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Kassandra Bergen, Oberärztin in der psychiatrischen Klinik Eschenberg, erschüttert so leicht nichts. Aber die Patientin Anaïs Graf erfüllt Ka mit tiefschwarzen Ahnungen. Was steckt hinter der Fassade der depressiven, ängstlichen Frau? Steht sie ihrer erfolgreichen Zwillingsschwester, der berühmten Camille Graf, wirklich so nah, wie es scheint, oder hegt sie insgeheim einen zerstörerischen Groll gegen sie? Welche Geheimnisse liegen in der Geschichte ihrer einflussreichen Familie verborgen? Ka überschreitet in ihrem Bemühen, Licht ins Dunkel zu bringen, bald die Grenzen ihrer beruflichen Kunst. Als sie im Dunstkreis der Graf-Schwestern auf ungereimte Todesfälle stösst, wird ihr bewusst, dass sie Hilfe brauchen wird, um nicht selbst zum Opfer tödlicher Gefahr zu werden.
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Seitenzahl: 462
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Jenseits des Zweifels
Jenseits des Zweifels
Kriminalroman von Esther Pauchard
Umschlagbild: Esther Pauchard
Lektorat: KAISERworte, Esther Kaiser Messerli
Gestaltung: arsnova, Luzern
Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck
© 2020 Buchverlag Lokwort, Bern
Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag
ISBN 978-3-906806-25-9
www.lokwort.ch
Das Gefühl überfiel mich wie ein Gewitter in den Bergen, wie ein unverhoffter Schlag. Es senkte sich über mich, als wäre es etwas Stoffliches, Dunkles, wie ein schwerer Vorhang, es legte sich mir über Kopf und Hals und Schultern und brachte mich ins Taumeln. Unwillkürlich streckte ich die Hand aus und klammerte mich am Türrahmen fest, um nicht zu fallen.
Was um Himmels Willen war das?
Mein Herz pochte in sich überstürzenden, hämmernden Schlägen gegen meinen Rippenbogen, das Atmen fiel mir schwer. Meine Beine zitterten.
War das Angst? Eine Panikattacke?
Ich stülpte meine Aufmerksamkeit nach innen, untersuchte meinen Geist bis in den hintersten Winkel.
Nein, keine Panik. Etwas anderes, wenn auch Verwandtes. Ich konnte es nicht richtig benennen. Besorgnis? Beklommenheit?
Dann formte sich die Erkenntnis wie von selbst, materialisierte sich aus dem trüben Nebel, der mich umfangen hatte, gewann vor meinem inneren Auge geisterhaft Gestalt.
Es war eine Ahnung. Eine tiefschwarze, kalte Ahnung von kommendem Unheil, von Gefahr. Eine Warnung.
Benommen schüttelte ich den Kopf, bemüht, mich zu sammeln, den jäh über mich gekommenen Schrecken abzuwerfen.
Was für ein Blödsinn.
Ganz bewusst richtete ich mich auf, entspannte jeden einzelnen meiner verkrampften Muskeln, dehnte meinen Nacken. Liess den verdammten Türrahmen los. Sah mich um.
Die Szene um mich herum hätte alltäglicher nicht sein können. Ich stand im Aufenthaltsraum meiner Station – der Station 3b, einer offenen Station für Abhängigkeitserkrankungen und Doppeldiagnosebehandlung in der Klinik Eschenberg, meinem langjährigen Arbeitsort. Nichts, absolut gar nichts war speziell an dem Anblick, der sich mir bot. Jelika Bakovic von der Pflege eilte mit einem Medikamentenbecher in der Hand und eisernem Blick auf Frau Halde-mann zu – hatte die ihre Mittagsmedikamente schon wieder vergessen? Zwei weitere Patienten sassen mit je einer Kaffeetasse neben sich bei einem Schachspiel und brüteten über dem nächsten Zug, während Maria vom Reinigungsdienst ein Fenster putzte und dabei Frau Graf störte, die sich ganz in der Nähe zum Skizzieren niedergelassen hatte und nun stirnrunzelnd ihre Zeichnungssachen zusammenklaubte, um sich eine ruhigere Ecke zu suchen, wo ihr niemand im Licht stand.
Alles ganz normal.
Nimm dich zusammen, Frau, herrschte ich mich innerlich an.
Vielleicht war es die Hitze – draussen brannte eine späte, aber doch gnadenlose Augustsonne vom Himmel und drückte bösartig gegen die Fensterscheiben. Oder ich wurde allmählich alt.
Egal.
Ich streifte die letzten Spinnweben von Schwäche ab und setzte mich in Bewegung, durchquerte zielstrebig den Raum.
«Frau Graf?»»
Anaïs Graf blickte irritiert von ihrem Skizzenblock auf. «Ja?» Mimik und Tonfall drückten unmissverständlich Zurückhaltung, ja sogar Misstrauen aus.
Ich lächelte die Patientin, eine etwas verwittert aussehende Frau über vierzig, gewinnend an. «Wir haben bislang noch kaum miteinander zu tun gehabt – unser einziges echtes Gespräch war die grosse Eintrittsgemeinsame anlässlich Ihres Klinikeintritts vor knapp einem Monat, bei der ich dabei war. Mein Name ist Bergen, ich bin die Oberärztin der Station – Sie erinnern sich?»
Die Patientin nickte stirnrunzelnd. «Natürlich erinnere ich mich. Worum handelt es sich? Gibt es ein Problem?»
Ich steigerte die Strahlkraft meines Lächelns sicherheitshalber um eine oder zwei Wattstärken, machte mir aber wenig Illusionen, was meine Wirkung auf die Patientin anging – deren defen-sive Körpersprache sprach Bände. «Nicht im Geringsten, Frau Graf, alles bestens. Ihre Therapeutin, Frau Leuenberger, hat Ihnen doch sicher über die anstehende Fallvorstellung berichtet, die wir heute Nachmittag über Sie abhalten werden?»
Anaïs Grafs Gesichtsausdruck verschloss sich noch mehr. «Sie hat mir davon erzählt, ja. Aber ohne mir anmassen zu wollen, Ihnen in Ihre Arbeit reinzureden – ich sehe nicht ein, warum eine Fallvorstellung überhaupt nötig ist. Oder finden Sie, dass ich etwas nicht gut mache? Gab es Beschwerden über mich?»
«Ganz und gar nicht, Sie machen alles sehr gut», entgegnete ich rasch und registrierte dabei unweigerlich das nervöse Nesteln ihrer Hände, beobachtete, wie die Patientin an einem losen Häutchen an ihrem Daumen herumfingerte. «Bei einer Fallvorstellung geht es nicht darum, Sie zu beurteilen – im Gegenteil, wir reflektieren unsere eigene Arbeit als Therapeuten, als Team. Es geht darum, uns zu verbessern, zusammen zu überlegen, wie wir Ihnen noch besser helfen, Sie noch besser unterstützen können. Wissen Sie, der Klinikalltag lässt uns Therapeuten oft nicht genug Zeit, um über einzelne Patienten nachzudenken – Zeit, die wir uns für Sie nun bewusst nehmen wollen.»
Das Nagelhäutchen riss ab. Ein Tropfen Blut quoll aus der Wunde. «Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer aller Arbeit. Von mir aus braucht es nicht mehr.» Anaïs Graf lächelte, ein unechtes, künstliches Lächeln.
Ich verkniff mir einen Seufzer. «Man kann es immer noch besser machen, oder?», erwiderte ich mit ebenso unechter sonniger Heiterkeit – ich wollte nicht über diese Fallvorstellung diskutieren, sie würde stattfinden, so oder so. «Weshalb ich eigentlich gekommen bin: Frau Leuenberger hat mir erzählt, dass Ihre Zeichnungen bemerkenswert seien. Dürfte ich Sie allenfalls darum bitten, mir einige davon für die Dauer der Fallvorstellung zu überlassen? Sie würden uns damit sehr helfen, uns einen Einblick ermöglichen, der weit über Gespräche hinausgeht. Einen Einblick in Ihre Ressourcen. Wie ich sehe, tragen Sie Ihre Zeichnungsmappe sogar bei sich.»
Anaïs Graf, das hatte ich bereits begriffen, reagierte nicht so, wie ich es von den meisten anderen Patienten gewohnt war. Sie freute sich offenkundig nicht über die zusätzliche Aufmerksamkeit und Würdigung, die wir ihr durch die Team-Besprechung widmen wollten, und reagierte atypisch auf Komplimente. Aber ihre Reaktion auf meine konkrete Anfrage überraschte mich gleichwohl: Sie drückte die Zeichnungsmappe eng an ihre Brust, mit schützend davor verschränkten Armen, als wolle sie ihr Erstgeborenes vor dem sicheren Tod bewahren.
