Tödlicher Podcast - Cleo Konrad - E-Book

Tödlicher Podcast E-Book

Cleo Konrad

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Viktor Crime Award als bestes deutschsprachiges Thrillerdebüt 2024

Wir alle haben unsere Geheimnisse. Die meisten sind uns nur peinlich. Doch manche können tödlich sein ...

Nina ist überglücklich, als die berühmte Podcasterin Malu M. sie als Reinigungskraft engagiert. Seit Monaten verfolgt sie gebannt deren True-Crime-Sendung, die die ganze Stadt in Atem hält. Doch schon bald häufen sich in dem auf Hochglanz polierten Haus rätselhafte Vorkommnisse, und Nina hat den Verdacht, dass sich hinter der makellosen Fassade dunkle Abgründe auftun. Warum schirmt Malu ihre Familie hermetisch von der Außenwelt ab? Was versucht sie zu verbergen? Als im Netz ein anonymer Podcast veröffentlicht wird, beginnt Nina zu ahnen, wie entsetzlich Malus Geheimnisse wirklich sind - und wie tief sie selbst schon darin verstrickt ist ...


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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 626

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressum#130 Malu M.NinaJenni#124 Malu M. – Verbrechen Berlin: Der Brandenburger Anhaltermörder, Teil 2NinaJenni#124 Malu M. – Verbrechen Berlin: Der Brandenburger Anhaltermörder, Teil 3NinaMaluJenniNinaMaluJenniNinaMaluJenniNinaMaluJenniNinaMaluJenni#127 Malu M.NinaJenniMaluNinaMaluJenniNinaMaluJenniNinaJenniNinaNinaNinaMaluNinaJenniNinaMaluNinaJenniNinaMalu#129 NinaMaluNinaNina#130 NinaNinaNinaNinaNina#131 NinaNinaNinaNinaNina#136 NinaJenni

Über dieses Buch

Nina ist überglücklich, als die berühmte Podcasterin Malu M. sie als Reinigungskraft engagiert. Seit Monaten verfolgt sie gebannt deren True-Crime-Sendung, die die ganze Stadt in Atem hält. Doch schon bald häufen sich in dem auf Hochglanz polierten Haus rätselhafte Vorkommnisse, und Nina hat den Verdacht, dass sich hinter der makellosen Fassade dunkle Abgründe auftun. Warum schirmt Malu ihre Familie hermetisch von der Außenwelt ab? Was versucht sie zu verbergen? Als im Netz ein anonymer Podcast veröffentlicht wird, beginnt Nina zu ahnen, wie entsetzlich Malus Geheimnisse wirklich sind – und wie tief sie selbst schon darin verstrickt ist …

Über den Autor

Cleo Konrad wurde Weihnachten 1981 im verschneiten Alpenvorland geboren. Heute lebt und schreibt sie in der schönen Stadt Nürnberg. Sie arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in einem Forschungsinstitut und nutzt jede freie Minute, die ihr neben Arbeit und Familie bleibt, zum Schreiben von spannenden Geschichten. TÖDLICHER PODCAST ist ihr Thrillerdebüt.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer.

Copyright 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter der Verwendung von Motiven von © shutterstock: printstocker | Maksim Kabakou

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4769-1

luebbe.de

lesejury.de

#130 Malu M.

** Ihr hört den Podcast Verbrechen Berlin. Haltet die Augen offen. Denn das Grauen lauert überall. **

»Hallo, Berlin. Dies ist ein schlimmer Morgen.

Ihr habt so viele Hinweise geschickt, so viele von euch haben sich an der Suche beteiligt.

Trotzdem ist jetzt das Schlimmste eingetroffen, das, was manche von euch schon befürchtet hatten.

Sie ist tot. Was für ein Schock! Ihr wisst, ich habe sie persönlich gekannt.

Sie war eine dieser Frauen, die immer taff sind, sich niemals schonen. Aber hinter ihrer Stärke verbarg sie etwas. Ein Geheimnis, eine Verletzlichkeit, die ich erst kennenlernte, als es fast schon zu spät war.

Außerdem war sie Mutter. So wie ich.

Unglaublich viel Schmerz hinterlässt sie, es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.

Ich weiß, ihr seid genauso erschüttert.

Und gleich werdet ihr, meine Stadt, genauso wütend sein wie ich!

Die Polizei weigert sich, unsere Theorien aufzugreifen. Sie haben mir sogar gedroht, ich solle ihnen keine weiteren Steine in den Weg legen. Ja, ihr hört richtig.

Euch ist es zu verdanken, dass sie gefunden wurde, und jetzt sollen wir uns Augen und Ohren zuhalten. Während ihr Mörder draußen frei herumläuft!

Das kann ich nicht zulassen. Und ich weiß, ihr könnt es auch nicht.

Der, der sie umgebracht hat, muss für seine Tat büßen!

Wir sind Berlin. Wir halten zusammen. Und gemeinsam werden wir ihn aufspüren!«

Nina

Wir alle haben Geheimnisse. Die meisten davon sind peinlich oder traurig. Wir halten sie so gut versteckt, wie es geht. Sie sind Erinnerungen, die wir verdrängen, Tagebücher, die wir in Safes sperren, Briefe, die wir in Schachteln packen und in den staubigen, hintersten Winkeln unseres Zuhauses vergraben. Wir wissen, wer wir sind, aber die anderen sollen es auf keinen Fall herausfinden.

Mich allerdings lassen die Menschen ohne Zögern herein. Die meisten schauen mir nicht einmal in die Augen, wenn sie mir die Tür öffnen. Sie erteilen mir Anweisungen und brechen dann in aller Eile zu ihren Terminen auf. Ich bleibe allein in ihren Häusern zurück – ausgerüstet mit Staubsauger und Wischmopp, um in aller Ruhe ihre dunklen, schmutzigen Ecken zu erkunden.

Manchmal macht es mir zu schaffen, dass meine Kunden nicht über mich nachdenken. Ich meine, ich bin auch ein Mensch, egal, welcher Arbeit ich nachgehe. Und Putzen ist nicht gerade meine Berufung. Ich bin darin nur deshalb so gut, weil der Job der letzte in einer langen Reihe noch schlechterer Jobs ist.

Ich kann es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Aber ich gebe mir Mühe, das Beste daraus zu machen. Während ich fremdes Parkett poliere oder Kronleuchter abstaube, denke ich oft nach. Am liebsten über meine Kunden. Es gibt nichts Spannenderes für mich als Menschen. Ihre Marotten, ihre Geschichten, aber vor allem ihre Geheimnisse. Ihre Häuser verraten mir eine Menge davon.

Damit meine ich nicht so etwas Alltägliches wie Essensreste, die im Kühlschrank schimmeln, oder miefende Socken unter dem Sofa. Ich rede von den Merkwürdigkeiten, denen etwas Zwielichtiges anhaftet. Von Dingen, die es vorziehen, im Verborgenen zu bleiben.

Die Nacktfotos der Ex-Frau zum Beispiel, die ich unter seiner Matratze aufstöbere und wieder zurückstecke. Das wöchentliche Kontingent zerknüllter Liebesbriefe, das ich stillschweigend zur Altpapiertonne trage. Und den Klang von Schnapsflaschen in abgeschlossenen Schubladen, die verräterisch klirren, wenn ich beim Staubsaugen gegen den Schreibtisch stoße.

Ich mag meine Kunden – nicht trotz ihrer Schwächen, sondern genau deswegen. Weil wir alle fehlbar sind, auf die eine oder andere Weise.

Wenn ich ihnen helfen kann, tu ich das, ohne zu zögern.

Doch manche ihrer Häuser wecken Geisterstimmen. Wie Erinnerungen, nur düsterer. Warum ist die Tür zum Keller plötzlich verschlossen? Warum steht das Bild der Tochter nicht mehr an seinem Platz? Wenn ich Rotweinflecken aus dem Teppich schrubbe, fürchte ich manchmal, sie wären Blut.

Das Grauen lauert überall, sagt Malu M. aus gutem Grund. Wir müssen die Augen offen halten.

Ihre Stimme klingt weich in meinen Kopfhörern, aber es schwingt immer etwas Raues darunter. Ein dunkler, schleppender Ton, der uns, die ihr zuhören, etwas verspricht: dass Malu M. uns in wahre Abgründe entführen wird. Und dieses Versprechen hält sie in jeder Folge ihres Podcasts.

So spannend berichtet sie über Gewalttaten aus meiner Stadt, dass mir beim Bügeln und Staubsaugen Schauer über den Rücken laufen. Ihre Geschichten wecken so viele Gefühle in mir, dass ich beim Hören oft zu atmen vergesse – von Angst über Trauer bis hin zu Wut. Und trotzdem tue ich sie mir jedes Mal wieder an.

Ja, ich bekenne mich schuldig. Ich bin genauso süchtig nach ihrem True-Crime-Podcast »Verbrechen Berlin« wie die halbe Stadt.

Malu ist so berühmt, wie ich unsichtbar bin. Und mein Leben ist auch nicht gerade der Stoff für einen Podcast. Nur die läppische Geschichte von einem gebrannten Kind, das das Leben so plötzlich in Erwachsenenklamotten gesteckt hat, dass es versäumt hat hineinzuwachsen. Jetzt passen sie meiner Tochter besser als mir.

Und doch war es ausgerechnet Malus Stimme, die etwas in mir geweckt hat. Hoffnung, eine Herausforderung. Eine Chance, mit einer Geschichte abzuschließen.

Hätte ich allerdings gewusst, dass für Malu M. das Grauen, von dem sie in ihren Podcasts spricht, so überaus real ist, hätte ich mich nie bei ihr um den Job beworben.

