Betäubungsmittelschrank ist unberührt, alle Substanzen sind in der korrekten Menge vorhanden – das konnte ich mittels der Dokumentation feststellen – und der Schlüssel liegt im üblichen Versteck. Und als ich die Praxis heute Morgen betreten habe, war die Tür verschlossen, es gab keinerlei Einbruchsspuren.» Besorgt sah ich zu meinem Gegenüber auf. «Was hat das zu bedeuten?»

Markus Gerber erwiderte nichts. Er sah mich nur eine Weile schweigend an, mit diesem wissenden, nicht unfreundlichen, aber durchdringenden Blick.

«Sie dürfen mir nichts sagen, nicht wahr? Ihr Amtsgeheimnis?»

Er nickte bestätigend.

«Aber es macht mich verrückt. Er war mein Chef, ich habe seine Leiche gefunden. Es war grauenhaft. Ich möchte wissen, was passiert ist!» Ich war lauter geworden als beabsichtigt, und meine Stimme klang schrill. Wo war meine Selbstbeherrschung geblieben?

Gerbers Blick wurde weicher. «Ich weiss», sagte er nur. «Es tut mir sehr leid.»

«Was bin ich für Sie? Eine Verdächtige?» Jetzt klang ich regelrecht hysterisch.

«Sie sind eine Auskunftsperson», korrigierte er sanft. «Eine sehr wichtige Auskunftsperson.» Er wandte den Blick von mir ab und konsultierte wieder seine Notizen. «Darf ich weiterfragen?»

Beinahe trotzig entgegnete ich: «Aber sicher.»

«Wissen Sie, wie viele Schlüssel für diese Praxis existieren?»

Ich seufzte. «Lassen Sie mich überlegen – es müssen sechs sein. Einer für Wasem, einer für Weibel, einer für mich, einer für Claudia Mühlemann, und einer für Frau Markovic, die Putzfrau. Ausserdem gibt es einen Ersatzschlüssel. Der liegt im gleichen Versteck wie der Schlüssel für den Betäubungsmittelschrank.»

«Und der Ersatzschlüssel ist noch da?»

«Ja.»

«Wie hat Herr Wasem seinen Schlüssel bei sich getragen? An einem Schlüsselbund? Separat?»

Ich überlegte. «Zusammen mit seinen privaten Schlüsseln in einem braunen Lederetui.» Ich blickte hoch. «Sie haben den Schlüsselbund also nicht bei ihm gefunden, nicht wahr? Sonst müssten sie nicht fragen.»

Forschend musterte ich Gerbers unbewegte Miene, die mir nichts verriet – ausser seinem Bedauern darüber, dass er nicht offen mit mir sprechen durfte.

«Wie sind die Schliessungsverhältnisse in diesem Gebäude?»

Irritiert blickte ich ihn an, bis er übersetzte: «Wie kommt man als Besucher ins Haus?»

«Ach so. Tagsüber ist es kein Problem, da sind die Lifte freigeschaltet. Ausserhalb der Bürozeiten allerdings kommt man nur mit einem elektronischen Schlüssel rein, mit dem man den Lift aktivieren kann. Oder man meldet sich über die Gegensprechanlage und wird von einem Hausbewohner eingelassen. Das Treppenhaus ist abgeschlossen und lässt sich nur mit Schlüssel öffnen. Aber theoretisch», ich biss mir auf die Unterlippe, «könnte jemand natürlich während der Bürozeiten das Haus betreten und dann in einem Korridor gewartet haben. Das wäre möglich.»

Wieder lächelte Gerber mild. Ich konnte mir vorstellen, was er dachte: Eine Hobbydetektivin. Der hatte gut lachen.

«Das bringt mich zu der nächsten Frage: Wann haben Sie Ihren Chef zum letzten Mal gesehen?»

Die Erinnerung sackte wie ein Mühlstein in meine Magengegend. «Gestern Abend. Knapp vor sieben. Ich bin kurz nach Claudia Mühlemann gegangen.»

«Als Sie die Praxis verliessen – was tat Ihr Chef? Erwartete er noch jemanden, hatte er noch etwas vor?»

Ich fixierte einen Punkt auf dem Fussboden, in Nachdenken versunken. «Warten Sie – er hatte seinen Arztkittel noch an, es sah also nicht danach aus, als ob er bald nach Hause gehen würde. Aber was er vorhatte … Keine Ahnung. Wasem bleibt oft noch eine Zeitlang in der Praxis, nachdem wir anderen gegangen sind. Er diktiert Berichte, schreibt Einträge in Krankengeschichten, wenn er tagsüber nicht dazu gekommen ist, erledigt Post. Und gestern war ein höllischer Tag – Doktor Wasem hat mehr als dreissig Patienten gesehen, darunter diverse aufwendige Notfälle, das Telefon schrillte den ganzen Tag. Da ist sicher viel Administratives liegen geblieben. Sein Verhalten gestern Abend war nicht ungewöhnlich.»

«Er hat nichts darüber gesagt, dass er noch jemanden erwartete?» Gerbers Blick war jetzt schärfer als zuvor.

«Nein. Nicht, dass ich wüsste.»

«Sagte er noch etwas zu Ihnen?»

Ich wich seinem Blick aus. «Nichts, woraus ich schliessen könnte, was er im Anschluss vorhatte.»

Gerber lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Eine Weile betrachtete er mich, ohne ein Wort zu sagen. Mir wurde unbehaglich unter diesem Blick.

«In welcher Stimmung sind Sie gestern Abend hier weggegangen?»

Er wusste es. Die Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich sah Claudia vor mir, ihren begierigen, sensationslüsternen Blick zurück über die Schulter, als sie am Vorabend die Praxistür hinter sich geschlossen hatte. Sie hatte es mitbekommen, und sie hatte es ihm gesagt. Diese nichtsnutzige, dumme, blondierte …

«Frau Braun. Bitte beantworten Sie meine Frage.» Gerber klang beinahe resigniert. Als wüsste er, was in mir vorging.

Ich räusperte mich. «Ich war wütend und aufgebracht.»

«Weil Sie sich mit Franz Wasem gestritten hatten.»

