Tödlicher Mittsommer - Viveca Sten - E-Book
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Tödlicher Mittsommer E-Book

Viveca Sten

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Beschreibung

Mord in der Sommerhitze: Thomas Andreassons erster Fall in den malerischen Stockholmer Schären An einem heißen Julimorgen wird eine männliche Leiche am Weststrand von Sandhamn im Stockholmer Schärengarten angespült. Eine Woche später findet man ganz in der Nähe eine brutal ermordete Frau. Kommissar Thomas Andreasson von der Polizeidienststelle Nacka übernimmt den rätselhaften Fall. Anhaltspunkte sind rar und die Fragen häufen sich: Was verband die Toten mit der Insel? Welche dunklen Geheimnisse verbergen sich hinter der idyllischen Fassade des kleinen Ortes? Gequält vom Verlust seiner neugeborenen Tochter und einer gescheiterten Ehe, stürzt sich Thomas in die Ermittlungen. Unerwartete Unterstützung erhält er von seiner Jugendfreundin Nora Linde, die den Sommer mit ihrer Familie auf Sandhamn verbringt. Ein Mörder geht in dem beliebten Ferienort um und der Druck auf die Polizei wächst. Thomas Andreasson muss den Täter schnell finden, bevor es ein weiteres Opfer gibt. »Tödlicher Mittsommer« ist der spannende Auftakt zur Krimi-Reihe von Bestseller-Autorin Viveca Sten, die in den malerischen Schären Schwedens spielt.

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Seitenzahl: 515

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Ähnliche


Viveca Sten

Tödlicher Mittsommer

Roman

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Viveca Sten

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Karten zum Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Nachwort

Inhaltsverzeichnis

Für meine tapfere Mama

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Es war vollkommen still, so still, wie es nur im Winter sein kann, wenn der Schärengarten den Einheimischen gehört und die lärmenden Sommergäste die Inseln noch nicht erobert haben.

Das Meer war glatt und dunkel, die Kälte des Winters lastete schwer auf dem Wasser. Auf den Schären hielten sich hartnäckig vereinzelte Schneereste, noch war nicht alles weggetaut. Ein paar Gänsesäger zeichneten sich als Punkte gegen den Himmel ab, und die Sonne stand immer noch tief über dem Horizont.

»Hilfe!«, schrie er. »Um Gottes willen, hilf mir!«

Das Tau, das ihm zugeworfen wurde, war zu einer Schlinge geknotet. Er zerrte sie sich in dem eisigen Wasser hastig über den Körper.

»Zieh mich hoch«, keuchte er und griff nach dem Bootsrand, mit Fingern, die vor Kälte schon steif wurden.

Als der Anker, an dem das Tau befestigt war, über die Reling geworfen wurde, wirkte er beinahe erstaunt, so als begriffe er nicht, dass dessen Gewicht ihn sehr schnell auf den Grund ziehen würde.Dass er nur noch ein paar Sekunden zu leben hatte, bevor sein Körper dem schweren Eisenklumpen folgen musste.

Das Letzte, was man von ihm sah, war die Hand, die in ein Fischernetz verstrickt durch die Wasseroberfläche stieß. Dann schlossen sich die Wellen wieder mit einem kaum wahrnehmbaren Schmatzen.

Danach war nur noch das Geräusch des Motors zu hören, als das Boot langsam wendete und Kurs auf den Hafen nahm.

Inhaltsverzeichnis

Montag, erste Woche

Kapitel 1

»Hierher, Pixie, kommst du her!«

Der Mann sah verärgert dem Dackel hinterher, der den Strand entlang davonrannte. Sicher, die Hündin war mehrere Tage lang auf dem Schiff eingesperrt gewesen, aber ein bisschen Disziplin konnte er trotzdem verlangen. Eigentlich hätte er sie an der Leine führen müssen. Auf Sandhamn im Stockholmer Schärengarten durften Hunde im Sommer nicht frei herumlaufen, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie angeleint zu lassen, wo sie doch so überglücklich war, endlich wieder herumtollen zu können.

Im Übrigen war so früh am Morgen fast niemand am Strand zu sehen. Die Bewohner der wenigen Häuser entlang des Ufers waren sicher noch nicht wach. Das Kreischen der Möwen war das Einzige, was zu hören war. Die Luft war klar und kühl, und nach dem nächtlichen Regen wirkte alles wie frisch gewaschen. Die Sonne wärmte bereits und versprach einen weiteren herrlichen Tag.

Der Sand war fest, es ging sich angenehm darauf. Die niedrigen Kiefern machten Strandroggen und Wermutkraut Platz, durchsetzt mit blühenden Inseln von Strandblumen. Tangbüschel lagen angeschwemmt am Wassersaum, und draußen bei Falkenskär war ein einsames morgenfrühes Segelboot unterwegs Richtung Osten.

Wo war denn bloß der verflixte Hund abgeblieben?

Er folgte dem Gebell. Pixie kläffte aufgeregt und lautstark, und ihr kleiner Schwanz wedelte eifrig hin und her. Sie stand an einem Felsen und beschnüffelte etwas, aber er konnte nicht erkennen, was es war. Er ging hin, um nachzusehen, und bemerkte einen unangenehmen Geruch. Als er näher kam, wehte ihm eine Brechreiz erregende Wolke von fauligem Gestank entgegen, die ihm fast den Atem raubte.

Auf dem Sand lag etwas, das an einen Haufen alter Lumpen erinnerte.

Er bückte sich, um den Hund wegzuziehen, und erkannte, dass es ein altes Fischernetz war, voller Seegras und Tang. Plötzlich begriff er, was er da sah.

Das Fischernetz enthielt zwei nackte Füße. An beiden fehlten mehrere Zehen. Kahle Beinknochen ragten aus dem heraus, was von der verschrumpelten, grünlichen Haut noch übrig war.

Der Würgereiz überfiel ihn ohne Vorwarnung. Bevor er etwas dagegen tun konnte, drehte sich ihm der Magen um. Ein Schwall von rosafarbenem Mageninhalt schoss heraus und spritzte auf seine Schuhe. Aber das merkte er nicht.

Als er wieder aufrecht stehen konnte, schöpfte er eine Handvoll Meerwasser und spülte sich den Mund aus. Dann holte er sein Handy hervor und wählte die Notrufnummer.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Kriminalkommissar Thomas Andreasson freute sich wirklich auf seinen Urlaub. Vier Wochen im Sommerhaus auf Harö im Stockholmer Schärengarten. Frühmorgens schwimmen. Paddeltouren mit dem Kajak. Grillen. Ab und zu ein Abstecher nach Sandhamn, um seinen Patensohn zu besuchen.

Thomas Andreasson nahm seinen Urlaub gern etwas später im Jahr, das Wasser war dann wärmer und das Wetter oft besser. Aber gerade jetzt, kurz nach Mittsommer, fiel es ihm schwer, sich nicht aus der Stadt und hinaus ans Meer zu sehnen.

Seit er im vergangenen Jahr seinen Dienst beim Polizeirevier Nacka im Dezernat für Gewaltverbrechen angetreten hatte, war er kaum zum Atemholen gekommen. Er hatte viel Neues lernen müssen, obwohl er schon seit vierzehn Jahren Polizist war, davon acht Jahre bei der Wasserschutzpolizei.

Dort hatte er fast alle Schiffe gesteuert, über die die Wasserschutzpolizei verfügte, vom Patrouillenboot bis zu Skerfe- und RIB-Booten. Den Schärengarten kannte er wie seine Westentasche. Er wusste genau, wo die nicht gekennzeichneten Sandbänke lagen und welche Untiefen bei Niedrigwasser besonders gefährlich waren.

Als Wasserschutzpolizist hatte er eine Menge gesehen und viele fantasievolle Erklärungen gehört, warum gewisse Skipper ihre Boote so fuhren, wie sie es taten, besonders wenn es sich um betrunkene Freizeitkapitäne handelte.

Er hatte mit allem Möglichen zu tun gehabt, von Bootsdiebstahl und Vandalismus bis zu verirrten Ausländern und Teenagern, die auf einsamen Schären gestrandet waren. Die lokale Bevölkerung beschwerte sich in regelmäßigen Abständen immer wieder darüber, dass die Leute in bestimmten Fischereigewässern wilderten. Dagegen konnte die Wasserschutzpolizei nicht viel tun, außer wegzusehen, wenn der rechtmäßige Eigentümer des Fischreviers die verbotenen Netze einholte und sie als Kompensation behielt.

Alles in allem hatte er sich sehr wohlgefühlt, und wenn seine kleine Emily nicht unterwegs gewesen wäre, wäre er wohl nie auf die Idee gekommen, sich auf den Posten als Kriminalkommissar im Innendienst zu bewerben.

Hinterher, als alles umsonst gewesen war, hatte er keine Kraft gehabt, noch mal zu wechseln. Er war kaum in der Lage gewesen, von einem Tag auf den anderen zu überleben.

Aber das Tempo bei der Nacka-Polizei war hoch und die Arbeit intensiv, und er fand sich erstaunlich schnell in dem neuen Dienst zurecht, auch wenn er sich hin und wieder, besonders während der Sommersaison, nach der Freiheit als Wasserschutzpolizist draußen im Schärengarten zurücksehnte.

Margit Grankvist, Kollegin und wesentlich erfahrenere Kriminalkommissarin, steckte ihren kurzhaarigen Kopf zur Tür herein und unterbrach seine Gedanken.

»Thomas, wir müssen zum Alten. Auf Sandhamn wurde ein Toter gefunden.«

Thomas blickte auf.

