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Der gemeinsame Polit-Thriller der Bestsellerautoren Marc Voltenauer und Nicolas Feuz – rasant, atemberaubend und erschreckend aktuell. Der Vergewaltigungsprozess gegen einen hochrangigen Armeeführer versetzt die Schweizer in Aufruhr. Als kurz vor Beginn die Klägerin ermordet wird, ist der Aufschrei gewaltig, doch dann erschüttert ein neuer Vorfall das Land: Während des beliebten Lichtspiels am Berner Bundesplatz erscheint ein Countdown am Bundeshaus. Terroristen fordern die Freilassung eines einflussreichen IS-Mitglieds, andernfalls wird die Schweiz mit Anschlägen überzogen. Ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt, der die Schicksale der beiden Ermittler Staatsanwalt Norbert Jemsen und Kommissar Andreas Auer unausweichlich miteinander verknüpft.
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Ultimatum« bei Istya/Slatkine & Cie.
© 2025 Marc Voltenauer / Nicolas Feuz
© 2025 Istya/Slatkine & Cie
© der deutschsprachigen Ausgabe: Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: picture alliance/KEYSTONE|MARCEL BIERI, Lichtspektakel Rendez-vous Bundesplatz, Bern (2020), von Starlight Events GmbH
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-256-7
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Prolog
»Jeder Mensch, möge er noch so gut sein, kann zum Mörder werden; denn dafür braucht es nur einen guten Grund und einen schlechten Tag.« Nadine hatte diesen Satz in einer Fernsehserie gehört, konnte sich aber an deren Titel nicht mehr erinnern. Ob das auch für den Weihnachtsmann galt? Sie verließ das Parkhaus in Richtung des Marktplatzes. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten Montreux mit einem weißen Mantel. Trotz des Schnees wurde die Stadt an der Riviera des Genfersees dank des Spielcasinos, der Hotelpaläste, der Luxusboutiquen und einiger Palmen ihrem Ruf als das Schweizer Monte Carlo gerecht. Eine Art Monaco ohne Fürstentum, deren Regenten eher Miles Davis, Duke Ellington, Dexter Gordon, Ella Fitzgerald oder sogar Pink Floyd, The Doors oder Led Zeppelin hießen, denn die besten Rockmusiker der Welt waren hier bereits beim Jazzfestival aufgetreten. Montreux war zudem bekannt für den majestätischsten Weihnachtsmarkt der ganzen französischen Schweiz, auf dem man seine Geschenke kaufen konnte. Doch Nadine war aus einem anderen Grund hier.
Zahlreiche Männer drehten sich mehr oder weniger diskret nach der hübschen Dreißigjährigen mit der weißen Daunenjacke und den Pumps um, was sie wie immer ignorierte. Ohne sie überhaupt wahrzunehmen, lief Nadine auf der Suche nach Robi an den Marktständen auf dem Quai entlang und versuchte dabei, die Menschenmenge zu umgehen, die sich um die sorgsam dekorierten und beleuchteten Holzhütten drängte, aus denen es nach Glühwein und Lebkuchen duftete. Nadine stellte sich unter das Vordach einer Hütte, an der Holzschnitzereien angeboten wurden, weil sie dort einen Spiegel bemerkt hatte. Im Schutz vor dem unaufhaltsam fallenden Schnee strich sie den weißen Flaum von ihrem kastanienbraunen Haar und fischte einen roten Lippenstift aus ihrer Handtasche, um die Konturen ihres Mundes nachzuziehen, bis sie im Spiegel einen Weihnachtsmann mit weißem Bart und roter Mütze bemerkte, der sie durch seine unechte Nickelbrille musterte. Beunruhigt durch den kalten Blick der blauen Augen drehte sich Nadine abrupt um, doch der Weihnachtsmann hatte sich bereits in Luft aufgelöst.
Nadine warf einen Blick auf ihre Uhr, eine Cartier Panthère, deren goldenes Armband mehr ins Auge fiel als das diskrete Zifferblatt. Die Zeiger standen auf neunzehn Uhr, Robi sollte also eingetroffen sein.
