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Kommissarin Julia Durant ist höchst beunruhigt. Mit der Post hat sie einen Umschlag erhalten, in dem sich das Foto einer offensichtlich ermordeten jungen Frau befindet. Ein makabrer Scherz oder aber grausame Wirklichkeit? Noch während Julia und ihre Kollegen rätseln, erfahren sie, dass eine Frauenleiche gefunden wurde – die Frau auf dem Foto! An der Wand hinter ihr steht mit Blut geschrieben: ›Huren sterben einsam‹. Lange tappt Kommissarin Durant im Dunkeln, denn Svenja Martens, das Opfer, scheint ein völlig unauffälliger Mensch gewesen zu sein. Da passiert ein zweiter Frauenmord, und wieder wird Julia ein Foto des Opfers zugespielt. Sollte es sich um den Beginn einer grausamen Serie handeln? Julia ahnt nicht, dass sich der Täter ganz in ihrer Nähe befindet … Tödliches Lachen von Andreas Franz: Spannung pur im eBook!
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Andreas Franz
Tödliches Lachen
Ein Julia-Durant-Krimi
Knaur e-books
Für meine Tochter Alexandra und meinen Schwiegersohn Habtom, die sich am 1. Juli 2006 das Jawort gegeben haben.Alles erdenklich Liebe und Gute für die Zukunft, und möge eure Ehe unter dem schönsten und besten aller Sterne stehen.
März bis April 1988
Mike war um kurz nach zwei nach Hause gekommen und hatte sich eine Packung Spaghetti gemacht, ein Fertiggericht, das sich schnell zubereiten ließ und keine Kochkünste erforderte. Sechs Stunden Schule hatten ihre Spuren hinterlassen, vor allem die Lateinarbeit, die er sicher nicht schlecht geschrieben hatte, aber dennoch hasste er dieses Fach, denn er fragte sich, wozu er diese Sprache später einmal brauchen würde. Doch sein Vater und auch sein Großvater hatten ihn geradezu gedrängt, es statt Französisch als zweite Fremdsprache zu wählen, obwohl ihm Französisch, das etwas Sanftes, Beschwingtes und Sinnliches hatte, viel besser gefiel. Außerdem hatte Mike ein konkretes Ziel vor Augen – er wollte Mathematiker oder Physiker werden. Schon jetzt war er in diesen Fächern seinen Mitschülern um Lichtjahre voraus, konnte Aufgaben lösen, vor denen selbst die besten Abiturienten, die meisten Studenten und sogar einige Professoren kapitulierten. Und es war erst ein halbes Jahr her, als er einen internationalen Mathematik-Wettbewerb für Schüler und Studenten gewann.
Noch maximal zwei Jahre, dann war der Schulstress vorbei, aber im Moment dachte Mike nur an heute und den restlichen Tag mit noch einer halben, höchstens einer Stunde Hausaufgaben, die er jedoch erst später, irgendwann gegen Abend, erledigen würde. Sein Vater war noch in der Firma, und die Putzfrau hatte wie immer das Haus um Punkt eins verlassen. Sie kam zweimal in der Woche, um sauber zu machen, eine junge Spanierin, die nur gebrochen Deutsch sprach, aber ihre Arbeit hervorragend erledigte. Er mochte sie, auch wenn er sie nicht oft sah und lediglich von ihr wusste, dass sie verheiratet war und zwei Kinder hatte.
Mike ging mit dem Teller auf sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und las beim Essen ein Asterix-Heft. Ein paarmal musste er schmunzeln, und er war gerade bei der letzten Gabel, als das Telefon klingelte. Großmutter. Sie fragte ihn wie jeden Tag, wie es ihm gehe, wie die Schule gewesen sei. Das Übliche. Mike antwortete brav und beendete das Gespräch nach wenigen Sätzen. Er legte sich aufs Bett und machte den Fernseher an, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke, während im Hintergrund eine billige Talkshow lief.
Sein Blick ging nach einer Weile zur Wand, wo ein großes Foto seiner Mutter hing. Zehn Jahre waren seit ihrem Tod vergangen, die Erinnerung an sie war vollständig verblasst. Das Einzige, was ihm geblieben war, war dieses Foto, das in einem großen Rahmen über seinem Schreibtisch hing. Er betrachtete sie lange – eine schöne Frau, mit fast mystischen und doch auf seltsame Weise traurigen Augen, die ihn ansahen, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Manchmal meinte er, dass sie ihm sagen wollte, wie traurig sie sei, ihn allein mit dem Vater zurückgelassen zu haben.
Von einem Tag auf den andern war sie verschwunden, daran konnte er sich noch vage erinnern, und irgendwann hatte ihm sein Vater auf seine ständigen Fragen hin, wo Mama sei, geantwortet, sie sei jetzt oben im Himmel. Er war auch noch nie an ihrem Grab gewesen, denn sein Vater hatte erst vor kurzem gesagt, sie habe eine Seebestattung gewollt, doch das solle er niemandem erzählen, nur er wisse davon und seine Eltern.
Also liegt deine Asche jetzt irgendwo im Meer verteilt, dachte Mike und lächelte der hübschen jungen Frau zu. Er hatte seinen Vater gefragt, woran sie gestorben sei, worauf dieser antwortete, sie habe einen Unfall gehabt. Jedes Mal, wenn er das Gespräch auf seine Mutter brachte, wurde sein Vater kurz angebunden und bisweilen auch unwirsch, einmal hatte er Mike sogar angebrüllt und gesagt, das sei alles lange her und er solle sich auf sein eigenes Leben konzentrieren.
Mike setzte sich nach einer halben Stunde auf, fuhr sich ein paarmal durch das kurz geschnittene Haar, schob die Brille zurecht, die er seit seiner frühesten Kindheit tragen musste, und überlegte, was er tun konnte. Er war gestern fünfzehn geworden, und sein Vater hatte gemeint, er sei nun auf dem besten Weg, ein richtiger Mann zu werden. Die Feier sollte in drei Tagen am Samstag stattfinden, im kleinen Kreis, Großeltern, Vater, sein Onkel und seine Tante und vielleicht zwei Mitschüler, die auch nichts weiter als das waren, denn Mike hatte keine Freunde. Dafür gab es mehrere Gründe. Er interessierte sich nicht für Sport, während fast alle Jungs und auch etliche Mädchen in seiner Klasse auf Fußball standen, und er ging auch nicht gerne in die Disco oder machte all die andern Sachen mit, die Jungs in seinem Alter eben so machten. Selbst Mädchen waren für ihn noch kein wirkliches Thema, auch wenn es ein paar in seiner Klasse gab, die ihn schon interessiert hätten. Aber sie waren für ihn unerreichbar, hatten alle schon feste Freunde, coole Jungs mit Mopeds, Motorrädern oder gar Autos. Sie waren außerdem alle mindestens ein, manche sogar zwei oder drei Jahre älter, und er wurde von ihnen gar nicht wahrgenommen, es sei denn, eine von ihnen hatte Probleme in einem der naturwissenschaftlichen Fächer und brauchte dringend Nachhilfe. Aber für die meisten in seiner Klasse war er ein Streber, einer, mit dem man sich nicht abgab.
Nur ein Mädchen unterschied sich vom Rest. Auch sie war hübsch, sehr hübsch sogar, und sie war überaus intelligent, wie er fand, und auch sie schwamm nicht mit dem Strom. Sie war eben anders, sie war besonders.
Louise war ein Einzelkind wie Mike. Der Vater hatte sich kurz nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht, und nun lebte sie allein mit ihrer Mutter in einem Reihenhaus am Stadtrand von Düsseldorf, nur wenige Minuten von ihm entfernt. Sie war schon einige Male bei ihm zu Hause gewesen, sie hatten sich unterhalten und festgestellt, dass es niemanden sonst gab, mit dem sie über Themen sprechen konnten, die für das Gros der anderen Jugendlichen langweilig waren. Sie war siebzehn, fast so groß wie er und hatte etwas, das ihn magisch anzog. Doch er traute sich nicht, ihr seine Gefühle zu zeigen, denn schließlich lagen zwei Jahre zwischen ihnen.
Dennoch träumte er immer wieder von ihr, wenn er wie jetzt allein in seinem Zimmer war und keiner ihn störte.
Sie gingen fast jeden Tag gemeinsam zur Schule, sie telefonierten recht häufig miteinander – aber sie hatten sich noch nie berührt. Er hätte sie gerne einmal angefasst, einfach um zu spüren, wie sie sich anfühlte, ihre Haut, ihre Hände, wie ihr Haar duftete. Er träumte auch davon, sie einmal zu umarmen, und wenn seine Träume noch weiter gingen, dann hielt er sie ganz fest im Arm und streichelte und küsste sie. Bisweilen dachte er: Vielleicht wartet sie nur darauf, dass ich den Anfang mache. Doch dann verwarf er den Gedanken sofort wieder und sagte sich, wie bescheuert er doch sei, auch nur zu denken, sie könnte sich für ihn interessieren. Für Mike, einen mutterlosen, pickligen Jungen von fünfzehn Jahren, mit einer dicken Brille auf der Nase.