Der Alte, das war der Chef der Kriminalabteilung in Nacka, Göran Persson. Dass er denselben Namen trug wie der Ministerpräsident, war etwas, das er keineswegs schätzte. Er vergaß nie zu betonen, dass seine politischen Präferenzen nicht notwendigerweise mit denen des Ministerpräsidenten übereinstimmten. Darauf, welches denn seine Präferenzen waren, wollte er allerdings nicht weiter eingehen. Da er außerdem eine gewisse Körperfülle besaß, nicht unähnlich der des Regierungschefs, hielt sich seine Begeisterung über alle Vergleiche, die seine gutmeinenden Kollegen von sich gaben, sehr in Grenzen.

Er war ein Polizist der altmodischen Sorte, nüchtern und ziemlich wortkarg. Aber das Arbeitsklima unter ihm war angenehm, und er wurde von seinen Mitarbeitern geschätzt. Er war penibel, klug und sehr, sehr erfahren.

 

Als Thomas ins Büro des Alten kam, saß Margit mit einer ihrer unzähligen Tassen Kaffee bereits dort. Der Kaffeeautomat in ihrer Abteilung produzierte ein Gebräu, das die meisten Leute umbringen würde, es war das reinste Rattengift. Wie Margit das Zeug in diesen Mengen in sich hineinschütten konnte, war unbegreiflich. Thomas selbst war zum ersten Mal in seinem Leben dazu übergegangen, Tee zu trinken.

»Man hat also einen Toten am Nordweststrand von Sandhamn gefunden«, sagte der Alte. »Die Leiche ist offenbar ziemlich ramponiert, scheint wohl schon eine ganze Weile im Wasser gelegen zu haben.«

Margit notierte etwas auf ihrem Block, bevor sie hochsah.

»Wer hat sie gefunden?«

»Irgend so ein Segler. Der arme Kerl ist offensichtlich ziemlich geschockt. War sicher kein schöner Anblick. Er hat vor einer guten Stunde Alarm geschlagen, kurz vor sieben heute Morgen. Er ging mit seinem Hund am Strand spazieren, als er mehr oder weniger über die Leiche stolperte.«

»Besteht Mordverdacht?«, fragte Thomas, während er seinen Notizblock hervorholte. »Gibt es Anzeichen von Misshandlung oder sonstiger Gewalt?«

»Für eine Aussage dazu ist es noch zu früh. Der Körper war anscheinend in ein Fischernetz verstrickt. Die Wasserschutzpolizei ist jedenfalls unterwegs dorthin, um die Sache zu untersuchen, und die Bergung der Leiche ist auch bereits organisiert.«

Der Alte blickte Thomas vielsagend an. »Du hast doch ein Haus auf Harö, wenn ich mich recht erinnere. Liegt Harö nicht gleich neben Sandhamn?«

Thomas nickte. »Man fährt nur zehn, fünfzehn Minuten von einer Insel zur anderen.«

»Ausgezeichnet. Du kennst dich also dort aus. Fahr mal raus nach Sandhamn und sieh dich um. Bei der Gelegenheit kannst du gleich deinen alten Kumpels von der Wasserschutzpolizei Guten Tag sagen.«

Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des Polizeichefs.

»Spricht etwas dafür, eine Morduntersuchung einzuleiten?«, erkundigte sich Thomas mit einem Blick auf den Alten.

»Bis auf Weiteres behandeln wir die Sache als ungeklärten Todesfall. Falls eine Morduntersuchung daraus werden sollte, übernimmt Margit die Leitung der Ermittlungen, aber bis dahin, denke ich, kannst du dich darum kümmern.«

»Passt mir ausgezeichnet«, sagte Margit. »Ich stecke bis zum Hals in Berichten, die alle noch vor meinem Urlaub rausmüssen. Übernimm du das ruhig!«

Sie nickte nachdrücklich, um ihre Worte zu unterstreichen. Keine Frage, der Urlaubs-Countdown hatte begonnen. Nur noch ein paar Tage Schreibtischarbeit, und dann winkte die Freiheit in Gestalt eines gemieteten Sommerhäuschens an der Westküste und vier Wochen mit der Familie.

Der Alte sah auf die Uhr.

»Ich habe mit der Hubschrauberbereitschaft gesprochen. Sie sind sowieso in der Stadt, können dich und die Jungs von der Spurensicherung also in zwanzig Minuten aufsammeln und mit auf die Insel nehmen. Du musst nur runter nach Slussen zur Hubschrauberplattform. Zurück kannst du dann mit der Wasserschutzpolizei fahren. Oder du nimmst die Waxholmsfähre.« Letzteres fügte er mit einem Grinsen hinzu.

»Habe nichts dagegen«, lächelte Thomas. »Zu einem Hubschrauberflug kannst du mich gerne jederzeit verdonnern.«

Der Alte erhob sich, zum Zeichen, dass die Besprechung beendet war.

»Dann machen wir es so. Melde dich, wenn du zurück bist, damit ich mir ein Bild von der Lage machen kann.«

Er blieb an der Tür stehen und kratzte sich am Kinn.

»Noch was, Thomas, mach keinen Wirbel da draußen. Es ist Hochsommer und Touristensaison. Massenweise aufgeregte Sommergäste und Journalisten, die sich sonst was zusammenfantasieren, können wir nicht gebrauchen. Du weißt, wie die Boulevardzeitungen sind. Die würden liebend gerne ihre Sauregurken-Sextipps gegen Spekulationen über einen Mord im Schärengarten tauschen.«

Margit lächelte Thomas aufmunternd zu.

»Du kriegst das schon hin. Ruf mich an, wenn du Fragen hast. Und denk dran, zieh keine Schlüsse, bevor die Kriminaltechniker sich nicht geäußert haben.«

Thomas zog seine Lederjacke an, die er immer trug, ganz egal, bei welchem Wetter.

»Meinst du, der Hubschrauber kann mich auf Harö absetzen, wenn wir fertig sind?«, fragte er, bevor er ging.

»Sicher. Wenn die Regierungsmaschine einen Thomas Bodström in den Griechenlandurlaub fliegen kann, dann kann ja wohl die Stockholmer Polizei einen Thomas Andreasson zu seinem Landsitz fliegen.«

Der Alte grinste zufrieden über seine eigene Spitzzüngigkeit.

Margit schüttelte den Kopf, konnte sich jedoch ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

»Wir sprechen uns heute Nachmittag. Grüß mir die Schären.«

Sie hob die Hand und winkte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3

»Ja, hallo.«

Nora Linde sprach automatisch in ihr Handy, bevor ihr aufging, dass der Weckalarm und nicht das Telefon geklingelt hatte. Zwar hatte sie auch einen sehr guten Uhrenwecker, aber es war einfacher, sich vom Handy wecken zu lassen, so konnte es sich doppelt nützlich machen. Nora reckte sich. Sie drehte sich auf die Seite und betrachtete ihren Mann, der neben ihr im Bett lag.

Henrik schnaufte wie ein Kind. Nora beneidete ihn um seine Fähigkeit, sich ungerührt durch alles Mögliche hindurchzuschlafen. Das Einzige, was ihn wecken konnte, war sein Pieper aus dem Krankenhaus – wenn der losging, war er im Handumdrehen hellwach.

Er sah fast immer noch so aus wie damals vor fast zwölf Jahren, als sie geheiratet hatten. Dunkelbraunes Haar, sehnige Bauch- und Armmuskeln vom jahrelangen Regattasegeln, feinnervige Arzthände mit schönen langen Fingern. Nora neidete Henrik nicht sein attraktives Profil mit der eleganten, fast klassisch-griechischen Nase. Allerdings fand sie, dass es bei einem Mann Verschwendung war. Zumindest sagte sie das immer, um sich zu trösten, denn ihre eigene Nase war viel zu kurz und stumpf für ihren Geschmack. In Henriks dunklem Haar zeigten sich schon feine graue Fäden, eine Erinnerung daran, dass er kürzlich siebenunddreißig geworden war, genau wie sie.

Das Handy klingelte erneut.

Nora seufzte. Montags bis freitags um Viertel vor acht aufzustehen war nicht gerade das, was sie unter Urlaub verstand, aber wenn man auf einer Insel wie Sandhamn Kinder hatte, dann gingen diese Kinder in die Schwimmschule. Zu den Zeiten, die angeboten wurden.

Gähnend zog sie sich den Morgenrock an und schlurfte ins Kinderzimmer. Der sechsjährige Simon lag in einer merkwürdig vornübergebeugten Haltung im Bett, den Kopf tief ins Kissen gebohrt. Es war beinahe unbegreiflich, wie er in der Stellung überhaupt Luft bekam.

Adam, der kürzlich zehn geworden war, hatte die Bettdecke weggestrampelt und lag lang ausgestreckt quer über der Matratze. Seine weißblonden Haare waren feucht von Schweiß und ringelten sich leicht im Nacken.

Beide schliefen tief und fest.

Simons Schwimmunterricht begann um neun. Adams um halb elf, also schaffte sie es gerade, mit Simon nach Hause zu rasen und Adam Frühstück zu machen, bevor dieser mit dem Fahrrad losmusste.

Perfektes Timing, mit anderen Worten.

Trotzdem würde sie die Gesellschaft der anderen Mütter und Väter vermissen, wenn Simon eines Tages so groß war, dass auch er mit dem Fahrrad allein hinfahren konnte. Es machte ja auch Spaß, gemütlich am Beckenrand zu sitzen und zu plaudern, während die Kinder ihre Schwimmübungen absolvierten.