Jetzt ist es zu spät. Wir alle haben unsere Geheimnisse. Die meisten sind uns nur peinlich. Doch manche entpuppen sich als tödlich.

Jenni

Es kam ihr vor, als ob zwischen ihr und der Dachschräge Spinnweben wüchsen, so lange lag sie schon reglos da. Manchmal krabbelten die Spinnen über ihren Bauch und ihre Brust, obwohl sie die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen hatte. Dann zuckte sie zusammen und hielt den Atem an, bis sie ihn wieder leise und schnell ausstieß. Hier gab es keine Spinnen. Sie wusste das sicher, denn sie wienerte diese kleine Kammer fast jeden Tag, und wenn sie dabei ein Krabbeltier fand, trug sie es zum Fenster und entließ es in die Freiheit.

Ab morgen würde sie hier nie wieder sauber machen. Sie würde frei sein. Aber nur, wenn ihr Plan funktionierte. Angespannt hielt sie die Augen weit offen und lauschte. Benni schnaufte im Bett auf der anderen Seite der Kammer, unten knarzten die Holzbohlen. Vor dem Fenster pfiff der Wind in harten Böen. Der Ahornbaum warf sich hin und her, Schattenäste huschten über die Holzverkleidung über ihr.

Frühlingsstürme, hatte ihre Mutter immer dazu gesagt. Der mächtige Flügelschlag von neu erwachendem Leben. Und dann lachte sie, strich Jenni über den Kopf und erzählte ihr von ihrer Geburt. So wild hat der Wind geheult in der Nacht, als du geboren wurdest, meine Kleine. Und so still warst du.

Still war Jenni noch immer, seit sechzehn Jahren. In diesem Haus war es ratsam, den Mund zu halten. Seine Aufmerksamkeit nicht zu wecken, besonders nicht seine Wut.

Vorgestern hatte sie Geburtstag gehabt. Es war anfangs der perfekte Tag gewesen, mit blendender Morgensonne, die sie die Augen zukneifen ließ, und einem klaren Himmel wie ein aufgespannter Baldachin. Wenn sie aus dem Dachfenster schaute, konnte sie hinter dem Bahndamm und den Weizenfeldern den Horizont sehen. An manchen Tagen, wenn der Zug so laut vorbeirauschte, dass das ganze Haus vibrierte, riss sie das Fenster auf und schrie gegen das Brausen an, schrie, bis das Betongewicht auf ihrer Brust leichter wurde. Doch an diesem Geburtstag hatte sie nur die Weite tief in sich hineingesogen und genossen, wie die Sonne ihr Gesicht wärmte. Sie hatte sich wieder umgedreht und auf dem Nachtkästchen ihren Lieblingsnagellack entdeckt, L’Oréal Rosé, mit einer schiefen Papierschleife, auf die Ales gute gekritzelt war. Bestimmt hatte Benni den Nagellack geklaut. Trotzdem ließ das Geschenk ihr Herz hüpfen. Sie frühstückten zu zweit, und er malte ihr kichernd die Nägel an.

Als sie danach ihr Fahrrad durch die Einfahrt geschoben hatte, am Lastwagen mit den platten Reifen vorbei, war alles still geblieben, und auf dem Weg zur Schule blühten die wilden Tulpen. Für ein paar Stunden hatte sie das Gefühl, dass doch alles aushaltbar war, irgendwie.

Aber als sie am Nachmittag zurückkam, war Benni nicht zu sehen gewesen. Schwere Regenwolken hingen über dem Haus, und er werkelte an seinem LKW herum. Er begrüßte sie mit einer Ohrfeige, weil sie vergessen hatte, auf dem Heimweg die Einkäufe zu erledigen, und überhaupt, wo steckte der verdammte Bengel, der sollte doch den Wagenheber festhalten. Noch eine Ohrfeige landete in ihrem Gesicht, diesmal für ihren Bruder. Kein Wort sagte er zu ihrem Geburtstag. Und ihre Mutter war nicht da, um sie zu umarmen und ihr die Geschichte von den Frühlingsstürmen ins Ohr zu flüstern. Schon seit sieben Jahren nicht mehr.

Als sie in ihre Dachkammer stieg, polterte bei jedem Schritt wieder schwer der Betonklumpen in ihrer Brust. Am liebsten hätte sie das Fenster geöffnet und hinausgeschrien. Doch weil kein Zug fuhr, der ihre Schreie überdeckt hätte, rollte sie sich im Bett zusammen und bohrte die Finger in die vergilbte Zudecke. Lauschte, ob er ihr hinterherkam. Es gab schlimmere Dinge als Ohrfeigen, Monster, die hinter seinem Grinsen lauerten, wenn Benni nicht da war. Eine Finsternis, die sie verschluckte, würde sie jemals darüber nachdenken.

Im Haus blieb es still, auf dem Dach allerdings begann es zu prasseln. Bald tropfte der Regen mit einem satten Platschen in den Eimer unter der Schräge.

Von einem Tag auf den anderen war ihre Mutter verschwunden, ohne ein Wort. Weil Worte ihren Verrat nicht entschuldigen konnten. Ein Nachbar hatte sie gesehen, wie sie am Bahnhof in die Regionalbahn stieg, eine elegante Reisende mit Hut, Mantel und schwerem Koffer, wie in einem Film. Benni war noch wochenlang bei jedem Rattern aus dem Haus gerannt und hatte zum Bahndamm hochgestarrt, weil er hoffte, sie würde vorbeifahren. Als brausten die Züge und ihre Passagiere in einem endlosen Kreis um ihr Haus, als würde niemals jemand aussteigen oder verloren gehen. Seither war keiner von ihnen mehr Zug gefahren.

Nach Mutters Verschwinden war alles viel schlimmer geworden. Jenni wehrte sich nie, hielt es aus, goss ihr Herz in Beton, damit es nicht zersprang, auch für Benni.

Ihre Mutter war mutig gewesen, wunderhübsch und gemein.

Aber Jenni nicht. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie es nur noch zwei Jahre aushalten musste. An ihrem achtzehnten Geburtstag wäre sie frei. Wenn sie gehen wollte, durfte er sie nicht mehr aufhalten.

Allerdings dauerten zwei Jahre ganz schön lange. Sie ballte die Fäuste und zählte die Tropfen, die in den Eimer platschten. Dreißig, hundert, zweihundert. Und plötzlich spürte sie, dass sie das nicht mehr aushalten konnte. Nicht siebenhundertdreißig Tage mit diesem Betonklumpen in der Brust. Sie fuhr aus dem Bett hoch, schnappte sich ihren Wanderrucksack und stopfte ihre Lieblingsjeans und zwei Pullis hinein.

War das schon Mut? Oder nur Verzweiflung?

Am nächsten Tag schwänzte sie die erste Schulstunde und radelte zum Bahnhof, um die Zugverbindungen nachzuschauen. Um sich anzuspornen, kaufte sie auch gleich ein Ticket. Für heute Nacht, dreiundzwanzig Uhr dreißig. Der letzte Regionalexpress in die Stadt. Am Nachmittag räumte sie ein letztes Mal auf und packte den Rucksack sorgfältiger, mit Regenjacke, Unterwäsche und Zahnpasta.

Jetzt lag sie hier, angespannt wie ein Tier auf der Flucht. In eineinhalb Stunden würde der Zug gehen. Sie musste ihn erwischen! Einen weiteren Fluchtversuch würde sie sich nicht trauen. Sie hatte jetzt schon so viel Angst. Ihr Plan war Murks, irgendwas würde bestimmt schiefgehen.

Sie lauschte. Das alte Haus war so hellhörig, dass sie jede einzelne Holzbohle im Wohnzimmer knarren hörte. Er wanderte dort unten murmelnd durch seine Schwaden von Zigarettenrauch.

Früher war er tags und nachts Touren gefahren mit seinem Lastwagen – für die Kinder eine Atempause. Doch erst ging angeblich der Wagen kaputt, dann kam raus, dass sie ihm bei der Spedition gekündigt hatten. Betriebsschließung.

Jenni hörte sie im Sportverein über ihn reden. Er hatte einen guten Ruf in der Kleinstadt. Der Fußballtrainer, der lustige Kegelkumpel, der Vetter vom Bürgermeister. Und auch noch alleinerziehender Vater.

Niemanden interessierte es, wie unerträglich es für sie und Benni zu Hause geworden war. Wenn er nur endlich Ruhe gäbe!

Auf der anderen Seite der Kammer stieß ihr Bruder ein Wimmern aus, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie hielt den Atem an, war ganz still.

Benni. Er hatte den gleichen leichten Schlaf wie die Rehkitze, die sie im Sommer auf den Weizenfeldern hinter den Gleisen aufstöberten. Die erst hochschreckten und dann erstarrten, den Kopf zwischen den Vorderbeinen ausgestreckt. Als ob sie hofften, unsichtbar zu sein.

Wenn Benni aufwachte, dann auch immer mit aufgerissenen Augen und einem Japsen, als wäre er noch fünf und nicht zwölf. Er sah sogar aus wie ein Rehkitz, mit den braunen Augen und dem dunkelblonden Wuschelhaar, der schmalen, hochgeschossenen Gestalt. Er hielt zwar nicht mehr nach Mutter Ausschau, aber jeden Abend streute er Futter an der Hecke vor dem Bahndamm aus, für die Eichhörnchen, Rotkehlchen und Meisen. Und wenn sie in der Dämmerung beide im Bett lagen, das Dachfenster gekippt, erkannte er die einzelnen Zugtypen am Rattern und die Vögel am Gesang.