Mike hatte Louise zu seinem Geburtstag eingeladen, aber sie hatte bedauernd abgelehnt, da sie am Samstag mit ihrer Mutter nach Frankfurt fahre, um ihre Tante zu besuchen. Er hatte das Gefühl, dass es ihr wirklich leid tat, nicht kommen zu können.
Er war auch noch nie bei ihr zu Hause gewesen, und ihre Mutter kannte er nur vom Sehen, eine unscheinbare Frau, in deren Gesicht sich tiefe Gräben gezogen hatten, obwohl sie erst Mitte dreißig war. Und es gab auch keinen Mann in ihrem Leben. Louise hatte ihm einmal anvertraut, dass ihre Mutter einen Hass auf Männer habe und sie ihr gerne helfen würde, aber jedes Mal, wenn sie das Thema anschneide, blocke ihre Mutter ab. Und einmal erzählte sie ihm traurig, dass sie nicht nur Kettenraucherin sei, sondern auch regelmäßig zur Flasche greife. Louise war überhaupt ein ernstes, trauriges Mädchen, auch wenn sie oft lachte, aber sie fühlte sich einsam, von der Mutter im Stich gelassen und von den Mitschülern unverstanden. Mike war der Einzige, zu dem sie noch Vertrauen hatte, dem sie viele Dinge erzählte, die niemand außer ihr wusste, nicht einmal ihre Mutter, die ohnehin das Leben um sich herum kaum noch wahrzunehmen schien.
Sein Vater war ganz anders. Er führte seit dem Verlust von Mikes Mutter ein recht lockeres Leben. Immer wieder brachte er neue Bekanntschaften ins Haus, meist junge Damen, mit denen er sehr schnell im Schlafzimmer verschwand, aus dem kurz darauf Stöhnen und Schreie drangen. Mike wusste, was dieses Stöhnen und diese Schreie bedeuteten, und setzte sich entweder Kopfhörer mit lauter Musik auf oder verließ das Haus, um spazieren zu gehen oder sich auf die Terrasse zu setzen.
Noch während er in Gedanken versunken war, klingelte das Telefon erneut. Louise. Sie teilte ihm mit, dass die Fahrt nach Frankfurt am Samstag abgesagt wurde, da ihre Tante krank geworden sei. Ob die Einladung noch gelte. Er freute sich wie ein kleines Kind, sie am Samstag zu sehen, auch wenn es ihn schon jetzt nervte, wenn er sich die Fragen seines Vaters und seiner Großeltern vorstellte. Ist das deine neue Flamme? Ist es was Ernstes? Er rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf.
Keiner von ihnen kannte Louise. Sie war immer nur bei ihm gewesen, wenn er allein zu Hause war. Allein, wie die meiste Zeit. In einem viel zu großen Haus. Neun Zimmer, ein Schwimmbad mit Sauna und Whirlpool im Keller, ein riesiger Garten, drei Autos. Sein Vater verdiente Unsummen, aber Mike interessierte dies wenig, für ihn zählten andere Dinge, auch wenn er mehr Taschengeld bekam als alle andern Jugendlichen in seinem Alter. Viel mehr Taschengeld.
Nach dem Anruf ging Mike nach unten und setzte sich mit einem Buch in die Bibliothek. Am liebsten hätte er mit Louise hier gesessen. Er überlegte, ob er sie anrufen und fragen solle, ob sie Lust habe, zu ihm zu kommen. Er verwarf den Gedanken wieder, denn er sagte sich, dass sie bestimmt etwas anderes vorhabe.
Er hörte den Porsche vorfahren, schaute auf die Uhr und stellte verwundert fest, dass zwei Stunden vergangen waren, seit er sich in die Bibliothek zurückgezogen hatte. Mike stand auf und rannte in sein Zimmer, denn er wollte seinem Vater nicht begegnen. Es gab Zeiten, da ging er ihm aus dem Weg. Sie hatten sich nicht viel zu sagen, und daran würde sich auch nie etwas ändern. Mike konnte mit dem Lebenswandel seines Vaters nichts anfangen. Er arbeitete viel, aber er gönnte sich auch eine Menge Luxus, vor allem Frauen. Doch keine von ihnen holte er sich ins Haus, um gepflegte Konversation zu betreiben, sondern nur zum Vergnügen. Alle waren schön, sein Vater stand auf blonde, vollbusige Frauen, nur ab und zu war auch eine Dunkelhaarige darunter.
Er hörte Stimmen, die seines Vaters und die einer Frau. Sie lachten und kamen die Treppe herauf. Mike dachte, dies würde wieder einer jener Abende werden, in denen sich sein Pseudovater, wie er ihn abfällig betitelte, mit der Dame seiner Wahl ins Schlafzimmer zurückziehen würde, doch es vergingen nur wenige Minuten, bis es an seine Tür klopfte und sein Vater hereinkam.
»Hi«, begrüßte er Mike. »Kann ich dich kurz sprechen?«
»Klar. Was gibt’s?«
»Ich habe eine nachträgliche Geburtstagsüberraschung für dich.« Er wartete die Reaktion von Mike ab, der seinen Vater nur verwundert anschaute.
»Willst du gar nicht wissen, was es ist?«
»Was?«, fragte er gelangweilt.
»Weißt du, als ich fünfzehn war, da war ich schon ein Mann, wenn du verstehst. Man kann nicht früh genug anfangen, das Leben zu genießen, es geht viel zu schnell vorbei. Und ich denke, es ist an der Zeit, dass auch du endlich … Was ich sagen will, ist, du solltest auch endlich ein Mann werden.«
»Was meinst du damit?«
»Ich hole deine Überraschung rein. Sie wird dir gefallen, ich glaube, ich kenne deinen Geschmack«, antwortete er, öffnete die Tür und winkte mit der Hand. Eine mittelgroße, etwa zwanzigjährige junge Frau mit langen dunkelbraunen Haaren und einem vollen Busen kam herein. Sein Vater grinste, die junge Frau warf einen kurzen Blick auf Mike, der mit gefalteten Händen auf seinem Bett saß und kaum zu atmen wagte.
»Deine Überraschung. Mach mir keine Schande, hörst du. Ihr habt so viel Zeit, wie ihr wollt. Ich verzieh mich dann mal. Vorstellen könnt ihr euch ja selber.«
»Hm«, war alles, was Mike herausbrachte. Sein Mund war trocken, seine Stimme schien zu versagen. Er sah die Frau an, die einen Minirock und eine fast durchsichtige enge Bluse trug, die so weit ausgeschnitten war, dass sie ihre Brüste nur spärlich verhüllte.
Sein Vater schloss leise die Tür hinter sich. Die junge Frau trat näher.
»Hi, ich bin Moni. Und du bist Mike«, sagte sie mit heller Stimme, setzte sich neben ihn und schlug die langen braunen Beine übereinander. Sie duftete nach einem süßlichen Parfum, das unangenehm in seine Nase zog, was vielleicht daran lag, dass sein Vater ständig irgendwelche Weiber mit nach Hause brachte, die sich mit irgendwelchem Zeug eingedieselt hatten. Er rutschte ein paar Zentimeter von ihr weg, auch wenn ihr Körper, zumindest das, was er von ihr sah, ihn erregte.
»Hm.«
»Bist du immer so schweigsam?«, fragte sie und kramte eine Zigarette aus ihrer Handtasche. »Na ja, egal. Hast du’n Aschenbecher?«
»Nee, ich …«
»Ganz locker, Kleiner«, sagte sie, zündete sich die Zigarette an, stand auf und holte sich eine Untertasse, die sie auf der Fensterbank stehen sah. »Ich bin ein Geburtstagsgeschenk. Willst du dich erst waschen gehen? Oder wollen wir zusammen baden? Dein Dad hat gemeint, wir könnten auch zusammen ins Bad gehen. Wir haben das ganze Haus für uns.«
Mike wurde knallrot und lächelte verschämt. Er hatte mit so etwas nicht gerechnet, eigentlich wollte er das alles nicht, aber er hatte keine Wahl. Würde er diese Moni zurückweisen, würde er Ärger mit seinem Vater bekommen. Und außerdem hatten die meisten, wenn nicht gar alle Jungs in seiner Klasse schon mal mit einem Mädchen geschlafen. Aber Moni war nicht das, was er sich für sein erstes Mal vorstellte. Louise war diejenige, in die er sich verliebt hatte und mit der er sich hätte vorstellen können zu schlafen.