Mit vielen der Eltern war sie außerdem selbst als Kind in die Schwimmschule gegangen, deshalb kannte sie die meisten. Damals konnte keine Rede davon sein, in temperierten Becken schwimmen zu lernen und sich hinterher in der Sauna aufzuwärmen. Damals ging man bibbernd bei Fläskberget ins Wasser, dem Strandstück auf der Nordseite der Insel, wo der Schwimmunterricht stattfand, bevor das Freibad gebaut wurde.

Sie erinnerte sich noch, wie eisig es ihr immer vorgekommen war. In sechzehn Grad kaltem Wasser hatte sie ihre Schwimmabzeichen gemacht. Die lagen immer noch irgendwo herum, wahrscheinlich im Haus ihrer Eltern, das nur ein paar hundert Meter entfernt stand.

Nora ging ins Bad, um sich fertig zu machen. Während sie die Zähne putzte, betrachtete sie schläfrig ihr Spiegelbild. Zerzaustes, rotblondes Haar, Pagenschnitt. Stupsnase. Graue Augen. Durchtrainierte Figur, knabenhaft würden manche vielleicht dazu sagen.

Sie war recht zufrieden mit ihrem Aussehen. Jedenfalls meistens. Am besten fand sie ihre langen, durchtrainierten Beine, das Ergebnis von jahrelangem Joggen. Sie konnte beim Laufen so gut denken. Ihre Brüste waren kaum etwas, womit sie prahlen konnte, schon gar nicht nach zwei Kindern, aber es gab heutzutage ja Push-up-BHs. Die halfen immer ein bisschen.

Während sie duschte, dachte sie darüber nach, was sich auf Sandhamn alles verändert hatte, seit sie als Kind in die Schwimmschule gegangen war. Im gleichen Maße, wie die Bevölkerung im Sommer anwuchs, hatte der Verkehr zur Insel zugenommen. Jetzt gab es Wasserflugzeuge, die Sommertouristen einen halbstündigen Rundflug über die Schären anboten, und ein Hubschraubertaxi, das hungrige Gäste hinaus zum Seglerrestaurant flog. Im ehemaligen Klubhaus der Königlich Schwedischen Seglergesellschaft KSSS, das 1897 im nationalromantischen Stil erbaut worden war, befand sich ein Tagungshotel, das ganzjährig geöffnet hatte. Außerdem konnte man Kajaks und Fahrräder mieten, um die Insel zu erkunden.

Die Schönen und die Reichen kamen gern nach Sandhamn und zeigten sich, wenn Regatten und internationale Segelcups veranstaltet wurden. Dann stieg die Gucci-Dichte um einige hundert Prozent, wie Henrik amüsiert zu sagen pflegte, wenn die große Strandpromenade vor dem Klubhaus überquoll von eleganten Damen in teuren Garderoben und älteren Herren, die ihre dicken Bäuche und noch dickeren Brieftaschen mit Nonchalance und Würde vor sich hertrugen.

Manche murrten über die Zunahme an Verkehr und Touristen auf der Insel, aber die einheimischen Inselbewohner, die ihren Lebensunterhalt mit dem Tourismus verdienten und auf die Sommergäste angewiesen waren, standen der Entwicklung größtenteils positiv gegenüber.

Der Kontrast zwischen den Sommermonaten, in denen zwei- bis dreitausend Urlaubsgäste sowie hunderttausend Tagesbesucher auf die Insel kamen, und den Wintermonaten mit einhundertzwanzig einheimischen Inselbewohnern hätte jedoch kaum größer sein können.

 

Obwohl Thomas jeden einzelnen Sommer seines Lebens in den Stockholmer Schären verbracht hatte, war er ganz gebannt davon, wie unwahrscheinlich schön sie in der klaren Morgenluft unter ihm lagen.

Es war ein unerwartetes Privileg, mit dem Hubschrauber hinaus nach Sandhamn fliegen zu dürfen. Die Aussicht aus dem breiten Fenster war einzigartig. Die Konturen der Inseln, die wie hingestreut im glitzernden Wasser lagen, waren messerscharf. Es sah aus, als würden sie auf der Wasseroberfläche schwimmen.

Sie waren über Nacka und weiter Richtung Fågelbrolandet geflogen. Als sie Grinda hinter sich gelassen hatten und den äußeren Schärengarten erreichten, änderte die Landschaft ihren Charakter. Das sanfte Grün des inneren Schärengartens mit Laubbäumen und offenen Wiesen wechselte über zu steinigen Inseln und Schären mit niedrigen, windgepeitschten Kiefern und nackten Klippen.

Als sie auf der Höhe von Runmarö waren, öffnete sich die charakteristische Sandhamnsbucht vor ihnen – eine dichte Ansammlung von roten und gelben Häusern genau an der Stelle, wo der Sund zwischen Sandhamn und Telegrafholmen begann.

Thomas wurde ihn nie müde, diesen ersten Blick auf die vertraute Silhouette der kleinen Siedlung weit draußen im Meer. Sie war schon Ende des sechzehnten Jahrhunderts Zoll- und Lotsenstation gewesen, hatte russische Heerzüge und eisige Winter überstanden, die Anfänge der Dampfschifffahrt und die Isolation der Kriegsjahre. Und immer noch war der Ort am äußersten Rand des Schärengartens höchst lebendig.

Thomas blinzelte durch seine Sonnenbrille nach unten.

An den geteerten Landungsbrücken lagen Motor- und Segelboote vertäut, und dahinter ragte der alte Lotsenturm vom höchsten Punkt der Insel auf. Weiße Bojen schaukelten draußen vor den Bootsstegen, während die grünen und roten Punkte dem Schiffsverkehr und den Freizeitseglern den Weg wiesen. Es war früh am Morgen, aber das Fahrwasser war bereits voller weißer Segel mit Kurs hinaus aufs Meer.

Nach nur wenigen Minuten waren sie direkt über Sandhamn. Der Pilot umrundete das pompöse Zollhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert, und die Hubschrauberplattform gleich daneben kam rasch näher. Geschickt und vorsichtig setzte er den Hubschrauber mitten in das markierte Viereck, nur wenige Meter vom Rand des Kais entfernt.

»Ich kann ungefähr eine halbe Stunde warten, dann muss ich wieder los«, sagte der Pilot mit einem fragenden Blick auf Thomas.

Der sah auf seine Armbanduhr und dachte nach.

»Ich glaube nicht, dass wir so schnell fertig werden. Sie können ebenso gut gleich wieder abfliegen. Wir kommen schon irgendwie zurück.«

Thomas drehte sich zu den beiden Kriminaltechnikern um, die ihre schwarzen Taschen auf der Plattform abgesetzt hatten.

»Dann mal los. Wir müssen zum Weststrand nördlich von Koberget. Die Wasserschutzpolizei ist schon dort. Autoverkehr ist auf der Insel verboten, also macht euch auf einen strammen Strandmarsch gefasst.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4

Als Nora mit Simon auf dem Gepäckträger durch den Hafen radelte, sah sie, dass ein Polizeihubschrauber auf der Landeplattform stand. Hinter der Dampfschiffbrücke hatte ein großes Polizeiboot an dem Platz festgemacht, der für das Arztboot reserviert war. Ein Polizist in der charakteristischen Uniform der Wasserschutzpolizei stand an Deck. Wie ungewöhnlich, so früh am Morgen derartig viel Polizei hier zu sehen.

Es musste etwas passiert sein.

Nora radelte an der Reihe kleiner Läden entlang, in denen man alles bekam, was das Herz an Segelkleidung, maritimen Einrichtungsgegenständen und Bootszubehör begehrte, und fuhr dann an der Rückseite des Klubhauses vorbei. Sie bog auf den schmalen Weg, der parallel zur Minigolfbahn verlief, und folgte ihm bis zum umzäunten Freibadgelände. Nachdem sie ihr Fahrrad hinter dem Eiskiosk abgestellt hatte, hob sie Simon vom Gepäckträger. Mit ihm an der einen Hand und dem Korb mit den Badesachen in der anderen duckte sie sich unter dem GESCHLOSSEN-Schild hindurch und betrat die Schwimmschule.

In der einen Ecke standen einige Eltern und unterhielten sich aufgeregt, während die Kinder voller Vorfreude auf den Schwimmunterricht herumtobten. Nora stellte die Badesachen auf einen Liegestuhl und ging zu der Gruppe. Sie sah fragend in die Runde.

»Ist was passiert?«

»Hast du den Polizeihubschrauber nicht gesehen?«, erwiderte eine der Mütter. »Sie haben eine Leiche gefunden. Ist am Weststrand angeschwemmt worden.«

Nora schnappte nach Luft.

»Eine Leiche?«

»Ja, in ein Fischernetz verheddert, kannst du dir so was vorstellen? Der Tote lag anscheinend genau unterhalb von Åkermarks Haus.«

Sie zeigte auf eine andere Mutter, deren Sohn auch mit Simon in die Schwimmschule ging.

»Sie haben dort den ganzen Strand abgesperrt. Lotta wäre beinahe nicht durchgekommen, als sie mit Oscar hierherwollte.«

»War es ein Unfall?«, erkundigte sich Nora.

»Keine Ahnung. Die Polizei wollte nicht viel sagen, als Lotta gefragt hat. Aber ist das nicht entsetzlich?«

»Es ist doch hoffentlich keiner von der Insel? Jemand, der zum Fischen draußen war und über Bord gefallen ist?«

Nora blickte die anderen in der Gruppe erschrocken an. Einer der Väter ergriff das Wort.