«Sie wollen Zeichnungen von mir?» Ihre Stimme klang gehetzt. «Das geht nicht.»
Ich konnte, so vermutete ich, mein Erstaunen nicht ganz verbergen. «Frau Graf, ich versichere Ihnen – Sie bekommen die Bilder in zwei Stunden unversehrt zurück. Aber Ihre Psychologin hat dermassen von Ihren Fähigkeiten geschwärmt, da wäre es schade, wenn wir anderen Ihre Zeichnungen nicht sehen dürften. Wissen Sie, es ist uns wichtig, unsere Patienten nicht nur auf deren Probleme zu reduzieren. Wir wollen den Menschen als Ganzes sehen, mit all seinem inneren Reichtum, seinen Fähigkeiten. Und da könnten diese Bilder uns massgeblich helfen. Sie können uns ermöglichen, Sie besser zu verstehen.»
Anaïs Graf presste die Lippen zusammen. Ihr Blick flackerte unruhig im Raum umher. Sie sagte nichts.
«Frau Graf», hob ich sanft an. «Was ist los? Was macht Ihnen daran so Mühe?»
Es arbeitete sichtlich in ihr. «Solche Zeichnungen», sagte sie schliesslich gepresst, «sind etwas sehr Persönliches.»
«Ja», bestätigte ich, nach wie vor sanft. «So wie Psychotherapie. Es gibt nichts Persönlicheres als Psychotherapie. Und dafür sind Sie schliesslich zu uns gekommen, oder?»
Ich beugte mich zu ihr hinunter. «Wollen wir kurz in ein Gesprächszimmer überwechseln, um das Thema eingehender zu besprechen? Mit ein wenig …», ich schaute im Raum umher und parierte stählern die neugierig gewordenen Blicke der beiden Schachspieler, die sich daraufhin hastig wieder ihrem Spiel zuwandten, «… mehr Privatsphäre vielleicht?»
Erneut klappte die Miene der Patientin zu. Es schien, als ob ich bei ihr nichts richtig machen konnte. «Nein, danke, das ist nicht nötig», erwiderte sie knapp. «Reichen zwei Bilder?»
Auf mein Nicken hin kramte sie umständlich in ihrer Zeichnungsmappe – mir schien, als wollte sie auf keinen Fall, dass ich einen Blick auf ihre Werke erhaschte – und förderte schliesslich zwei Skizzen zutage. «Bitte sehr.»
«Danke, Frau Graf. Ich weiss Ihren Vertrauensbeweis sehr zu schätzen.»
«Keine Ursache», entgegnete sie fast schnippisch. «Wenn Sie entschuldigen würden …»
Sie stand auf, so hastig, dass beinahe ihr Stuhl umgekippt wäre, raffte eilig Stifte, Block und Mappe zusammen und stob davon.
Ich blieb noch eine Weile stehen, sah ihr erst nach, blickte dann nachdenklich auf die beiden Zeichnungen in meiner Hand.
Die Frau begann mich zu interessieren.
«Hallo zusammen, schön, dass Ihr alle hier seid.»
Emma Leuenberger befeuchtete sich aufgeregt die Lippen, ehe sie weitersprach, in einer Tonlage, die höher lag als bei ihr üblich.
Es war nur wenig später, halb drei Uhr. Wir sassen im Rapportraum, in einer Runde um den grossen Tisch – das gesamte interdisziplinäre Team meiner Station, alle, die heute Dienst taten. Wir Ärzte, die Psychologin, einige Mitglieder der Pflege. Auch die Kunsttherapeutin und der Sozialarbeiter waren da.
Schwüle Hitze lag über dem Raum. Die Luft roch abgestanden.
«Wie ihr wisst, ist das die erste Fallvorstellung, die ich leite. Ich bin», Emma strich sich die Handflächen an ihrer modisch schmalen Hose ab, «ein wenig nervös. Nun ja – dann wollen wir mal!» Sie lachte unsicher, fuhr dann aber, ermutigt durch die freundlich-aufmunternden Blicke aus der Runde, ruhiger fort.
«Ich will euch heute Frau Graf vorstellen – Anaïs Graf, geboren 1976. Sie ist seit gut vier Wochen bei uns – ein freiwilliger Direkteintritt auf unsere Station. Sie war zuvor noch nie in psychiatrischer Behandlung, weder ambulant noch stationär. Zur Einweisung kam es aufgrund von Suizidgedanken im Rahmen einer depressiven Episode. Ausserdem berichtet Frau Graf über diffuse Ängste und häufig auch körperliche Probleme – Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, vage, wechselnde Bauchbeschwerden. Zugrundeliegende körperliche Befunde fehlen – klingt nach psychosomatischer Ursache, richtig?» Sie suchte den Blick von Lucas Schuster, unserem Assistenzarzt; der nickte zustimmend.
«Frau Graf», berichtete Emma weiter, «weist ausserdem einen schädlichen Gebrauch von Cannabis auf – der erfüllt nicht ganz die Kriterien für eine Abhängigkeitserkrankung, aber nimmt doch einiges an Raum in ihrem Leben ein. Und das hat vielleicht auch mit ihren Problemen zu tun.» Sie räusperte sich. «Zur Biographie der Patientin …»
«Emma», ging ich sachte dazwischen. «Du solltest uns zuerst noch sagen, warum du Frau Graf für diese Fallvorstellung ausgewählt hast. Worum geht es dir? Welche Fragen wollen wir hier zusammen klären? Worauf sollen wir achten, wenn du uns über sie erzählst?»
«Oh, richtig!» Emma stöberte hastig in ihren Notizen. «Das ist wichtig, ja. Also …» Sie holte tief Luft. «Ich weiss nicht, was ich mit ihr machen soll.»
Erwartungsvoll sah sie mich an.
Ich wartete kurz ab. Als deutlich wurde, dass sie nicht mehr dazu sagen würde, hakte ich nach. «Du weiss nicht, was du mit ihr machen sollst? Was meinst du damit, Emma? Woran liegt das?»
«Na», Emma fuchtelte mit den Händen durch die Luft, «ich weiss nicht, was ich mit ihr machen soll! Sie ist sehr nett und kooperativ – und doch wieder nicht. Sie macht bei allem mit – und doch wieder nicht. Ich verstehe nicht, was sie von mir will, ich komme mit ihr nicht weiter. Sie ist bei uns, und trotzdem ist sie nicht bei uns – verstehst du, was ich meine?»
Meinem etwas ratlosen Blick entnahm sie offenbar zu Recht, dass ich sie keineswegs verstand.
«Es ist schwierig zu beschreiben», schloss sie schliesslich hilflos.
Emma Leuenberger arbeitete seit kurzem als Stationspsychologin bei uns. Sie war jung und unerfahren, ihr Studienabschluss lag noch kein Jahr zurück, und sie hatte ihre Psychotherapieausbildung erst im Frühling angefangen. Sie war ein Küken, das war völlig in Ordnung. Eine lebhafte, engagierte junge Frau, die Patienten mochten sie, die männlichen darunter auch wegen ihres frischen, guten Aussehens, den leuchtenden grünen Augen und den kunstvoll gestuften, langen blonden Haaren. Sie gab sich Mühe. Jugendlicher Übereifer, die Neigung, ihre sich erst entwickelnden therapeutischen Fertigkeiten zu überschätzen, und eine ungute Tendenz zu naseweisen Kommentaren gehörten dazu.
Warum machte mich das in letzter Zeit bisweilen so gereizt? Lag es daran, dass sie fast zwanzig Jahre jünger war als ich? Zum zweiten Mal an diesem Tag fragte ich mich, ob ich langsam alt wurde. Es war völlig normal, dass sie ihre Schwierigkeiten mit der Patientin nicht genauer eingrenzen konnte. Es passte zum Stand ihrer Ausbildung, ihrer persönlichen Reife. Ich sollte geduldig mit ihr sein – es war schliesslich meine Aufgabe, ihr all das beizubringen.
«Du musst es gar nicht genauer beschreiben, Emma», be-ruhigte ich sie. «Das ist doch schon etwas. Die Frau scheint irgendwie zwiespältig zu sein, und diese Ambivalenz wirkt sich auf eure Zusammenarbeit aus, auf eine Weise, die du noch nicht ganz verstehst. Das, was sie sagt, ist vielleicht nicht das, was sie meint, oder? Irgendetwas ist nicht stimmig.»
Emma nickte lebhaft.
«Das ist ein Anhaltspunkt, hier können wir ansetzen. Erzähl ruhig weiter.» Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, während Emma wieder in ihren Notizen nach der Anamnese kramte.