Mit einem Mal spürte er, wie Moni seinen Rücken streichelte, ihre Hand nach vorn glitt und über seine Brust fuhr und tiefer und immer tiefer und ihr Griff fester wurde.
»Gehen wir ins Bad, es wird Zeit, dass wir ein bisschen Spaß haben. Und du brauchst auch keine Angst zu haben, ich beiße nicht, nur manchmal«, sagte sie und lachte dabei auf, ein Lachen, das sich anhörte, als käme es aus weiter Ferne und als würde sie ihn verspotten.
Sie nahm ihn bei der Hand, und er erhob sich wie in Trance und folgte ihr. Er wunderte sich nur, dass sie sich so gut auskannte, obwohl er sie noch nie hier gesehen hatte.
Im Bad standen eine Flasche Champagner und zwei Gläser. »Machst du die auf?«, fragte sie, während sie sich auszog.
Seine Hände zitterten leicht, und als Moni merkte, dass er offenbar noch nie eine Champagnerflasche geöffnet hatte, übernahm sie das für ihn, schenkte ein und sagte: »Auf unsere Freundschaft.« Sie stieß mit ihm an, legte ihren Arm um seinen und fuhr fort: »Und jetzt ex.«
Sie blieb ganze drei Stunden. Beim Abschied sagte sie: »War ein recht netter Abend. Ist noch ’n bisschen klein, das, na ja, du weißt schon«, und warf einen ausgiebigen Blick zwischen seine Beine, »aber na ja, wird schon noch.« Bei diesen Worten lachte sie wieder, und diesmal klang es richtig spöttisch, nein, es klang, als würde sie ihn verhöhnen. Er sah sie nicht an, als sie sein Zimmer verließ, zu sehr hatten ihre Worte, vor allem aber ihr Lachen ihn verletzt.
Am Samstag fand die Geburtstagsfeier statt, mit Louise, seiner heimlichen Königin, denn sie war für ihn die Frau, mit der er einmal zusammenleben wollte. Mike freute sich über ihr Kommen mehr als über jedes andere Geschenk, und irgendwann mittendrin dachte er an diese Hure Moni mit ihren gewaltigen Brüsten und diesem beinahe verächtlichen Gesichtsausdruck, bevor sie ging. Er hatte Louise noch nie mit einem auch nur ähnlichen Gesichtsausdruck gesehen. Sie hatte warme, sanfte Augen, die oft so melancholisch wirkten, eine ebenso warme und eher leise Stimme, und wenn sie lachte, dann klang es einfach anders als bei den andern, schöner, zärtlicher, liebevoller. Louise war eine besondere junge Frau, die schon jetzt tief vom Leben gezeichnet war, ohne es nach außen hin zu zeigen. So wie Mike seine Gefühle nie ausdrückte, sondern stets so tat, als würde er über allem stehen. Selbst die Hänseleien mancher seiner Mitschüler ertrug er mit stoischer Gelassenheit, auch wenn er oft gekränkt war und sogar mitunter weinte, aber nur, wenn es niemand mitbekam.
Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, als Mike erklärte, dass er sich mit Louise auf sein Zimmer zurückziehen wolle, doch bevor sie nach oben gingen, sagte sein Vater in einem Moment, in dem sie allein waren: »Das ist also diese ominöse Louise. Bist du in sie verknallt?«
»Warum?«, fragte Mike mit hochrotem Kopf zurück.
»Also ja. Sehr nett, und sehr hübsch. Sehr, sehr hübsch. Eine wahre Schönheit. Halt sie dir warm, sie passt zu dir.«
Und kurz darauf, als sie schon an der Treppe waren, kam sein Onkel und bat Mike zu sich. »Was hast du denn da für ein bezauberndes Mädchen? Hätt ich dir gar nicht zugetraut. Exzellent, kann ich da nur sagen.«
Mike und Louise saßen auf dem Bett, hörten Musik und unterhielten sich, während er immer wieder darüber nachdachte, einfach ihre Hand zu nehmen, um ihr zu zeigen, wie sehr er sie mochte. Es war fast zweiundzwanzig Uhr, als sie sagte, sie müsse nach Hause, denn der Samstag war immer der schlimmste Tag für ihre Mutter, da sie an einem Samstag von ihrem Mann im Stich gelassen worden war. Er verließ das Haus und kehrte nie wieder zurück. Er lebte jetzt irgendwo glücklich und zufrieden, hatte eine neue Familie und neue Kinder, so viel wusste Louise. Doch wo er wohnte, wusste sie nicht, weil ihre Mutter es ihr nicht verraten wollte. Samstags griff Frau Mayer deshalb mehr als sonst zur Flasche und lag oft schon am Nachmittag betrunken auf dem Sofa. Als Louise das erzählte, sah sie Mike wieder mit diesem unvergleichlichen Blick an, streichelte ihm kurz über die Wange und gab ihm zum Abschied rasch einen Kuss auf die Stirn.
»Bis dann«, sagte sie liebevoll lächelnd, während er noch gar nicht richtig begriff, was soeben passiert war, »wir können ja morgen telefonieren. Ich würde mich freuen.«
Sie telefonierten, gingen gemeinsam zur Schule, und an einem Nachmittag, als Louise wieder bei Mike war, war es auch diesmal sie, die den Anfang machte, indem sie sagte: »Mike, ich muss dir was gestehen. Ich find dich unheimlich nett und lieb. Na ja, das ist wohl leicht untertrieben, ich glaub, ich hab mich in dich verliebt. So, jetzt ist es raus. Ich hoffe, du bist jetzt nicht sauer.«
Er schüttelte den Kopf und stotterte, ohne sie dabei anzuschauen: »Ich auch. Schon lange.«
»Wie bei mir, ich hab mich bisher nur nicht getraut, es dir zu sagen. Und wir pfeifen drauf, was die andern sagen, okay?«
»Okay. Und jetzt?«
»Nimm mich einfach in den Arm, nicht mehr. Wir haben doch Zeit, oder? Und wenn die andern sagen, dass ich doch zu alt für dich bin, dann hör einfach nicht hin. Was sind schon die zwei Jahre?!«, sagte sie lachend, während er sie im Arm hielt und noch gar nicht recht begriff, wie ihm geschah. Seine Traumfrau hatte ihm ihre Liebe gestanden. Und sie hatte ihm, bevor er sie nach Hause brachte, noch ein Foto von sich geschenkt, eines, auf dem sie besonders hübsch aussah. Als hätte sie es nur für ihn machen lassen, und als würde sie nur ihn anlächeln.
Genau einen Monat nach Mikes Geburtstagsfeier erschütterte der Mord an einem siebzehnjährigen Mädchen nicht nur Düsseldorf, sondern ganz Deutschland. Louise Mayer war einem brutalen Sexualverbrechen zum Opfer gefallen. Sie war am Abend auf dem Heimweg von ihrer Großmutter verschwunden. Niemand hatte sie gesehen, niemand etwas gehört. Ihre Leiche wurde drei Tage später an einer Stelle am Rhein gefunden, wo nach Einbruch der Dunkelheit nur sehr wenige Menschen noch unterwegs waren. Louise war vergewaltigt und erdrosselt worden. Anschließend hatte der Mörder sie wie ein Stück Dreck in hohes Gras geworfen. Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass sie bis zu dem Verbrechen noch Jungfrau gewesen war.
Vom Täter fehlte jede Spur, alle, die befragt wurden, hatten ein hieb- und stichfestes Alibi, auch Mike. Er trauerte, wie er sich nie hätte vorstellen können zu trauern, er aß kaum etwas, weinte tage- und nächtelang, denn er wollte sein Leben mit Louise verbringen, mit seiner Traumfrau. Bis dass der Tod euch scheidet. Und nun war sie tot, bevor ihr gemeinsames Leben überhaupt begonnen hatte. Einfach so. Bestialisch ermordet, wie die Zeitungen berichteten.
Nicht lange nach diesem entsetzlichen Verbrechen sagte Mikes Vater, dass er ein Angebot habe, in Frankfurt die Leitung einer weltweit agierenden Unternehmensberatung zu übernehmen, ein Ruf, dem er unbedingt folgen wolle. Ein Vierteljahr nach Louises Tod zogen sie nach Frankfurt, wo Mike hoffte den schrecklichen Erinnerungen der letzten Wochen und Monate entfliehen zu können. Es gelang ihm nicht.
Es war ein kalter, ungemütlicher Tag, der wolkenverhangene Himmel tauchte die Landschaft außerhalb des Gebäudes in ein trübes, tristes Licht, das ihn depressiv machte.
Ab und zu warf Mike einen Blick aus dem Fenster und wandte sich gleich darauf wieder seiner Arbeit zu. Seit dem frühen Morgen war er im Büro und versuchte bislang vergeblich mehrere versehentlich gelöschte Dateien wiederherzustellen. Seine Fähigkeiten schienen diesmal zu versagen, obwohl er ein Perfektionist war und nie aufgab, es sei denn, es handelte sich um einen Fall wie diesen, der ihn schier zur Verzweiflung brachte. Bereits am Freitag hatte man ihn um seine Hilfe gebeten, doch alle Bemühungen, die Dateien wenigstens teilweise wiederherzustellen, waren gescheitert. Er lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, und sah auf den leeren Bildschirm.