»Ich glaube, keiner weiß irgendwas Genaues. Das ist wohl nicht so leicht festzustellen. Aber Lotta war ziemlich geschockt, als sie hier ankam.«

Nora setzte sich auf eine Bank am Beckenrand. Im Wasser klammerte Simon sich krampfhaft an ein orangerotes Schwimmbrett, während er sich abmühte, die Beinbewegungen richtig hinzukriegen. Nora versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht.

Unwillkürlich sah sie das Bild eines Menschen vor sich, der nach Luft schnappt, während er sich immer fester in ein Netz verstrickt, das ihn langsam auf den Grund zieht.

 

Im Westteil der Insel war es unwirklich still. Keine Morgenbrise kräuselte die Wasseroberfläche. Sogar die Möwen hatten mit ihrem üblichen Kreischen aufgehört.

Unten am Strand hatte die Wasserschutzpolizei bereits das Gebiet abgesperrt, in dem die Leiche lag. Ein paar Neugierige drängten sich hinter den Absperrbändern und verfolgten stumm das Geschehen.

Thomas begrüßte die Kollegen und ging zu dem Bündel, das am Wasser lag.

Es war kein schöner Anblick.

Das halb zerfallene Fischernetz war teilweise beiseitegeschoben worden und gab den Blick auf das frei, was allem Anschein nach einmal der Körper eines Mannes gewesen war. Er war immer noch mit den Überresten eines Pullovers und einer ausgefransten Hose bekleidet. Es sah aus, als sei das eine Ohr abgefressen worden, denn es waren nur noch Hautfetzen übrig.

Um den Oberkörper, unmittelbar unter den Achselhöhlen, lag eine ziemlich ramponierte Seilschlinge. Es schien ein Tau von der Sorte zu sein, mit der man kleine Boote festmachte. Reste von grünem Seegras, das in der Sonne getrocknet war, hingen noch daran.

In der Wärme war der Gestank kaum auszuhalten, und Thomas wandte instinktiv das Gesicht ab, als er ihm in die Nase drang.

An manche Sachen gewöhnte man sich nie.

Er bezwang seinen Brechreiz und umrundete den Körper, um ihn von der anderen Seite zu betrachten. Es war schwer, etwas über das Aussehen des Mannes zu sagen. Büschel dunkler Haare klebten noch am Schädel, aber wie er ursprünglich ausgesehen hatte, war kaum zu erkennen. Das Gesicht war aufgequollen und die Haut blasig. Der Körper war bläulich und schwammig, er sah aus, als sei er aus weichem Lehm geformt.

Nach Thomas’ Einschätzung war der Mann mittelgroß, irgendwas zwischen eins siebzig und eins achtzig. Es sah nicht so aus, als wäre er verheiratet gewesen, der Ringfinger der linken Hand war noch da, und es steckte kein Ring daran. Andererseits konnte er natürlich im Wasser abgerutscht sein.

Die Techniker hatten ihre Taschen abgestellt und waren damit beschäftigt, den Fundort zu untersuchen. Auf einem Stein ein Stück entfernt saß ein Mann in mittlerem Alter. Er lehnte mit dem Rücken an einem Baumstamm und hatte die Augen geschlossen. Neben ihm stand ein Dackel und schnüffelte unsicher. Es war der Hundebesitzer, der am frühen Morgen die grausige Entdeckung gemacht und Alarm geschlagen hatte.

Der Ärmste wartet vermutlich schon mehrere Stunden hier, dachte Thomas und ging zu dem Mann, um sich vorzustellen.

»Waren Sie das, der die Leiche gefunden hat?«

Der Mann nickte wortlos.

»Ich würde gerne mit Ihnen reden. Ich muss nur noch etwas erledigen, dann können wir uns unterhalten. Halten Sie noch ein bisschen durch? Ich weiß, dass Sie schon eine ganze Weile hier sind, und wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie auf uns gewartet haben.«

Wieder nickte der Mann stumm.

Er sah nicht so aus, als ginge es ihm gut. Unter der Sonnenbräune war er blass, nahezu grün im Gesicht. Spritzer von irgendwas Übelriechendem klebten auf seinen Schuhen.

Sein Tag hat nicht besonders gut angefangen, dachte Thomas, bevor er zu den Technikern ging, um einige Worte mit ihnen zu wechseln.

»Hallo Thomas, was machst du denn hier?«

Nora lächelte strahlend, als sie auf dem Rückweg von der Schwimmschule einen ihrer ältesten und besten Freunde vor dem Supermarkt Westerbergs Livs traf. Sie bremste ihr Fahrrad so schwungvoll ab, dass der Kies aufspritzte, und hob Simon herunter.

»Schau mal, Simon, wer hier ist«, fuhr sie fort. »Drück deinen Patenonkel mal ordentlich.«

Sie musste sich mächtig strecken, damit Simon hinaufreichte. Obwohl sie selbst größer war als der Durchschnitt, war das nichts gegen Thomas’ einhundertfünfundneunzig Zentimeter. Außerdem hatte er auffallend breite Schultern, eine Folge des jahrelangen Handballtrainings. Er sah genauso aus wie der Urtyp eines Polizisten, groß und vertrauenerweckend, mit blonden Haaren und blauen Augen.

»Die sollten dich zum Model für die Werbeplakate der Polizeihochschule machen«, neckte sie ihn gerne.

Thomas’ Eltern wohnten auf der Nachbarinsel Harö, und seit sie als Neunjährige einen Sommer zusammen im Seglercamp verbracht hatten, waren Nora und Thomas die dicksten Ferienfreunde der Welt gewesen.

Jeden Sommer hatten sie die Freundschaft vom vergangenen Jahr erneuert, und obwohl beide Elternpaare glaubten, es läge eine Romanze in der Luft, waren sie einfach nur Freunde geblieben, nichts anderes.

Als Nora zum ersten Mal so betrunken gewesen war, dass sie sich übergeben musste, hatte Thomas ihre Kleidung sauber gemacht und sie nach Hause gebracht, ohne dass ihre Eltern etwas merkten. Zumindest hatten sie nie etwas gesagt. Als Thomas’ große Jugendliebe ihm den Laufpass gab, hatte Nora ihn nach besten Kräften getröstet und ihn einfach erzählen lassen. Eine ganze Nacht lang hatten sie auf den Klippen gesessen, während er ihr sein Herz ausschüttete.

Als Henrik sein Interesse zeigte, indem er sie zum Ball der Medizinstudenten einlud, hatte sie gleich Thomas angerufen, um es ihm zu erzählen. Sie fühlte sich unglaublich von Henrik angezogen, der sie mit seinem ungezwungenen Charme im Sturm erobert hatte. Wie üblich hatte Thomas geduldig zugehört, während sie verliebt schwärmte.

Als Teenager waren sie einen ganzen Sommer lang zusammen zum Konfirmandenunterricht in die Kapelle von Sandhamn gegangen, und beide hatten alle Sommerjobs gemacht, die es auf der Insel gab: Sie hatten im Kiosk verkauft, in der Bäckerei ausgeholfen, bei Westerbergs Livs an der Kasse gesessen und als Hafenwache in der Marina des KSSS gearbeitet. Sie hatten die Nächte im Seglerrestaurant durchgetanzt, bis sie heiß und verschwitzt waren, und anschließend unten bei Dansberget gebadet, während die Sonne über dem Meer aufging.

Thomas hatte immer schon Polizist werden wollen, so wie Nora immer das Ziel gehabt hatte, Jura zu studieren. Sie hatte ihn oft damit aufgezogen, wenn sie erst Justizministerin sei, dürfe er unter ihr Reichspolizeichef werden.

Als Adam geboren wurde, fand Nora es selbstverständlich, Thomas die Patenschaft anzubieten, während Henrik lieber seinen besten Freund und dessen Frau fragen wollte. Aber als Simon kam, bestand sie darauf, dass Thomas sein Patenonkel werden müsse. Thomas war genau der Mensch, auf den man sich verlassen konnte, falls ihr oder Henrik irgendetwas zustoßen sollte.

»Ich bin dienstlich hier«, sagte Thomas und machte ein ernstes Gesicht. »Hast du gehört, dass man auf der anderen Seite der Insel eine Leiche gefunden hat?«

Nora nickte.

»Das klingt entsetzlich. Ich war gerade mit Simon in der Schwimmschule, da haben sie von nichts anderem geredet. Was ist denn eigentlich passiert?«

Sie sah Thomas beunruhigt an.

»Ich habe noch keine Ahnung. Wir wissen bisher nur, dass es sich um eine männliche Leiche handelt, die sich in einem alten Fischernetz verfangen hat. Sieht ziemlich mitgenommen aus, muss also schon längere Zeit im Wasser gelegen haben.«

Nora schauderte es im warmen Sonnenschein.

»Wie schrecklich. Aber es muss sich doch wohl um ein Unglück handeln? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass auf Sandhamn jemand ermordet wird.«

»Wir werden sehen. Die Gerichtsmediziner müssen die Leiche untersuchen, danach wissen wir hoffentlich mehr. Der Mann, der den Toten gefunden hat, konnte auch nicht viel sagen.«

»Steht er unter Schock?«

»Ja, der arme Kerl kann einem leidtun. Wer rechnet denn schon damit, beim Morgenspaziergang eine Leiche zu finden«, sagte Thomas und zog eine Grimasse.

Nora hob Simon wieder auf den Gepäckträger.

»Kannst du nicht auf einen Sprung vorbeikommen, wenn du fertig bist und noch Zeit hast? Eine Tasse Kaffee hast du dir mit Sicherheit verdient«, versuchte sie zu locken.

Thomas lächelte leicht.