«Frau Graf hat eine spannende Lebensgeschichte. Ihr Vater war Claude Graf, ein schwerreicher Berner Industrieller und Kunstmäzen. Beste Verhältnisse, alles vom Feinsten, unbeschwerte Kindheit und Jugend, wie sie sagt. Bis es dann Mitte der Neunzigerjahre zum folgenschweren Unfall kam: Die Eltern der Patientin waren allein im kleinen Privatflugzeug von Claude Graf unterwegs, in den Alpen, und stürzten aus ungeklärten Gründen ab. Beide sofort tot. Ein schwerer Schlag für Anaïs Graf und ihre eineiige Zwillingsschwester Camille, die damals beide noch keine zwanzig waren.»
Ein Raunen ging durch die Runde, das ich nicht einordnen konnte. Bedeutungsvolle Blicke.
«Was?» Ich blickte fragend umher.
Peter Ruf, der als Sozialarbeiter unter anderem auch für unsere Station zuständig war, machte grosse Augen. «Etwa Camille Graf? Die Malerin?»
«Ebendiese», bestätigte Emma gravitätisch.
Ich verstand überhaupt nichts. «Habe ich hier etwas verpasst? Wer ist diese Camille Graf?»
«Ka, das ist nicht dein Ernst, oder?»
Ein leises Lachen. Ich wandte den Kopf zu Barbara Gasser, unserer Kunsttherapeutin. Ihre dunklen Augen funkelten. «Camille Graf ist aktuell der Shooting-Star in der Berner Kunstszene. Ein Wunderkind, sagt man, zumal sie, ganz nebenbei, noch erfolgreiche Gynäkologin mit gut laufender eigener Praxis ist. So eine Doppelkarriere ist im Kunstbusiness mehr als ungewöhnlich. Ich wusste nicht, dass wir ihre Schwester hier auf der Station haben. Interessant.»
Irritiert sah ich mich um. Die meisten schauten drein, als wüssten sie genau, wovon wir hier sprachen. Nur Jelika Bakovic von der Pflege, seit Anfang Juli stolz in ihrem neuen Amt als Stationsleiterin, erwiderte meinen ratlosen Blick mit einem schrägen Grinsen.
«Keine Sorge, Ka», meinte sie maliziös. «Du bist nicht die Einzige – ich habe auch noch nie etwas von ihr gehört. Du musst dich also nicht schämen.»
Ich brachte das aufbrandende Gelächter mit einer herrischen Handbewegung unter Kontrolle. «Ruhe jetzt! Mach weiter mit der Anamnese, Emma.»
«Nach dem Tod ihrer Eltern», fuhr Emma fort, ihr Kichern nur mühsam beherrschend, «hatten die Graf-Schwestern eine schwere Zeit. Sie standen alleine da – es gab keine nahen Verwandten, die sie hätten unterstützen können. Und offenbar waren grosse Teile des beträchtlichen elterlichen Vermögens in der umfangreichen, international bedeutenden Sammlung zeitgenössischer Kunst ihres Vaters gebunden – und diese enormen Werte hatte er testamentarisch verschiedenen Museen als Schenkungen vermacht. Das schmälerte die vorhandenen Geldmittel beträchtlich, aber Anaïs und Camille Graf kamen dem letzten Wunsch ihres Vaters getreulich nach – und mussten sich dann mehr schlecht als recht selbst durch ihre Berufsausbildung kämpfen. Anaïs, unsere Patientin, hat einen Abschluss an der Berner Hochschule der Künste gemacht. Und, das ist der Clou, ihre Schwester Camille hat das gleiche Studium angefangen – die Neigung zur Kunst lag da wohl in den Genen –, allerdings nach nur einem Semester geschmissen und dann Medizin studiert. Aber während Camille heute sowohl als Ärztin als auch als Malerin schwer erfolgreich ist, hat unsere Patientin dann kurz nach ihrem Abschluss die Malerei an den Nagel gehängt und sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Im Service, im Verkauf, in der Altenpflege. Heute lebt sie bescheiden in einem alternativen Quartier in Bern, mit sehr eng gesteckten finanziellen Mitteln, und arbeitet Teilzeit im dortigen Quartierladen mit. Ihre Schwester indes wohnt in einem tollen Haus nicht weit von ihr, ist ein glamouröses Statussymbol auf zwei Beinen und verdient sich dumm und dämlich.»
«Eineiige Zwillinge», murmelte ich, mehr zu mir selbst. «Goldmarie und Pechmarie. Das alte Lied.»
«Was meinst du?», fragte Emma.
«Nichts. Lebt unsere Frau Graf in einer Beziehung? Hat sie Kinder? Wie ist die psychiatrische Vorgeschichte?»
«Keine Beziehung, keine Kinder. Sie war nie verheiratet – Camille übrigens auch nicht, obwohl sie eine auffallend attraktive Frau ist.»
Schon wieder die Schwester, dachte ich. Wir sprechen hier über Anaïs Graf und kommen doch dauernd auf die Schwester zurück.
«Was die psychiatrische Vorgeschichte angeht: Eben, Anaïs Graf war bis heute nie in Behandlung. Sie kann nur vage Angaben machen. Depressivität scheint schon länger ein Thema zu sein, kein Wunder – angesichts des Glanzes, den ihre berühmte Schwester umgibt, macht sich die Lebenssituation der Patientin besonders kümmerlich aus. Auch Angstsymptome hat Frau Graf wahrscheinlich schon länger – Versagensängste? Zukunftsängste? Sie lässt sich nicht so genau in die Karten blicken. Das ist ja das Problem.»
«Warum hat sie sich auf einmal entschlossen, sich in stationäre Behandlung zu begeben?», wollte Lucas Schuster, der Assistenzarzt, wissen. «Was ist da passiert?»
Ich nickte zustimmend – eine sinnvolle Frage. Schuster, ursprünglich aus Deutschland, ein hochgewachsener, schlaksiger Lockenkopf, war ein guter Arzt. Etwas älter schon, als Assistenzärzte es üblicherweise waren, ein ruhiger, gelassener Charakter. Leicht schusselig bisweilen, aber er hatte ein tiefes Verständnis für die menschliche Natur und ein verdammt gutes Gespür für Zwischentöne. Ein Glücksfall für mich angesichts des grassierenden Fachkräftemangels, der auch die Klinik Eschenberg nicht verschonte – Arztstellen blieben lange vakant oder wurden notgedrungen mit Bewerbern besetzt, die die notwendigen Qualifikationen nur sehr knapp erfüllten, oft nicht einmal ausreichend gut deutsch sprachen. Ich hätte es sehr viel schlechter treffen können.
«Darin blieb Frau Graf vage», erklärte Emma sichtlich frustriert. «Es ist nicht so, dass ich nicht mehrfach nachgefragt hätte – aber sie wurde einfach nicht konkret. Es sei nichts Einschneidendes passiert, meint sie. Es sei ihr einfach auf einmal alles zu viel geworden. Das Leben, sagt sie. Ihr ganzes Leben. Das ist alles. Mehr konnte ich nicht aus ihr rausbekommen.»
«Konnte sie formulieren, was ihr Auftrag an uns ist? Wozu ist sie in die Klinik gekommen?», wollte ich wissen.
Emma hob hilflos die Hände. «Auch hier: Sie bleibt diffus. Sie wolle sich besser fühlen, sich stabilisieren. Keine Suizidgedanken mehr haben. Sie brauche Zeit und Distanz zu ihrem Alltag. Ehrlich, Ka, ich habe es ihr nicht leicht gemacht. Ich habe mich nicht kampflos mit solchen Gemeinplätzen abspeisen lassen, ich habe wieder und wieder nachgefragt. Ich weiss, was du immer sagst: Konkret werden. Ins Detail gehen. Radikale Neugier. Ich habe es versucht. Aber ich beisse bei ihr auf Granit.»
Ich musste grinsen. «Ich habe heute Nachmittag nur ein paar Minuten mit der Frau gesprochen und dabei ebenfalls gründlich auf Granit gebissen – mach dir keine Sorgen, das liegt wahrscheinlich nicht an dir. Wie erlebt ihr anderen die Patientin?»
Martina Keller, eine gewitzte, dynamische Pflegende mit karottenroten kurzen Haaren, meldete sich zu Wort. «Sie ist nett. Das mag flach und banal klingen, aber es passt: Sie ist freundlich, höflich, anständig. Macht am Programm mit, ist pünktlich, hält ihr Zimmer in Ordnung, erledigt ihre Aufgaben auf der Station, ist hilfsbereit. Ihr muss man nichts zweimal sagen, sie hält sich immer an Abmachungen. Und sie ist sehr dankbar, überhaupt nicht überheblich und fordernd, wie man es von einer Frau, die aus so reichem Haus stammt, erwarten könnte. Eine zurückhaltende, bescheidene, nette Frau. Sehr angenehm im Umgang.»