Vor einem pechschwarzen Himmel schwebte über ihr ein Weihnachtsmann in einem von Rentieren gezogenen Schlitten ein Stahlseil entlang, das vom Schiffsanleger der Ausflugsdampfer bis zum Marktplatz gespannt war. Zur Freude der Kinder stieß der Schlitten dabei große Funkenregenwolken aus. Nadine schenkte dem kaum Beachtung. Aufgrund der Entfernung, der Dunkelheit und des Schneetreibens hätte sie unmöglich sagen können, ob es sich um denselben Mann handelte, der sie vorhin angestarrt hatte. Neben einer in den See hineinragenden Plattform reckte die Statue von Freddie Mercury eine Faust in die Luft und hielt in der anderen Hand einen Mikrofonständer, um mit dieser Pose an das legendäre Wembley-Konzert von 1986 zu erinnern. Direkt daneben glitzerte ein überdimensionaler goldener Hirsch. Weiter oben auf dem Marktplatz lud ein Riesenrad die Besucher dazu ein, das bunte Treiben von oben zu betrachten.
Nadine ging über das rutschige Pflaster an einem Informationsstand vorbei, an dem sie jemand ansprach und ihr einen Prospekt reichte. Die Touristeninformation pries darin eine Fahrt mit der Zahnradbahn auf den Gipfel des Rochers de Naye oberhalb von Montreux an, wo angeblich der echte Weihnachtsmann auf über zweitausend Metern Höhe sein Quartier aufgeschlagen hatte.
Sie verschwand im Treiben unter dem Dach der Markthalle, die »Rouvenaz« genannt wurde und unter Denkmalschutz stand. Ihre prächtige, den berühmten Markthallen von Paris nachempfundene Metallkonstruktion war 1892 in derselben Pariser Schmiede zusammengeschweißt worden, in der auch der Eiffelturm gebaut worden war. Nadine musste bei ihrem Anblick unwillkürlich an einen Kostümball zurückdenken, der die rauschende Stimmung der Belle Époque mit eleganten, langen, fließenden und spitzenbesetzten Kleidern, sorgfältig arrangierten Frisuren und graziösen Hüten heraufbeschworen hatte. Gepuderte Gesichter mit roten Lippen hatten eine Art zeitlosen Glanz ausgestrahlt, und die hochhackigen Schuhe waren das i-Tüpfelchen der Kostüme gewesen, die an eine Epoche erinnerten, die Eleganz zum Ideal erhoben hatte, auch wenn sich die anwesenden Herren an jenem Abend alles andere als kultiviert benommen hatten.
Inmitten der Buden erblickte Nadine den Stand von Robi Caruso, dem Inhaber eines edlen Catering-Services in Brent. Bekannt für seine raffinierten Buffets auf der Basis lokaler Produkte organisierte er regelmäßig Gourmetevents für die Reichen und Schönen.
Sie drängte sich durch das fröhliche Getümmel und machte sich mit erhobener Stimme bei dem jungen Mitarbeiter bemerkbar. »Ist Robi nicht hier?«
»Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen.«
»Weißt du, wann er kommt?«
»Keine Ahnung. Er hat mir nichts gesagt.« Mit entsprechender Mimik, hochgezogenen Schultern und einer schnellen Handbewegung entschuldigte sich der Verkäufer flüchtig und eilte zum nächsten Kunden.
Nadine sah ein, dass sie hier nicht weiterkam. Am Ausgang der Markthalle fand sie neben einem Parkscheinautomaten, vor dem die Menschen Schlange standen, ein ruhiges Eckchen. Sie holte ihr Handy aus der Handtasche und versuchte, Robi anzurufen. Ohne Erfolg.
Während sie ihr Telefon wieder verstaute, bemerkte sie jemanden in ihrer Nähe und schaute auf. Er stand nur wenige Meter von ihr entfernt und starrte sie an. Man hätte ihn für eine rot-weiße Statue halten können. Sie erkannte den Weihnachtsmann von eben wieder. Oder zumindest meinte sie, ihn wiederzuerkennen, auch wenn sein Blick oder seine Augenfarbe ein wenig anders waren. Nadine schauderte.