Ich verkniff mir eine gehässige Bemerkung darüber, dass er bemerkenswert gut informiert war. «Ja. Er hatte von mir verlangt, länger zu bleiben und noch einige Berichte zu schreiben, die er kurz zuvor diktiert hatte. Es sei dringend – bei ihm war es immer dringend. Als ich ihn daran erinnerte, dass ich an diesem speziellen Abend vor sieben Uhr gehen müsse und dies schon vor zehn Tagen angemeldet hatte, explodierte er. Er beschimpfte mich als faule und selbstsüchtige Göre, die ihre Arbeitsstelle nicht zu würdigen und Prioritäten nicht zu setzen vermöge. Er war ausser sich.»

«Und Sie?» Die dunklen Augen beobachteten mich ruhig.

«Ich versuchte, gelassen und sachlich zu bleiben, aber als er nicht aufhörte, als er immer weiter auf mich einbrüllte, wurde es mir zu bunt. Ich habe ihm die eine oder andere Beleidigung an den Kopf geworfen und ihm mit Kündigung gedroht. Und dann bin ich rausgestürmt.» Ich zog es vor, ihm meine hysterischen Tränen zu verschweigen, und auch, dass ich neben den Beleidigungen auch die Praxisagenda nach meinem Chef geworfen hatte. Ohne ihn zu treffen allerdings.

«Wann genau haben Sie die Praxis verlassen?»

«Wie ich sagte, kurz nach Claudia Mühlemann. Einige Minuten vor sieben.»

«Niemand hat Sie gehen sehen?»

Die Frage klang sehr harmlos, aber sie war es nicht. Ihre Bedeutung ging mir durch Mark und Bein.

«Ich hatte an diesem Abend eine Verabredung», erklärte ich frostig.

«Mit wem und um welche Zeit?»

Niedergeschlagen senkte ich den Kopf. «Um halb neun. Mit einem Mann namens Jan Berger. Im Verdi.»

Gerber nickte wissend, das Lokal in der Berner Altstadt war ihm offenbar bekannt. «Ein Freund von Ihnen?»

Musste ich mit Markus Gerber über meine männlichen Bekanntschaften diskutieren? Oder besser, so hielt ich mir bitter vor Augen, über meine misslungenen Nicht-wirklich-Bekanntschaften in den Untiefen des modernen Dating-Kleinkriegs? Über enttäuschte Hoffnungen und enttäuschende Anwärter? Ich beschränkte mich auf ein kühles «Eher eine oberflächliche Bekanntschaft».

«Und Sie mussten die Praxis vor sieben verlassen, um den Mann um halb neun im Verdi zu treffen?»

Verzweiflung überkam mich. Verstand der Mann denn gar nichts? Ich warf einen Blick auf seine linke Hand – der obligate schmale Goldring. Markus Gerber, da war ich mir sicher, war langjährig und glücklich verheiratet. Vielleicht hatte er Kinder, ganz sicher einen Familienwagen und vielleicht sogar ein Haus inklusive Hund. Er wusste nichts über die Tücken einer Partnersuche in der heutigen Zeit. Und er würde auf keinen Fall begreifen, warum eine Stunde eine sehr knapp bemessene Zeitspanne war für all das, was vor einem ersten richtigen Date lebensnotwendig war: Fuss- und Fingernägel lackieren, Gesichtsmaske auftragen, Haare bändigen, Zähne schrubben, die richtige Unterwäsche – für alle Fälle – und die richtige Garderobe zusammenstellen, mehrfach mit einer Freundin telefonieren, um die Wahl der Garderobe zu besprechen, Musik hören, tanzen und dabei laut mitsingen, Augenbrauen zupfen, positive Mantras murmeln.

«Ich musste mich vorbereiten», piepste ich.

Gerber nickte. Und schwenkte dann überraschend zu einem ganz anderen Thema. «Wussten Sie, dass Ihr Arbeitgeber eine Schusswaffe besass?»

Verblüfft nahm ich seinen Themenwechsel zur Kenntnis. «Ja. Ich wusste es.»

«Warum?»

«Wie er mir erklärte, hatte es mit seinen drogensüchtigen Patienten zu tun. Einer von ihnen hatte meinen Chef einmal mit einem Messer bedroht, um ihn zur Herausgabe von Betäubungsmitteln zu zwingen. Seitdem bewahrte Wasem die Waffe in der untersten Schreibtischschublade auf. Als Diskussionsgrundlage, wie er sagte.»

«War die Schublade abgeschlossen?»

«Nein.»

«Also konnte jedermann die Waffe behändigen?»

Ich spürte, wie mir der kalte Schweiss ausbrach. «Ist er mit seiner eigenen Waffe erschossen worden?»

Wieder stand ein Hauch von Bedauern in seinen Augen. «Bitte, Frau Braun. Beantworten Sie meine Frage.»

Ich straffte mich, setzte mich aufrecht hin. «Ja, Herr Gerber. Theoretisch kam jedermann an die Waffe heran. Aber wir alle wussten, dass es uns streng untersagt war, die Schublade zu öffnen.»

Hinter der kompetenten Neutralität in der Miene des Regionalfahnders Markus Gerber erahnte ich leise Sorge, einen Hauch menschlichen Mitgefühls. Aber auch eiskalte Kalkulation. Ich war die Letzte, die Franz Wasem lebend gesehen hatte, niemand konnte bestätigen, dass ich kurz nach Claudia Mühlemann das Haus verlassen hatte, niemand konnte Auskunft darüber geben, wo ich mich in der Zeit bis zu meinem vermaledeiten Treffen mit dem vermaledeiten Jan aufgehalten hatte – bis auf meine Freundin Nina, mit der ich einige Male telefoniert hatte, aber das war ein sehr schwacher Trost. Ich hatte gewusst, dass Franz Wasem eine Waffe in seinem Schreibtisch aufbewahrte. Ich hatte ein gespanntes Verhältnis zu ihm gehabt. Und ich hatte mir am Abend vor seinem Tod einen heftigen, lautstarken Streit mit ihm geliefert.

Ich war definitiv keine Auskunftsperson. Ich war verdächtig.

Kapitel 3

Das Gespräch mit Markus Gerber dauerte nicht mehr lange. Der Regionalfahnder nahm zur Kenntnis, dass ich die verunsicherten Patienten nicht einfach sich selbst überlassen konnte und dass eine komplette Schlies-sung der Praxis nicht realistisch war. Er gestattete mir sehr grosszügig, an der Theke im Empfangsbereich Telefonate zu führen und auf unsere Patientenkartei zurückzugreifen, untersagte mir aber das Betreten der anderen Bereiche und Räume und bat mich mit einer gewissen Schärfe, nichts zu verändern. Zudem machte er mir klar, dass er mich am späten Nachmittag in der Polizeihauptwache zur schriftlichen Einvernahme erwartete, und verliess dann den engen Büroraum.