Eine präzise Zusammenfassung, die die Patientin schön charakterisierte. «Und wie steht es um ihre Integration in die Patientengruppe?», fragte ich weiter.
«Problemlos», meldete sich Jelika. «Ausgleichend, anteilnehmend, anpassungsfähig, ohne sich an andere zu klammern. Bisweilen frage ich mich, ob sie sich genug abgrenzen kann – sie hat immer ein offenes Ohr für andere, und gerade Frau Haldemann, das wisst ihr, nutzt empathische Mitpatienten gerne als Publikum für ihre abendfüllenden Klagelieder.»
Ein Seufzen ging durch die Runde, das Problem war allen wohlbekannt.
«Aber», fuhr Jelika fort, «wenn ich genau hinschaue, dann merke ich, dass Frau Graf sich sehr wohl abgrenzen kann. Sie ist mitfühlend, aber nicht wehrlos. Im Innersten hat sie etwas Zurückhaltendes, Privates, das sie mit niemandem teilt und zu dem sie sehr wohl Sorge tragen kann. Sie zieht sich oft in eine stille Ecke zurück und zeichnet. Das gibt ihr sichtlich Halt.»
Das war mein Stichwort. Wortlos nahm ich die beiden Skizzen, die Anaïs Graf mir so widerwillig überlassen hatte, aus einer Kartonmappe und legte sie auf den Tisch.
Schweigen breitete sich aus.
«Oh», sagte Peter Ruf dann.
Die beiden Zeichnungen – Bleistiftskizzen, sichtlich mit zügiger Hand aufs Papier geworfen, die Figuren lediglich mit wenigen, wohlgeführten Strichen angedeutet – zeigten Menschen, die wir alle kannten. Auf der einen war Martina Keller zu sehen, von der Seite, offenkundig animiert sprechend, mit den Händen gestikulierend – ich fragte mich, ob Anaïs Graf sie heimlich skizziert hatte, während Martina eine Gesprächsrunde geleitet hatte. Das Bild war rudimentär, das Profil mehr umrissen als ausgearbeitet, aber es traf die Essenz von Martinas Wesen, das fröhliche, sprudelnde Leben, das sie ausmachte, exakt.
Das zweite war eine Studie von Frau Haldemann, ihrer Mitpatientin. Die gebogene Linie von Kopf und Schulter, die klagsame Schwere in ihren Gesichtszügen waren fast schmerzhaft entlarvend und umfassten ihre ganze, bedrückende Problematik in wenigen Strichen.
Es war unerhört. Zwei beiläufig hingeworfene Zeichnungsentwürfe, die lange, tiefgründige Geschichten erzählten und pointiert auf den Kern zielten.
«Meine Fresse», murmelte Nicolas, unser schüchterner neuer Pflegepraktikant, um dann peinlich berührt zu erröten.
Dabei fand ich sein Votum gar nicht unpassend. Mir ging es ähnlich wie ihm.
Barbara Gasser griff nach den Bildern und studierte sie eingehend, mit dem Blick der Sachkundigen. «Das ist beeindruckend», meinte sie dann. «Es ist augenfällig, dass Anaïs Graf ungeheures Talent hat – natürlich, sie hat auch eine entsprechende Ausbildung, aber das da», sie wies mit dem Kinn auf die Skizzen, «geht weit über alles hinaus, was ich je bei einem Patienten gesehen habe. Da besteht ein enormer Reichtum.»
«Hat sie dir ihre Zeichnungen bereitwillig gezeigt?», fragte ich Emma.
«Nicht die Spur», meinte die. «Ich habe sie gesucht, weil ich früher als erwartet Zeit für ein Gespräch mit ihr hatte, fand sie im Aufenthaltsraum und konnte ihr eine Weile über die Schulter schauen, ehe sie mich bemerkte und die Zeichnung hastig wegzog. Sie geht mit ihren Fähigkeiten nicht gerne hausieren, wie es scheint.»
«Das ist noch milde ausgedrückt», erwiderte ich trocken. «Ob das wohl etwas mit ihrer berühmten Schwester zu tun hat? Fühlt sie sich insuffizient ihr gegenüber? Als die, die immer nur die Zweitbeste war? Spricht sie die Geschwisterrivalität in den Einzelgesprächen an, Emma?»
Die schüttelte den Kopf. «Sie redet immer nur gut von ihrer Schwester. Das Verhältnis zwischen den beiden scheint sehr eng zu sein; sie verbringen viel Zeit miteinander, treffen sich oft, telefonieren häufig, und offenbar darf Anaïs Graf das grossräumige Atelier im Haus ihrer Schwester mitbenutzen, um selbst ein wenig zu kritzeln, wie sie sagt.»
«Camille Graf kommt ihre Schwester mindestens zweimal in der Woche auf der Station besuchen, wenn nicht noch mehr. Eine sehr nette Frau», warf Jelika ein. «Sie kümmert sich rührend um unsere Patientin, bringt ihr Blumen und Süssigkeiten und fährt abends mit ihr weg, zum Essen. Ich frage mich, wie sie das fertigbringt – die kann doch kaum Zeit haben, nach dem, was über sie erzählt wurde. Wie schafft die das nur?» Die sonst so bodenständig gelassene Jelika klang fast ehrfürchtig.
«Und du spürst in den Gesprächen keinen Funken von Neid oder Groll gegen die Schwester, Emma? Das wäre doch zu erwarten, oder?»
«Wenn sie einen Groll gegen die erfolgreiche Camille hegt», entgegnete Emma, «dann kann sie das ausserordentlich gut verbergen. Wie so einiges andere. Es ist gewiss nicht so, dass sie in den Gesprächen mit mir verschlossen wäre, misstrauisch oder feindselig. Die Beschreibungen der anderen passen sehr wohl – sie ist nett, kooperativ, dankbar. Aber immer, wenn ich das Gefühl habe, auch nur in die Nähe der Wurzel ihrer Probleme zu kommen, entwindet sie sich mir. Diskret, unauffällig, gewandt – auf eine freundliche, aber auch sehr bestimmte Art. Ich weiss nicht einmal, ob sie das bewusst macht. Aber sie macht es verdammt gut.»
«Was habt ihr in der Behandlung bisher gemacht?», fragte Lucas Schuster in seiner bedächtigen Art.
«Ich habe ihre Suizidalität mit ihr angeschaut, und dann Strategien gegen die depressiven Symptome mit ihr besprochen», erwiderte Emma, die wieder in ihren Papieren herumstöberte. «Störungsspezifische Techniken halt – Aktivierung, die Liste angenehmer Aktivitäten, den Zusammenhang zwischen Gefühlen, Gedanken und Verhalten. Auch den Angstkreis haben wir gestreift, das Thema Exposition. Alles solide verhaltenstherapeutische Bausteine, da kann man gar nichts dagegen sagen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir damit nur an der Oberfläche kratzen. Dass das, worum es im Grunde ginge, darunter liegt, gut verborgen.»
Ich nickte anerkennend – ihre Reflexion klang stimmig und zeigte auf, dass sie doch schon ein Auge für die wesentlichen Dinge in einer Psychotherapie entwickelt hatte. Womöglich hatte ich sie unterschätzt.
«Was will sie bei uns noch erreichen, ehe sie austritt? Und wie soll die Austrittssituation aussehen? Die Nachbehandlung?», erkundigte ich mich bei Emma.
«Sie will einfach hier sein», antwortete diese schlicht. «Das scheint mir ihr zentralstes Anliegen zu sein. Ich weiss nicht, was sie noch erreichen will, wozu sie bei uns ist, aber sie will bleiben, da bin ich mir sicher. Über einen Austritt redet sie sehr ungern, und sie hat sich rundweg geweigert, bereits ein Austrittsdatum festzulegen. Auch da komme ich mit ihr nicht weiter.»
Ich dachte nach. «Sie will hier sein. Im Grunde will sie nichts erreichen, nichts ändern. Aber sie will hier sein. Da stellt sich mir die Frage, was denn da draussen auf sie wartet, wenn es für sie besser ist, in einer psychiatrischen Klinik zu sein.»
Emma zuckte resigniert mit den Achseln. «Sie ist mir ein Rätsel.»
Ja. Das traf es auf den Punkt. Ein Rätsel.
Anaïs Graf war ein Rätsel.
Und ich spürte ein mir wohlbekanntes Kribbeln in meinen Fingerspitzen.