Heute Nacht durfte er auf gar keinen Fall aufwachen.

Ihn zurückzulassen war das Allerschlimmste am ganzen Plan. Aber wenn sie ihn mitnähme, würde die Polizei sie erwischen, so wie damals. Zwei Beamte hatten sie im Streifenwagen nach Hause gefahren und danach im Vorgarten ein Bierchen mit ihrem Vater getrunken.

Seinen Bälgern würde er nach so einer Aktion die Leviten lesen, hatte der eine gesagt und ihrem Vater zugeprostet. Mit einem Augenzwinkern. Am nächsten Morgen hatten die Blutergüsse auf Jennis ganzem Rücken gebrannt, während sie auf dem Stuhl im Büro der Schulpädagogin saß und sich noch eine Strafpredigt anhörte.

Deshalb musste sie allein verschwinden, so wie Mutter. Aber immerhin hatte sie Benni einen Brief mit Abschiedsworten in der Schultasche versteckt. Außerdem würde er drei Snickers in seiner Trainingsjacke finden und noch mal drei in der Scheune, bei den mit Kies gefüllten Wasserflaschen, die er als Gewichte benutzte. Männer fürchten sich auch, nur anders. Das hatte Mutter ihr einmal erklärt, während sie ihre Augenbraue mit einer Tiefkühlpackung Erbsen kühlte. Wenn sie sich bedroht fühlen, müssen sie noch einen draufgeben. Zeig ihnen also nie, dass du stark bist.

Jenni hatte sich nie stark gefühlt, und trotzdem hatte ihr Vater immer noch einen draufgegeben. Benni war ein Junge, außer Prügel hatte er nichts zu befürchten. Er würde weiter heimlich trainieren, weil er es ihr versprochen hatte. Das war das Einzige, was sie für ihn tun konnte: Er sollte stark werden, so wie Russell Crowe im Actionfilm Gladiator, den sie letztes Jahr zusammen im Kino gesehen hatten.

Irgendwann würde sich Benni wie der Gladiator nichts mehr gefallen lassen, sondern zurückschlagen. Dann würde er der Stärkste in einem Männerhaushalt sein. Die Vorstellung tröstete sie und ließ sie gleichzeitig schaudern.

Erst jetzt bemerkte sie, dass es unten ruhiger geworden war. Kein Herumwandern mehr. Nur einmal quietschte noch die Tür zu seinem Schlafzimmer, dann war es still.

Ihr Herz machte einen einzelnen, harten Schlag, der ihr bis zu den Ohren klang.

Sie schob die Bettdecke zur Seite und rollte sich von der Matratze, tastete mit den Füßen vorsichtig nach dem Boden. Die Turnschuhe trug sie seit Stunden, darin klebten ihre Zehen heiß und verschwitzt. Sie zog den Rucksack unter dem Bett hervor und drückte die Tür zum Treppenhaus auf.

Zu Benni schaute sie nicht. Manchmal reichte ein Blick, um ihn zu wecken.

Zitternd holte sie Luft. Draußen schob sie die Tür hinter sich zu, setzte den Rucksack auf und zurrte die Träger ganz fest. Die Treppe war die größte Hürde. Es war stockdunkel, und die abgetretenen Stufen knarzten noch lauter als die Bohlen im Wohnzimmer.

Doch Jenni hatte Übung darin, sich lautlos zu bewegen. Die erste Stufe. Quälend langsam schob sie den Fuß vor. Auf der zweiten und dritten Stufe balancierte sie ganz außen, dort, wo das Holz an der Wand verschraubt war. Ihre Schultern krampften unter dem Gewicht des Rucksacks. Die vierte Stufe ächzte. Mit hastigen Sprüngen setzte sie über die nächsten drei hinweg.

Jäh stieß das Holz unter ihren Füßen ein Knurren aus. Als warne das Haus sie, noch weiter zu gehen.

Sie schob sich die Faust in den Mund. Blut rauschte in ihren Ohren. Noch konnte sie den ganzen verrückten Plan abblasen. Andererseits war da das Ticket in ihrer Tasche. Der Zug würde nicht auf sie warten.

Zögerlich setzte sie weiter einen Fuß vor den anderen. Endlich traten ihre Turnschuhe auf Fliesen. Im Durchgang zum Flur mischte sich ein diffuses Schimmern ins Dunkel, genug, um Schemen zu erahnen.

Kein Mucks jetzt! Die Tür zu seinem Schlafzimmer befand sich gleich vor ihr. Ein schwarzer Spalt zwischen Wand und Tür, dahinter lauerte mehr Finsternis, als sie ertragen konnte. Mit abgewandtem Gesicht tastete Jenni sich in den Flur. Dort blickte sie hoch zum Zwielicht, das durch das schmale Fenster über der Haustür auf sie herab schien wie ein Versprechen. Sie machte einen großen Schritt – und stolperte über Bennis Stiefel.

Die hatte sie doch aufgeräumt! Sie taumelte nach vorn, versuchte, ihren Sturz abzufangen. War Benni noch mal draußen gewesen, um die Tiere zu füttern?

Ihre Schulter prallte gegen das Schuhregal. Sofort gerieten die Bretter ins Wanken. Schuhe und andere Gegenstände rutschten ihr entgegen. Oh nein! Sie versuchte noch, die Porzellanschale zu fangen, in der sie die Schlüssel von allen aufbewahrten – und verfehlte sie. Mit einem hellen Klirren zerschellte das Porzellan auf den Fliesen.

Ein Licht ging an. Noch während sie zur Haustür hechtete, wurde die Schlafzimmertür aufgerissen.

»Was schleichst du hier herum?« Er packte sie und warf sie zu Boden.

Scherben bohrten sich in ihre Handflächen. Ihr Rucksack klatschte gegen die Fliesen. Tabakatem schlug ihr ins Gesicht, der Dampf von Wodka, seine Hand ohrfeigte sie links und rechts.

»Wolltest du abhauen? Zu einem Kerl?«

Ihre Tränen verwischten sein Gesicht zu einem grauen Schemen. Fast mühelos wuchtete er sie in die Höhe. So stark war er. Warum hatte sie nur geglaubt, dass sie vor ihm fliehen könnte?

»Du kannst was erleben!«

Keuchend und schwankend trug er sie durch den Flur. Nicht ins Schlafzimmer, sondern zur Küche. Sie hatte die Augen zusammengekniffen. Gleich würde er auch hier das Licht anmachen, die grelle Neonröhre, die er über den Herd montiert hatte, und sich über sie beugen.

Stattdessen zögerte er. Vielleicht war er müde und betrunken. Vielleicht schaute er nach oben zur Zimmerdecke, dachte daran, dass Benni zu Hause war. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen. Alles, was sie sagen konnte, würde falsch sein, das wusste sie.

Er riss die Tür zur Vorratskammer auf und schubste sie hinein. Noch während sie fiel, trat sein Fuß in ihren Bauch. Der Schmerz raubte ihr jede Luft. Stöhnend sackte sie zusammen, würgte, schluchzte, während er die Tür zuwarf und den Schlüssel herumdrehte.

»Miststück!« Ein letztes Donnern gegen die Tür, dann wurde es still.

Hier in dem fensterlosen Raum roch es nach Schimmel und Mäusekacke. Obwohl sie auch hier putzte, jeden zweiten Tag. Der Geruch ließ sie noch mehr würgen. Sie beugte sich vor, hielt sich dabei das Haar aus dem Gesicht. Doch irgendwann kam nichts mehr aus ihr heraus außer trockenem Schluchzen. Ihr Hals brannte genauso wie ihre Handflächen, der Magen war ein einziger dumpfer Schmerz. Noch mehr schmerzte sie, wie ungerecht alles gelaufen war.

Sie war verloren. Morgen würde er sie grün und blau schlagen, und wenn er sie damit nicht umbrachte, würde er sie niemals mehr aus dem Haus lassen.

Wie als Bestätigung schwoll draußen ein Brausen an, als drückte eine Windböe gegen das Haus. Eine unerträgliche Minute lang vibrierte die Wand hinter ihr, dann verebbte das Geräusch wieder. Der Zug war ohne sie gefahren.

In der stillen Leere, die er zurückließ, machte ihr Schmerz etwas anderem Platz. Sie ballte die Fäuste. Die ganze Zeit hatte sie an ihrem Plan gezweifelt und an sich selbst. Dabei war es nicht ihre Schuld gewesen, dass sie es nicht geschafft hatte.

Bennis Stiefel waren schuld. Obwohl sie ihn so oft gebeten hatte, sie ins Fach zu stellen. Aber er hatte sich darauf verlassen, dass sie hinter ihm herräumte. Weil das ihre Aufgabe war in diesem Haus. Aus dem sie niemals entkommen würde, wenn es nach ihrem Vater ginge, nie.

Sie malte sich aus, ihn ins Gesicht zu schlagen, genauso, wie er sie geschlagen hatte. Ihre Zähne knirschten, als sie die Fäuste reckte und der Finsternis einen Kinnhaken gab. Noch einmal schlug sie zu. Sie spürte die Wut in sich wachsen. Reine schwarze Wut. Es war ein gutes Gefühl. So lange boxte sie in die Luft, bis ein Geräusch sie hochschrecken ließ. Jemand war in der Küche.

Sie kam auf die Beine, die Fäuste weiter wachsam erhoben. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür schob sich langsam, vorsichtig auf. Ihr Bruder. Sie ließ die Hände sinken. Auf Benni konnte sie nicht wütend sein.