Ich nahm mir eine Weile Zeit, ehe ich seinem Beispiel folgte und hinaus in die Praxis trat. Als ich es schliesslich tat, war ich nicht mehr die gleiche Frau, die vor nicht allzu langer Zeit diesen Raum betreten hatte – verwirrt und benommen. Es war, als ob die Erkenntnis, dass ich unter Verdacht stand, meine Gedanken geordnet hätte. Ich nahm das Gewusel draussen distanzierter, aber auch klarer zur Kenntnis, erstaunlich unbeteiligt und mit geschärftem Blick für das Wesentliche. Ich würde mit der Katastrophe, die der Tod meines Arbeitgebers angerichtet hatte, etwas Konstruktives anfangen müssen, ob ich wollte oder nicht. Ich musste professionell handeln.

Als Erstes trat ich, mich um zwei Mitarbeiter des kriminaltechnischen Dienstes schlängelnd, zu Beat Weibel, der mit zerrauftem Haar neben dem metallenen Aktenschrank stand. Claudia Mühlemann, die verschreckt dreinblickend neben ihm herumlungerte, ignorierte ich.

«Melissa!» Beat sah blass und aufgelöst aus, war aber voller Mitgefühl. Impulsiv umarmte er mich. «Ich wollte schon die ganze Zeit mit dir sprechen, bin aber nicht an dich rangekommen. Immer waren da irgendwelche Männer und stülpten Abfalleimer um, fotografierten oder stellten Fragen. Franz tot aufzufinden muss furchtbar für dich gewesen sein. Wie geht es dir?»

Immer diese Frage. Hofften die Leute, ich würde ihnen versichern, dass es mir auch angesichts von Tod und Zerstörung blendend gehe, dass nichts mich erschüttern konnte?

«Ich habe mich einigermassen gefangen, danke, Beat. Aber wir sollten jetzt an die Praxis denken. Wie geht es weiter? Wann können wir wieder arbeiten? Wir müssen die Patienten informieren. Was dürfen wir ihnen sagen? Und wurde Wasems Frau bereits benachrichtigt?»

Beat Weibel schien entgeistert angesichts meiner zielgerichteten Fragen. Ratlos zerwühlte er seine ohnehin rettungslos verlorene Kurzhaarfrisur noch mehr. «Ähm – die Praxis wird sicher noch einige Tage geschlossen bleiben, im Maximalfall eine Woche lang. Nach Ablauf dieser Zeit kann ich einige von Franz’ Patienten übernehmen, aber sicher nicht alle.»

Ich nickte. «Ich werde also bei den Berner Kollegen anrufen und kurzfristige Vertretungen organisieren.»

«Irene Wasem ist offenbar von einem der Regionalfahnder persönlich informiert worden. Sie wird bei sich zu Hause befragt und dann ins Institut für Rechtsmedizin gefahren, sobald der Leichnam», er schluckte krampfhaft, «dorthin überführt worden ist.»

«Wozu?», fragte ich verwirrt.

«Für eine optimierte Direktkonfrontation, wie man mir sagte. Zur Identifikation.»

Gekränkt nahm ich zur Kenntnis, dass Beat offenbar viel weitergehend informiert wurde als ich. Aber schliesslich war er ja ein Mann und Arzt, nicht wahr? Und vielleicht auch weniger verdächtig als ich.

«Natürlich wird Irene entscheiden müssen, wie es mit der Praxis weitergehen soll. Sobald sie in der Lage ist, solche Entscheidungen zu treffen. Das Ganze muss ein schrecklicher Schock für sie gewesen sein.»

Ich nickte erneut. «Und die Patienten? Was dürfen wir denen sagen?»

«Nicht mehr, als dass die Praxis aufgrund eines Unglücksfalls geschlossen ist und wir frühestens ab Donnerstag nächster Woche wieder Termine einschreiben können. Das heisst», jetzt wirkte er mehr als unglücklich, «wenn unsere Freunde und Helfer von der Polizei unsere Arbeit nicht völlig verunmöglichen.» Sein vorwurfsvoller Blick galt einem der Uniformierten, der einen Aktenstapel mit sich trug.

Ich folgte seinem Blick. Die Akten, die der Mann auf seinen Armen balancierte, waren Krankengeschichten.

«Was tut der da?»

«Er räumt unsere KGs aus.»

«Was ??»

Beat machte eine weitläufige Handbewegung, die den Aktenschrank umfasste, neben dem wir standen. «Die aktuellen Dossiers haben sie schon eingepackt und versiegelt. Jetzt nehmen sie sich das Archiv vor. Auf Anordnung des Staatsanwalts.»

Ich war fassungslos. «Sie nehmen alle unsere Akten mit? Aber Wasems Patientenstamm umfasst mehr als fünftausend Patienten!»

Beat Weibel nickte düster. «Ganz genau.»

Mit offenem Mund sah ich zu, wie die weibliche Uniformierte ebenfalls mit einem Aktenstapel aus dem hinteren Teil der Praxis wankte. «Aber das geht nicht. So können wir nicht arbeiten. Du musst etwas tun!»

«Chancenlos», beschied Beat resigniert. «Aber sie haben mir versprochen, uns Kopien zu überlassen. Von jeder einzelnen KG. Bis Mitte nächster Woche sollten sie uns alle vorliegen.»

«Und der Datenschutz?», warf ich hitzig ein. «Was in diesen Akten steht, läuft unter Arztgeheimnis!»

«Ja, allerdings», entgegnete Beat gedehnt. «Und darüber darf auch der Staatsanwalt sich nicht ohne gute Gründe hinwegsetzen. Deshalb werden die Untersuchungsbehörden jeden einzelnen Patienten anschreiben und um eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ersuchen.»

«Jeden?», fragte ich mit hohler Stimme.

«Jeden. Irgendein armes Schwein dort wird sehr, sehr viel Schreibkram zu erledigen haben. Nun gut, nicht mein Problem.»

Mit diesen Worten liess er mich stehen, um dem Wink eines der Fahnder vom Dezernat Leib und Leben zu folgen, der offenbar mit ihm sprechen wollte.