«Was machen wir jetzt mit ihr, Ka?». Emma blickte mich ratlos an. «Ich weiss nicht weiter. Klar kann ich an der Oberfläche rumtherapieren, störungsspezifische Manuale abspulen. Aber ich glaube, das wird ihr nicht gerecht, nicht im Kern. Und abgesehen davon bin ich jetzt dann den Rest der Woche weg – meine Weiterbildung, du weisst schon.»
«Also wir können uns nicht beklagen», meldete Martina sich zu Wort. «Für uns von der Pflege ist sie eine Musterpatientin. Im Alltag funktioniert sie bestens. Offenbar beschränkt sich das Problem auf die Einzelpsychotherapie.»
«Das hat System», mutmasste ich. «Dort, wo die Therapie in die Tiefe zu gehen droht, dort, wo es persönlich wird», ich erinnerte mich lebhaft an die Worte der Patientin, «dort wird es schwierig. Und nur dort. Aber Frau Graf ist aus einem bestimmten Grund hier. Und dieser Grund muss gewichtig sein, auch wenn wir ihn nicht kennen. Wir müssen irgendwie an ihn herankommen. Wenn sie uns denn lässt.»
«Ich frage mich, ob sie sich auf Einzel-Kunsttherapie einlassen würde», überlegte Barbara Gasser. «Das wäre ein ganz anderer Zugang als das Gespräch. Vielleicht wäre da etwas möglich.»
«Gute Idee – nimm die beiden Bilder, geh damit auf sie zu und biete es ihr an», sagte ich. «Und in Emmas Abwesenheit», ich lächelte breit und spürte dabei wieder das Kribbeln in meinen Fingerspitzen, «übernehme ich die Behandlung der Patientin. Mal schauen, was da zu machen ist.»
Der Gedanke an Anaïs Graf liess mich den ganzen Nachmittag nicht los.
Ich erledigte Routinearbeiten in meinem Büro, korrigierte eine schwindelerregende Anzahl an Austrittsberichten und wickelte einige pendente Anrufe ab, aber ein Teil meines Gehirns liess nicht davon ab, sich forschend um das Rätsel dieser Patientin zu winden.
Eineiige Zwillinge, Goldmarie und Pechmarie. Depression und Angst, diffus wie ein dichter Herbstnebel, ungreifbar. Eine Frau, die unbedingt in der Klinik bleiben wollte, aber keine Veränderungsmotivation hatte. Die brav am Therapieprogramm mitmachte, ohne sich richtig einzulassen. Eine Frau, die ein enormes Talent hatte und es sorgsam verbarg. Eine Frau in Not – aber verstanden wir diese Not? Nicht wirklich. Warum liess sie nicht zu, dass wir ihre Not verstanden? Was war da draussen, was wartete auf sie?
Ich war fast froh, als ein unverhofftes Klopfen an meiner Bürotür Ablenkung verhiess.
«Ja?», brüllte ich.
Die Tür öffnete sich, und Martin Rychener streckte den Kopf herein. «Störe ich? Bist du beschäftigt?»
«Ich bin immer beschäftigt», erwiderte ich launig. «Zudem klug, tüchtig, unentbehrlich. Du als mein Vorgesetzter solltest das nie vergessen. Insbesondere nicht angesichts des in Kürze anstehenden Mitarbeiter-Gespräches. Ich will eine Lohnerhöhung.»
«Sehr witzig», meinte er trocken und schloss die Tür hinter sich.
Er näherte sich einige Schritte, blieb dann aber unbehaglich im Raum stehen, die Hände linkisch in die Hosentaschen gestopft.
Linkisch? Martin Rychener, der Inbegriff lässiger Eleganz? Ich liess von meinem Laptop ab. «Was ist?», fragte ich misstrauisch.
Ich kannte Martin, ich konnte ihn lesen wie ein Buch. Ich kannte jede Strähne seines graumelierten Haares, jede Falte um seine Augenwinkel. Alles an ihm war mir vertraut. Er konnte mich nie lange täuschen.
«Rück raus damit», forderte ich.
«Es ist im Grunde nichts», beschwichtigte er. «Ich war nur eben bei Steve.»
«Ah», sagte ich ahnungsvoll. «‹Steve›.»
«Du solltest wirklich aufhören, seinen Namen so auszusprechen, Kassandra», warf Martin hitzig ein. «Man kann die Anführungszeichen buchstäblich in der Luft hängen sehen. ‹Steve› – ich bitte dich. Der Mann heisst nun mal so.»
«Tut er keineswegs. Er heisst Stefan Losinger. Den Namen Stefan würde ich ohne Anführungszeichen aussprechen. Aber ‹Steve› geht gar nicht.»
Martin strich sich mit beiden Händen entnervt durch die Haare. «Ganz egal, ob du ihn magst, ganz egal, wie er sich nennt, er ist unser neuer Direktor. Und wir müssen uns mit ihm arrangieren.»
«Mir scheint», entgegnete ich mit geschürzten Lippen, «du zumindest hast dich bereits bestens mit ihm arrangiert. Kein Wunder. Als Mann mit besten Aussichten auf den bald freiwerdenden Chefarztposten tätest du gut daran, dich mit Losinger gutzustellen. Mit ‹Steve›, meine ich natürlich.»
Das war ein häufiger Streitpunkt zwischen uns, nicht der einzige, aber einer, der unsere Freundschaft zunehmend belastete.
In seiner langjährigen Rolle als leitender Arzt hatte Martin der Geschäftsleitung der Klinik schon immer näher gestanden als wir Oberärzte. Er hatte am schnellsten überwunden, was für uns andere ein schmerzhafter Affront gewesen war – dass die Position des Klinikdirektors nach der Pensionierung des vormaligen Inhabers, Rudolf Blanc, nicht wieder mit einem Arzt, sondern mit einem Betriebsökonomen besetzt worden war. Einem Manager, einem, der sich lieber CEO nannte als Direktor. «Steve» eben.
Und nun stand in einem knappen Jahr die Pensionierung von Bernhard Leutwyler an, unserem Chefarzt – eine schmerzliche Aussicht, an die ich noch nicht einmal denken mochte. Und dass Martin Rychener der höchstgehandelte Anwärter für Leutwylers Position war, hatte etwas verändert.
Martin war schon immer ehrgeizig gewesen. Die Chance, Chefarzt der grossen und angesehenen Klinik Eschenberg zu werden, hatte etwas in ihm verhärtet, hatte eine alte, überwunden geglaubte Rigidität in ihm zurückgebracht, etwas Steifes, Formelles, das ich nicht gern an ihm sah. Woran ich ihn gerne und häufig erinnerte.
Endlich wandte ich mich von meinem Pult ab, rollte mit meinem Bürostuhl ein Stück zurück und drehte mich so, dass ich Martin direkt ins Gesicht sehen konnte.
Martin Rychener. Ehemals erbitterter Kontrahent, damals, vor vielen Jahren, als ich noch Assistenzärztin gewesen war und er mein verhasster Oberarzt. Später die zwiespältige, aber zwingende magnetische Anziehung zwischen uns, die in der Feuersbrunst einer ungewollten, verzehrenden heimlichen Affäre aufgeflammt und dann abrupt erkaltet war – bis, wie ein Phoenix aus der Asche, aus den Ruinen unserer alten Nähe und Intimität etwas Neues, Kostbares auferstanden war. Eine tragende, andauernde Freundschaft.
Martin war mir wichtig. So wichtig, dass mich der Konflikt, der wegen «Steve» und dem, wofür er in dieser Klinik stand, zwischen uns schwelte, tief schmerzte und bedrückte.
«Ich verstehe nicht, warum du den Mann so beharrlich als Monster darstellen musst, Kassandra. Er mag kein Arzt sein, aber er ist aufrichtig daran interessiert, in der Klinik Eschenberg gute Psychiatrie anzubieten.»
«Gute, gewinnbringende Psychiatrie, meinst du», ergänzte ich spitz.
«Ach, um Himmels Willen – es ist seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Klinik rentabel geführt wird. Du willst Ende Monat schliesslich auch deinen Lohn haben, oder? Oder», fügte er bissig hinzu, «gerne sogar eine Lohnerhöhung. Du bist auch froh, wenn Anschaffungen getätigt und fähige Leute angestellt werden können. Das geht nicht, wenn der Direktor nicht ökonomisch wirtschaftet. Und die politische Situation wird immer schwieriger, der Kostendruck von aussen nimmt zu – das ist nicht Steves Schuld, das hat er nicht verursacht, aber er muss darauf reagieren. Diese permanente Haltung von ‹man redet in der Medizin nicht über Geld, das ist nicht ethisch› ist unfair und ausserdem überholt, Kassandra. Das eine schliesst das andere nicht aus. Und ich würde ja nichts sagen, wenn der Mann etwas gegen dich hätte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Er schätzt dich und deine Arbeit hoch und fördert speziell dich, wo er kann. Deine Haltung ist selbstgerecht und undankbar.»