Die Warteschlange vor dem Riesenrad reichte fast bis zu ihr hin. Instinktiv bewegte sich Nadine durch den kontinuierlich fallenden Schnee auf die Schaulustigen zu und mischte sich unter die dort anstehenden Menschen. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zu dem seltsamen Weihnachtsmann um. Einmal, zweimal. Regungslos starrte er sie an. Beim dritten Mal war er verschwunden, als hätte er sich durch einen Zaubertrick in Luft aufgelöst.
Unbewusst hatte sie sich mit der Warteschlange weiterbewegt und stand nun plötzlich vor der Kasse des Riesenrads. Eine junge Frau hielt ihr ein Ticket hin, Nadine zahlte und nahm in einer frei werdenden Gondel Platz, die sie über die Dächer der Stadt schweben ließ, weit weg vom Lärm der Menge. Von oben beobachtete Nadine, wie sich unter ihr im warmen Licht und im Getümmel des Marktes eine menschliche Ameisenstraße den Quai entlangschob. Dahinter nichts als Dunkelheit. Die Lichter der französischen Städte auf der gegenüberliegenden Seite des Sees waren nur verschwommen zu sehen.
Als die Gondel schaukelnd am höchsten Punkt stehen blieb, merkte Nadine, dass ihr Handy vibrierte. »Robi, wo steckst du, verdammt noch mal?«
»Ich möchte heute Abend nicht runter in die Stadt fahren. Komm du zu mir.«
Nadine nahm eine gewisse Furcht in seiner Stimme wahr. »Das war so nicht vereinbart«, antwortete sie. »Ausgeschlossen, ich kreuze ganz sicher nicht bei dir auf.«
»Warum nicht?«
Sie zögerte. »Ich … ich glaube, dass mich jemand verfolgt.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Bitte komm du her. Jetzt!«
»Okay. Wo sollen wir uns treffen?«, fragte Robi nach kurzem Schweigen.
»Ich warte in der Nähe der Freddie-Mercury-Statue.«
Als sie das Gespräch beendete, hatte sich das Riesenrad weitergedreht, und die Gondel war wieder unten angekommen. Sie ließ sich von der Menschenmenge in Richtung des Seeufers treiben. Sie hielt abrupt inne. Der Weihnachtsmann war da und stand still nur ein paar Meter von ihr entfernt. Es schien, als wolle er ihr den Weg versperren.
Instinktiv drehte sie sich um und hastete zurück zum Eingang der Markthalle. Ihr Puls raste, und ihr Atem ging stoßweise. Ab und zu drehte sie sich nach dem verkleideten Mann um, konnte ihn aber in der wogenden Menge nicht mehr entdecken.
Als sie die Markthalle betreten wollte, stand er wieder vor ihr. Panisch änderte sie die Richtung. Vor lauter Stress konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie wollte nur noch weg, in ihr Auto springen und Montreux so schnell wie möglich verlassen.
Hektisch durchwühlte sie ihre Tasche, fand ihr Parkticket und holte das Portemonnaie raus. Ihre Hände zitterten vor Angst und vor Kälte. Die Kreditkarte fiel ihr hinunter, und eine gute Seele hob sie auf und gab sie ihr lächelnd zurück. Fast ohne sich zu entschuldigen, schob sie eine Frau zur Seite, die gerade bezahlen wollte, und drängte sich vor an den Parkautomaten. Danach hastete sie zum Eingang des Parkhauses und eilte die Treppe hinunter. Eine Etage, noch eine. Eine orangefarbene Metalltür.
Das zweite Untergeschoss wurde von weißlichem Neonlicht erhellt. Eine Neonröhre flackerte nur noch schwach und beschien die verlassene Ebene wie eine Stroboskoplampe mit kurzen Blitzen. Keine Menschenseele weit und breit. Nadine bemerkte ihren Fehler. Sie wäre besser in der Menschenmenge geblieben. Nun war es zu spät, um umzukehren. Sie spürte, wie sie Panik übermannte.