Entmutigt blickte ich ihm nach.

Neben mir räusperte sich Claudia Mühlemann. «Was machen wir jetzt als Nächstes?», fragte sie mit ihrer hellen Kleinmädchenstimme, die mir auf die Nerven ging, seit ich Claudia zum ersten Mal gesehen hatte.

Ich spürte Wut in mir aufsteigen, flammende, hellrot züngelnde Wut. Was soll’s, dachte ich, lange arbeite ich ohnehin nicht mehr hier. Zum Teufel mit dem Arbeitsklima. «Du hattest es ganz schön eilig, Markus Gerber brühwarm von meinem Streit mit Wasem zu erzählen, nicht wahr? Wie nett von dir.» Ich klang, wie ich befriedigt feststellte, vernichtend.

Claudia wirkte verdattert. Ihre hellblau umrandeten Lider flatterten. «Ich musste die Wahrheit sagen», stiess sie dann defensiv hervor. «Immerhin handelt es sich hier um eine Mordermittlung.»

«Vielleicht solltest du erst einmal deinen IQ ermitteln lassen», schlug ich ätzend vor und liess sie stehen.

Das Telefon an der Theke klingelte Sturm. Ich liess es klingeln, griff nach dem Adressbuch der Praxis und schlug die Nummern der umliegenden Arztpraxen nach, mit denen Franz Wasem jeweils gegenseitige Vertretungen abgesprochen hatte. Ungeduldig wartete ich ab, bis das Telefon einen kurzen Moment still blieb, griff dann nach dem Hörer und wählte. Ich erreichte vier von Wasems Arztkollegen, und drei davon sicherten mir spontan ihre Hilfe zu. Gut. Die Vertretung für die nächste Woche war gewährleistet.

Als Nächstes nahm ich mir die Praxisagenda vor, welche die Polizisten mir dankenswerterweise überliessen – Beat hatte sich, wie man mich informierte, in dieser Sache durchgesetzt und erreicht, dass die Agenda nur kopiert und uns dann zur Weiterarbeit überlassen worden war – und überprüfte die aktuellen Seiten. Heute war Donnerstag, ab Mittag waren wie üblich aufgrund von ärztlichen Weiterbildungen keine Termine eingeschrieben, aber der Folgetag, Freitag, war voll ausgebucht, und auch die nächste Woche war schon gut ausgelastet. Es gab viel zu tun. Ich hatte keine Ahnung, welche unserer Patienten bereits vor der Praxis von der Polizei abgefangen und abgewiesen worden waren, also musste ich sie alle anrufen. Zum Glück waren die Kontaktdaten von Wasems Patientenstamm nicht nur in den Krankengeschichten, sondern auch im elektronischen Abrechnungssystem erfasst – sonst hätte ich angesichts der Versiegelungswut der Beamten keine Chance gehabt, unsere Patienten zu erreichen.

Die Telefongespräche waren schrecklich. Diejenigen, die noch nichts von dem Wirbel mitbekommen hatten, waren erschüttert, und es brach mir das Herz, ihnen nicht mehr sagen zu dürfen als die wenigen von der Polizei abgesegneten Informationsbrocken und sie mit ihren bösen Ahnungen im Ungewissen zu lassen. Zwischen meinen eigenen Anrufen nahm ich immer wieder die Telefonate derer entgegen, die in meinen Gesprächspausen durchdrangen. Ich beschwichtigte und beruhigte sie, so gut ich es vermochte, verwies akute Notfälle an die vertretenden Arztpraxen und weniger dringliche Anliegen auf die Folgewoche und strich dabei die bereits informierten Patienten auf meiner Pendenzenliste. Dabei spürte ich die Blicke von Regionalfahnder Gerber und seinen Kollegen im Nacken – sie behielten mich diskret im Auge und stellten, wie ich mir resigniert vor Augen hielt, sicher, dass ich keine Indizien in meiner Handtasche verschwinden liess.

Als der Sarg mit den sterblichen Überresten von Franz Wasem aus dessen Sprechzimmer getragen wurde, wandte ich den Blick ab.

Wieder klingelte das Telefon. «Praxis Doktor Wasem und Weibel, hier spricht Braun, guten Tag?»

«Hallo? Frau Braun, sagen Sie? Mein Name ist Sollberger. Ich bin Reporterin bei Telebärn. Würden Sie mir kurz ...»

Weiter kam sie nicht. Impulsiv drückte ich die Abbruchtaste.

Verflixt, die Presse! Hatte sie bereits Wind von der Sache bekommen?

Rasch stand ich auf und trat ans Fenster. Unten vor dem Gebäude standen diverse Autos, Einsatzwagen der Polizei, zivile Fahrzeuge. Eine Menschentraube hatte sich vor dem Eingang formiert – der Sarg musste eben abtransportiert worden sein, und das hatte zweifellos für Aufsehen gesorgt. Unter den Gaffenden glaubte ich jemanden mit einer Fernsehkamera zu erkennen.

Markus Gerber trat neben mich. «Wonach halten Sie Ausschau?»

«Ich habe eben einen Anruf von Telebärn erhalten. Ich habe den Anruf sofort unterbrochen – war das richtig?»

Er seufzte. «Absolut. Lassen Sie uns das machen. Unsere Pressesprecherin kümmert sich darum, die Sprachregelung in diesem Fall ist bereits draussen.» Er wies nach unten. Eine blonde, dynamische Frau stieg eben aus einem Fahrzeug und wurde sofort von Reportern umringt. «Trotzdem: Wenn die Reporter auch nur einen Patienten finden, der bereit ist, vor der Kamera zu sprechen – und die meisten guten Bürger würden für zwei Minuten Fernsehpräsenz töten – dann wird die Nachricht, dass hier in der Praxis etwas Gravierendes vorgefallen ist, bald in aller Munde sein. Wenn sie das nicht bereits ist.»

Ich verzog das Gesicht. Ohne Gerber direkt anzusehen, sagte ich mit unterkühlter Stimme: «Sie sind auf einmal so gesprächig. Eine schöne Abwechslung.»

Gerber lachte leise, klopfte mir sachte auf die Schulter und verschwand.