Ich spürte, wie die Galle in mir sachte überzuköcheln begann. Ich wollte keinen Streit mit Martin, nicht schon wieder, nicht über dieses Thema. Also gab ich mich ungewohnt konziliant.
«Was wollte ‹Steve› denn von dir?», flötete ich. Die Anführungszeichen allerdings konnte ich mir nicht verkneifen.
«Er hat mich gebeten, dich noch einmal persönlich und nachdrücklich an die Weiterbildung von morgen zu erinnern. Er rechnet fest mit dir.»
Ich blies meine Wangen auf. «Das heisst übersetzt, er weiss genau, dass ich das Ganze für nichtswürdigen Mist halte, und untersagt mir explizit, zu kneifen und mich mit einem Vorwand aus der Affäre zu ziehen, ja?»
Martin grinste matt. «Exakt. Er kennt dich offenbar schon recht gut. Und wie gesagt – ihm liegt an dir.»
«Rührend», erwiderte ich schneidend. «Schon klar, ich komme. Und ja, Martin, ich werde mich bemühen, mich zu benehmen», fügte ich auf seinen bedeutungsvollen Blick hin genervt hinzu.
Er nickte zufrieden. «Gut. Ich bin erleichtert, das zu hören.»
Ich kam an diesem Abend verschwitzt und gereizt zu Hause an. Mein Wagen hatte auf dem Klinikparkplatz den ganzen Tag in der auf den Asphalt brennenden Sonne geschmort, und so hatte ich mich auf meiner Heimfahrt nach Thun in brütender Wüstenhitze, gegen die die Klimaanlage des Autos erfolglos angekämpft hatte, durch den dichten Feierabendverkehr gewälzt und wüste Verwünschungen gegen all die anderen, ebenfalls schwitzenden und gereizten Verkehrsteilnehmer ausgestossen. Es war kein schönes Bild gewesen.
Ich hatte Kopfschmerzen und war übelster Stimmung, als ich ins Haus trat und als Erstes über Janas mitten im Flur liegenden Schulrucksack stolperte.
«Jana», brüllte ich erzürnt durchs Haus – in ausreichender Dezibelstärke, wohlweislich. «Räum sofort dein Zeug da weg, oder ich werfe alles in den Müll!»
Lange passierte nichts. Mein Ruf verhallte ungehört in den Winkeln unseres Hauses.
«Jana!» Noch mehr Dezibel. «Wo steckst du?»
Es dauerte noch ein, zwei Herzschläge lang, aber dann – Jana war mit dem unfehlbaren Instinkt aller fast Dreizehnjährigen für den mutmasslichen Siedepunkt ihrer Mutter ausgestattet – erklangen schleppende Schritte auf der Treppe.
Die Angesprochene erschien mit angeödetem Gesichtsausdruck auf dem Treppenabsatz, ihr langes, welliges rötliches Haar schwang effektvoll über ihre Schulter. «Hast du mich gerufen, Mama?»
Nein. Ich machte hier nur meine täglichen Stimmübungen. Gold für den Kehlkopf.
«Allerdings», entgegnete ich streng. «Warum liegt dein Rucksack hier auf dem Boden, mitten im Raum?»
Sie hob entnervt die Augenbrauen. «Weil ich ihn da habe fallen lassen?»
Ruhe bewahren, ermahnte ich mich. «Würdest du ihn dann», zwitscherte ich liebenswürdig, «allenfalls auch wieder wegräumen?»
Jana zuckte desinteressiert mit den Schultern. «Ja, gleich», sagte sie, und entschwand wieder nach oben.
Ich erwog, ihr nach oben zu folgen, entschied mich aber im Dienste des häuslichen Friedens dagegen. Stattdessen öffnete ich das Fenster, packte den Rucksack und warf ihn mit präzisem Schwung nach draussen in den Garten. Als Konzession an meine Laune.
«Mia?», rief ich dann, und bemühte mich, meiner Stimme den Klang heiteren mütterlichen Gleichmuts zu verleihen. «Bist du da?»
«Jaha!», tönte es aus dem Kellergeschoss.
Am PC, vermutete ich wohlbegründet. Und wahrscheinlich nicht im Zuge einer ausführlichen Internet-Recherche für ein Schulprojekt, sondern an einem ihrer heiss geliebten Games. Was war noch der neueste Favorit? Der Online-Reiterhof oder der Hundesalon?
Ich seufzte. Einen Kaffee. Ich brauchte dringend einen Kaffee. Jetzt gleich.
Tapfer die Spuren der Verwüstung ignorierend, die meine Töchter binnen eines Tages im Haus hinterlassen hatten – schmutzige Gläser auf dem Couchtisch, zerknüllte Socken auf der Treppe, Stapel von Heften und Schulbüchern im Esszimmer – marschierte ich in die Küche, warf mit harscher Geste eine geplünderte und liegengelassene Kekspackung in den Abfall und präparierte dann den Kaffeekocher. Der Duft des feinkrümeligen dunklen Kaffeepulvers belebte mich.
Aufatmend lehnte ich mich an die Küchenkombination, während ich darauf wartete, dass das Wasser im Bialetti-Kocher zu sieden begann. Oh köstlicher Augenblick der Ruhe.
«Mama?» Mias halblanger Blondschopf erschien im Türrahmen. Wie immer ungekämmt.
«Ich muss für die Theateraufführung in der Schule schwarze Leggins und ein rotes T-Shirt haben.»
«Okay – bis wann?»
«Wir müssen es morgen mitbringen.»
«Morgen? Ihr müsst es schon morgen mitbringen? Seit wann weisst du davon?»
Mia hob vage die Schultern. «Weiss nicht.»
Na grossartig. Wahrscheinlich ein weiterer Merkzettel aus dem Unterricht, der unbeachtet am Boden von Mias Schulranzen vor sich hin gammelte, tief im Sediment weiterer vergessener Pendenzen vergraben. Das Kind war unverbesserlich und nicht im mindesten beeindruckt von meinen häufigen Vorhaltungen darüber, dass Zehnjährige zu mehr Selbstverantwortung fähig sein müssten.
«Dann werden wir wohl», erwiderte ich zähneknirschend, «wieder einmal improvisieren müssen. Ich komme gleich und schaue, ob ich in meinem Schrank etwas für dich finde. Aber lass mich um Himmels willen zuerst meinen Kaffee trinken.»
«‹Gib mir Kaffee, und niemand wird verletzt›», zitierte Mia weise den Spruch auf einer Postkarte, die ich gut sichtbar an die Wand der Küche gepinnt hatte. «Übrigens: Wir haben keine Milch mehr. Ich habe den letzten Schluck für mein Müesli gebraucht.» Mit diesen Worten verschwand sie.
Ich vergrub stöhnend den Kopf in den Händen.
Marc kam später nach Hause als erwartet. Erfreut, seine Stimme zu hören, streckte ich den Kopf aus der Küche, wo ich mit noch weniger Geduld und Geschick als üblich damit beschäftigt war, unregelmässige Streifen aus Rohkost zu schneiden. Sobald ich allerdings das Gesicht meines Mannes erblickte, zog ich den Kopf rasch wieder zurück. Da bahnte sich ein Gewitter an. Es galt, Deckung zu bewahren.
«Harten Tag in der Praxis gehabt?», murmelte ich betont inoffensiv und schnippelte angelegentlich eine Peperoni in Stücke, als er schliesslich den Raum betrat und sich wortlos ein Bier aus dem Kühlschrank angelte.
Ich wertete sein grimmiges Grunzen als Bestätigung und fragte nicht weiter.
«Sag mal», fragte Marc stattdessen, während er den Verschluss von seinem Bier pulte, «warum liegt Janas Schulrucksack draussen neben dem Haus?»
Ich grunzte grimmig.
Marc nickte wissend und verzog sich.
Um Viertel nach neun war endlich Ruhe im Haus eingekehrt. Ich hatte Mia, die sich unbedingt noch im Einflussbereich des heiligen WLANs ein Buch aus der Online-Bibliothek auf ihren E-Reader hatte laden wollen, nachdrücklich nach oben in ihr Zimmer gescheucht und einige mahnende Worte mit Jana über deren wild über den Fussboden verstreute Dreckwäsche gewechselt, es dann aber gut sein lassen und mich ermattet ins Wohnzimmer geschleppt, wo Marc in seinem Stammsessel hing und mit finsterem Blick vor sich hinstarrte. Unaufgefordert liess ich mich neben ihn aufs Sofa fallen.