»Und, kommst du voran?«
Mike drehte sich leicht erschrocken herum, weil er sie nicht hatte kommen hören. Er schüttelte den Kopf.
»Nee, ich bin mit meinem Latein am Ende. Das ist, als wäre das Zeug von einem schwarzen Loch aufgesaugt worden. Da ist wirklich nichts mehr zu machen, tut mir leid. Wenn der Typ wenigstens Sicherungskopien angefertigt hätte …«
»Es braucht dir nicht leid zu tun, das Teil …«
»Das ist kein Teil, sondern ein Computer oder Rechner«, wurde sie von Mike verbessert.
»Ja, von mir aus. Der Rechner ist sowieso nicht weiter von Bedeutung«, erwiderte sie und stellte sich dicht neben ihn. Der Duft von Gucci No. 2 zog in seine Nase, ein Duft, den er liebte und den er gerne viel öfter gerochen hätte. »Wir geben ihn einfach zurück, wir sind schließlich keine Übermenschen«, fuhr sie fort und wollte sich bereits wieder abwenden, als seine Stimme sie zurückhielt.
»Wollen wir heute Abend essen gehen?«, fragte er unvermittelt, ohne sie dabei anzusehen.
»Heute? Ich weiß nicht, mir ist nicht danach, ganz ehrlich. Ein andermal vielleicht, aber …«
»Ich kenne da ein türkisches Restaurant in Sachsenhausen, die haben eine phantastische Küche. Du weißt doch, wie ich bin, ich geh nicht gern allein weg. Ist auch ganz unverbindlich.«
»Tut mir leid, aber ich hab schon was vor.« Ihre Stimme hatte mit einem Mal einen kühlen Unterton bekommen. Kühl und abweisend. Und sie hatte wieder einmal gelogen, doch was gelogen war, wusste er nicht. Hatte sie nur keine Lust, oder hatte sie tatsächlich etwas vor? War sie vielleicht mit einem andern verabredet? Er konnte sich alles vorstellen, aber der Gedanke, dass es einen andern in ihrem Leben gab, brachte ihn fast um den Verstand.
Er hatte sie mehrfach in den vergangenen Tagen und Wochen gefragt, ob sie etwas mit ihm unternehmen wolle, und jedes Mal hatte sie ihm eine Abfuhr erteilt. Dabei gab sie ihm stets das Gefühl, etwas für ihn zu empfinden, zumindest glaubte er das, doch immer, wenn er etwas direkter wurde, zog sie sich zurück. Sie waren sogar schon ein halbes Jahr zusammen gewesen, bis er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle, woraufhin sie nur gelacht und gemeint hatte, dafür fühle sie sich noch zu jung, sie wolle noch etwas vom Leben haben und sich nicht binden. Das habe nichts mit ihm zu tun, ganz bestimmt nicht, hatte sie gesagt und ihm dabei sanft über die Wange gestreichelt, aber sie sei doch erst vierundzwanzig und das Leben sowieso viel zu kurz, um es einfach so wegzuwerfen. Diese letzten Worte waren wie ein kalt geführter Stich in sein Herz gewesen, denn er begriff, dass sie ihm die ganze Zeit etwas vorgespielt hatte. Sie hatte Hoffnungen in ihm geschürt, die von einer Sekunde zur andern wie eine Seifenblase geplatzt waren. Es waren deutliche Worte gewesen, Worte, die er nie vergessen würde. Ein Leben mit ihm war also ein weggeworfenes Leben.
Sie war vor einem Jahr neu in die Abteilung gekommen, nicht direkt zu ihm, sondern ein paar Büros weiter, aber er hatte sie gesehen und sich auf Anhieb in sie verliebt und gewusst, wenn nicht sie, dann keine, denn auf eine seltsame Art und Weise erinnerte sie ihn an Louise. Ihre Bewegungen, ihre Stimme, der manchmal neckische Augenaufschlag, der überaus sinnliche Mund. Und er liebte es, wenn sie wie heute ihr Haar zu einem Zopf geflochten hatte.
Sie verstanden sich vom ersten Augenblick an, gingen gemeinsam mittags in die Kantine, verbrachten so manchen Abend miteinander – doch nicht eine einzige Nacht. Sie gingen ins Kino, ins Theater, ins Restaurant (in sehr viele Restaurants), in Bars, sie unterhielten sich oft, bis sie die letzten Gäste waren und nicht direkt, aber doch des Öfteren durch die Blume aufgefordert wurden, das Restaurant oder die Bar zu verlassen. Aber jedes Mal, wenn er sie fragte, ob sie mit zu ihm kommen wolle oder er mit zu ihr dürfe, verneinte sie und meinte, die Zeit sei noch nicht reif dafür. Oder sie erfand eine andere Ausrede. Überhaupt war sie eine Meisterin im Erfinden von Ausreden, mal war es eine Freundin, mit der sie sich verabredet hatte, mal hatte sie Migräne, mal ihre Tage, oder sie wollte einfach nur allein sein.
»Ich hab schon verstanden«, entgegnete er, setzte sich aufrecht hin und fuhr sich mit einer Hand über die hohe Stirn.
»Nein, du verstehst offensichtlich überhaupt nichts. Ich habe dir gesagt, dass wir Freunde bleiben können, mehr aber auch nicht. Und mehr waren wir auch nie, nur gute Freunde, doch du scheinst eine ganze Menge mehr hineininterpretiert zu haben. Wenn du andere Absichten hattest, dann tut es mir leid.« Sie sagte das in einem Ton, der ihn innerlich frösteln ließ.
Mike stand auf und schloss die Tür, damit keiner der andern etwas von dem Gespräch mitbekam. Er wusste, es war die vielleicht letzte Chance, mit ihr zu reden, und die wollte er nutzen.
»Warum willst du nichts mehr mit mir zu tun haben?«, fragte er. »Erklär’s mir bitte, denn das hast du bis jetzt nicht gemacht. Ich denke, das ist das Wenigste, was ich von dir verlangen kann. Bis vor drei Wochen war doch alles in bester Ordnung.«
»Für dich vielleicht«, entgegnete sie noch eine Spur kälter. »Ich muss wieder an die Arbeit, du weißt doch, wie Klaus ist.«
»Er wird dir schon nicht gleich den Kopf abreißen. Gibt es absolut keine Chance mehr für uns?«
Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und setzte sich auf die Tischkante. Sie ist wunderschön, dachte er und erwiderte ihren fast eisigen Blick. Sie hatte langes blondes Haar mit braunen Strähnen, grüne Augen und leicht hervorstehende Wangenknochen, was ihrem Gesicht einen außergewöhnlichen Ausdruck verlieh.
»Von was für einer Chance sprichst du? Was war denn schon groß zwischen uns? Wir haben uns getroffen, uns unterhalten und weiter? Na? Es war nichts außer einer guten Freundschaft, die du aber gerade dabei bist kaputtzumachen. Wir passen einfach nicht zusammen, das muss dir doch inzwischen auch aufgefallen sein. Du wirst schon jemand anderen finden, jemand, der besser zu dir passt. Ich will einfach mein Leben genießen und …« Sie biss sich auf die Lippe und schaute zu Boden.
»Und was?«
»Nichts. Ich muss jetzt wirklich rüber …«
»Stopp«, sagte er und fasste sie am Arm.
»Lass mich los, bitte!«, fuhr sie ihn an, wobei ihre grünen Augen einen grauen Stich bekamen und dadurch noch eisiger funkelten.
»Okay, okay. Trotzdem würde mich interessieren, was du noch sagen wolltest. Komm, ich kann’s vertragen, ich bin nicht so ein Weichei, wie du und die andern vielleicht denken.«
Sie sah ihn einen Moment lang an, kaute auf der Unterlippe, als müsste sie sich die nächsten Worte gut überlegen, und meinte schließlich: »Also gut, wenn du’s genau wissen willst, du bist mir zu spießig und viel zu bieder. Bei dir muss alles seine Ordnung haben, du planst jeden Schritt und jede Minute im Voraus, ach, was sag ich, jede Sekunde. Alles, aber auch wirklich alles ist bei dir bis ins Detail durchgeplant. Mein Gott, guck dich doch mal im Spiegel an. Du siehst gut aus, aber du machst nichts aus dir. Du hast unzählige Pullunder im Schrank und noch mehr karierte Hemden und Cordhosen. Himmel noch mal, du bist zweiunddreißig und läufst rum wie ein Rentner, womit ich nichts gegen Rentner gesagt haben will …«
»Aber …«
»Lass mich ausreden. Du bist einfach nicht der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Das mit uns würde nie gut gehen, wir sind wie Feuer und Wasser. Irgendwann würden wir uns umbringen, entweder ich dich oder du mich. Löwe und Fisch geht nun mal nicht, das hab ich dir aber schon mal gesagt. Ich will was erleben, doch das Einzige, was wir gemacht haben, war essen oder ins Kino gehen, und unsere Gespräche drehten sich entweder um Geschichte oder Politik oder um Computer. Sorry, aber das ist mir einfach zu wenig. Außerdem kenn ich mich in Geschichte nicht aus, und Politik interessiert mich herzlich wenig. Reicht das, oder muss ich noch deutlicher werden? So, jetzt ist es raus, und du lässt mich hoffentlich in Zukunft in Ruhe. Hast du mich verstanden?«
Er nickte sichtlich bedrückt.