Die nächsten Stunden waren die Hölle. Ich verbrachte sie mehrheitlich am Telefon. Die meisten Patienten waren freundlich und verständnisvoll, aber es hatte auch einige darunter, die gereizt und abschätzig reagierten. «Es interessiert mich nicht, was in Ihrer Praxis los ist, Fräulein», herrschte mich ein älterer Mann an. «Mein Fuss tut weh, und Sie organisieren mir jetzt augenblicklich einen Termin bei einem Spezialisten!»

Ich spürte ein zunehmendes Drücken in der Magengegend, mein Kopf schmerzte, mein Rücken verspannte sich. Die Schulter, die ich mir am Morgen geprellt hatte, pochte unangenehm. Ich musste mich daran erinnern, ab und zu ein paar Schlucke Wasser oder eine Tasse Kaffee zu trinken, um nicht umzukippen, stopfte mir in regelmässigen Abständen Fruchtbonbons aus meinem Handtaschen-Notvorrat in den Mund, wandte ein paar Akupressur-Griffe gegen Stress an – nichts half. Kein Wunder.

Nach Mittag begann ich zu spüren, dass die Presse nicht untätig geblieben war. Es meldeten sich auch Leute, die Wasems Sprechstunde schon seit Monaten nicht mehr besucht, aber im lokalen Radio einen Beitrag über den Todesfall in unserer Praxis gehört hatten. Ein Suchtpatient versuchte, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich eine Grosspackung Beruhigungsmittel zu erschwindeln: «Der Doktor Wasem hat mir die versprochen.» Ich wimmelte ihn unwirsch ab.

Um halb drei verliess ich die Praxis, schlug mich unerkannt durch die wenigen Gaffer, die noch übriggeblieben waren, und fuhr mit dem Tram zur Polizeihauptwache am Waisenhausplatz. Es kam mir eigenartig vor, dass die Welt draussen ihren normalen Gang zu nehmen schien.

Markus Gerber erfasste meine Personalien und befragte mich dann ausgiebig. Er protokollierte meine Aussagen wortgetreu und in nervtötender Detailverliebtheit, fragte jedoch im Grunde nichts Neues. Ich war dankbar, als ich das Protokoll unterzeichnen und den stickigen Raum verlassen konnte – natürlich unter Verweis darauf, dass ich mich zur Verfügung zu halten hatte. Was sonst.

Zurück in der Praxis, nahm ich meinen kräfteraubenden Telefondienst wieder auf. Ich hatte mittlerweile die Erlaubnis erhalten, die Patienten über den Tod ihres Hausarztes zu informieren. Es machte nichts besser. Ich versuchte zu trösten und war selbst untröstlich.

Die Dämmerung kam und wich dann einer sternlosen Dunkelheit. Das Telefon klingelte weiter. Claudia Mühlemann war längst nach Hause gegangen, während Beat Weibel an einem improvisierten Arbeitsplatz beim Archivschrank im Korridor – sein Sprechzimmer durfte er nicht betreten – anhand der vor kurzem eingetroffenen Kopien der aktuellsten Krankengeschichten und den per Post oder Fax hereinströmenden Arzt- und Spitalberichte stöhnend versuchte, sich einen Überblick über die dringendsten medizinischen Anliegen der Patienten seines Praxiskollegen zu verschaffen.

Nach sechs Uhr berichteten meine Anrufer aufgeregt, dass sie im Fernsehen vom Tod ihres Hausarztes erfahren hätten. Sofort suchte ich im Internet nach den Telebärn News. Betroffen verfolgte ich Nahaufnahmen von unserem Gebäude, welche die Ansammlung der Polizeikräfte zeigten und später den Abtransport des Sarges, danach eine kurze Stellungnahme der blonden Polizeisprecherin, die knapp bestätigte, dass eine tote Person gefunden worden sei und die polizeilichen Abklärungen laufen würden. Ich sah Markus Gerbers Vorahnungen bestätigt, als eine grauhaarige Frau als Augenzeugin vorgestellt wurde – ich brauchte die entsprechende Einblendung nicht, ich erkannte auch so Frau Frischknecht, eine klagsame ältere Dame, die regelmässig in Wasems Praxis kam, um nach einer schweren Lungenembolie ihre Blutverdünnung kontrollieren zu lassen. Die Frau bebte vor Aufregung und, das unterstellte ich ihr in Kenntnis ihrer Persönlichkeit, auch vor Vergnügen an dem unerwarteten Drama.

«Ich wurde an der Tür zur Praxis meines Hausarztes, Doktor Franz Wasem, von zwei Polizisten abgewiesen. Sie wollten mir nichts Genaues sagen, aber ich weiss ganz genau, dass etwas Schreckliches passiert sein muss! Ich spüre, dass …»

Mir wurde übel, und ich klickte den Beitrag weg. Jetzt wusste die halbe Welt, was passiert war. Und mir war klar, was das für mich bedeutete. Voller böser Ahnungen griff ich in meine Handtasche und wühlte nach meinem auf stumm geschalteten Smartphone. Zwölf unbeantwortete Anrufe. Elf davon von meiner Mutter.

Um Himmels Willen.

Ich war so müde, ich konnte nicht mehr. Bevor ich mich dem Unvermeidlichen stellte, formulierte ich eine Nachricht auf unserem Telefonbeantworter, mit der ich kurz auf einen Unglücksfall und die Schliessung der Praxis bis Montag verwies und Anrufern die Telefonnummer der vertretenden Ärzte und der lokalen Notfalldienste übermittelte. Dann griff ich nach meinem Mobiltelefon und rief mit flauem Gefühl im Bauch meine Mutter an.

Sie hob sofort ab. «Melissa! Melissa, mein Schatz! Endlich! Ich hatte solche Angst!» Ihre Stimme war so durchdringend, dass ich das Telefon von meinem Ohr weghielt.

«Mama», entgegnete ich mit schlecht gespielter Munterkeit. «Mit mir ist alles in Ordnung, wirklich. Mach dir keine Sorgen.»

«Ist es wahr? Ist es wirklich wahr? Dein Chef? Er ist tot, richtig? Mord? Melissa, du musst sofort nach Hause kommen – ich habe sonst keine ruhige Minute mehr! Sofort, hörst du?»

Mein Herz sank. «Das kann ich nicht, Mama, wirklich. Ich werde hier gebraucht, und ich darf nicht weg. Die Polizei will mich in der Nähe haben.»