»Verschwinde«, flüsterte sie. »Sonst erwischt er dich.«

Im dünnen Schein einer Taschenlampe wirkte sein Gesicht spitz und bleich, die Augen aufgerissen. Er hob etwas hoch und streckte es ihr hin. Ihren Rucksack.

»Du musst weg«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Jetzt.«

Sie regte sich nicht.

»Nun geh schon!« Sein Flüstern war hell, drängend. Er meinte es ernst.

Immer noch pulste das schwarze Gefühl in ihr, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Die Wut gab ihrem Bruder recht. Brüsk nahm sie den Rucksack.

Sie hatte hier nichts mehr verloren. Aber wo sollte sie hin?

Der Zug war fort, die Gleise still.

Auf der anderen Seite des Hauses allerdings, nur ein paar Hundert Meter entfernt, verlief das dicke graue Band der Hauptstraße. Und zwei Kilometer weiter befand sich eine Tankstelle, kurz vor der Auffahrt zur Autobahn. Dort stoppten die Lastwagenfahrer die ganze Nacht über, tankten, pinkelten, fuhren weiter. Solche wie er, und andere. Ab und zu nahmen sie Anhalterinnen mit.

Nur Schlampen trampen, verkündete er immer.

Ihre Mutter hatte einmal gesagt: Autostoppen ist wie Russisch Roulette. Es kann erst mal gut gehen – aber irgendwann erwischt dich der Falsche.

Dabei hatte sie nicht Jenni angesehen, sondern ihren Vater.

War Trampen gefährlicher, als hierzubleiben? Nein.

Jenni straffte die Schultern. Sie schwang den Rucksack auf ihren Rücken und sah ihren Bruder an. Sein Blick huschte hin und her wie der eines Vögelchens. Vielleicht wollte er doch nicht, dass sie ging. Aber sie hatte sich entschieden.

»Ich hole dich auch hier raus.« Ihr Flüstern war heiser, ihre Zunge fühlte sich an wie im Gaumen festgeklebt. »Versprochen. Spätestens, wenn ich achtzehn bin.«

Er nickte zögerlich, als ob er ihr nicht glaubte, dann machte er einen Schritt zurück und schniefte. Sie streckte die Hand nach ihm aus und ließ sie wieder sinken.

»Ich versprech es dir«, flüsterte sie noch einmal und schob sich an ihm vorbei Richtung Flur.

Kurz wurde ihr schwindelig, als sie den schiefen Spalt seiner Schlafzimmertür gähnen sah, die Finsternis dahinter. Dann stahl sie sich daran vorbei und öffnete die Haustür. Der Lastwagen in der Einfahrt war ein schwarzer Koloss, doch dahinter wogten die Bäume vor dem Nachthimmel.

Sie holte tief Luft. Der Wind warf ihr Regentropfen entgegen, eine kalte und feuchte Umarmung. Ohne sich noch einmal umzusehen, trat sie hinaus und verschwand im Dunkel.

#124 Malu M. – Verbrechen Berlin: Der Brandenburger Anhaltermörder, Teil 2

** Ihr hört den Podcast Verbrechen Berlin. Haltet die Augen offen. Denn das Grauen lauert überall. **

»Als die LKW-Fahrerin Anna G. an diesem Herbstabend die vier Treppenstufen zum Shop am Rastplatz Bernau hinunterstieg, ahnte sie nicht, welch schrecklicher Anblick sie dort erwartete. Das Erste, was sie hinter den Mülltonnen sah, war ein blutüberströmter Mädchenarm …«

Nina

»Buh!«, brüllt mir jemand so plötzlich ins Ohr, dass ich mit einem Schrei in die Höhe fahre.

Hinter Malus Stimme und dem Hämmern meines Pulses höre ich sie lachen. Ich drehe mich um. Jo, dieses freche Gör, lacht mich über die Sofalehne hinweg einfach aus.

»Irgendwann bringst du mich damit ins Grab«, japse ich und schiebe den Kopfhörer in den Nacken. Dann klicke ich aufs Handydisplay und stoppe den Podcast.

Auf dem Fensterbrett hebt Carlo den Kopf und starrt zu uns herüber. Sonst warnt mich der Kater immer, wenn meine Tochter sich anschleicht, um mich zu erschrecken. Der kleine Verräter gähnt unbeeindruckt, rollt seine rosa Zunge aus und beginnt, sein schwarzes Fell zu putzen.

»Ach was«, sagt Jo mitleidslos. »Selbst schuld, wenn du im Dunkeln sitzt und dir diese gruseligen True-Crime-Fälle anhörst. Warum bist du überhaupt schon zu Hause?«

Ich könnte erzählen, dass Frau von Arlberg den Putztermin abgesagt hat, weil sie mit einem ihrer Hunde zum Tierarzt musste. Aber ich keuche immer noch. Die Podcast-Folge ist wirklich gruselig, und Jo hat mich erschreckt. Ich will aber nicht, dass sie das merkt.

Natürlich merkt sie es trotzdem und schnaubt. »Mom, du zitterst ja. Diese Malu M. macht dich völlig kirre.«

»Du machst mich kirre«, stelle ich richtig und lasse mich zurück aufs Sofa sinken.

Doch sie lässt sich nicht beirren. Mit Schwung setzt sie über die Lehne und landet neben mir. »Camila hat sich gestern am Bahnsteig am Geländer festgehalten«, sagte sie. »Genau wie du.«

»Aus gutem Grund.« Ein weiterer Schauer durchrieselt mich, als ich an die Podcast-Folge von letztem Monat zurückdenke. »Der Ringbahn-Schubser wurde nie gefasst. Der ist immer noch da draußen.«

»Na und?« Sie starrt mich an. Selbst im Zwielicht leuchten ihr hellblonder Bob, ihr roter Pulli und ihre unglaublich langen Beine, die in gelben Leggings wippen – und die Empörung ihrer ganzen siebzehn Lebensjahre. »Der letzte Mord ist acht Jahre her. Seitdem sind jede Woche Millionen Leute S-Bahn gefahren, ohne dass was passiert ist. Aber kaum wärmt Malu M. diese alten Fälle auf, drehen alle wieder durch. So wie damals.«

»Du kannst dich erinnern?«, frage ich überrascht.

»Klar.« Sie zuckt mit den Schultern. »Tante Elli und du, ihr habt ständig über den Schubser geredet. Du hattest Angst, aber Elli hat gesagt, ihr solltet jetzt erst recht Bahn fahren. Weil ihr ihn dann vielleicht auf frischer Tat ertappt.«

»Das klingt ganz nach ihr«, murmele ich. Ein Stich fährt durch mein Herz. Manche Erinnerungen werden nicht stumpfer, sondern härter, der stechende Schmerz einer Klinge, die der Zahn der Zeit eher geschärft hat, statt sie zu brechen.

Wie der Verlust meiner Schwester. Ihr Lachen, ihre Sprüche, jeden Abend auf diesem Sofa. Ihr ungebrochenes Interesse für alles Böse, das auf Berlins Straßen passierte, das zur Besessenheit wurde, als sie diese Wohnung kaum mehr verlassen konnte.

»Ich versteh nicht, warum du dir diesen Mist auch heute noch reinziehst«, sagt Jo. »Hör lieber mal etwas Sinnvolles.«

Ich atme tief durch, schiebe meine Erinnerungen beiseite. »Meinst du den Podcast, den ihr beim Schulprojekt gemacht habt? Die besten Zahlenrätsel?«

»Mythen der Mathematik«, sagt sie ungnädig. »Ganz genau.«

Ich muss grinsen. Weil Jo so ist, wie sie ist. Sie überhört jede Ironie und bevorzugt die Klarheit der Naturwissenschaften. Zahlen, Fakten. Ordnung im Chaos.

Jetzt knipst sie die Leselampe an, um mit gerunzelter Stirn die Chips vom Sofa zu pulen, die mir vorhin beim gebannten Lauschen aus der Schüssel gefallen sind.

»Lass das«, protestiere ich. »Ich mach das gleich.«

»Von wegen! Carlo frisst sie und bekommt wieder Durchfall.«

»Hast ja recht.« Ich werfe einen reuevollen Blick zum Kater hinüber. »Ich glaube, wir brauchen dringend eine Putzfrau.«

Jo stöhnt. »Nicht lustig, Mom.«

Doch als ich die Arme nach ihr ausstrecke, gibt sie nach und schmiegt sich an mich. Ich vergrabe die Nase in ihrem Haar und suche unter alldem Teenagerunmut nach einem Rest Babyduft. Als ich ihn finde, sauge ich ihn tief in mich ein.

»Nicht so fest«, knurrt sie und hebt die Hand, um die Chips, die sie eingesammelt hat, nicht zu verlieren.

Mein Kind. Sie ist nun schon fast die Hälfte meines Lebens bei mir – und das Beste, das ich jemals zustande bekommen werde.

Das klingt bitterer, als ich es meine. Meine Aufgabe ist es, uns beide zu versorgen. Diese zerbrechliche Hülle zu erhalten, zu der unser Alltag nach Ellis Tod vor sechs Jahren geworden ist. Unsere Wohnung, die ein Zimmer zu viel hat, unsere Miete, die für mein Einkommen eigentlich zu hoch ist. Jos Wohlergehen, das nun allein auf meinen Schultern lastet.

Das alles wiegt schwer genug. Ich kann zufrieden sein, dass ich es Monat für Monat schaffe.

Mein Handy piepst, und ich weiß, dass ich mich gerade selbst belogen habe. Mein Herz hämmert schon wieder fast so heftig wie vorhin, während ich mich aufrichte und einen Blick aufs Display werfe.