»Hört sich gar nicht so dumm an. Ich will’s versuchen.«

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Kapitel 5

Nora fuhr in Gedanken versunken nach Hause. Sie fragte sich, ob der Mann, der jetzt tot am Strand lag, ein Einheimischer oder ein Fremder war. Wenn ein Einwohner von Sandhamn vermisst worden wäre, hätte ihr das eigentlich zu Ohren kommen müssen. Die Insel war ja nicht groß, die meisten Inselbewohner kannten einander, und die soziale Kontrolle war stark. Aber sie hatte nichts gehört.

Als sie Simon vom Gepäckträger hob und das Rad am Zaun abstellte, bemerkte sie ihre nächste Nachbarin, Signe Brand, die ihre Rosen goss. Die Südwand von Signes Haus prunkte mit den herrlichsten Rosen, abwechselnd in Rosa und Rot. Die Rosenstöcke waren mehrere Jahrzehnte alt und die Stämme dick wie Handgelenke.

Signe, oder Tante Signe, wie Nora sie als Kind genannt hatte, wohnte in der Brand’schen Villa, einem der schönsten Häuser der Insel, mitten auf dem Kvarnberget an der Einfahrt nach Sandhamn. Als die alte Windmühle, die bis dahin auf dem Kvarnberget gestanden hatte, in den 1860er-Jahren an einen anderen Platz versetzt worden war, hatte Lotsenmeister Carl Wilhelm Brand, Signes Großvater, seine Chance gesehen, das Grundstück zu erwerben. Viele Jahre später baute er sich schließlich ein richtig stattliches Haus hoch oben auf dem Berg.

Entgegen der damaligen Sitte, die Häuser im Ort dicht nebeneinander zu bauen, damit sie sich gegenseitig Windschutz gaben, hatte der Lotsenmeister sein Haus so errichtet, dass es stolz in einsamer Majestät ganz für sich allein stand. Die Brand’sche Villa war das Erste, worauf der Blick fiel, wenn die Schiffe Sandhamn anliefen. Eine Landmarke für alle, die die Insel besuchten.

Beim Bau des Hauses hatte der Lotsenmeister an nichts gespart. Das beste Material war gerade gut genug. Der nationalromantische Stil war konsequent durchgezogen, mit kleinen Dachvorsprüngen, breiten Giebelbrettern und sanft geschwungenen Linien bei Mansarden und Erkern. Im Haus standen kostbare Kachelöfen, die in Gustavsbergs Porzellanfabrik speziell angefertigt worden waren, und in dem für damalige Zeiten ungewöhnlich modern eingerichteten Badezimmer gab es eine große Badewanne auf Löwentatzen. Sogar eine Toilette befand sich im Haus, was zu jener Zeit für großes Erstaunen bei den Nachbarn gesorgt hatte, denn die waren es gewohnt, ins Klohäuschen zu gehen, wenn sie mussten. Der eine oder andere hatte den Kopf geschüttelt und etwas von neumodischen Großstadtsitten gemurmelt, aber der gute Lotsenmeister hatte sich nicht beirren lassen. »Ich scheiße, wo ich will«, hatte er gebrüllt, wenn ihm der Klatsch zu Ohren kam.

Signe hatte sich zwar – nach langem Sträuben – einen Fernseher angeschafft, aber das war auch das Einzige, was aus dem Rahmen fiel. Es war kaum zu sehen, dass das Haus schon vor mehr als hundert Jahren eingerichtet worden war, so gut war alles erhalten.

Inzwischen bewohnte Signe das Haus allein, nur in Gesellschaft ihrer Labradorhündin Kajsa. Hin und wieder klagte sie über die hohen Kosten, aber jedes Mal, wenn Leute von auswärts ihr das Haus, das eines der schönsten von ganz Sandhamn sein musste, zu einem Fantasiepreis abzuschwatzen versuchten, schnaubte sie nur verächtlich und wies ihnen die Tür.

»Hier bin ich geboren, und hier will ich sterben«, pflegte sie ohne jede Spur von Sentimentalität zu sagen. »Mir kommt kein reicher Stockholmer über die Schwelle.«

Signe liebte die Brand’sche Villa, und Nora konnte das sehr gut verstehen. Als sie noch ein kleines Kind war, war Signe für sie wie eine zweite Mutter gewesen, und Nora fühlte sich bei ihr ebenso zu Hause wie in ihrem eigenen Elternhaus.

»Hast du gehört, was passiert ist?«, rief Nora zu ihr hinüber.

»Nein, was denn?«, erwiderte Signe und stellte die Gießkanne ab. Sie richtete sich auf und kam an den Zaun.

»Sie haben einen Ertrunkenen am Weststrand gefunden. Die Polizei ist hier, mit allem Drum und Dran.«

Signe machte ein verwundertes Gesicht.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie aufgescheucht die Eltern in der Schwimmschule waren«, fuhr Nora fort.

»Ein Toter, sagst du?«, fragte Signe.

»Ja. Ich habe Thomas getroffen, unten vor Westerbergs Livs. Er ist hier, um den Fall zu untersuchen.«

Signe sah sie fragend an.

»Weiß man, wer es ist? Jemand, den wir kennen?«

»Ich war nicht dort. Thomas sagt, dass es ein Mann ist, aber die Leiche sieht wohl ziemlich schlimm aus. Hat offenbar mehrere Monate im Wasser gelegen.«

»Dann ist Thomas als Polizist hier? Wer hätte gedacht, dass er schon so erwachsen ist«, sagte Signe.

»Das bin ich doch auch. Wir sind ja gleichaltrig«, erwiderte Nora lächelnd.

»Es ist trotzdem schwer zu verstehen. Die Zeit vergeht so schnell.« Signe sah wehmütig aus. »Ich kann kaum glauben, dass du schon selbst Kinder und eine Familie hast. Es ist noch nicht lange her, da warst du so klein wie Adam und Simon.«

Nora lachte und ging ins Haus. Sie war ganz vernarrt in ihr Häuschen, das sie vor einigen Jahren von ihrer Großmutter geerbt hatte. Es war nicht sehr groß, aber es hatte Charme, und dafür, dass es aus dem Jahr 1915 stammte, war es ziemlich funktionell. Im Erdgeschoss befanden sich eine große Küche und ein geräumiges Zimmer, das für alle möglichen Zwecke genutzt wurde, als Spiel- und Fernsehzimmer genauso wie als Wohnzimmer für die Erwachsenen.

Ein kleiner Kachelofen mit zierlichem Blumenmuster war die Jahre hindurch erhalten geblieben. Im Winter war er sehr nützlich, er schaffte es, das gesamte Untergeschoss zu heizen. Da auf den Schären hin und wieder der Strom ausfiel, leistete er noch gute Dienste.

Im Obergeschoss gab es zwei Schlafzimmer, eins für Henrik und sie und eins für die Jungen. Bevor sie hier eingezogen waren, hatten sie Küche und Bad komplett erneuert, was auch dringend notwendig gewesen war. Sie hatten auf übertriebenen Luxus verzichtet, aber durch die Renovierung wirkten die Räume funktionell und einladend.

Das Beste am Haus war jedoch die sonnige, verglaste Veranda im altmodischen Stil, deren Fensternischen sie mit Mårbacka-Geranien bepflanzt hatte. Von der Veranda aus, die nach Westen zeigte, konnte man sogar das Meer sehen, wenn man sich Mühe gab. Vor allem sah man jedoch die Brand’sche Villa, die sich auf dem Hügel auftürmte und Noras Haus aussehen ließ wie eine kleine Kate.

»Hallo, wir sind wieder da!«

Nora lauschte nach oben zu Henrik hinauf, aber im Haus blieb alles still. Sie hatte die leise Hoffnung gehabt, dass er Adam inzwischen geweckt und angezogen hatte, während sie mit Simon unterwegs war, aber offensichtlich schliefen die zwei immer noch. Obwohl Henrik es gewohnt war, viele Stunden ohne Schlaf auszukommen, wenn er im Krankenhaus Bereitschaftsdienst hatte, schlief er im Urlaub viel und gerne. Oder vielleicht gerade deswegen.

Mit einem Seufzen ging sie die Treppe hinauf.

»Buuh!«

Nora zuckte zusammen, als Adam hinter der Badezimmertür hervorsprang.

»Hast du dich erschrocken?« Er strahlte übers ganze Gesicht. »Papa schläft noch. Aber ich habe mein Bett schon gemacht.«

Nora umarmte ihn. Sie konnte seine Rippen unter dem T-Shirt fühlen. Wo war ihr pummeliges Baby geblieben, und woher kam dieser kleine, magere Fratz?

»Komm, du musst vor dem Schwimmunterricht was essen.«

Sie nahm ihn an die Hand und ging hinunter in die Küche. Während sie die frischen Brötchen auspackte, die sie unterwegs gekauft hatte, deckte Adam den Tisch.

»Denk an dein Insulin, Mama«, mahnte er.

Nora lachte ihn an und versuchte, noch eine Umarmung zu ergattern. Er war ein typischer großer Bruder, verantwortungsvoll und mitdenkend. Seit er so groß geworden war, dass er begriff, wie wichtig es für eine Diabetikerin wie sie war, vor jeder Mahlzeit und zu regelmäßigen Zeiten ihr Insulin zu nehmen, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sie daran zu erinnern. Manchmal nahm sie es nicht so genau damit, besonders zu den Zwischenmahlzeiten, wenn sie nicht zu Hause waren, aber dann wurde er richtig besorgt und schimpfte seine Mutter mit erwachsenem Ernst aus.