«Die Polizei! Oh Gott! Melissa, ich habe es dir gesagt, es kommt nicht gut. Hättest du nur auf mich gehört und wärst in Meiringen geblieben. Aber nein, du musstest deinen Kopf durchsetzen und völlig egoistisch und unüberlegt ...»

«Mama!», unterbrach ich ihren Wortschwall verzweifelt. «Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt weg – ein Polizist muss mit mir reden. Es könnte länger dauern, bitte ruf mich nicht mehr an. Wirklich – alles in Ordnung! Tschüss!»

Ich drückte die Abbruchtaste, ehe das letzte drängende «Melissa!» noch ganz verklungen war. Mein Herz schlug wild, und in meinen Ohren summte es. Verdammt. Sie war doch nur meine Mutter. Warum fühlte ich mich so schlecht, wenn ich mit ihr sprach? Warum konnte es nicht anders sein?

Ich spürte, dass ich den Tränen nah war, als ich eine andere Nummer wählte. Bitte, bitte sei zu Hause, dachte ich, während der Rufton erklang.

«Baumgartner?»

«Nina?» Meine Stimme versagte. «Nina, darf ich zu dir kommen? Es ist etwas Entsetzliches passiert.»

Kapitel 4

Ein Kaninchen hoppelte auf mich zu, schnupperte an meinen Zehen und verzog sich dann. Moritz, der schwarze Kater, rieb sich an meinem Bein.

«Noch einen Tee?», fragte Nina besorgt.

«Ja, sehr gern.» Ich lächelte matt in das besorgte Gesicht meiner besten Freundin hoch.

Ich kannte Nina Baumgartner seit dem Kindergarten. Wir waren gemeinsam aufgewachsen, hatten zusammen die Schule besucht, Geheimnisse und Freuden geteilt und Herzschmerz ertragen. Wir hatten beide Berufe im Gesundheitssektor gewählt – während ich MPA geworden war, arbeitete sie in der Krankenpflege. Es war ein Schock für mich gewesen, als Nina vor zwei Jahren Meiringen verlassen und eine Stelle im Inselspital angetreten hatte, um zu ihrem neuen Freund, dem hochgewachsenen Brillenträger Dominic nach Bern zu ziehen. Sie war es gewesen, die mich veranlasst hatte, vor fast vier Monaten den ganzen Krempel hinzuschmeissen und ihr nach Bern zu folgen. Sie hatte mir geholfen, die Wohnung im Weissenbühlquartier unter der Hand zu bekommen – der Mietzins war spektakulär günstig – und mich hier einigermassen zurechtzufinden. Sie war meine beste, meine allerbeste Freundin. Und doch war sie nicht mehr die Frau, die ich kannte. Nina war im achten Monat schwanger.

Ich betrachtete sie befangen, wie sie über mir am Küchentisch stand, die eine Hand ins Kreuz gepresst, die andere die Rundung ihres Bauchs nachzeichnend. Ihr Haar, tizianrot wie auf einem barocken Gemälde, hatte sie im Nacken zu einem unordentlichen Chignon zusammengesteckt, ihr langes, freundliches Gesicht mit den humorvollen grünen Augen lag in Sorgenfalten.

Seit Nina mit Dominic, dem jungenhaften, schlaksigen Bankangestellten so unglaublich ernst gemacht hatte, war unsere Beziehung nicht mehr dieselbe. Wir giggelten nur noch selten bei einem Drink über Männer und nervige Patienten. Wir sprachen über die Vorteile verschiedener Modelle von Kinderwagen und darüber, ob man einem Baby nur Kleider aus Biobaumwolle kaufen sollte. Es war nicht mehr das Gleiche.

«Hau ab, Nero!», wies Nina barsch das gefleckte Kaninchen an, das sich nun auch für ihre Zehen zu interessieren begann.

Nina war eine närrische Tierliebhaberin. Ein Wunder, dass Dominic den Kleinzoo in der gemeinsamen Dreizimmerwohnung ertrug – zwei Katzen, ein Kaninchen und drei Meerschweinchen, die mehrheitlich Freilauf in allen Räumen genossen.

«Hast du Rückenschmerzen?», fragte ich mitfühlend.

«Ach, was kümmern mich meine Rückenschmerzen», wiegelte Nina ab und setzte sich, nachdem sie mir Tee nachgeschenkt hatte – Fencheltee, den sie bereits für das Baby auf Vorrat gekauft hatte. Was einem Baby guttat, würde mir auch nicht schaden, hatte sie befunden. «Nach dem, was dir da passiert ist. Sag nochmal – wie geht es jetzt weiter?»

Ich hatte ihr bereits alles erzählt, mehrfach, aber ich tat ihr den Gefallen und wiederholte mich. Wie in alten Zeiten. «Ich gehe morgen noch einmal in die Praxis und mache Telefondienst. Keine Ahnung, wie es mit den polizeilichen Ermittlungen weitergeht. Markus Gerber hat mir erzählt, dass es täglich um fünf eine Einsatzbesprechung mit dem gesamten Team geben werde – das war auch alles. Ich mag keine zugeknöpften Menschen. Nina», ich regte mich unbehaglich, «meinst du, ich bekomme Ärger?»

«Ach wo, was denkst du denn! Du bist unschuldig wie ein Frühlingslamm! Die Berner Polizei ist tüchtig, die werden den Täter in Kürze schnappen, verlass dich darauf!»

Ihre Worte taten mir gut, auch wenn ich nicht ganz daran glauben konnte.

«Ich frage mich», sinnierte ich, «wer der Täter sein könnte. Jemand aus Wasems Privatleben? Konflikte gab es da wahrscheinlich genug. Ein Fachkollege? Schwer vorstellbar, aber weiss man’s? Oder ein Patient? Stell dir vor, wenn es jemand wäre, den ich kenne? Dem ich einen Terminzettel in die Hand gedrückt habe, nichtsahnend?»

Nina verzog angewidert das Gesicht. «Liebes, verschone mich mit solchen Gedanken. Du solltest dir über sowas nicht den Kopf zerbrechen. Lass die Polizei machen. Was ist, willst du heute hier übernachten? Damit du dich nicht so allein fühlst?»

Ich hob mein Bein – Nero hatte sich eben daran gemacht, klammheimlich an meiner Strumpfhose zu knabbern, der teuren mit dem Ajourmuster. «Nein, danke. Ich komme schon klar.»