»Dann ist’s ja gut. Wir sind Arbeitskollegen, und so wird es auch bleiben. Sieh einfach ein, dass es besser so ist«, sagte sie mit plötzlich versöhnlicher Stimme und erhob sich. »Es war von uns beiden ein Fehler, aber glücklicherweise haben wir nie miteinander … Ähm, na ja, du weißt schon, was ich meine. Es hätte alles nur noch komplizierter gemacht.«
»Sicher«, entgegnete er mit belegter Stimme. »Du duftest übrigens wieder gut.«
»Ist noch von dir, die Flasche ist aber bald leer. Ciao, die Arbeit ruft.«
Er sah ihr hinterher, wie sie mit diesem unvergleichlich wiegenden Schritt den Raum verließ, runzelte die Stirn, stellte sich für einen Moment ans Fenster, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und schaute hinaus auf das graue und jetzt noch tristere Frankfurt. Es fing leicht an zu regnen, die Tropfen perlten vom Fenster ab. Ich bin also ein Langweiler, dachte er und ballte die Fäuste. Na ja, irgendwie hast du Recht, ich sollte etwas mehr aus mir machen. Andererseits, wen kümmert’s, wie ich rumlaufe? Wen? Wen, wen, wen?!
Mike verließ das Büro etwa eine Stunde früher als gewöhnlich, weil es nichts mehr zu tun gab und er ohnehin eine Menge Überstunden abzufeiern hatte, fuhr nach Hause, stellte sich unter die Dusche und zog sich etwas Frisches an. Nie behielt er das an, was er im Büro getragen hatte. Es war ein Ritual, das er durchführte, nicht erst seit er in Frankfurt lebte, sondern auch schon früher, wenn er von der Schule nach Hause kam. Duschen, sich umziehen und lesen oder spazieren gehen oder etwas anderes tun, etwas Vernünftiges. Nicht wie die andern sich vor den Fernseher setzen und sich berieseln lassen; das war nicht sein Ding, für ihn war es wichtig, sein Leben sinnvoll zu gestalten. Alles musste seine Ordnung haben, alles musste geregelt sein, so hatte er es schon früh für sich beschlossen.
Er dachte über das kurze Gespräch nach, das er mit seiner Freundin – denn als solche betrachtete er sie – geführt und in dem sie ihm zum wiederholten Mal zu verstehen gegeben hatte, dass es zwischen ihnen aus war, obwohl er im Sommer noch einmal Hoffnung geschöpft hatte. Doch auch diese Hoffnung war wie eine Seifenblase zerplatzt.
Er schaute in den Spiegel und fand, dass sie zumindest in einem Punkt Recht hatte – er sah gut aus, wenigstens war das sein subjektiver Eindruck, aber wenn auch sie das sagte, würde es wohl stimmen. Obgleich, sie konnte es auch nur gesagt haben, um ihn zu beruhigen und ihm nicht alle Illusionen zu rauben. Nein, er wusste es nicht.
Er steckte sein Handy in die rechte Innentasche seiner Jacke, weil er gelesen hatte, dass man ein Mobiltelefon wegen der Strahlung möglichst nicht am Herzen tragen sollte.
Eine knappe Stunde war vorüber, als er wieder ging. Im Auto legte er eine CD von The Corrs ein, der Lieblingsgruppe von Mausi, wie er sie für sich nannte, und fuhr kaum zwanzig Minuten, bis er in der Windthorststraße seinen Wagen parkte. Er stellte die Musik aus, rutschte in seinem Sitz ein wenig hinunter und beobachtete das Haus, in dem sie wohnte.
Mehr als eine Stunde verging, bis sie ihren erst wenige Tage alten silbernen 3er BMW, von dem er sich fragte, woher sie das Geld für dieses teure Auto hatte, in einer Seitenstraße direkt neben der ehemaligen US-Kaserne abstellte und sich mit zügigen Schritten auf das erst vor wenigen Jahren frisch renovierte Haus zubewegte. Sie bemerkte ihn nicht, so wie er überhaupt von niemandem bemerkt wurde, zumindest hatte er den Eindruck. Doch das hatte wohl damit zu tun, dass es kalt und dunkel war und sich kaum Menschen auf der Straße aufhielten. Er sah, wie das Licht in ihrer Wohnung im ersten Stock anging, und kurz darauf konnte er ihren Schatten einem Scherenschnitt gleich hinter dem Vorhang ausmachen. Mike hätte gerne gewusst, was sie jetzt tat. Er griff nach seinem Telefon, hielt es einen Moment in der Hand und legte es auf den Beifahrersitz. Er würde sie nicht anrufen, diese Blöße wollte er sich nicht geben. Er wollte nur wissen, ob da ein anderer Mann in ihrem Leben war oder ob sie tatsächlich nur ihre Freiheit genießen wollte.
Erst fielen nur ein paar Regentropfen auf die Windschutzscheibe, schließlich immer mehr. Er schaltete die Zündung und die Scheibenwischer ein. Zwei Jungs rannten wie aus dem Nichts aufgetaucht an ihm vorbei. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht. Nach weiteren anderthalb Stunden, er wollte bereits wieder losfahren, sah er, wie ein ihm sehr gut bekannter und mit allen Schikanen ausgestatteter VW Phaeton W12, von denen nicht viele auf Deutschlands Straßen unterwegs waren, vor dem Haus hielt. Ihm stockte der Atem, sein Mund wurde trocken, sein Herzschlag beschleunigte sich, als der Fahrer ausstieg und auf den Eingang zulief. Ein Druck auf die Klingel, die Tür ging auf. Nach fünf Minuten kamen sie heraus, Hand in Hand, als wären sie seit Ewigkeiten zusammen. Er hatte sein Fenster heruntergelassen, um vielleicht ein paar Wortfetzen mitzubekommen, doch alles, was er hörte, war ihr Lachen, das von dem kalten Nordwind zu ihm getragen wurde. Als würde sie ihn auslachen, spöttisch, höhnisch, zynisch. Dabei wusste sie nicht einmal, dass er nur wenige Meter von ihr entfernt war und etwas sah, das er nie für möglich gehalten hätte. Am liebsten wäre er aus dem Auto gesprungen, um beide zur Rede zu stellen. Nein, viel lieber noch hätte er seine Fäuste in ihre Gesichter gehämmert, bis beide nur noch wimmernd und um Gnade winselnd vor ihm gelegen hätten. Er unterließ es, nicht wegen ihr, sondern wegen ihm, denn er war stark und mächtig.
Sie stiegen ein und fuhren los. Mike hatte seinen Motor ebenfalls gestartet und folgte ihnen. Er wollte wenigstens wissen, wo sie den Abend verbringen würden. Und er wollte wissen, warum sie sich ausgerechnet mit diesem Weiberheld eingelassen hatte, den er bis aufs Blut hasste.
Das wirst du mir büßen, dachte er, das werdet ihr mir beide büßen. Als sie Richtung Innenstadt abbogen, hielt er einen gewissen Abstand ein, obwohl er sicher war, dass sie nicht einmal im Traum daran dachten, verfolgt zu werden. Sie fuhren in das Parkhaus Alte Oper, er fuhr daran vorbei. Vielleicht besuchten sie eine Veranstaltung in dem altehrwürdigen Gebäude, vielleicht gingen sie auch nur in eines der Nobelrestaurants in der direkten Umgebung, vielleicht aber machten sie auch etwas ganz anderes, einen Schaufensterbummel in der Goethestraße, wo sich Boutique an Boutique reihte.