Ihr Auto stand nur wenige Meter entfernt. Die Schlüssel fielen ihr aus der Hand. Sie zitterte wie Espenlaub. Sie bückte sich und schrak zusammen. Vor ihr beziehungsweise zwischen ihr und ihrem Auto stand der Weihnachtsmann. Sie stieß einen Angstschrei aus, fuhr herum und stand vor einem zweiten Weihnachtsmann. Ungläubig schaute sie ihm in die Augen, drehte sich wieder zum ersten um und dann wieder zum zweiten. Jetzt verstand sie, warum sie vorhin gezögert hatte. Beider Blicke waren eiskalt, unterschieden sich aber dennoch. Ihr Verfolger war nicht allein, vielmehr waren sie zu zweit. Zwei Weihnachtsmänner! Ihrer Haltung nach zu urteilen, würden sie ihr keine Geschenke bringen.
Nadine wich ein paar Schritte zurück, sodass sie beide im Blick hatte.
Merkwürdigerweise verharrten sie reglos und gaben keinen Ton von sich. Die Angst hinderte Nadine daran zu schreien. Sie hatte die Kontrolle über sich verloren.
Sie wich einen weiteren Schritt zurück, stieß gegen etwas Weiches, drehte sich um und erstarrte. Vor ihr stand ein dritter Weihnachtsmann. Die Gesichtszüge zwischen Mütze und Bart wirkten feiner, doch die grünen Augen erschienen durch die falsche Brille einschüchternd und bohrend.
Nadine zitterte so heftig, dass sie kaum sprechen konnte.
»Aber … was wollen Sie –?«
Weder konnte sie ihren Satz beenden, noch sah sie die Klinge des großen Messers im flackernden Neonlicht aufleuchten. Der dritte Weihnachtsmann schnappte sich Nadine, drehte sie brutal um und schnitt ihr mit einer präzise geführten Handbewegung die Kehle durch.
1
Als die beiden Kommissarinnen Karine Joubert und Kinga Nowak der Lausanner Mordkommission in Montreux eintrafen, war die Einfahrt zum Parkhaus bereits abgesperrt. Das Blaulicht zuckte über der weißen Umgebung. Karine parkte auf Höhe der Markthalle. Die Polizei hatte eine Sicherheitszone um den Tatort abgeriegelt, hinter der sich die Schaulustigen als kompakte Menschenmenge zusammengedrängt hatten. Karine und Kinga bahnten sich einen Weg bis zu dem rot-weißen Plastikband mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung«, duckten sich darunter durch und gingen auf den von zwei Polizisten des Waadtländer Korps bewachten Eingang zu. Die Menschen, die zu ihren Autos wollten, murrten ungeduldig.
Eine Frau weckte Karines Aufmerksamkeit. »Ich war es, die die 117 angerufen hat. Ich habe drei Weihnachtsmänner im Parkhaus verschwinden sehen. Es schien, als würden sie diese arme Frau verfolgen.«
Karine näherte sich der Zeugin, zog sie von der Menschentraube weg und hielt das Absperrband hoch, um sie durchzulassen. »Weihnachtsmänner, sagen Sie? Und eine Frau?«
»Ja, ich stand am Automaten, um zu bezahlen, und neben mir, vor dem anderen Automaten, war da diese sichtbar gestresste Frau. Sie hat ihre Kreditkarte fallen lassen. Ich habe sie aufgehoben und sie ihr gegeben. Sie hat sich nicht einmal bedankt. Sie hat bezahlt und eine andere Person zur Seite gedrängt, bevor sie eilig über die Treppe ins Parkhaus verschwunden ist.«
»Und weiter?«, unterbrach sie Kinga, die sich zu ihrer Kollegin gesellt hatte.
»Ich wollte auch ins Treppenhaus. Zwei Weihnachtsmänner haben mich im Laufschritt überholt und sind die Treppe runtergehastet. Ein dritter Weihnachtsmann mit grünen Augen hat mich zur Seite geschubst. Ich werde seinen Blick nie vergessen, auch wenn ich ihn nur eine Sekunde gesehen habe. Kalt und hart. Das waren die Augen einer Frau.«
»Und was haben Sie dann getan?«
»Ich bin ins zweite Untergeschoss gegangen, um mein Auto zu holen. Und da habe ich die Leiche der jungen Frau in einer riesigen Blutlache entdeckt. Es war entsetzlich! So etwas habe ich noch nie gesehen … Ich konnte gerade noch sehen, wie einer der Weihnachtsmänner davonlief.«
Karine bedankte sich bei der Zeugin, nahm ihre Daten auf und informierte sie darüber, dass sie noch zu einer schriftlichen Zeugenaussage einbestellt werden würde. Kinga schlug vor, sie von einem Polizisten nach Hause fahren zu lassen, doch sie lehnte das Angebot ab. Ihr Ehemann sei inzwischen eingetroffen und werde sie mitnehmen. Sobald das Parkhaus freigegeben werden würde, kämen sie zurück, um ihr Auto abzuholen.