Nur eine Spammail. Schade.

Mein Herz schlägt weiter, doch jetzt in einem harten und ernüchterten Ton. Seit gestern geht das schon so – seit ich die Bewerbung abgeschickt habe. Ich habe mich aus der Deckung gewagt und fühle mich seither so entblößt, als hätte ich ein Nacktfoto von mir verschickt. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine Antwort bekomme, verschwindend gering.

Vielleicht wäre es sogar besser, keine Antwort zu bekommen. Ich bin nicht gut darin, Chancen zu nutzen.

Jo hat dagegen sofort genutzt, dass ich abgelenkt bin, um aus meiner Umarmung zu entwischen und sich ihr eigenes Handy zu schnappen.

Ich stecke mein Handy ein, empfange die Krümel aus Jos Hand und mache mich auf in Richtung Küche. Dort ist es eng, vollgestellt, gemütlich. Ich klappe den Mülleimer auf und werfe die Chipskrümel hinein.

»Soll ich dir den Auflauf aufwärmen?«, rufe ich. »Salat ist auch noch im Kühlschrank.«

»Wir haben nach dem Training gegessen«, ruft Jo zurück. »Camila kommt auch gleich. Sie sucht noch einen Platz für ihr Fahrrad, damit es nicht wieder geklaut wird.«

»Alles klar!« Ich unterdrücke meine Enttäuschung. Sosehr ich Jos Freundin mag, ich hätte meine Tochter ab und zu gerne auch mal für mich allein.

Carlo ist mir gefolgt, springt auf einen Stuhl und maunzt mich auffordernd an. Hinter ihm am Fenster hat die Nacht Einzug gehalten. Und zwar mit voller dunkelgrauer Pracht, weil die Straßenlaterne vor unserem Haus seit Monaten kaputt ist. Wedding eben. Ich sollte die Rollläden unserer Erdgeschosswohnung herunterlassen, damit die Passanten nicht zu uns hereinschauen können. Stattdessen ziehe ich das Handy heraus und blicke erneut auf das Display. Das Pausenzeichen des Podcasts blinkt wie eine Mahnung.

Als es klingelt, springt Carlo lautlos in den Flur. Verspätet folge ich ihm.

Die Wohnungstür steht schon offen. Camilas schwarze Locken mischen sich unter Jos blonden, glatten Bob. Darunter tragen die beiden Mädchen die identischen roten Kapuzenpullis mit dem Schriftzug FC Victoria.

Carlo scharwenzelt um ihre Beine herum. Er liebt Camila – so wie wir alle. Aber Jo liebt Camila am meisten. Die beiden Mädchen sind seit einem Jahr unzertrennlich. Sie sind im gleichen Abi-Jahrgang und in der gleichen Fußballmannschaft, und inzwischen wohnt Camila quasi bei uns.

»Nina!« Sie löst sich von Jo und stürmt auf mich zu, als wolle sie mich umwerfen. Stattdessen umarmt sie mich. »Wie geht’s dir?«

Ihr Anblick hebt meine Stimmung. Sie ist ein Wirbelwind und einen Kopf kleiner als Jo und ich, mit Augenbrauen wie Balken und einem lauten, rauen Lachen. Während Jo als Stürmerin ihre langen Torschüsse voller präziser Finesse spielt, ist Camila als Verteidigerin bei jeder Rangelei gefürchtet.

»Hast du die Folge auch schon gehört?« Sie strahlt mich an. »Wegen ihr hat es mich gerade fast vom Rad gelegt. Das arme Mädchen. Und als Malu M. gesagt hat, was der Typ mit ihren …«

»Stopp, stopp!« Panisch schiebe ich sie von mir weg. »Nicht spoilern.«

»Ups.« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund, dann lacht sie auf. »Sorry. Ich sag dir, du wirst dich gruseln. Nur der Schluss ist lahm. Wer der Mörder ist, sagt Malu erst übermorgen. In Teil drei.«

»Wenn du es wissen willst, google es doch«, sagt Jo.

Camila und ich wechseln einen mitleidigen Blick. Jo wird es niemals verstehen.

»Wir müssen jetzt lernen.« Meine Tochter nimmt Camila am Arm und versucht, sie in Richtung ihres Zimmers zu schieben. »Die letzte Matheklausur vorm Abi, weißt du noch? Die ist auch übermorgen.«

»Danke fürs Erinnern«, stöhnt Camila. »Mach’s gut, Nina, und drück mir die Daumen, dass ich das alles überlebe mit dieser Lernmaschine.« Sie stupst der ungerührten Jo in die Seite. »Vor dem Abi keine Party mehr. Sie ist eisenhart.«

»Das schaffst du schon.« Ich zwinkere ihr zu. »In ein paar Wochen seid ihr frei.«

Und bald darauf fort. Dieser Gedanke gehört allein mir, ich spreche ihn nicht aus.

»Ja.« Camila strahlt. »Erst mal Abifahrt und dann feiern, den ganzen Sommer. Vielleicht jobbe ich auch ein paar Wochen, mal sehen.«

»Ich kann dir ein paar Aufträge besorgen«, biete ich an.

Jo verengt die Augen, in ihre Augen tritt beinahe so etwas wie Feindseligkeit.

»Putzen als Ferienjob klingt gut«, sagt Camila dagegen fröhlich. »Ich hab aber null Ahnung davon. Zeigst du mir deine Tricks? Oder ich schau Anke mal unauffällig über die Schulter.«

Ich nicke. Anke ist die Putzfrau von Camilas Familie. Camilas Vater ist Brasilianer und hat einen Doktortitel in Informatik, genauso wie seine Frau. Die beiden betreiben eine Software-Firma in ihrer schicken Loftwohnung in Kreuzberg und bieten ihrer Tochter Dinge, die ich meiner niemals bieten kann.

Jo schiebt Camila in ihr Zimmer.

»Viel Erfolg beim Lernen, ihr beiden«, sage ich leise. Dann straffe ich die Schultern. »Tut nichts, was ich nicht auch tun würde.«

»Kann ich nicht versprechen.« Camila lacht. Sie packt Jo an der Kapuze und zieht sie zu sich herunter, um ihr einen Kuss zu geben.

»Wir müssen wirklich lernen«, sagt meine Tochter, aber sie grinst jetzt wieder. »Sobald du mir erklärt hast, was …«

Ruckartig schließt Camila die Tür.

Ich warte noch einen Atemzug und lausche, doch was auch immer Jo hat sagen wollen, jetzt schweigt sie. Auch Schulhefte höre ich keine rascheln, nur einmal das Knarzen von Jos Bettkante. Offenbar haben sie es doch nicht so eilig mit dem Lernen.

Ich wende mich ab. So gern ich in anderen Häusern den Geheimnissen meiner Kundschaft nachspüre, so wenig angebracht ist es hier.

Im Wohnzimmer lasse ich endlich die Rollläden herunter, knipse die Leselampe aus und setze mich im Halbdunkel wieder aufs Sofa. Carlo springt mit einem Maunzen auf meinen Schoß und sucht erfolglos nach den Chips. Ich strecke die Hand nach ihm aus.

»Wir zwei halten die Stellung, oder?«, sage ich leise und kraule ihn unterm Kinn. Zu Hause. Während die Mädchen flügge werden. Abifahrt, Studium, hinaus in die weite Welt.

Ein Leben ohne Jo kann ich mir nicht vorstellen. Nicht, nachdem ich Elli schon verloren habe. Die beiden waren immer die unverrückbaren Fixpunkte, um die ich kreiste.

Dafür habe ich meine Jobs ständig gewechselt. Ich habe gekellnert, Pizza ausgeliefert, mich in Buchhaltung versucht, alles, um uns über Wasser zu halten.

Mein Psychologiestudium war nach Jos Geburt zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Behaviorismus-Theorie nach Watson auswendig lernen, wenn das Baby zahnt und der Vermieter das Gas abgestellt hat, weil das Mietgeld für Lehrbücher und die Gesundheit meiner Schwester aufgebraucht wurde – das hätten auch Stärkere als ich nicht geschafft. Als Jo elf Monate alt war, zogen Elli und ich zusammen in diese Erdgeschosswohnung, und wenn meine Schwester es zuließ, umsorgte ich sie, so, wie ich Jo umsorgte.

Seit vier Jahren putze ich jetzt. Finanziell und geistig ist es nicht besonders profitabel, und körperlich ist es anstrengend, aber gute Putzfrauen sind begehrt, sodass ich mir meine Kundschaft mehr oder weniger aussuchen kann. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mir diese Freiheit gönne, aber ich entscheide mich immer nur für Leute, die etwas in mir ansprechen. Sei es ein Geheimnis, das ich bei ihnen spüre, eine Marotte, die ich ergründen will, oder einfach, dass ich das Gefühl habe, ihnen helfen zu können. Außerdem hatte ich immer schon ein Herz für Exzentriker.

Bei Frau von Arlberg muss ich zum Beispiel immer drei gereizte Schäferhunde aus ihrem Bett wuchten, bevor ich es neu beziehe. Inzwischen habe ich die Tiere mithilfe meiner Salamibrote so weit, dass sie selbst aussteigen. Manchmal verstecke ich die Brote auch und lasse die Hunde danach suchen, um sie beim Putzen aus dem Weg zu haben.

Elli hätte diese Anekdote geliebt. Wahrscheinlich hätte sie mir vorgeschlagen, sie zu Spürhunden auszubilden und an die Polizei zu vermieten.

Wenn ich hingegen versuche, meiner Tochter von meinem Job zu erzählen, beendet Jo das Gespräch so schnell, dass ich gar nicht zu Wort komme. Deshalb weiß sie auch nichts von meiner Bewerbung.