Er trat die Heimfahrt an. Es interessierte ihn auf einmal nicht mehr, wo sie den Abend verbrachten, er wollte nur noch nach Hause. Dieser verdammte Mistkerl war also der Grund gewesen, weshalb sie Schluss gemacht hatte. Und er hatte ihr mit Sicherheit auch den BMW gekauft, so etwas bezahlte er aus der Portokasse. Er hatte in den letzten Jahren mehrere Affären gehabt, die ihn ein halbes Vermögen gekostet hatten, aber das schien es ihm wert zu sein. Und sie gehörte zu seiner Sammlung von Frauen, die er eroberte und wieder wegwarf, wenn er ihrer überdrüssig wurde, was häufig sehr schnell geschah (manchmal dauerten seine Beziehungen auch etwas länger). Aber es gab wohl kaum eine unter ihnen, die groß darunter litt, schließlich verhielt er sich stets großzügig und versüßte ihnen den Abschiedsschmerz mit aufwendigen Geschenken und auch Geld, das hatte Mike längst herausgefunden. Und möglicherweise würde er ihr zum Abschied, wann immer dies auch war, eine neue Wohnung kaufen, damit sie endlich aus diesem eher unansehnlichen Viertel herauskam. Er konnte es sich leisten, er konnte sich alles leisten.
In Mike waren Wut, Zorn, Ohnmacht und unsäglicher Hass auf sie, auf ihn – und auf sich selbst. Sein Leben war aus dem Ruder gelaufen. Während dem andern alles gelang, war er nur ein Loser, einer, den keiner beachtete, der verlacht und manchmal auch wegen seiner eigenwilligen Art verspottet oder gar verhöhnt wurde. Bisher hatte er dies stets mit einer scheinbaren Gelassenheit hingenommen, hatte mitgelacht, auch wenn er merkte, wie ernst die andern es meinten.
Mike schleuderte die Jacke auf die Couch, obwohl er Unordnung verabscheute, doch ausnahmsweise kümmerte ihn das in diesem Augenblick wenig. Er fühlte nur Hass, unsäglichen und unerträglichen Hass – in seinem Kopf, in seiner Brust, in seinem Bauch.
Er holte sich eine Flasche Wein aus dem Ständer und ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Nach zwei Gläsern lichteten sich die Nebel allmählich, auch wenn der Hass noch immer wie ein loderndes Feuer in ihm brannte und er nicht begriff, warum sie dieses perfide Spiel mit ihm spielten. Er würde es ihnen heimzahlen, irgendwie und irgendwann. Selten hatte er sich so verletzt und gedemütigt gefühlt wie vorhin, außer damals, als diese verdammte Hure Moni bei ihm war und sich über ihn lustig gemacht hatte, was er nie vergessen würde. Ein Lachen, das wie ein kaltes Messer in ihn gedrungen war. Doch das war Schnee von gestern und lag Jahre zurück, auch wenn es einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Das hier aber war etwas anderes, das hatte eine andere, eine bösere, hinterhältigere Qualität.
Was sie wohl über ihn geredet hatten? Bestimmt nichts Gutes, bestimmt hatten sie über ihn gelacht, Witze über ihn gerissen, über seine Kleidung, sein Aussehen … Doch er würde dies ändern, er würde die Pullunder und die Cordhosen nur noch zur Arbeit anziehen und sich gleich morgen neu einkleiden. Die Schmach, die er erlitten hatte, würde er nicht auf sich sitzen lassen. Ich bin kein spießiger Rentner, ich bin ein gut aussehender junger Mann. Und bald schon werde ich wissen, ob ich auf Frauen wirke oder nicht. An einem neuen Outfit soll es jedenfalls nicht liegen.
Er hielt es kaum eine halbe Stunde in der Wohnung aus. Um kurz nach acht fuhr er wieder los, kreuz und quer durch Frankfurt. Seine Gedanken waren so klar wie lange nicht mehr, er wusste, was er an diesem Abend tun würde. Und nichts und niemand würde ihn davon abhalten. Ihr wollt es doch nicht anders, ihr verdammten Weiber wollt es doch nicht anders!
Er setzte sich vor den PC und schaltete ihn ein, wartete geduldig, bis er hochgefahren war, loggte sich in einen Chatroom ein, in dem er mindestens hundertmal in den letzten vier Monaten gewesen war, und beteiligte sich an einem Gespräch über die zunehmende Vereinsamung der Menschen. Insgesamt hielten sich siebzehn User im Chat auf, tauschten ihre Erfahrungen aus, doch kaum die Hälfte verstand es, in richtigem Deutsch zu schreiben, wie ihm überhaupt im Laufe der letzten Jahre aufgefallen war, dass es nur noch wenige gab, die ihre Muttersprache beherrschten. Es fing beim Sprechen an, wenn vornehmlich jüngere Leute sich in einer Sprache unterhielten, die er nicht verstand. Kanakendeutsch nannte er es. Er hatte diesen Begriff aber auch schon von andern gehört. Und er hasste es, wenn ohne Punkt und Komma geschrieben wurde oder nur in Kleinbuchstaben, oder wenn Teilnehmer sich nicht an das Thema hielten, ganz gleich, worüber gerade diskutiert wurde.
Aber es gab eine Teilnehmerin, die sehr klar und deutlich schrieb, die sich von den andern abhob. Er hatte schon öfter ihre Sitzungen und Kommentare verfolgt, genau genommen seit etwas über vier Monaten. Sie hielt sich mindestens dreimal pro Woche in diesem Chatroom auf, aber da wusste er längst, wer sich hinter ihrem virtuellen Namen verbarg. Er kannte ihren richtigen Namen, er wusste, wo sie wohnte, und er hatte sie auch schon einige Male gesehen, zweimal allein und dreimal in Begleitung. Das war eine ganze Weile, bevor er ihre Bewegungen im Internet verfolgte. Sie war ihm eigentlich sympathisch, auch wenn sie Eigenschaften besaß, die er nicht so schätzte.
Bisher hatte er sich zurückgehalten, aber diesmal antwortete er auf einige ihrer Bemerkungen, und schon nach wenigen Minuten unterhielten sie sich fast nur noch mit sich selbst. Schließlich fragte er sie, ob sie Lust habe, mit ihm zu telegrafieren. Sie verließen den Chatroom und schickten sich Telegramme. Sie hieß Svenja, war neunundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Oberstufenlehrerin für Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium in Frankfurt, was der Wahrheit entsprach.
»Schön, ich wohne auch in Frankfurt«, schrieb er zurück, auch wenn es nicht ganz stimmte.
»Wie heißt Du, und was machst Du beruflich?«
»Thomas, und ich bin Wirtschaftsprüfer«, log er, obwohl es für ihn kaum einen langweiligeren Beruf gab außer Buchhalter.
Er log, so wie die meisten logen, wenn sie sich selbst beschrieben. Sie gaben falsche Namen an, falsche Berufe, machten sich schöner oder größer, als sie in Wirklichkeit waren und, und, und. Er kannte die Spielregeln nur zu gut, schließlich hatte er bereits mehrfach in den vergangenen Monaten Frauen übers Internet kennen gelernt und sich sogar mit zwei von ihnen getroffen. Die eine hatte ihn gleich zu sich nach Hause eingeladen, obwohl sie ihn gar nicht kannte, und sie war nicht mittelgroß und schlank, sondern klein und dick mit einem Dreifachkinn. Das Schlankste waren noch ihre Finger. Sie hatte fettiges Haar, dafür gierige Augen und eine schrille Stimme. Und in ihrer Wohnung stank es nach Rauch, und es sah aus, als hätten die Vandalen gehaust; überall Bier- und Schnapsflaschen, überquellende Aschenbecher, alles war versifft, dass er sich nur noch ekelte.
Die andere, eine Zahnärztin, hatte ihr Alter mit fünfunddreißig angegeben, dabei war sie fünfzehn Jahre älter, und sie hatte behauptet, humorvoll zu sein, doch während der zwei Stunden, die er mit ihr in einem sündhaft teuren Restaurant verbrachte, huschte zwar hin und wieder ein Lächeln über ihre schmalen Lippen, doch ihre Augen waren glanzlos, fast stumpf, was vielleicht daran lag, dass sie unsicher war. Eine einsame Frau, das hatte er schnell herausgefunden, die laut ihren Worten mit einem Arschloch von Mann zusammenlebte, der sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht angerührt hatte, obwohl sie nicht unattraktiv für ihr Alter war, aber dennoch zu alt für ihn. Sie hatte ihm von ihren Eltern erzählt, besonders von ihrem Vater, der an Krebs erkrankt war und bei dem es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er starb. Sie besuchte ihn so oft wie möglich, und sie wollte bei ihm sein, wenn er die Augen für immer schloss. Sie hatte Geld, aber das hatten andere auch. Und sie gehörte ganz sicher nicht zu den Frauen, denen er auf der Straße auch nur einmal hinterhergeguckt hätte. Sie wäre ihm gar nicht aufgefallen, wenn sie an ihm vorübergegangen wäre.
Aber beide waren auf der Suche nach einem Mann, nach etwas Zärtlichkeit und nur zu schnell bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Es war ein Fehler von ihnen gewesen.