Karine und Kinga wandten sich zu den beiden Polizisten um und begrüßten sie. Einer von ihnen bewachte das Treppenhaus, der andere den Fahrstuhl.
»Sie können da nicht runtergehen«, sagte der erste. »Die Spurensicherung hat die Treppen noch nicht freigegeben. Aber Sie können mit dem Aufzug fahren.«
Im zweiten Untergeschoss angekommen, betraten Karine und Kinga das Parkhaus, in dem alle Plätze belegt waren. Die Spurensicherung hatte den Tatort abgeriegelt. An der Decke flackerte eine altersschwache Neonröhre. Polizisten in weißen Overalls sicherten die Spuren an der Leiche und entlang des vermeintlichen Fluchtwegs der Mörder.
»Hallo, Christophe«, rief Karine.
Der Kriminaltechniker war dabei, in gebückter Haltung das Opfer zu fotografieren. Er drehte sich um und richtete sich auf. »Hallo, meine Damen.« Er duckte sich unter dem Absperrband durch, gesellte sich zu ihnen und nahm seine Maske ab.
»Habt ihr sie schon identifizieren können?«, fragte Kinga.
»Noch nicht. Wir haben gerade erst den Tatort abgesperrt und fangen nun an, die Spuren in der Umgebung aufzunehmen.«
Karine trat an das Absperrband heran und betrachtete die sterblichen Überreste der Frau, die bäuchlings in einer riesigen Blutlache lag. Das kalte Neonlicht verstärkte die bedrückende Atmosphäre. Ihre langen, in Unordnung geratenen Haare verdeckten das Gesicht, jedoch war die klaffende Wunde an der Kehle gut zu erkennen. Die unregelmäßig aufgerissenen Wundränder zeugten von einer brutalen Vorgehensweise. Ihre weiße Daunenjacke mit der pelzbesetzten Kapuze war von Blut getränkt. Ihre Handtasche, deren Gurt immer noch über ihrer Schulter hing, lag neben ihr.
»Hast du in ihrer Tasche nachgeschaut?«, fragte Karine. »Einer Zeugin zufolge muss ihr Portemonnaie darin sein.«
»Ich möchte zunächst mit den Fotos durch sein, bevor ich etwas berühre«, antwortete der Kriminaltechniker.
»Okay, ich warte, bis du fertig bist, und mache mich in der Zwischenzeit bereit.«
Nachdem Karine einen weißen Overall mit Schutzhaube, Schuhüberzieher und Latexhandschuhe angezogen hatte, duckte sie sich unter dem Absperrband durch und gesellte sich zu Christophe Joly. Sie bemerkte einen Fußabdruck in der Blutlache. Dann öffnete sie vorsichtig die Handtasche, durchsuchte sie und zog ein Portemonnaie heraus. Als sie den Personalausweis des Opfers betrachtete, bekam sie große Augen. Die junge Frau war ihr keineswegs unbekannt, denn sie hatte zu Jahresbeginn die Titelseiten gefüllt.
»Julie Bossart, dreißig Jahre.« Behutsam wischte Karine die Haare des Opfers zur Seite. Ihr Gesichtsausdruck war erstarrt in einer Mischung aus Entsetzen und Überraschung. »Kein Zweifel, das ist sie.«
In ihrer Hand hielt die Unglückliche einen Autoschlüssel. Karine nahm ihn und drückte auf den Knopf. In ein paar Metern Entfernung blinkten die Scheinwerfer eines weißen Golfs auf. Karine durchsuchte die Jackentaschen des Opfers, an die sie herankam, und fand darin eine blaue Packung Dunhill-Zigaretten. Sie durfte die Leiche nicht bewegen, bevor sich der Rechtsmediziner einen ersten Eindruck vor Ort verschafft hatte.