Sie öffnete den Kühlschrank und holte den Ständer mit den Ampullen heraus. Mit übertriebener Geste hielt sie eine hoch und zeigte sie Adam.

»Jawohl, Herr General. Befehl ausgeführt!«

Geübt zog sie die Spritze auf und setzte sich die Insulindosis in eine Bauchfalte direkt unter dem Nabel. Zu ihrer Erleichterung schienen weder Simon noch Adam eine Diabetes-Veranlagung zu haben, aber ganz sicher konnte man erst sein, wenn sie größer waren.

Mit einem Ohr hörte sie, dass Adam zu Henrik ins Schlafzimmer gelaufen war und sich alle Mühe gab, ihn zu wecken, indem er auf dem Bett auf und ab hüpfte.

Sie hatte nichts dagegen. Wenn sie die Frühschicht mit Simon übernahm, konnte Henrik wenigstens dafür sorgen, dass Adam zum Schwimmunterricht kam. Außerdem wollte sie ja mit Thomas Kaffee trinken.

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Kapitel 6

Im selben Haus wie Sandhamns Postamt war die zentrale Meldestelle der Polizei untergebracht. Das gelbe Gebäude, das aussah wie ein typisches Schärengarten-Ferienhaus, lag direkt unterhalb der alten Kiesgrube.

Die Meldestelle bestand aus einem modernen Großraumbüro mit einem Dutzend Arbeitsplätzen und einem Besprechungsraum. Rund fünfzehn Personen arbeiteten hier, überwiegend Frauen, die sich um fast alles kümmerten, von Raub und Körperverletzung bis zu gestohlenen Handys und Fahrrädern. Man öffnete früh am Morgen und schloss erst um zehn Uhr abends.

Da die Meldestelle an das interne Datennetz der Polizei angeschlossen war, konnte Thomas sich einfach an einen Rechner setzen und seinen Bericht über den Toten vom Strand schreiben. Es gab allerdings nicht viel mehr zu protokollieren, als dass sie einen toten Mann gefunden hatten, die Todesursache jedoch unbekannt war.

Da er ohnehin gerade am Computer saß, loggte er sich in das Zentralregister der vermissten Personen ein, das »VP«.

Im Distrikt Stockholm waren zwei Männer als vermisst gemeldet. Der eine war Rentner, vierundsiebzig und demenzkrank. Die Anzeige war vor zwei Tagen zu Protokoll genommen worden.

Wahrscheinlich sitzt er irgendwo auf einer Lichtung im Wald, der arme Teufel, dachte Thomas. Wenn man ihn nicht bald fand, würde er an Erschöpfung und Austrocknung sterben. Das war gar nicht so ungewöhnlich.

Der andere war ein Mann in den Fünfzigern, Krister Berggren, angestellt beim staatlichen Spirituosenhandel »Systembolaget«. Sein Arbeitgeber hatte die Polizei Anfang April informiert, nachdem Berggren zehn Tage lang nicht zur Arbeit erschienen war. Er wurde seit Ostern vermisst, dem letzten Wochenende im März. Krister Berggren war mittelgroß und hatte dunkelblondes Haar. Er arbeitete seit 1971 beim Systembolaget, hatte also direkt nach der Schule dort angefangen, wenn Thomas richtig rechnete.

Er holte sein Handy hervor und wählte die Nummer von Carina, der erstaunlich hübschen Tochter des Alten, die als Bürohilfe in der Polizeidienststelle Nacka jobbte, während sie sich auf die Aufnahme an der Polizeihochschule vorbereitete.

»Carina, Thomas hier. Würdest du bitte in der Gerichtsmedizin anrufen und Bescheid sagen, dass die Leiche, die sie hereinkriegen, vermutlich zur Beschreibung eines gewissen Krister Berggren aus Bandhagen passt, der seit ein paar Monaten vermisst wird.«

Thomas gab ihr Berggrens Personenkennnummer und seine Adresse durch.

»Und außerdem kannst du gleich mal nachforschen, wer in dem Fall zu benachrichtigen ist. Dann haben wir das auch erledigt. Wenn wir Glück haben, finden sie vielleicht bei der Entkleidung der Leiche einen Führerschein oder Personalausweis.«

Er verstummte und ließ den Blick über den Bildschirm mit der Beschreibung Krister Berggrens wandern. Durchs Fenster hörte er das Lachen von Kindern, die auf dem Fahrrad vorbeifuhren. Eine weitere Erinnerung daran, dass Sommer war und er bald nach Harö hinausfahren konnte, dem einzigen Ort, wo er so etwas wie Frieden gefunden hatte, seit Emily tot war. Plötzlich sehnte er sich danach, allein auf dem Bootssteg zu sitzen, ohne dass irgendwer irgendwas von ihm wollte.

»Es wäre schön, wenn wir den Fall schnell und einfach aufklären könnten«, sagte er zu Carina. »Es wird wirklich langsam Zeit, Urlaub zu machen.«

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Donnerstag, erste Woche

Kapitel 7

Als Thomas am Donnerstagmorgen in seine Dienststelle kam, war Carina bereits da. Sie übergab ihm den Bericht, der von den Gerichtsmedizinern abgezeichnet gerade eingetroffen war.

»Thomas, der Obduktionsbericht ist eben gekommen. Der Tote von Sandhamn ist tatsächlich Krister Berggren, genau wie du vermutet hattest. Seine Brieftasche steckte in der Jacke, und man konnte noch lesen, was auf dem Führerschein stand, obwohl er so lange im Wasser gelegen hatte.«

Während Thomas den Bericht durchlas, betrachtete Carina ihn verstohlen. Schon seit ihrem ersten Tag auf dem Polizeirevier hatte sie ihn immer wieder heimlich angesehen. Da war etwas an ihm, das sie anzog, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war.

Er hatte blondes Haar, dick wie eine Pferdemähne. Es war sehr kurz geschnitten, und sie ahnte, dass es wohl wuchs, wie es wollte, wenn man es nicht bändigte. Er hatte etwas von einem Naturburschen an sich, man konnte sehen, dass er sich gerne draußen aufhielt. Um seine Augen waren Unmengen kleiner Fältchen vom jahrelangen Blinzeln in der Sonne. Er war durchtrainiert und außerdem sehr groß. Sie selbst war ein ganzes Stück kleiner als Thomas.

Ihm wurde nachgesagt, ein fähiger Polizist zu sein, einfühlsam und gerecht. Ein untadeliger Kollege, mit dem man gern zusammenarbeitete. Seine sympathische Art machte ihn beliebt, obwohl er eine gewisse Distanz zu seinem Umfeld wahrte. Niemand kam so richtig an ihn heran.

Nach allem, was Carina zu Ohren gekommen war, hatte er vor gut einem Jahr seine kleine Tochter verloren. Danach war die Ehe zerbrochen und geschieden worden. Man munkelte, das Mädchen sei den plötzlichen Kindstod gestorben, aber niemand wusste etwas Genaues.

Lange Zeit war er sehr deprimiert gewesen, aber seit Kurzem begannen die Lebensgeister wieder zurückzukehren. Zumindest, wenn man dem Klatsch im Büro glauben durfte.

Carina war im vergangenen Jahr mit niemandem enger zusammen gewesen, hatte nur hin und wieder eine lockere Verabredung gehabt. Mit Typen in ihrem Alter, die sie langweilten. Thomas, der auf die vierzig zuging, war da etwas ganz anderes. Er sah nicht nur gut aus, er war auch ein erwachsener Mann, kein unreifer Junge. Außerdem hatte er etwas an sich, das sie im Innersten berührte, ohne dass sie es näher benennen konnte. Vielleicht war es gerade die Traurigkeit, die unter der Oberfläche lag. Oder die Tatsache, dass er sie kaum zu beachten schien, was ihr Interesse nur noch verstärkte.

Sie wusste, dass sie nicht schlecht aussah, sie war klein und zierlich, und beim Lächeln zeigte sich ein Grübchen in ihrer linken Wange, das die Leute immer zu Kommentaren veranlasste. Normalerweise bekam sie jede Menge Bestätigung vonseiten der Männer, aber Thomas behandelte sie genau wie alle anderen, trotz ihrer kleinen Einladungen.

Carina hatte begonnen, sich um Thomas herum nützlich zu machen. Manchmal brachte sie Croissants oder Zimtschnecken zum Vormittagskaffee mit und bot Thomas davon an. Wenn sie Dienstbesprechung hatten, versuchte sie, sich in Thomas’ Nähe zu setzen, und gab sich Mühe, seine Aufmerksamkeit einzufangen. Aber bisher hatte alles nichts genützt.

Jetzt stand sie zögernd in der Türöffnung, während Thomas das Obduktionsprotokoll studierte. Ihr Blick ruhte auf seiner Hand, die den Bericht hielt. Sie fand, dass er sehr sensible Finger hatte, lang und schmal, mit schön gerundetem Nagelbett. Ab und zu fantasierte sie darüber, wie es wohl wäre, wenn diese Finger sie berührten. Vor dem Einschlafen stellte sie sich manchmal vor, wie seine Hände sie am ganzen Körper streichelten. Wie es sich wohl anfühlte, ganz dicht neben ihm zu liegen, Haut an Haut.

 

Nichts von Carinas Gedanken ahnend, vertiefte Thomas sich in den Bericht. Er war in einer klinisch-kühlen Sprache abgefasst, ohne irgendwelche emotionalen Nuancen, die etwas über den Menschen verraten hätten, der das Objekt dieser Beschreibung war. Kurze, lakonische Sätze fassten nüchtern zusammen, was die Obduktion ergeben hatte.