Als ich auf dem Nachhauseweg aufs Tram wartete und mir ein eisiger Nachtwind um die Ohren pfiff, fühlte ich mich seltsam schutzlos. Als wäre meine Haut durchlässig geworden.

Meine Wohnung schien mir kälter als sonst, als ich die Tür aufschloss, dunkel und leblos. Auf meinem Anrufbeantworter fand ich sieben Nachrichten. Alle von meiner Mutter.

Ich zog den Stecker des Telefons aus und legte eine Entspannungs-CD auf, meditative Musik vor einem Hintergrund von Meeresbrandung mit Möwengeschrei, schraubte die Lautstärke hoch. Ich träufelte ein paar Tropfen ätherisches Lavendel- und Melissenöl auf ein Tuch und atmete deren Duft ein, bis mir schwindlig wurde. Ich hüllte mich in mein kobaltblaues Pashmina-Tuch, kein echtes Pashmina natürlich, sondern eine billige Nachbildung aus Viskose – blau, so wusste ich, wirkte beruhigend. Mit beiden Händen griff ich in die grosse gläserne Bonbonnière, in der ich eine ausgewogene Mischung aus Gummibonbons und anderen farbenfrohen Süssigkeiten aufbewahrte, unerlässlich für mein tägliches Wohlbefinden, und schaufelte mir die Köstlichkeiten dutzendweise in den Mund. Doch was ich auch unternahm, ungeachtet all meiner tapferen Bemühungen konnte ich nicht verhindern, dass die Angst wie eine Woge über mir zusammenschlug. Ich begann zu weinen.

Am nächsten Morgen erschien ich pünktlich, wenn auch übernächtigt in der Praxis. Ich hatte trotzig mein leuchtend orangefarbenes Kleid im Stil der Siebzigerjahre angezogen, als Zeichen dafür, dass ich mich nicht unterkriegen liess, ungeachtet von Mord, Tragödie und üblen Verdächtigungen. Orange, so hatte ich gelesen, war das Symbol für Harmonie, Vertrauen und Heiterkeit, und davon konnte ich verdammt nochmal eine gute Portion brauchen.

Ein Polizist öffnete mir die Tür – mein Schlüssel passte nicht mehr. Zur Sicherung des Tatortes waren die Schlösser am Vortag ausgewechselt worden.

Ich durfte mich nach wie vor nur im Empfangsbereich der Praxis aufhalten und die anderen Bereiche nicht betreten. Die Polizisten und Beamten des kriminaltechnischen Dienstes, die mit Spurensicherung beschäftigt waren, fotografierten und unsere Schränke durchwühlten, ignorierte ich mehrheitlich – es kam mir vor, als würden sie mich insgeheim beobachten. Beat Weibel kam kurz vorbei, verzog sich jedoch rasch wieder. Für ihn gab es zurzeit nicht viel zu tun.

Nach wie vor erhielt ich zahlreiche Anrufe, dazwischen arbeitete ich meine eigene Telefonliste durch, bis ich die meisten der Patienten, die an den nächsten sieben Tagen Termine hatten, erreicht hatte.

Gegen Abend bekam ich unerwarteten Besuch. Matthias Lüthi war eine neue Bekanntschaft von mir: Der obligate homosexuelle Freund, den jede Frau, die etwas auf sich hält, haben sollte. Ich hatte ihn vor zwei Monaten über Nina kennengelernt und mich einige Male mit ihm getroffen. Allerdings erfüllte er keines der landläufigen, in vielen Frauenromanen breitgetretenen Klischees hinsichtlich obligater homosexueller Freunde. Er sah ganz normal aus, trug gerne Pilotenbrillen und verzichtete in der Regel auf jegliches theatralisches Gehabe. Er interessierte sich auch nicht die Bohne für Kleider und Gefühle, war eher wortkarg und trocken, also durch und durch untypisch. Das einzig Halbseidene an ihm war, dass er neben seinem Job als selbständiger Versicherungsexperte nebenbei ab und zu als Saxophonist in verrauchten Lokalen Blues spielte. Und er war ein durch und durch guter, herzlicher Mensch. Also Balsam für meine geschundene Seele.

Matthias durfte nicht in die Praxis kommen, also trat ich zu ihm auf den Korridor hinaus. Gerührt nahm ich einen grossen Becher lauwarmen Latte macchiato von Starbucks und einen riesigen Schokolademuffin entgegen und liess mich in eine unbeholfene Männer-Umarmung schliessen.

«Übrigens, Sylvie hat sich nach dir erkundigt», erklärte er mir dann. «Sie hat diesen Bericht auf Telebärn gesehen und macht sich Sorgen um dich.»

«Sylvie? Das ist aber nett von ihr», erwiderte ich erfreut.

Sylvie-Anne Bernard, die sich tagsüber als Angestellte in einem Treuhandbüro auf eher biedere Weise ihr Brot verdiente, peppte ihren Alltag und ihre Finanzen durch glamouröse abendliche Auftritte als Sängerin auf. Matthias hatte einmal in ihrer Band aushelfen dürfen, weil sich deren Saxophonist den Arm gebrochen hatte. Seitdem sahen sie einander gelegentlich. Ich hatte Sylvie mehrfach getroffen, im Ausgang und im Rahmen einer Abendeinladung in Matthias’ Wohnung, und mich mit ihr angefreundet, mich jedoch durch ihre starke Persönlichkeit und die vibrierende Faszination, die sie ausstrahlte, immer ein wenig eingeschüchtert gefühlt. Dass sie sich nun eigens nach mir erkundigte, schmeichelte mir und rührte mich.

«Sie wird dich anrufen, hat sie gesagt», schloss Matthias, ehe er sich von mir verabschiedete und von dannen zog.

Sylvie meldete sich noch am selben Nachmittag. Ihre Stimme klang rauchig und tief und liess mein Telefon vibrieren. «Natürlich habe ich sofort an dich gedacht, als ich von der Sache am Eigerplatz hörte. Melissa, das muss schrecklich für dich sein. Klappst du nicht zusammen? Hältst du es aus?»

Ich räusperte mich. «Danke der Nachfrage, das ist lieb von dir. Es geht.»

«Hör zu, so kann ich dich nicht sitzen lassen. Ich möchte dich ein wenig aufheitern. Morgen Vormittag in Jack’s Brasserie?» Als könnte sie hören, wie ich in Gedanken die Preise in diesem etablierten Lokal mit meinem aktuellen Kontostand abglich, fügte Sylvie freundlich hinzu: «Ich lade dich ein.»