Verdammte Huren, dachte er und verzog den Mund abfällig. Unscheinbare, geile Huren. Auf eine gewisse Weise wie er, unauffällig, unspontan, ein Gesicht in der Menge, das von niemandem wahrgenommen wurde.
»Da verdienst Du bestimmt nicht schlecht, oder?«
»Ich kann nicht klagen. Und Du?«
»Ich komm über die Runden.«
»Hättest Du Lust, Dich mit mir zu treffen?«, tippte er ein. Für ein paar Sekunden tat sich nichts auf dem Bildschirm, und er fragte sich, ob er nicht zu voreilig gehandelt hatte.
»Gerne«, antwortete sie schließlich, als hätte sie erst in ihrem Terminkalender nachschauen müssen.
»Magst Du türkische Küche?«
»Hab ich noch nicht probiert.«
»Es gibt ein hervorragendes Restaurant in Sachsenhausen. Kann ich nur empfehlen.«
»Ist mir ein bisschen zu weit. Wie wäre es mit jugoslawisch? Ist allerdings in Höchst. Wäre mir lieber.«
»Okay. Wie heißt es, und wo ist es?«
»Stadt Höchst, Hostatostraße. Gar nicht zu verfehlen.«
»Morgen um acht?«
»Das passt mir, ist vor allem gleich um die Ecke.«
»Prima. Soll ich einen Tisch reservieren?«, fragte er.
»Wäre nett, ist manchmal recht voll. Wie erkenne ich Dich?«
»Ich trage eine braune Lederjacke, und auf dem Tisch liegt die FAZ. Und wie erkenne ich Dich?«
»Du weißt doch in etwa, wie ich aussehe«, schrieb sie und fügte ein Smiley hinzu.
»Ach wirklich?«, fragte er, obwohl er genau wusste, wie sie aussah.
»Ich bin ehrlich. Ich hoffe, Du auch.«
»Ehrenwort«, entgegnete er und klickte dreimal auf dasselbe Smiley. »Außerdem wirst Du es spätestens morgen merken. Ich freu mich drauf, war schon lange nicht mehr in netter Gesellschaft.«
»Bis morgen um acht. Muss leider Schluss machen, das Bett ruft. Hab zur ersten Stunde. Gute Nacht, war schön, mit Dir zu plaudern.«
»Kann ich nur zurückgeben. Gute Nacht.«
Er verließ das Internet und lehnte sich zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Du hast nicht gelogen, dachte er. Aber warum solltest du auch? Ich bin gespannt, ob du morgen zum Treffen erscheinst. Na ja, einen Versuch war es allemal wert, und solltest du nicht erscheinen, komm ich eben zu dir. Ich liebe schöne Frauen wie dich, einsfünfundsechzig, halblange mittelbraune Haare, grün-braune Augen, schlank … Du bist schon mein Typ. Und du bist Lehrerin, das heißt, du bist nicht dumm, aber das hab ich ja gleich gemerkt. Und du hast das auch bei mir bemerkt, sonst hättest du es nicht geschrieben.
Mike schaltete den PC noch nicht aus, ging ins Bad, wusch sich die Hände und das Gesicht und besah sich noch einmal im Spiegel. Ihr werdet euch alle wundern, dachte er. Alle werdet ihr euch wundern, denn jetzt geht es erst richtig los.
Na, Svenja, freust du dich schon auf morgen? Natürlich freust du dich, es könnte sich ja eine neue Geldquelle erschließen. Tja, ich werde mich wohl oder übel bis morgen gedulden müssen. Ich werde mir einen halben Tag freinehmen, hab sowieso genug Überstunden abzufeiern, Klamotten kaufen, richtig gutes Zeug, auf jeden Fall eine braune Lederjacke.
Er wollte gerade den PC herunterfahren, als das Telefon klingelte. Er schaute zur Uhr und runzelte die Stirn – Viertel vor elf. Es kam nur höchst selten vor, dass um diese Zeit noch jemand bei ihm anrief. Die Anrufe, die er in einem Monat bekam, ließen sich ohnehin an einer Hand abzählen. Er kannte die Nummer, die auf dem Display zu sehen war, verzog den Mund und hob ab.
»Ja?«, meldete er sich leicht ungehalten, denn er hatte keine Lust auf ein Gespräch mit seinem Vater. Seit sie in Frankfurt lebten, gingen sie getrennte Wege. Zwar hatten sie noch zwei Jahre zusammengewohnt, bis sein Vater ihm ohne Vorankündigung eine Wohnung mietete und sagte, es sei an der Zeit, dass er auf eigenen Beinen stehe. Seitdem sahen sie sich nur sehr selten, ein- oder zweimal im Jahr. Hin und wieder telefonierten sie, wenn sein Vater wieder einmal meinte, es sei an der Zeit, ein paar belanglose Worte mit seinem Sohn zu wechseln. Zuletzt hatten sie sich anlässlich seines Geburtstags gesehen, den er im Juli in seiner Villa in Falkenstein in großem Stil gefeiert hatte.
»Wollte nur mal hören, wie’s dir geht. Wir könnten mal wieder ein Bier oder einen Wein trinken und uns über den Vertrag unterhalten …«
»Und deswegen rufst du mitten in der Nacht an?«
»Wann sonst? Ich hab bis eben im Büro gesessen und mit Kunden in Übersee telefoniert. Verdammte Zeitverschiebung. Aber das interessiert dich bestimmt nicht. Tut mir auch leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich hatte so viel zu tun und war so oft unterwegs, es hat sich einfach nicht ergeben«, sagte er, als wollte er sich rechtfertigen. »Wie schaut’s mit morgen aus?«
»Nee, geht nicht, keine Zeit. Ich hab ’ne Menge zu erledigen, und außerdem treff ich mich mit jemandem.«
»Aha. Und mit wem?«
»Nur ein alter Freund.«
»Seit wann hast du Freunde? Kleiner Scherz.«
Mike wusste, es war kein Scherz, er hatte ja auch keine Freunde.
»Und wie war dein Tag?«
»Viel, viel Arbeit. Aber von nichts kommt nichts, das weißt du doch. Also, wann sehen wir uns mal wieder?«, fragte er ungewohnt jovial.
»Keine Ahnung, ich bin in der nächsten Zeit ziemlich ausgebucht. Ich melde mich.«
»Hast du etwa wieder jemanden gefunden?«, fragte sein Vater.
»Seit wann interessiert dich das? Und wenn, dann ist das ganz allein meine Sache.«
»He, warum so ungehalten? Hab ich dir was getan?«
»Nee, ich bin nur müde.«
»Okay, dann bis die Tage. Und halt die Ohren steif.«
»Rufst du vom Auto aus an?«
»Ja, bin aber gleich zu Hause und geh ins Bett. So, da bin ich schon. Melde dich einfach.«
»Sicher.«
Er legte auf, schaltete den PC aus, warf einen langen Blick auf das riesige Bücherregal, in dem nicht ein Buch stand, das er nicht gelesen hatte, von den alten Griechen bis zu den Autoren der Neuzeit, von Geschichte bis zum Kriminalroman, wobei es ihm nie blutig genug sein konnte. Und natürlich standen dort auch viele Bücher über Mathematik, und bei manchen musste er einfach nur lachen, denn er war nach wie vor ein Genie auf diesem Gebiet und einige Verfasser dieser Bücher ihm nicht gewachsen. Ein Genie, das er jedoch nicht zur Entfaltung brachte, weil er es nicht wollte. Und doch sollte die Welt noch über ihn erfahren, über die andere Seite des Genies.
Er ging ins Schlafzimmer, nahm die Bibel vom Nachtschrank und schlug Genesis 19 auf, wo über die Vernichtung von Sodom und Gomorrha berichtet wurde. Dreimal las er das Kapitel und dachte: Genauso ist es doch heute – Sodom und Gomorrha. Jeder mit jedem, das habe ich doch heute erst wieder gesehen. Er legte die Bibel zurück, zog sich aus und ließ sich aufs Bett fallen. Minutenlang starrte er an die Decke, die Hände über dem Bauch verschränkt, und ließ den zurückliegenden Tag Revue passieren. Spielt ruhig alle euer dreckiges Spiel, ich werde euch schon noch zeigen, dass ich so was auch kann, ihr verfluchten Lügner! Er schloss die Augen und dachte an Svenja. Sie ist nett, aber das waren im Chat bisher alle. Nett und verlogen. Aber du, Svenja, spielst wenigstens mit offenen Karten, auch wenn du etwas Wesentliches verheimlichst. Auf jeden Fall wirst du morgen eine Überraschung erleben.
Er nahm die Kontaktlinsen heraus, legte sie in den kleinen Behälter mit der Reinigungsflüssigkeit, löschte das Licht und rollte sich in die Bettdecke. Nach wenigen Minuten schlief er ein.