Tod durch Ertrinken. Wasser in der Lunge. Die Schäden am Körper waren, soweit man beurteilen konnte, ursächlich auf die Verweildauer im Meer zurückzuführen. Mehrere Finger und Zehen fehlten. Kein Nachweis von chemischen Substanzen oder Alkohol im Blut. Das Fischernetz bestand aus denselben Baumwollfasern, aus denen schwedische Fischernetze in aller Regel geknüpft waren. Die Seilschlinge um den Oberkörper war ein gewöhnliches Tau. Es sah aus, als sei etwas an dem Tau befestigt gewesen, das untere Ende war ausgefranst, und Spuren von Eisen zeigten an, dass es in Kontakt mit einem metallischen Gegenstand gewesen war.

Nichts in dem Bericht deutete auf Tod durch Fremdverschulden hin.

Demnach also Selbstmord oder ein Unfall.

Das einzig Merkwürdige war das Seil um den Körper. Thomas dachte eine Weile nach. Wieso trug jemand, der aufgrund eines Unglücks ertrunken war, eine Schlinge um den Oberkörper? Gab es eine Erklärung dafür? Hatte Krister Berggren versucht, sich an einem Seil hochzuziehen, nachdem er ins Wasser gefallen war? Angenommen, er hatte Selbstmord begehen wollen – hatte er vielleicht einen halbherzigen Versuch gemacht, sich zu erhängen, es sich dann anders überlegt und war stattdessen gesprungen? Aber hätte er in dem Fall nicht vorher das Seil abgemacht? Wozu es sich erst um den Körper schlingen? Aber vielleicht war eine solche Frage in der seelischen Verfassung, in der sich ein Selbstmörder unmittelbar vor der Tat befinden musste, völlig irrelevant.

Das mit dem Fischernetz konnte ein Zufall sein. Die Leiche war vielleicht ganz einfach in das ausgeworfene Netz getrieben und hatte sich darin verfangen. Das mit der Seilschlinge war schwieriger nachzuvollziehen. Andererseits hatte Thomas im Laufe der Jahre bei der Polizei die Erfahrung gemacht, dass sich manche Sachen nun mal nicht erklären ließen. Und dass dies nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte.

Wenn das Seil nicht gewesen wäre, hätte der Todesfall ohne Weiteres als Unglück oder Selbstmord abgehakt werden können, aber jetzt war es da und scheuerte in Thomas’ Gedanken ungefähr so wie ein kleiner Stein im Schuh.

Er beschloss, zu Krister Berggrens Wohnung zu fahren und sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie er gelebt hatte. Vielleicht gab es einen Abschiedsbrief oder andere Anhaltspunkte, die Licht in die Sache bringen konnten.

Krister Berggrens Wohnung lag im Außenbezirk von Bandhagen, einem Vorort im Süden Stockholms.

Thomas parkte sein Auto, einen Volvo 945, der bereits acht Jahre auf dem Buckel hatte, am Bürgersteig und sah sich um. Die Häuser in der Gegend waren typische Fünfzigerjahre-Wohnblocks aus gelbem Backstein, vierstöckig und ohne Fahrstuhl. Ein Block reihte sich an den anderen. Am Straßenrand parkten nur wenige Autos. Ein alter Mann mit Schiebermütze schleppte sich mit seinem Rollator mühsam den Bürgersteig entlang.

Thomas öffnete die gläserne Eingangstür und betrat das Treppenhaus. Auf einer Tafel gleich rechts waren die Namen der Mietparteien aufgeführt. Krister Berggrens Wohnung lag im zweiten Stock. Thomas ging rasch die Treppen hinauf. In jeder Etage gab es drei Wohnungstüren aus hellbraunem Holz, das im Laufe der Jahre schäbig geworden war. Die Wände trugen einen undefinierbaren, beigegrauen Anstrich.

Unter dem Schild mit dem Namen K. BERGGREN war ein Zettel befestigt, auf dem mit Bleistift »Keine Werbung« geschrieben stand. Trotzdem hatte jemand versucht, einen dicken Packen Reklameprospekte durch den Briefschlitz zu stopfen.

Als der Mann vom Schlüsseldienst, der schon auf Thomas gewartet hatte, die Tür öffnete, schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Eine Mischung aus altem Essensdunst und abgestandener Luft.

Thomas nahm sich als Erstes die Küche vor. Auf der Spüle standen ein paar leere Weinflaschen, daneben lag eine Packung vertrocknetes Brot. Im Spülbecken stapelten sich schmutzige Teller. Er machte den alten Kühlschrank auf, und aus einem geöffneten Milchkarton strömte ihm der Gestank verdorbener Milch entgegen. Verschimmelter Käse und Schinken lagen daneben. Offensichtlich war schon seit Monaten niemand mehr hier gewesen.

Das Wohnzimmer barg keine Überraschungen. Schwarzes Ledersofa und triste Seegrastapete, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Zahllose ringförmige Spuren von Gläsern und Flaschen auf dem Glastisch zeugten von einer Vorliebe für Alkohol und wenig Interesse an Möbelpflege. Vor dem Fenster standen ein paar verdorrte Topfblumen. Zweifellos hatte Krister Berggren lange allein gewohnt, es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass eine Frau sein Leben geteilt hatte.

Im Bücherregal standen Videokassetten und DVD-Filme dicht an dicht. Thomas stellte fest, dass ein ganzes Regalfach ausschließlich Clint-Eastwood-Filme enthielt. Von den wenigen Büchern sahen einige so aus, als seien sie vererbt worden, denn sie hatten abgegriffene, altmodische Lederrücken mit goldfarbenem Aufdruck. An einer Zimmerwand hing ein Poster mit Formel-1-Rennwagen am Start.

Auf dem Tisch lag ein Stapel verschiedener Kataloge, darunter eine Motorsport- und eine Fernsehzeitschrift. Eine Reklamebroschüre der Silja Line lag ebenfalls in dem Haufen. Thomas nahm sie zur Hand und studierte sie genauer. Vielleicht war Krister Berggren ganz einfach über Bord einer Finnlandfähre gefallen. Die Fährschiffe aller großen Reedereien kamen jeden Abend gegen neun Uhr an Sandhamns westlicher Landspitze vorbei.

Thomas ging weiter ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und mit einem Bettüberwurf zugedeckt, aber überall lag Schmutzwäsche herum. Auf dem Nachttisch bemerkte er eine alte Ausgabe des Aftonbladet. Er griff danach und schaute auf das Datum: 27. März. War das der Tag, an dem Krister Berggren sich zum letzten Mal in seiner Wohnung aufgehalten hatte? Das Datum passte jedenfalls zum Haltbarkeitsaufdruck auf dem Milchkarton im Kühlschrank.

Auf einer Kommode stand das Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau im Twinset und mit Fünfzigerjahre-Frisur. Thomas nahm das Foto heraus und drehte es um. »Cecilia – 1957«, stand in verschnörkelter Schrift auf der Rückseite. Die Frau war hübsch, wenn auch auf eine unmoderne Art. Heller Lippenstift, hochtoupiertes Haar, schöne Augen, die weit in die Ferne blickten. Sie hatte eine frische, saubere Ausstrahlung. Vermutlich Krister Berggrens Mutter. Laut Einwohnermelderegister war sie Anfang des Jahres gestorben.

Thomas suchte weiter nach einem Abschiedsbrief oder irgendetwas anderem, was den Todesfall erhellen konnte, fand aber nichts. Er ging zurück in den Flur und sah rasch den Stapel Post durch. Überwiegend Werbung, einige Briefe sahen aus wie Rechnungen. Eine Ansichtskarte mit einem weißen Strand, der Schriftzug Kos nahm fast das halbe Foto ein.

»Ruf mich auf dem Handy an, dann können wir reden! Liebe Grüße, Kicki«, stand auf der Rückseite.

Thomas fragte sich, ob das Kicki Berggren war, Kristers Cousine und die einzige lebende Verwandte, die sie hatten auftreiben können. Er hatte schon versucht, sie anzurufen, sowohl unter ihrer Festnetz- als auch ihrer Handynummer, war aber jedes Mal nur von einem Anrufbeantworter empfangen worden.

Ein rascher Blick ins Badezimmer brachte keine neuen Erkenntnisse.

Die Klobrille war hochgeklappt, so wie man es bei einem Junggesellen erwarten konnte. Einige gelbe Urinspritzer zeichneten sich auf dem weißen Porzellan ab.

Thomas machte eine letzte Runde durch die Wohnung. Er wusste nicht recht, was er erwartet hatte. Vielleicht nicht unbedingt einen Abschiedsbrief, aber doch wenigstens ein paar Anhaltspunkte, aus denen man hätte schließen können, warum Krister Berggren sich an einem kalten Märztag draußen in den Schären hatte umbringen wollen.

Falls es sich nicht doch um einen Unfall handelte.

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Dienstag, zweite Woche

Kapitel 8

Mit einem Seufzer tippte Kicki Berggren den Haustürcode ihres Wohnblocks in Bandhagen ein.

Endlich zu Hause.

Wie hatte sie sich nach ihrem eigenen Bett und ihrer Wohnung gesehnt. Home, sweet home, dachte sie erleichtert. Wirklich ein wahres Wort.

Als ihre alte Schulfreundin Agneta sie überredet hatte, mit ihr nach Kos zu fahren, um dort in einem schwedischen Restaurant als Bedienung zu arbeiten, hatte es sich angehört wie das reinste Paradies. Bezahlter Urlaub in der griechischen Inselwelt. Kost und Logis frei und ein Gehalt, das zwar gering war, aber ganz sicher durch großzügige Trinkgelder aufgestockt würde. So hatte Agneta es ihr jedenfalls beschrieben. Sonne und warmer Sand statt Dunkelheit und Schneematsch.