Es waren Gesten wie diese, die mich durch den Tag trugen. Tea Martino, eine sportbesessene und bemerkenswert durchtrainierte Kollegin von Matthias, von Beruf Fitnessinstruktorin, schickte mir einen gros-sen Strauss Tulpen in die Praxis – mit dem auf eine kleine Begleitkarte gekritzelten Vermerk «Immer schön Kopf hoch, Melissa! Nicht unterkriegen lassen! Ich denke an Dich! Bacio, cara!» Alte Schulfreunde aus Meiringen schickten mir SMS und E-Mails, erkundigten sich nach meinem Befinden und hinterliessen gute Wünsche, und meine Grosstante Maria, die unverwüstliche Dreiundachtzigjährige, rief mich an und erzählte mir heitere Anekdoten aus ihrer Jugend, die alle von grausamen Todesfällen handelten. Ich spürte, wie all die Anteilnahme mich durchdrang und von innen wärmte.

Die wiederholten Anrufe meiner Mutter ignorierte ich mit ungutem Gefühl in der Magengrube. Ich konnte ihr nicht ewig ausweichen, das wusste ich. Mich zu verstecken, war feige und sinnlos. Aber nicht heute. Einfach nicht heute.

Als Markus Gerber mich gegen Abend anrief und für Montagnachmittag einen weiteren Befragungstermin in der Polizeihauptwache anberaumte, fühlte ich mich beklommen. Ich hatte noch zwei Tage Schonfrist, nicht mehr als das Wochenende, ehe ich weiter in die Zange genommen würde. Mir wurde übel. Kurzentschlossen schaltete ich den Anrufbeantworter ein und verliess die Praxis, nickte den nach wie vor umhereilenden Beamten zum Abschied kühl zu. Während ich auf den Lift wartete, kam mir der kalte Korridor unheilverkündend still und drohend vor. Ich war erleichtert, als ich das Gebäude verlassen und auf die Strasse treten, mich unter Menschen mischen konnte, aber die Erleichterung hielt nicht lange an. Die Gesichter der Passanten um mich herum wirkten verzerrt, abweisend, unheimlich. Ich klappte den Kragen meines Mantels hoch. Weil ich es nicht aushielt, auf das Tram zu warten, wie ausgeliefert zwischen all den wartenden Fremden, marschierte ich zu Fuss los, eilte so rasch die Monbijou-Steigung hoch, dass ich keuchte, als liefe ich vor etwas davon.

Markus Gerber mochte gute Gründe dafür haben, mich zu verdächtigen, sich damit sogar sicher fühlen. Aber er lag falsch.

Und irgendwo lief ein gesichtsloser Mörder frei herum.

Kapitel 5

«Diese Geschichte ist schlicht unglaublich.»

Sylvie-Anne Bernard, ein halb amüsiertes, halb ungläubiges Lächeln auf den dunkelrot geschminkten Lippen, nahm einen langen Schluck von ihrem Pinot grigio, als müsse sie sich nach einem schweren Schlag stärken.

Es war halb elf Uhr morgens, und jeder andere hätte es um diese frühe Stunde vermieden, Weisswein zu bestellen, aber nicht Sylvie. Sylvie war eine Frau, die ihre eigenen Regeln machte.

Ich versuchte, mir meine Bewunderung nicht allzu sehr anmerken zu lassen, während ich mein Gegenüber unauffällig musterte. Alles an ihr hatte Klasse und Stil, einen ganz eigenen, unverwechselbaren Stil. Von den glänzenden dunkelbraunen Haaren, asymmetrisch halblang geschnitten, über die akkurat gezupften, gewölbten Augenbrauen bis hin zu den pflaumenfarben lackierten Fingernägeln sah alles an ihr im gleichen Masse selbstbewusst und betörend aus. Sie trug mit nonchalanter Lässigkeit ein schwarzes Kleid im Stil der Zwanzigerjahre und – tatsächlich – fingerlose Spitzenhandschuhe, die jede andere Frau zu einer Lachnummer gemacht hätten, ihr aber eine authentische, düstere Note verliehen. Sylvie nahm sich, was sie wollte, ohne zu fragen. Und schaffte es, trotzdem einnehmend und herzlich zu wirken.

Unauffällig blickte ich an mir herab. Ich hatte mich für diesen Anlass besonders sorgfältig angezogen, fühlte mich jetzt aber in meinem auf dem Flohmarkt ergatterten Desigual-Kleid mit der dicken cremefarbenen Strickjacke, den Zopfmusterstrümpfen und meinen geliebten Wildlederstiefeln ein wenig unscheinbar und unbedeutend, als wäre ich bestenfalls Sylvies kleine Schwester. Sylvie schien das selbst nicht so wahrzunehmen.

«Es ist schön, dich wiederzusehen, Melissa», meinte Sylvie mit ihrer rauchigen Altstimme und drückte liebevoll meinen Arm. «Du hast Pfiff, das finde ich schon lange. Und nun passieren dir solche Sachen. Eine Leiche am Arbeitsort – wie aufregend! Da fühle ich mich ziemlich langweilig daneben.»

Eine eigenwillige, wenn auch durchaus bestrickende Sichtweise. Ich spürte, wie mir ein geschmeicheltes Rosa in die Wangen stieg. «Halb so wild», wiegelte ich bescheiden ab, nicht ohne den Hinweis auf meinen plötzlich gesteigerten Glamour-Faktor zu geniessen, «ich hatte ja nur am Rande damit zu tun.»

«Machst du Witze? Du warst die, die ihn gefunden hat! Du wurdest verhört! Das ist der Stoff, aus dem Dramen gemacht werden. Ist der Polizist, der dich verhört hat, einigermassen attraktiv?»

Ich versuchte, mich ihrem lockeren Tonfall anzugleichen, es gelang mir jedoch nicht besonders gut. Die Erinnerung an Markus Gerber und die drohende zweite Vernehmung liess mich erblassen.

«Wie man es nimmt», murmelte ich und nahm einen Schluck von meinem Latte macchiato, der in einem vasenartigen Glasgebilde serviert worden war. «Er ist ganz nett, aber ich wünschte, er würde mich in seine Karten blicken lassen – und mich nicht verdächtigen.»