So eine Putzfrau bräuchte ich auch, hatte Malu M. lachend in ihrem letzten Podcast gesagt, in dem es um einen Antiquitätensammler ging, dessen Reinigungshilfe in seiner vollgestopften Wohnung über eine Leiche gestolpert war. Bei mir zu Hause müsste jemand dringend mal für Ordnung sorgen. Bevor die Nachbarn noch glauben, ich hätte auch irgendwelche Leichen gebunkert.

Bei Malus Worten war ich aufgeschreckt.

Ich könnte diese Putzfrau sein, hatte es mich durchzuckt. Und nicht nur das. Es wäre die Chance, etwas zu korrigieren in meinem Leben. Um danach endlich etwas Neues zu beginnen. Denn irgendeine Veränderung brauche ich, so schlecht, wie ich schlafe, so ruhelos, wie ich mich fühle, jetzt, da Jo kurz davorsteht, mich auch noch zu verlassen.

Aber Malu M. hat sich nicht gemeldet. Diese Idee war wohl doch eher ein Griff ins Klo gewesen. Und damit kenne ich mich schon von Berufs wegen aus.

Ich setze die Kopfhörer auf und versinke erneut in Malus neuester Episode. Düster und blutig geht es weiter, kein Wunder, dass Camila beim Fahrradfahren abgelenkt war. Geschichten um ermordete Teenagermädchen verursachen auch mir eine besondere Gänsehaut. Zum Glück ist Jo zu vernünftig, um jemals per Anhalter zu fahren.

Nachdem die Sendung zu Ende ist, lese ich auf Malus Instagram-Site die Kommentare der anderen Hörerinnen und Hörer unter ihrem Hashtag #dasgrauenlauertüberall.

@TrueCrimeAddict17: Du hast dich wieder selbst übertroffen, Malu :-)

@FoodieLeo: Malu for Kanzlerin <3

@baddoc_27532: Du Schlampe gehörst genauso eingesperrt wie ich!

@v_helmut_01: Ihnen ist leider ein Fehler unterlaufen, Frau M. Der Shop an der Bernauer Raststätte war an diesem Abend nicht geschlossen. Die Kassiererin hat nur eine halbe Stunde Pause gemacht, um sich mit ihrem Freund zu treffen. Dass der Mörder genau diese Zeit nutzte, ist ein Hinweis, dass er genau wusste, was er tat …

Ein kleiner grüne Kreis lenkt mich ab, oben rechts über Malus Profilbild. Er zeigt an, dass sie online ist. Ich bin so überrascht, dass ich fast das Handy fallen lasse.

Es gibt nur einen Grund, warum ich das sehen kann.

Aufgeregt klicke ich auf den Nachrichten-Button. Auf diesem Weg habe ich Malu M. meine Bewerbung geschickt. Und sie hat ganz offensichtlich meine Nachricht gelesen und mich als Chatpartnerin akzeptiert.

Hat sie mir schon geantwortet? Ich scrolle durch die Seite.

Ganz oben im Chatverlauf steht meine Ansprache, auf die ich nur zwei Minuten stolz war, ehe ich sie am liebsten wieder löschen wollte:

Hallo, Malu M.

Sie haben recht, gründliche und diskrete Putzfrauen sind selten. Zum Glück haben Sie eine unter Ihren Hörerinnen.

Anbei schicke ich Ihnen meine Unterlagen, außerdem den Link zu meiner Website, auf der Sie zahlreiche Referenzen finden. Melden Sie sich, wenn Sie Interesse haben. Eigentlich nehme ich keine neuen Kundinnen mehr auf, aber für Sie würde ich eine Ausnahme machen. Obwohl ich für das Entsorgen von Leichen aus Ihrer Wohnung eine Gefahrenzulage veranschlagen würde. ;-)

Viele Grüße, Nina Blume

Unter meinem Text hüpfen drei kleine hellgrüne Punkte auf und ab. Malu schreibt gerade an mich!

Nägelkauend starre ich die Punkte an, als könnten sie mir verraten, was sie eintippt. Als ihre Nachricht erscheint, stoße ich einen Schrei aus, der Carlo von meinem Schoß jagt.

Liebe Frau Blume, vielen Dank für Ihre Bewerbung. Ihre Referenzen sind bemerkenswert. Ich kann mir eine Zusammenarbeit vorstellen.

»Sie will mich einstellen«, rufe ich. »Hast du das gehört?«

Carlo maunzt und beäugt mich argwöhnisch unter dem Couchtisch hervor.

Immer noch hüpfen die drei Punkte. Und schon erscheint ihre nächste Nachricht.

Frau Blume, ich sehe, Sie sind gerade online. Können Sie das bestätigen?

Hallo, Frau M., tippe ich. Ja, ich bin gerade online. Ich freue mich sehr über Ihr Interesse!

Ihre Antwort folgt prompt:

Das ist schön. Sind Sie zu Hause und haben ein paar Minuten Zeit? Sie können sich sicher vorstellen, dass ich Vorsichtsmaßnahmen treffen muss. Mir schreiben viele Leute, und die Online-Welt birgt tiefe Abgründe.

Tiefe Abgründe? Ich runzele die Stirn. Ich hätte es nicht so drastisch formuliert, aber ich bin auch nicht berühmt.

Ja, ich bin zu Hause, schreibe ich. Was kann ich tun?

Nehmen Sie bitte ein kurzes Video von sich auf, antwortet sie so schnell, als hätte sie den Text schon vorbereitet. Nur ein paar Worte über sich, an einer Stelle in Ihrer Wohnung, die zeigt, wer Sie sind. Das soll noch kein Bewerbungsgespräch sein, sondern mir nur beweisen, dass Sie eine echte Person sind, und die, für die Sie sich ausgeben. Schicken Sie es ohne Zeitverzug ab. So weiß ich, dass es kein Fake ist.

»Ach du meine Güte.« Leicht überfordert lasse ich meinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen, die bunte Mustertapete und die leidenden Zimmerpflanzen, die Fotogalerie über dem Fernseher. Jo als Baby, Jo mit Zahnlückengrinsen, ein Selfie von Elli. Sie zieht eine Schnute, ihre Augen blitzen. Im Hintergrund ist die bunte Lehne ihres Rollstuhls zu sehen, die Jo damals mit Stickern vollgeklebt hatte.

Das aktuellste Foto an der Wand wurde ein Jahr später aufgenommen: Jo und ich am Strand, nur noch zu zweit. Sie mit vom Salzwasser kringeligen Haaren, ich mit einer Sonnenbrille, die meine Augenringe versteckte. Das war unser erster und einziger Fernurlaub, zehn Tage Mallorca. Ich hatte gehofft, die Auszeit würde uns von unserer Traurigkeit ablenken.

Okay, tippe ich und frage mich, warum Malu M. und ich nicht einfach telefonieren können. Bevor ich mich filme, klicke ich noch einmal auf ihr Bild. Es ist in düsterem Schwarz-Weiß gehalten und zeigt das halb abgewandte Profil einer Frau. Der überwiegende Teil ihres Gesichts liegt im Schatten verborgen. Deutlich zu erkennen sind nur ihre langen Haare, glatt und blond wie meine.

Sie könnte ich sein. Oder jede andere blonde Frau.

Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Woher weiß ich, dass Malu M. überhaupt echt ist? Ich kann ihr genauso wenig trauen wie sie mir.

Doch dann schüttle ich den Gedanken ab. Sie muss argwöhnisch sein, sie ist berühmt. Ich dagegen bin nur eine Putzfrau, ich habe nichts zu befürchten.

Ich bürste mir einmal kurz über die Haare und streiche die letzten Chipsbrösel von meinem Shirt. In meinem Job bin ich niemals schick angezogen, und ich soll doch authentisch wirken. Ellis Bild nehme ich ab, dann stelle ich mich vor die Fotowand.

Kurz entschlossen spreche ich ein paar Sätze in die Kamera, lächele so kompetent, wie ich kann, und zeige dann noch auf das Urlaubsbild von mir und Jo.

Als ich die Aufnahme stoppe, ist Malus Kreis immer noch grün. Sie ist online und wartet, und mein Gefühl sagt mir, dass mit jeder Minute, die ich mir Zeit lasse, meine Glaubwürdigkeit für sie schwindet. Ohne mir das Video noch mal anzuschauen, schicke ich es ab.

Fünf Minuten später vereinbaren wir einen Termin für die Probearbeit.

Jenni

Sie hastete über das Kopfsteinpflaster. Kälte kroch durch ihre zu dünne Jacke, unter der sie zwei Pullis trug. Vom Bahnhof hörte sie das Rattern der Züge, die Straße glänzte nass in der Abenddämmerung.

Die Häuserfassaden rund um den Platz wirkten im Nebel verwischt wie verwässerte Aquarellbilder. Das erinnerte sie an den Kunstunterricht. Schule. Zuhause. Die Vorstellung davon schien ihr inzwischen genauso verschwommen.

Fünf Monate war es her, dass sie ausgerissen war. Ständig wollte sie aufgeben. Aber dann fiel ihr ein, was sie erwarten würde, wenn sie heimkehrte. Deshalb machte sie weiter. Abhängen, Geld beschaffen, essen, verstecken, schlafen. Noch fünfhundertsechzig Tage, eine Ewigkeit. Die Zeit auf der Straße war zäh wie Kaugummi. Ohne Schule waren Uhrzeiten oder Wochentage völlig egal, auch der Ort war egal.