Es hatte sich angehört, als sei es zu schön, um wahr zu sein. Und so war es dann auch.

Kicki Berggren war ziemlich schnell und ziemlich unsanft auf der Erde gelandet. Nach drei Monaten mit betrunkenen Gästen, allzu oft Schweden, die billiges Essen bestellten und mehr Ouzo, als sie vertragen konnten, hatte sie das griechische Urlaubsparadies von Herzen satt. Jetzt wollte sie nur noch zurück in ihr gewohntes Leben. Was immer das beinhaltete, wenn man eine alleinstehende Frau war und für Schwedens führenden Casinobetreiber als Croupière arbeitete. Es war beinahe soweit, dass sie sich danach sehnte, an ihrem Tisch zu stehen und in all dem Lärm Black-Jack-Karten auszuteilen.

Sie schloss die Wohnungstür auf und trug ihre Taschen hinein.

In der Wohnung roch es muffig. Man konnte merken, dass sie eine ganze Weile nicht zu Hause gewesen war. Sie stellte die Taschen in der Diele ab und ging in die Küche. Zündete sich eine Zigarette an und setzte sich an den Küchentisch. Auspacken konnte sie auch morgen noch. Sie holte eine zollfreie Flasche Ouzo aus der Tasche und goss sich ein Glas ein. Gar nicht so verkehrt, dieser Ouzo, dachte sie. Mit einem Eiswürfel drin richtig gut. Sie überlegte, ob sie ihre Mails abrufen sollte, beschloss dann aber, dass das ebenfalls warten konnte. Auf Kos war sie hin und wieder in ein Internetcafé gegangen, es hatte also keine Eile.

Sie griff nach dem Telefon und gab den PIN-Code ihrer Mailbox ein. Wahrscheinlich waren sowieso keine Anrufe drauf. Die meisten ihrer Freunde wussten, dass sie auf Kos jobbte, aber ein kurzer Check konnte ja nicht schaden. Sicherheitshalber. Außerdem hatte ihr Handy vor einer Woche gestreikt, sodass sie eine Zeit lang nicht zu erreichen gewesen war.

Die ersten Mitteilungen waren nur Werbeanrufe.

Brauchte sie Rat bei ihrer Finanzplanung? Riesenchance! Ja, ja. Auf so eine Beratung hatte sie gerade gewartet. Lächerlich. Ihre paar Kröten reichten ohnehin vorne und hinten nicht.

Die letzte Nachricht ließ sie aufhorchen.

»Thomas Andreasson, guten Tag«, hörte sie eine tiefe Stimme sagen. »Polizeidienststelle Nacka, Kriminaldezernat. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen zu Ihrem Cousin Krister Berggren stellen. Bitte rufen Sie mich zurück, sobald es Ihnen möglich ist.« Dann hatte er noch eine Telefonnummer durchgegeben und aufgelegt.

Kicki Berggren drückte ihre Kippe aus.

Wieso rief die Polizei bei ihr an, um sich nach Krister zu erkundigen? Sie wählte Kristers Telefonnummer, aber er nahm nicht ab. Krister sah nicht ein, warum er sich einen Anrufbeantworter anschaffen sollte, deshalb verhallten die Klingelsignale, bis die Verbindung automatisch gekappt wurde.

Sie versuchte es unter der Nummer, die der Polizist hinterlassen hatte, und landete bei einer Telefonzentrale. Eine freundliche Frauenstimme teilte ihr mit, Kommissar Andreasson sei morgen früh ab acht Uhr wieder zu erreichen.

Kicki steckte sich eine weitere Zigarette an und lehnte sich auf dem Küchenstuhl zurück. Ascheflocken rieselten auf den hellblauen Flickenteppich unter ihren Füßen, aber sie kümmerte sich nicht darum.

Was konnte mit Krister passiert sein?

Nach der Beerdigung seiner Mutter hatten sie sich heftig gestritten. Seitdem hatte sie weder mit ihm gesprochen noch sonst irgendeinen Kontakt gehabt, mehrere Monate nun schon. Zuerst hatte sie gedacht: Geschieht ihm ganz recht, dass ich nach Kos gehe. Aber als er weder anrief noch auf ihre SMS antwortete, war sie unruhig geworden. Sie hatte ihm eine Ansichtskarte geschickt und geschrieben, dass er sie anrufen solle, aber er hatte sich nicht gerührt.

Blöder Hund, hatte sie wütend gedacht. Sollte er doch zu Hause durch den Schneematsch latschen, während sie die griechische Sonne genoss. Mann, was waren die Kerle doch für Jammerlappen. Wie kleine Kinder.

Trotzdem sehnte sie sich danach, mit ihm zu reden.

Nun waren nur noch sie und Krister übrig. Er war fast wie ein Bruder für sie. Obwohl sie sich so oft über seine Schmalspurigkeit und seinen Mangel an Ehrgeiz geärgert hatte, war er doch Verwandter und Freund zugleich.

Zeitweise ihr einziger Freund, um ehrlich zu sein.

Sie hatten beide keine Kinder und keinen festen Partner. So manches Mal, wenn sie gemeinsam eine der vielen Weinflaschen geleert hatten, die er »gelegentlich« von seiner Arbeit im Systembolaget mitgehen ließ, hatte sie sich gefragt, ob sie wohl auch noch als Rentner so beisammensitzen würden. Einsame Verlierer, die es zu nichts gebracht hatten. Verbitterte Greise, die sich die Zeit damit vertrieben, einander ihr Schicksal vorzujammern.

Deshalb hatte sie auch kaum ihren Augen getraut, als sich plötzlich die Chance auf ein neues Leben vor ihnen auftat. Zum ersten Mal bestand Aussicht auf eine bessere Zukunft, ein geordnetes Leben, weit weg vom Job als Lagerarbeiter und von verqualmten Nächten am Casinotisch. Eine Chance auf richtig viel Geld für sie beide.

Aber Krister hatte den Schwanz eingekniffen. Sie verstand es nicht. Es wäre so einfach gewesen, sie wusste genau, was zu tun war und was gesagt werden musste.

Er hatte ja den Beweis. Den schriftlichen Beweis.

Sie hatte in seinem Wohnzimmer gesessen. Er hatte auf dem Sofa gelegen und sie unter schweren Lidern angesehen. Sein Hemd war bis zum Bauch aufgeknöpft und voller Flecke. Er strich sich die fettigen Strähnen zurück, die längst eine Haarwäsche vertragen hätten, und schüttelte den Kopf.

»Was du immer für Ideen hast. Begreifst du nicht, dass das nie funktionieren würde?« Er füllte sein Weinglas. »Willst du noch?«

Er hob die Flasche hoch und wedelte damit in ihre Richtung. Sie sah ihn an und seufzte.

»Nein. Ich will nur, dass du dir anhörst, was ich zu sagen habe.«

Wütend steckte sie sich noch eine Zigarette an. Sie inhalierte tief und musterte ihn. Die Umgebung hier deprimierte sie. Diese schäbige Junggesellenbude.

»Hör mir wenigstens zu!«, versuchte sie es noch mal.

Aber er hatte sich geweigert, ihren Vorschlag ernst zu nehmen, und war jedes Mal ausgewichen, wenn sie wieder darauf zu sprechen kam. Sie hatte sogar seine Mutter ins Feld geführt. Hatte gesagt, dass Cecilia auch gewollt hätte, dass er den Schritt tat. Hatte wieder und wieder auf ihn eingeredet.

Am Ende war sie richtig wütend geworden.

»Dann bleib doch in deinem Dreck hocken, du Idiot«, hatte sie ihn angeschrien. »Das ist deine einzige Chance auf ein anständiges Leben, und du hast nicht mal den Mumm, es zu versuchen!«

Sie musterte ihn voller Verachtung. Kochend vor Wut.

»Scheiße, was bist du nur für ein jämmerlicher Feigling. Du wirst in diesem verdammten Drecksloch sitzen, bis sie dich auf den Acker karren.«

Dann war sie aus der Wohnung gestürmt und zwei Tage später nach Kos geflogen, ohne noch einmal mit ihm gesprochen zu haben.

Jetzt tat es ihr leid.

Krister hatte es im Leben nicht leicht gehabt. Seine Großeltern hatten jeden Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen, als sie mit achtzehn schwanger wurde. Cecilia hatte ihn ganz allein großziehen müssen, und sie hatte sich und den Jungen versorgt, indem sie im Systembolaget arbeitete. Eine ledige Mutter zu sein war Mitte der Fünfzigerjahre kein Zuckerschlecken, und Krister war mit Sicherheit kein einfaches Kind gewesen. Als er nach der neunten Klasse mit schlechten Noten von der Schule abging, hatte sie ihn bei ihrer Arbeitsstelle im Systembolaget untergebracht, und dort war er dann geblieben.

Er hatte seinen anonymen Erzeuger nie kennengelernt. Seine Großeltern übrigens auch nicht. Sie starben, ohne ihr Enkelkind je gesehen zu haben. Bis zum letzten Atemzug verbittert wegen der Schande.

Kickis Vater hatte versucht, seiner Schwester zu helfen, aber besonders gut war es ihm auch nicht gegangen. Als Kickis Eltern dann Ende der Neunzigerjahre bei einem Autounfall ums Leben kamen, hatte Cecilia versucht, ihre Nichte zu unterstützen, doch viel Trost hatte sie ihr nicht geben können.