Er hielt sich seit zehn Minuten in dem recht gut besuchten Restaurant auf. Den Tisch hatte er noch am Vorabend für zwei Personen reserviert, in der Hoffnung, nicht einen Reinfall erleben zu müssen. Er trug eine moderne dunkelblaue Designer-Jeans, eine karamellfarbene Jacke aus feinstem Nubukleder, für die er ein halbes Vermögen hinblättern musste, ein weißes Hemd, dessen beide obersten Knöpfe offen standen, und braune Schuhe, die ebenfalls mehr gekostet hatten, als er in einer Woche verdiente. Seltsamerweise fühlte er sich wohl in diesen Sachen, auch wenn er so etwas zum ersten Mal in seinem Leben anhatte. Ein Glas Wasser stand vor ihm, die FAZ lag neben ihm auf dem Tisch, während er immer wieder zum Eingang schaute. Um zehn nach acht wurde er schon etwas nervös und dachte: Womöglich hat sie mich doch nur auf den Arm genommen und lacht sich jetzt ins Fäustchen. Aber nur fünf Minuten später kam sie herein, obwohl es für ihn mehr ein Schweben war, so leicht und beinahe schwerelos waren ihre Bewegungen. Und sie war noch hübscher als die Male zuvor, wo er sie nur aus der Ferne gesehen hatte. Keine Schönheit im klassischen Sinn, wie es sie so oft im Fernsehen gab, Schönheiten aus der Retorte, wie er sie nannte, diese aussagelosen Gesichter, die nichts Eigenes hatten, ausdruckslos und leer. Svenja hingegen hatte ein markantes Gesicht, das er unter Tausenden wiedererkannt hätte. Sie trat an seinen Tisch und sagte bezaubernd und verbindlich lächelnd: »Thomas?«
Er erhob sich, reichte ihr die Hand und antwortete mit einem leicht gekünstelten Lächeln: »Hallo. Schön, dass Sie gekommen sind. Ich hatte schon befürchtet, dass …«
Sie duftete nach einem dem Herbst und Winter angemessenen Parfum (für ihn gab es Parfums, die eher für das Frühjahr und den Sommer geeignet waren, und solche für die dunkle Jahreszeit). Er überlegte, wo er es schon einmal gerochen hatte, kam aber nicht darauf. Es hatte etwas von Shalimar, doch es war nicht Shalimar. Vielleicht würde er Svenja später fragen.
»Ich hatte noch einen unerwarteten, aber wichtigen Termin. Tut mir leid, doch ich konnte Sie ja auch nicht anrufen, weil … Warum siezen wir uns eigentlich? Ich meine, gestern haben wir uns geduzt und … Also, noch mal, ich bin Svenja und du bist Thomas. Oder ist das nicht dein richtiger Name?«
»Doch, doch, schon«, antwortete er gespielt verlegen, »oder soll ich dir meinen Ausweis zeigen?«
»Nein, danke, nicht nötig«, sagte sie lachend, zog ihre Übergangsjacke aus und hängte sie über den Stuhl. Sie trug eine schwarze, fast durchsichtige Bluse, unter der sich der ebenfalls schwarze BH deutlich abzeichnete, einen schwarzen Rock, der etwa zehn Zentimeter über dem Knie endete, schwarze Strümpfe und schwarze Pumps. Sünde pur, dachte er, während er sie für einen Moment betrachtete, als sie ihre Handtasche, die eher ein Täschchen war, neben sich stellte.
»Kommst du von der Arbeit?«, fragte sie und deutete auf den schwarzen Pilotenkoffer neben ihm.
»Ja. Ich hatte schon befürchtet, ich würde es nicht schaffen, aber glücklicherweise bin ich rechtzeitig aus der Firma rausgekommen. Was möchtest du trinken?«, fragte er.
»Auch erst mal ein Wasser«, sagte sie und nahm Platz. »Wichtige Unterlagen?«
Er winkte den Kellner heran, bestellte das Wasser und antwortete: »Streng vertraulich. Es geht um eine Firma, die Insolvenz angemeldet hat. Ich muss das bis zum Wochenende durchgearbeitet haben. Wollen wir uns gleich zu essen bestellen, oder möchtest du noch einen Moment warten?«
»Eigentlich hab ich Hunger«, erwiderte sie. »Ich bin heute noch gar nicht richtig zum Essen gekommen.« Sie nahm die Karte in die Hand. Er wusste bereits, was er bestellen würde, doch er tat so, als würde er ebenfalls noch wählen, und betrachtete sie dabei fortwährend, ohne dass sie es bemerkte – zumindest glaubte er, sie würde es nicht merken. Sie hat schöne Hände, dachte er. Und das Gesicht erst! Was für eine Frau. So eine Lehrerin hätte ich auch gerne gehabt. Aber dann hätte ich bestimmt nichts mehr gelernt, sondern nur noch an sie gedacht. Oder ich hätte mich besonders angestrengt, um ihr zu imponieren. Ach was, keine Ahnung, sie sitzt mir gegenüber, das allein zählt. Und ich garantiere, es wird noch ein sehr interessanter Abend werden.
Sie legte die Karte zur Seite und sagte: »Ich nehme die fünfunddreißig und dazu ein Glas Rotwein.« Und nach einer kurzen Pause und wieder mit diesem charmanten Lächeln: »Um ganz ehrlich zu sein, ich nehme eigentlich immer die fünfunddreißig, da weiß ich wenigstens, was ich kriege.«
»Seltsam«, entgegnete er und lachte dabei wieder so gekünstelt wie schon bei der Begrüßung, »ich habe mich auch für die fünfunddreißig und Rotwein entschieden. Was für ein Zufall.«
»Das kann man wohl so sagen. Doch ich kann es wirklich nur empfehlen. Aber du warst ja noch nie hier, wenn ich dich gestern richtig verstanden habe.«
»Dafür du umso öfter. Was kannst du denn sonst so empfehlen?«
»Na ja, so oft war ich auch noch nicht hier, genau genommen das erste Mal vor drei Wochen mit einer Freundin«, sagte sie lächelnd.
»Ja, ich gehe auch hin und wieder mit einem guten Freund essen oder in eine Bar«, erwiderte er, obwohl das nicht stimmte. Er war noch nie mit einem Freund essen oder gar in einer Bar gewesen. Er hatte überhaupt keinen Freund, obwohl er sich oft wünschte, jemanden zu haben, mit dem er mal reden oder etwas unternehmen konnte. Aber irgendetwas war in seinem Leben schief gelaufen, denn seit er denken konnte, hatte er nie richtige Freunde gehabt. Bekannte schon, doch zu Kindergeburtstagen war er nie eingeladen worden, seine eigenen fanden im Kreis seines Vaters und der Großeltern statt, und manchmal waren auch Onkel und Tanten anwesend, aber keine Kinder. Das änderte sich auch nicht, als er älter wurde, und mit fünfzehn, nach dem Tod von Louise, hatte er aufgehört seinen Geburtstag zu feiern. Sein Vater war oft unterwegs, und der Rest seiner Verwandtschaft lebte in Düsseldorf und Neuss.
Mittlerweile machte es ihm nichts mehr aus, wenn der 15. März kam. Es war für ihn ein Tag wie jeder andere, ob zu Hause oder im Büro, wo auch nach sieben Jahren noch keiner zu wissen schien, dass einer ihrer fähigsten Mitarbeiter Geburtstag hatte. Selbst sein Vater dachte schon seit längerem nicht mehr daran. Entweder war er zu beschäftigt, oder es interessierte ihn einfach nicht, oder er hatte es schlicht aus seinem Gedächtnis gestrichen.
»Du bist also Wirtschaftsprüfer«, konstatierte Svenja, nachdem sie an ihrem Wasser genippt hatte. Sie hielt das Glas in der Hand und sah ihn über den Rand hinweg an, als wollte sie durch ihn hindurchsehen oder in ihn hinein. »Du schaust gar nicht so aus. Buchhalter und Wirtschaftsprüfer sind für mich immer steif und geistig unbeweglich – und sie tragen eine Brille«, fügte sie schmunzelnd hinzu und nahm einen weiteren Schluck.
Er lachte auf und schüttelte den Kopf. »Das ist ein gängiges Vorurteil. Ich hab keinen Schimmer, warum man bestimmte Berufe und die dazugehörigen Leute in Schubladen steckt. Aber wir leben halt in einer Welt voller Klischees. Glaub mir, durch meinen Job bekomme ich eine Menge Einblicke in gewisse Vorgänge. Das ist schon recht interessant. Und wie ist es bei dir?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es geht. Ich bin zum Glück an einem Gymnasium und nicht an einer Haupt- oder Gesamtschule, wo es doch des Öfteren zu Konflikten zwischen Deutschen und Ausländern kommt. Trotzdem ist es auch an meiner Schule manchmal ein ganz schöner Knochenjob, vor allem mit den Abijahrgängen.«