Berlin, Leipzig, Dresden, jetzt seit ein paar Wochen wieder Berlin. Am Anfang war sie zweimal ausgeraubt worden, seither vertraute sie niemandem mehr. Sie hielt sich fern von den öffentlichen Sleep-Ins, den Jugendcliquen und neugierigen Sozialarbeiterinnen, war ein Satellit, der die Welt umkreiste, auf Abstand. Nur der Betonklumpen in ihrer Brust zog sie manchmal nach unten, als wolle er, dass sie dort kollidierten, er wog schwerer denn je.

Auch Satelliten brauchen etwas zu essen.

Sie eilte an Taxis vorbei in den Bahnhof. Ohne aufzuschauen, passierte sie eine Gruppe von Skate-Punks, ein Mädchen und ein paar Jungs. Seit einiger Zeit saßen sie hier jeden Abend mit ihren Hunden und Pappbechern. Das Mädchen hatte lila Haare und rief Jenni irgendwas nach. Auch das Bellen der Hunde folgte ihr in den gekachelten Tunnel unter den Gleisen.

Sie musste sich durch einen Strom von Passanten schlagen, Mäntel, Koffer und Regenschirme, als paddele sie flussaufwärts.

Dann sah sie die Frau und verlangsamte ihr Tempo.

Sie stand neben der Rolltreppe zu einem der Ferngleise. Knittrige Gesichtszüge, Kamelhaarmantel, teurer Rollkoffer. Während sie in ihrer Handtasche wühlte, rutschte ihr die Brille über die Nase.

Jenni räusperte sich. »Entschuldigung!«

Die Frau schaute hoch, ihr Gesichtsausdruck abweisend.

»Bitte, können Sie mir helfen?«, murmelte Jenni. »Meine Tasche ist mir gestohlen worden. In der U-Bahn.«

Sie sprach so leise, dass die Ältere sich instinktiv vorbeugte. Anfangs war Jenni selbst überrascht gewesen, wie leicht es ihr fiel. Sie musste sich einfach vorstellen, dass ihre Geschichten echt waren, dann fühlten sie sich gar nicht wie Lügen an. »Ich muss mir ein Zugticket kaufen.« Sie schluchzte. »Ich brauche sieben Euro, damit ich nach Hause fahren kann. Zu meinen Eltern. Bitte.«

Noch einen Schritt vor. Die Frau sollte nicht die abgetragenen Schuhe bemerken, die verschlissenen Jackenärmel. Sie sollte in Jennis große flehende Augen schauen und die Verzweiflung darin lesen.

»Ach du meine Güte«, sagte die Frau. »Willst du deine Eltern anrufen?« Schon kramte sie ein Motorola-Klapphandy hervor, das neueste Modell.

Jenni schniefte. »Danke, aber der Zug nach Neustadt geht schon in fünf Minuten. Wenn ich ihn erreiche, dann bin ich rechtzeitig zu Hause. Ich hab so gut aufgepasst«, jammerte sie. »Und trotzdem war meine Tasche weg. Mein Pa wird mich schimpfen.«

»Du kannst doch nichts dafür.« Die Frau tätschelte ihr den Arm. »Das sind die Obdachlosen. Sie stehlen wie die Elstern, nimm dich das nächste Mal vor denen in Acht.«

»Mach ich.« Jenni weinte. Hinter dem Rücken presste sie die Fingernägel in ihre Handflächen, Beton in ihrer Brust.

»Schsch.« Die Frau drückte ihr einen Zwanziger in die Hand. »Schon gut. Spute dich! Erwische deinen Zug.«

Und Jenni rannte davon, rannte, bis ihr Puls pumpte und der Druck in ihrem Inneren leichter wurde. Zwanzig Euro! So viel Glück hatte sie selten.

Im Bahnhofsgebäude kaufte sie sich für eins fünfzig ein Käsebrötchen und setzte sich auf eine Bank. Neben ihr standen zwei Frauen auf, Reisetaschen, abschätzige Blicke, ein fast voller Kaffeebecher blieb zurück. Jenni wischte mit dem Ärmel säuberlich über den Rand des Bechers und trank ihn leer. Dann legte sie ein zerfleddertes Buch neben sich und packte das Brötchen aus.

»Haste mal ’ne Mark?« Das Skatemädchen vom Eingang. Sie hatte ihr Board unter den Arm geklemmt, eine Basecap auf dem lila Haar und starrte Jenni unverhohlen an.

Jenni wandte sich ab. »Nein.«

»Wie schade.« Das Mädchen wischte Jennis Buch von der Bank, sodass es auf den Boden klatschte, und setzte sich neben sie. »Aber wenigstens so ’nen neumodischen Euro hast du doch für mich?«

»Geh weg.«

Die Skaterin ließ als Antwort eine Kaugummiblase platzen und streckte die langen Beine aus. Oben zerfetzte Jeans, unten dreckige Chucks, mit denen sie ihr Board auf den Bahnhofsfliesen auf und ab rattern ließ. Ihre Augen hatten eine undefinierbare schlammdunkle Farbe. Vielleicht war sie hübsch, unter der rauen Haut, dem spöttischen Grinsen.

»Ich hab dich beobachtet«, sagte sie. »Die Fahrkartennummer. Die Frau hat dir einen Schein zugesteckt.«

Bestürzung stieg in Jenni hoch wie Übelkeit. Bevor sie aufspringen konnte, packte das Mädchen sie am Arm.

»Nicht so schnell. Ich will nur quatschen.«

»Ich aber nicht.« Jenni warf einen Blick um sich. Passanten trieben vorbei. Noch schaute niemand in ihre Richtung. Sie durfte nicht auffallen. Auffallen bedeutete Sicherheitsdienst, Polizei, Jugendamt.

»Lass mich, bitte«, schluchzte sie leise. »Das Geld ist für meinen kleinen Bruder, er braucht seine Medizin. Ich warte hier nur, bis die Apotheke das Mittel angemischt hat.«

Das Skateboard auf dem Boden hielt inne. »Oh je, was hat er denn?«

»Eine ganz schlimme Bronchitis.« Jenni schluckte vor Sorge. »Letzte Nacht hat er vor Husten kaum Luft gekriegt. Aber der Arzt behandelt ihn nicht mehr. Wir haben keine Krankenversicherung. Bitte, nimm mir nicht das Geld weg. Wie soll ich in der Apotheke sonst bezahlen?«

»Die Medizin für deinen kleinen Bruder, oh Mann.« Das Mädchen lachte auf, und da war so etwas wie Bewunderung in ihrem Blick. »Du bist verdammt gut. Wie kriegst du das hin, auf Knopfdruck zu heulen?«

Von wegen auf Knopfdruck. Jenni presste schluchzend die Handballen auf die Augen.

»He, keine Panik«, lenkte die Fremde ein. »Das ist dein Geld. Ich nehm es dir nicht weg. Aber vielleicht teilst du deine Schrippe mit mir.«

Welche Wahl hatte Jenni? Reglos schaute sie zu, wie das Mädchen einen genießerischen Bissen nahm. Und schüttelte den Kopf, als sie ihr das Brötchen wieder hinstreckte. Die Skaterin zuckte mit den Schultern und schob sich den Rest in den Mund. »Du«, sagte sie kauend. »Du bist eine von uns. Auch wenn du so tust, als wärst du’s nicht. Weißt du, wie dich alle nennen?«

»Wer?«, fragte Jenni alarmiert.

»Na, wir. Meine Sippe eben. Punks, Skater, Tramps.« Sie sah Jennis Blick, und ihr Lächeln wurde breiter. »Komm mal runter. Du hast doch nicht geglaubt, dass du unsichtbar bist. Das ist unser Revier. Seit ein paar Wochen hängst du hier ab. Lonely Girl. Das ist dein Straßenname. Obwohl Lonely Reading Girl besser passen würde.« Sie warf einen abschätzigen Blick auf das Buchcover mit den goldenen Herzen, das vor ihnen auf dem Boden lag. »Solche Schmonzetten liest du? Ich besorg dir mal ’nen echten Krimi. Ich bin übrigens Strippe.«

Sie streckte Jenni die Hand hin, wartete zwei Sekunden und zog sie dann schulterzuckend wieder weg. »Strippe von der Sippe, hahaha. Weil ich ’ne Quasselstrippe bin. Im Gegensatz zu dir, ganz offensichtlich. Du pennst nicht auf der Straße, oder? In der Schlafstelle drüben in der Reinhardstraße hab ich dich auch noch nicht gesehen. Ich wette, du hast einen Unterschlupf.«

Jenni presste die Lippen zusammen.

Strippe seufzte. »Und ich wette, du willst ihn mir nicht verraten. Auch gut.« Sie studierte Jennis Gesicht, als suche sie etwas. Runzelte die Stirn.

»Was ist?«, stieß Jenni hervor.

»Nichts«, knurrte Strippe. »Du erinnerst mich nur an wen. Deshalb wollte ich nett sein. Für den Fall, dass du ’n offenes Ohr brauchst. Die anderen Kids sind gar nicht so ätzend, wie du glaubst.«

Sie ließ mit dem Fuß das Board hochflippen, fing es aus der Luft und stand auf. »Wir sehen uns, Lonely.« Dann grinste sie. »Keine Sorge. Ich finde dich wieder.«

Offenes Ohr? Sie wiederfinden? Für Jenni klang das wie Drohungen. Sobald Strippe außer Sicht war, griff sie in ihre Jackentasche, ihre Finger umschlossen das restliche Geld und den Schlüssel. Dann hob sie das Buch auf, strich die geknickten Seiten glatt und ging. Lonely Reading Girl.