«Willst du mir nicht erzählen, was heute in der Praxis los war? Deine Miene erinnert mich an einen angriffslustigen Haifisch.»
Marc grinste müde. «Ach ja? Ich muss unbedingt an meinem Image arbeiten, scheint mir.» Erschöpft raufte er sich mit beiden Händen die dunklen Haare, in die sich an den Schläfen immer mehr Grau mischte. «Es war gar nichts Besonderes. Einfach das Übliche: von allem zu viel. Zu viele Termine, zu viele Telefonate. Ein paar Notfälle, und gegen Abend, gerade, als ich dachte, ich hätte das Schlimmste hinter mir, noch ein Besuch im Altersheim, weil eine meiner Patientinnen gestürzt war. Ich habe einfach keine Freiräume mehr. Keinen Moment, um mal Post zu erledigen oder einen dringend notwendigen Rückruf zu machen. Von einer Tasse Kaffee oder einer Pinkelpause ganz zu schweigen. Alles dicht gedrängt und überstellt. Es ist wie im Hamsterrad, Ka.»
«Scheisstag», murmelte ich mit anteilnehmendem Lächeln.
Er schüttelte langsam den Kopf. «Wenn es nur das wäre, ein Scheisstag. Aber diese Tage werden langsam zur Regel. Scheisswoche, Scheissmonat. Wann bin ich abends mal frühzeitig nach Hause gekommen? Um sechs, halb sieben? Das wird immer seltener. Wie häufig muss ich nach der Sprechstunde, nach dem Abendessen nochmal ins Büro? Um Berichte zu schreiben, liegengebliebene Krankengeschichten nachzutragen? Sicher zwei-, dreimal die Woche. Das ist doch kein Leben so. Das hält auf die Dauer niemand aus.»
Er seufzte. «Christoph Berner, ein lokaler Gastroenterologe, musste vorgestern notfallmässig hospitalisiert werden. Ich habe es heute von einem Kollegen gehört: Myokardinfarkt. Direkt aus der Praxis auf den Notfall – wie absurd ist das denn? Und erinnerst du dich an den Suizid am Bahnhof Bern, letzte Woche?» Er deutete mein ratloses Stirnrunzeln richtig und ergänzte: «Der Personenunfall zur Hauptverkehrszeit. Stand in der Zeitung, eine kurze Meldung. Grässliche Sache. Weisst du was? Der war offenbar auch ein Kollege von uns, wenn man dem Klatsch Glauben schenken darf. Auch ein Arzt.» Marc seufzte tief. «Dem hat es offenbar gereicht mit dem Hamsterrad.»
Ich spürte, wie kalte Beklommenheit mir das Herz zusammenpresste. Es erschütterte mich, meinen Mann in dieser Stimmung zu sehen. Resigniert, ausgelaugt, perspektivlos. Und mir schien, ich sah ihn letzthin viel zu oft darin.
Rasch streckte ich die Hand aus, drückte seinen Arm.
Marc blickte zu mir auf. Und decodierte meine Miene sofort.
«Mach dir keine Sorgen. Es ist nur ein Rappel, nichts weiter. Du weisst, ich bin eine alte Memme. Ein bisschen im Selbstmitleid zu suhlen, tut manchmal einfach gut.» Er gab sich alle Mühe, den aufgeweckten Anschein zu wahren, aber es gelang ihm nicht im mindesten, was alles noch schlimmer machte. «Wie war dein Tag?»
Ich hätte ihm gerne von Anaïs Graf erzählt, von dem Rätsel, das sie umgab, oder ein wenig über «Steve» und seine hassenswerte Zwangs-Weiterbildung gelästert. Ich brannte darauf, alles haarklein mit Marc zu besprechen.
Aber dann liess ich es bleiben. Und schenkte ihm, was er im Moment am meisten brauchte: Ruhe und Frieden.
Die Sorge um meinen Mann begleitete mich auch in den nächsten Tag, sie dräute über mir wie tiefhängende Regenwolken.
Als Hausarzt war Marc in all den Jahren seit Übernahme seiner Praxis nie gelangweilt gewesen, sicher. Lange Arbeitszeiten und Notfalldienste gehörten zum Job dazu, immer schon. Aber dieses Ausmass war neu.
Marcs Berufsalltag wurde immer fordernder, dichter und auslaugender. Es war schwer zu sagen, woran das lag. An der überbordenden Bürokratie, an all den Berichten, mit denen er, so schien es, neuerdings jede seiner Entscheidungen und Verordnungen gegenüber der Krankenversicherung detailliert begründen und verteidigen musste? Lag es an seinen Patienten, die immer älter und damit auch kränker wurden? Oder daran, dass die Erwartungen an die Medizin stiegen und stiegen, dass Dinge wie Liebeskummer, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder Zukunftsängste mehr und mehr medizinalisiert, dass Lebensprobleme nicht mehr Sache der Gesellschaft, sondern Sache des Arztes wurden? Lag es daran, dass die moderne städtische Bevölkerung trotz allseits zugänglicher Informationsfülle immer weniger über die Funktion ihres Körpers wusste, das Gespür für die ganze Bandbreite des Normalen mehr und mehr verlor? Dass die Angst vor Krankheit, Schmerz und Tod immer grösser statt geringer wurde?
Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass das Grau, das nach diesen besonders langen, erschöpfenden Arbeitstagen Marcs Züge überschattete, kein gutes Zeichen war. Die Angst um ihn nagte an mir.
Und es war ja nicht so, sagte ich mir, während ich stirnrunzelnd das knappe Schreiben einer Krankenversicherung überflog, die mein Gesuch um Verlängerung der Hospitalisationsdauer bei einer schwer süchtigen Patientin kaltschnäuzig abgeschmettert hatte, dass nur Marc von dieser unguten Entwicklung betroffen war. Auch die Klinik Eschenberg konnte sich den tiefgreifenden Veränderungen nicht entziehen, den Erschütterungen, die den Grund, auf dem wir standen, erbeben liessen.
Eine dieser Veränderungen war die, der «Steve» im Rahmen der Weiterbildung, die mir später am Tag drohte, so viel Priorität einräumte: TARPSY. Die neue, vereinheitlichte Tarifstruktur, mit der die Abgeltung von stationären psychiatrischen Behandlungen auf der Basis von Fallkostenpauschalen transparent und leistungsbezogen erfasst werden sollte. Ein, so schwärmten die Entwickler, einfaches und praktikables System, dass sich konstant den Bedürfnissen der Anwender anpassen und sich entwickeln sollte. Das Anreize für eine medizinisch und ökonomisch sinnvolle Behandlung setzen sollte.
Grimmig schüttelte ich den Kopf. Sinnvolle Anreize? Was für ein Blödsinn. TARPSY war vor allem eins: Ein bürokratischer Mordsaufwand, der enorm viel Ressourcen band – Ressourcen, die ich lieber auf die Behandlung meiner Patienten verwendet hätte. Das System war schon vor einer ganzen Weile eingeführt worden, aber wie die meisten Institutionen hinkten wir in den Details der Umsetzung noch immer hinterher – der Basis der Angestellten fehlte nach wie vor eine Übersicht über die Grundlagen, und auf Leitungsebene bereiteten einige knifflige Problemstellungen Kopfzerbrechen. Die leidige Weiterbildung war einer der vielen Versuche der Geschäftsleitung, diesen Umstand zu ändern.
«Ka? Hörst du mich?»
Ich fuhr zusammen. Verdammt, ich hatte nicht aufgepasst.
«Aufwachen! Wir haben Rapport, erinnerst du dich?», fügte Jelika hinzu, bissiger, als es nötig gewesen wäre.
«Entschuldige. Was hast du gesagt?» Ich parierte ihren vorwurfsvollen Blick mit einem betont sonnigen Lächeln.
«Ich soll dir etwas von Barbara Gasser ausrichten – sie habe gestern noch mit Anaïs Graf gesprochen und ihr Kunsttherapie im Einzelsetting angeboten. Und nun rate mal, was die Antwort der Patientin gewesen ist?»
«Sie hat abgelehnt?», mutmasste ich.
Jelika nickte. «Und zwar mit Nachdruck. Sie sei nicht interessiert, habe sie gesagt. Eine erfolgreiche Künstlerin in der Familie reiche, habe sie gesagt.»
«So. Hat sie das.»