Draußen war es Nacht geworden, das nasse Berliner Straßenaquarell anthrazit und schwarz, getupft von den hellen Kegeln der Autoscheinwerfer.

Wachsam schaute Jenni sich um. Niemand schien ihr zu folgen, als sie die Straßen entlangeilte, einen Bogen um ein streitendes Paar schlug, über ein ausgeweidetes Fahrrad stieg, bei dem nur das Schloss noch intakt war. Einmal hörte sie in der Nähe ein Skateboard rattern. Ein Hund pieselte an einen Mülleimer, in der Scheibe einer verriegelten Kneipe spiegelten sich Straßenlichter und Jennis bleiches Gesicht. Du bist eine von uns. Wir haben dir einen Namen gegeben.

Ein letzter Blick über die Schulter, dann kletterte sie über einen Zaun. Ein leerer Hof, dahinter ein lang gestrecktes Bauwerk. Aus den Fenstern grinsten gebastelte Papierdrachen und Kürbisse, irgendwie gruselig. Hinter dem Gebäude Kletterstangen und Betonbänke, im Dunkel ruhend wie Kindersärge. Als ein Schatten über den Hof humpelte, duckte sie sich. Der Hausmeister. Sie hatte Angst vor ihm. Grauer Bart, stechender Blick, seine massige Gestalt allzu oft gefährlich nah an ihrem Versteck, als ahne er mit irgendeinem sechsten Sinn ihre Anwesenheit.

Endlich war er weg. Acht Treppenstufen führten Jenni zu einer Tür im Souterrain. Sie sperrte auf. Ihr Taschenlampenlicht geisterte über Regale, Werkzeuge, Kisten. Schon umfing sie der Geruch nach Vinyl und Holzwolle, dazu der Mief aus Schweiß und Prüfungsangst, herabgesickert durch die dicken Mauern der Klassenzimmer. Ein vertrauter Geruch, ein Ort, der seit Langem für sie einem Zuhause am nächsten kam. Aus Verstecken holte sie ihre Habseligkeiten zusammen. Der Rucksack mit Wechselkleidung, ihr Schlafsack. Die Tüte, in der sie Portemonnaie und Personalausweis aufbewahrte. Sie schob das restliche Geld zu dem, das sie zu sparen versuchte und doch ständig ausgeben musste, dann wickelte sie sich in den Schlafsack.

Bis September hatte sie meistens in Parks geschlafen. Dann war es kälter geworden und hatte zu regnen begonnen, ein unablässiger platschender Guss, der tags und nachts auf sie herabströmte, als wolle er sie mitsamt dem Laub von den Straßen spülen. Ihre Schuhe waren nicht mehr trocken geworden. Erst bekam sie Fieber, dann bellte sie nachts so vor Husten, dass ihr die Hunde in der Nachbarschaft antworteten. Freitagnachmittag vor drei Wochen hatte sie vor der Schule auf den Stufen gekauert. Zitternd vor Nässe und Schüttelfrost, die Welt ein schwankender Ozean, bis eine Stimme ihn teilte.

»Bist du nicht die Melanie aus der 9c?«

Es war einfach gewesen zu nicken. Hauptsache, sie durfte sitzen bleiben. Zu der Stimme kam eine Hand auf ihrer Stirn, kühl und weich.

»Oh mein Gott, du hast ja Fieber.«

Jenni fand sich im leeren Lehrerzimmer wieder, eine Tasse Tee in den Händen, ihre Schultern in eine Decke gehüllt. Das Mitgefühl der Lehrerin wärmte sie, eine Paracetamol half gegen das Zittern. Sie suchte nach einer Geschichte, die sie erzählen konnte, doch aus ihrem Hals kam nichts als ein Krächzen.

»Warte hier, Melanie. Ich rufe vom Sekretariat aus deine Eltern an.«

Jenni konnte nicht warten. Sie ergriff die Handtasche der Frau und floh, einen dämmrigen Treppenschacht hinunter bis zu einer Sicherheitstür. Sie taumelte. Die Klinke rutschte ihr aus den Fingern. Durch das Gebäude hallten schon Rufe, als sie mit letzter Kraft die Tür aufbekam. Hinter ihr klappte sie zu, die Rufe verstummten. Schwarze Stille umfing sie. Ausruhen, nur kurz.

Später hatte sie den Lichtschalter und ein verrostetes Waschbecken gefunden. In der Tasche der Lehrerin waren weitere Schmerztabletten, Kekse, ein Portemonnaie mit dreißig Euro – und der Generalschlüssel zur Schule.

Er funktionierte am Samstag und auch am Sonntag, als Jenni sich aus dem Hinterausgang ans Sonnenlicht wagte. Niemand kam, um die Schlösser auszutauschen.

Am Montagmorgen mischte sie sich unter die Schulkinder, um das Gebäude zu verlassen, und kehrte erst abends wieder zurück. Stets in Habachtstellung wegen dem Hausmeister. So hielt sie es seitdem. Sie musste ihr Versteck bewahren, so lange wie möglich.

Ich finde dich, hatte die Skaterin gesagt. Die Erinnerung jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.

Am nächsten Tag suchte sie sich eine Bank am U-Bahn-Steig. Es war nicht die beste Wahl. Wind heulte, im Minutentakt spuckten gelbe Waggons Pendler aus, die ihr auf die Füße traten. Sie zog die Knie an und schlug ihr Buch auf.

Doch auch hier fand Strippe sie. Sie ließ sich neben ihr auf die Bank plumpsen, ihr lila Haar war heute zu zwei Zöpfen geflochten. Die wippten auf ihren Schultern auf und ab, über einem grünen Armeerucksack.

»Auch einen?« Sie streckte Jenni eine Packung Minzdrops hin.

»Lass mich in Ruhe.«

»Sind sie zu scharf, bist du zu schwach.« Strippe grinste, ihre Zähne zerknackten das Bonbon.

Jenni versenkte das Gesicht in ihrem Buch. Eine Hand mit abgekauten Nägeln griff über ihre Schulter, Minzgeruch wehte sie an.

»Mich ignorieren funktioniert nicht, Lonely Girl.« Strippe musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Zeig mal, was du da liest.«

Sie riss Jenni das Buch aus den Händen. Und würgte theatralisch. »Das zerrissene Herz der Königin, Teil 2. Ist ja grässlich. Hast du das aus der Bib geklaut?«

Sie deutete auf den Aufkleber auf dem Buchrücken. Neuerscheinung 2002.

»Geliehen«, log Jenni. Strippe schnaubte und warf das Buch in den Mülleimer.

»He! Ich muss das zurückgeben!«

»Vergiss die Schmonzette. Ich hab was Besseres.« Strippe wühlte in ihrem riesigen Rucksack, streckte ihr dann ein Buch hin. »Die Leibeigene. Da geht’s um Colleen Stan. Aus Kalifornien. Die wurde dreiundzwanzig Jahre von einem Ehepaar als Sklavin gehalten. Sie musste in ’nem Sarg schlafen! Das ist echt passiert.« Sie grinste breit. »Hab das Buch für dich geklaut, im Bahnhofsshop. Die hätten mich fast erwischt.«

Für einen Moment war Jenni sprachlos, bestürzt und gleichzeitig irgendwie entzückt, dass Strippe das für sie getan hatte. Aber vielleicht log sie auch. »Nein danke.«

»Jetzt nimm schon.«

»Ich lese keine Krimis.«

»Schon klar.« Strippe warf das Buch auf Jennis Schoß. »Dein Leben ist ’ne Katastrophe, warum sollst du dann auch noch was über andere Katastrophen lesen. Aber ich verrate dir was. Je schlimmer die Geschichte ist, die du dir reinziehst, desto schöner kommt dir dein Leben nachher vor.«

»Das funktioniert doch nicht.«

»Nein«, gab Strippe zu. »Aber mit den Schmonzetten funktioniert es auch nicht. Du liest über Prinzessinnen und ihre große Liebe, aber du selber lebst auf der Straße.« Sie verdrehte die Augen. »Das ist echt das Deprimierendste, was ich seit Langem gehört habe.«

Jenni musste ein Lachen unterdrücken. »So schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Ach ja?« Strippe nahm das Buch aus dem Mülleimer, schlug es auf und deklamierte: »Oh Liebste. Es ist gefährlich, jemanden so sehr zu brauchen, wie ich dich. Ich fürchte, ich bin unrettbar verloren.«

Jenni musste loslachen, sie konnte nicht anders.

Strippe grinste zufrieden. Da war etwas in ihrem Blick. Jetzt, da Jenni ihr lang genug in die Augen schaute, sah sie ein Funkeln, ein Vibrieren. Als wäre Strippe viel lebendiger als alle anderen um sie herum.

»He!«, schrie sie plötzlich. »Pavel, du Kackstiefel! Du schuldest mir noch ’ne halbe Schachtel Kippen!«

Ein hagerer Typ, der gerade aus der U-Bahn stieg, drehte sich um und flüchtete durch die Menge der anderen Fahrgäste. »Fuck you!« Strippe zeigte seinem Rücken den Mittelfinger. Die meisten Passanten schlugen jetzt einen Bogen um ihre Bank. Und irgendwie machte Jenni das gar nichts aus. Sie konnte nicht anders, als Strippe anzuschauen.

Die Skaterin warf sich noch einen Minzdrop ein. »Wie lange schiebst du schon Platte, Lonely?«

Jenni zögerte.

»Na komm, sag schon. Zwei Monate?«

»Fünf.«

»Echt?« Strippe pfiff durch die Zähne. »Du bist doch noch ein Kind.«

»Bin ich nicht. Wie lange bist du auf der Straße?«