Jelika legte den Kopf schräg. «Frau Graf wirkt in den letzten Tagen angespannt. Nervöser als sonst. Wie gehetzt. Gelöst und unbeschwert war sie ja nie, aber dieser Zustand ist neu. Ausserdem hat sie heute wieder um einen Arzttermin bei Lucas Schuster gebeten, wegen Bauchschmerzen – diese diffusen körperlichen Beschwerden und Klagen nehmen erneut zu. Irgendetwas ist da im Busch.»
Nachdenklich trommelte ich mit den Fingern auf die Tischplatte. «Wissen wir zufällig, wann die überaus erfolgreiche Künstlerin ihrer Zwillingsschwester das nächste Mal die Ehre eines Besuchs erweisen wird?»
Nicolas, der Pflegepraktikant, meldete sich zu Wort. «Heute Abend schon. Frau Graf hat einen Ausgang eingegeben. Sie wolle mit ihrer Schwester auswärts essen gehen.»
«Wann?»
«So um halb sieben, hat sie gesagt.»
«Grossartig. Kurz nach Ende meiner vermaledeiten Weiterbildung also. Gebt mir Bescheid, wenn das Wunderkind eintrifft, okay? Per SMS am besten. Und lasst sie nicht von der Station weg, ehe ich nicht mit ihr gesprochen habe», fügte ich mit gebieterischem Blick hinzu. «Ich will Camille Graf unbedingt kennenlernen.»
Ka, du bleibst ruhig, sagte ich mir und atmete tief ein und aus. Du bleibst einfach ruhig und lässt das hier über dich ergehen. Du schaffst das.
Ich schenkte «Steve», der mich eben entdeckt hatte und mir begeistert zuwinkte, ein vages Lächeln, dann suchte ich mir einen Platz, der möglichst weit von der Referentin entfernt war, und installierte mich, verschanzte mich hinter meinem Schreibblock und einem abweisenden Gesichtsausdruck.
«Kassandra, wunderbar, deine heitere Miene zu sehen, was für ein Vergnügen an diesem heissen Sommernachmittag. Ist hier noch frei?», fragte Martin Rychener, der gewohnt lautlos neben mir aufgetaucht war, in aufgeräumten Tonfall.
Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern liess sich geschmeidig auf dem Stuhl neben mir nieder. Sein Hemd sah aus wie frisch gebügelt, ganz anders als mein zerknittertes und halb durchgeschwitztes Sommerkleid. Ich fragte mich, ob er einen Stapel frischer Hemden, liebevoll gebügelt von Selma, seiner Frau, in seinem Büro aufbewahrte, dass er immer so aufreizend makellos aussah. Es ging mir auf die Nerven.
«Du setzt dich nur hierhin, um sicherzustellen, dass ich mich benehme, oder?», blaffte ich.
«Ich weiss nicht, was du meinst», erwiderte Martin engelsgleich.
Ich fletschte die Zähne.
«Meine Damen und Herren, wenn Sie sich bitte setzen würden», schnarrte die Referentin, eine untersetzte Frau Mitte fünfzig mit einer Dauerwelle in einem ungut grünlichen Blondton, die gemäss dem Schild, das vor ihr auf dem Pult stand, allen Ernstes Klementine Kallen hiess. «Wir wollen beginnen.»
«Wollen wir nicht», murmelte ich. Martin warf mir einen mahnenden Blick zu.
Ich hielt mich gut, fand ich. Klaglos liess ich die üblichen einführenden Lobhudeleien über das neue Tarifsystem über mich ergehen, klaglos machte ich mir ausführliche Notizen über all die Regeln, Unterregeln, Ausnahmen, Minimalanforderungen und Spezialfälle, die beim detailverhafteten und damit zeitraubenden Codieren der verschiedenen Störungen, Symptome und Behandlungsprozeduren unbedingt und prioritär zu beachten waren. Ab und zu warf ich Martin, der angespannt neben mir sass und alle Anzeichen höchster Alarmbereitschaft zeigte, halb beruhigende, halb zynische Blicke zu, ehe ich mich pflichtbewusst, ja strebsam wieder meinen Unterlagen zuwandte. Ich war nicht weniger als eine Heldin.
Dann jedoch …
«Leider», meinte Klementine Kallen, «wurden, wie ich hörte, die internen TARPSY-Weiterbildungen in der Klinik Eschenberg bislang von einem Ihrer eigenen Leute geführt. Von einem Arzt. Es ist zwar schon etwas spät, aber sicher richtig, dass Sie sich jetzt endlich Hilfe von aussen», sie machte eine bescheidene Geste, «geholt und mich als Kodierexpertin eingeladen haben. Tatsache ist leider», ihr Lächeln liess an der Aufrichtigkeit ihres Bedauerns zweifeln, «dass Institutionen, die sich keine Fachleute für die medizinische Kodierung leisten können oder wollen, sondern diese in die Hände der behandelnden Ärzte legen, erfahrungsgemäss nicht lange überleben. Eine präzise, professionelle Kodierung ist das A und O einer erfolgreichen Klinikführung. Und Ärzte», wieder das unglaubwürdig bedauernde Lächeln, «können das leider meist nicht bieten.»
Paul Neumann, ein erfahrener, langjähriger und sehr kompetenter Oberarzt, meldete sich zu Wort. «Verzeihung», sagte er höflich. «Wie darf ich das verstehen? Schliesslich sind wir Ärzte es, die Diagnosen stellen, Berichte schreiben, Behandlungen leiten. Warum sollte ein Kodierexperte, der in seinem Büro sitzt und den betreffenden Patienten noch nie gesehen hat, besser codieren können als der Arzt, der den Menschen hinter der Akte kennt, die Behandlung gestaltet und miterlebt hat?»
Klementine Kallen lachte glockenhell. Ein widerwärtiges Lachen, fand ich. «So wird häufig argumentiert. Leider aber ist es nicht automatisch so, dass jemand, der Diagnosen stellt, auf welchen Grundlagen auch immer», ihr süffisanter Tonfall heizte meinen Ärger weiter an, «genug Fachwissen hat, um dann auch umfassend codieren zu können. Schon nur das korrekte Verfassen des Austrittsberichts, der ja der Rechnungsstellung neu als argumentative Basis dient, scheint für viele Ärzte ein unüberwindbares Hindernis darzustellen. Und bei vielen Ihrer Kollegen», sie nickte Paul Neumann mitleidig zu, «habe ich den Eindruck, dass sie noch nie in ihrem Leben ins ICD-10 reingeschaut haben.»
«Glauben Sie mir», warf ich seidenweich ein, bewusst um einen ruhigen, gemessenen Tonfall bemüht – trotzdem fuhr Martin neben mir vor Schreck über meine unerwartete Wortmeldung zusammen –, «wir alle haben schon einmal entfernt davon gehört, dass es ein ICD-10 gibt. Mehr als das – wir alle arbeiten täglich damit, wir kennen das Klassifikationssystem bestens, es ist die Grundlage strukturierter ärztlicher Diagnosestellung.»
«Das freut mich zu hören», gab Klementine Kallen sarkastisch zurück. «Aber glauben Sie mir, da habe ich anderes erlebt. Ich könnte Ihnen Dinge erzählen!»
«Es mag schon sein», fuhr ich fort, nach wie vor um Ruhe bemüht, «dass wir Ärzte weniger Spezialwissen haben als Sie. Das könnte allenfalls damit zusammenhängen, dass Sie nichts anderes tun, dass Codieren Ihr Beruf ist. Wir hingegen sind die, die die Patienten behandeln. Das ist unser Hauptauftrag, dafür sind wir ausgebildet. Und TARPSY bürdet uns eine enorme administrative Zusatzlast auf. Wir sitzen viel mehr als zuvor am Computer, tüfteln an unnötigen Diagnosen, die nur für die Verrechnung, nicht aber für die Behandlung wichtig sind, müssen unsere Verlaufsdokumentationen und Austrittsberichte, die eigentlich der ärztlichen Kommunikation dienen würden, mit unsinnigen Detailinformationen vollstopfen, die niemandem dienen ausser der Versicherung, müssen mit Blick auf die spätere Rechnungsstellung jedes Wort abwägen. TARPSY zweigt uns viel zu viele unserer zeitlichen Ressourcen ab.»
Im Raum brandete beifälliges Gemurmel unter den Ärzten auf.
«Aus genau diesem Grund», antwortete die Referentin nun bissiger, «sollten Sie in Ihrem Haus in Leute investieren, die die Codierung beherrschen. In Kodierexperten. Die machen das dann für Sie.»
«Schreiben die mir dann auch den durch die Rechnungsstellung in Geiselhaft genommenen Austrittsbericht? Die Krankengeschichte?», gab ich kalt zurück. Meine Ruhe kam mir langsam abhanden. Martin Rychener neben mir versuchte hektisch, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ich ignorierte ihn.