Als könne er ihre Gedanken lesen, hörte Karine die dröhnende Stimme Alain Gyons alias Doc, der seinen erst kürzlich angetretenen Ruhestand abgebrochen hatte, um für eine junge Rechtsmedizinerin einzuspringen, die auf tragische Weise ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte, indem sie vom Glockenturm der Lausanner Kathedrale in die Tiefe gestürzt war. Karine richtete sich auf und verließ die Tatortabsperrung, um den Doc zu begrüßen.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir uns so schnell wiedersehen«, sagte er lächelnd.
Doc war seinem eigenartigen Image treu geblieben. Mit seinem struppigen Haar, seinen dicken Brillengläsern und seiner einzigartigen Erscheinung wirkte er wie ein komischer Kauz, obwohl er als Koryphäe seines Fachs weit über die Grenzen des Landes bekannt war.
»Dem Opfer wurde ganz offensichtlich die Kehle durchgeschnitten«, informierte ihn Karine.
»Ich werde mir das anschauen«, erwiderte er und stellte seinen Koffer ab.
Während Doc sich bereit machte, entfernten sich Karine und Kinga ein paar Meter vom Tatort. Karine zeigte ihrer Kollegin den gefundenen Personalausweis.
»Ach, verdammt!«, rief Kinga. »Wir müssen umgehend Viviane und den Staatsanwalt informieren.«
Viviane Bourgeaux, die Leiterin der Waadtländer Kriminalpolizei, hatte ihr gerade eine Nachricht geschickt. Sie sei auf dem Weg. Unnötig, sie anzurufen.
»Ich werde zuerst Andreas Bescheid sagen«, erklärte Karine.
Hauptkommissar Andreas Auer befand sich auf der onkologischen Station des Universitätskrankenhauses in Lausanne, dem CHUV. Nach ein paar Klingeltönen nahm Andreas das Gespräch an. Statt der üblichen Begrüßungsfloskeln fasste Karine die Situation zusammen und klärte ihn über die Identität des Opfers auf.
Erstaunt schwieg er eine ganze Weile, bevor er antwortete: »Diese Information darf auf keinen Fall durchsickern. Hörst du?«
»Okay. Was gedenkst du zu tun?«
»Ich werde Staatsanwalt Jemsen kontaktieren.«
2
Norbert Jemsen fuhr in Zeitlupe vom Lausanner Justizpalast zum CHUV. Es schneite heftig in der Kantonshauptstadt. Die Straßen waren verstopft, der Winterdienst kam nur langsam voran. An vielen Stellen konnte man die orangefarbenen Warnleuchten der Schneepflüge und Streufahrzeuge in der Dunkelheit aufblinken sehen.
Wie jeder Staatsanwalt musste sich auch Jemsen gleichzeitig mit Hunderten von Akten befassen, manche davon reine Routinearbeit, andere aber sehr komplexe Angelegenheiten. Gerade war ihm einer der momentan heikelsten Fälle zugetragen worden, der seit Jahresbeginn die öffentliche Meinung und alle politischen Kreise der Schweiz erschütterte. Mit Zustimmung des Neuenburger Generalstaatsanwalts hatte er die Ernennung zum außerordentlichen Staatsanwalt im Kanton Waadt akzeptiert, was bedeutete, dass er diesen Fall sehr kurzfristig hatte übernehmen müssen. Der Beginn der Hauptverhandlung war für übermorgen, Montag, angesetzt.
Seit zwei Tagen verbrachte Jemsen seine Zeit zwischen dem Lausanner Domizil seiner neuen Lebensgefährtin Selina Argento, die als Rechtsmedizinerin arbeitete, und dem Gericht in Montbenon, wo er sich intensiv mit der Akte des Falls beschäftigen musste. Er hatte dafür das ganze Wochenende vorgesehen, doch heute Abend hatte ein unvorhergesehenes Ereignis seinen minutiös durchgetakteten Zeitplan durcheinandergebracht: Ein Anruf, auf den er gern verzichtet hätte.
Während sich Jemsen im Stau in Geduld übte, lauschte er den Radionachrichten. Ein Journalist des Senders RTS La Première kommentierte gerade die Affäre, die ihm angetragen worden war:
Im Zuge der Ermittlungen gegen den Korpskommandanten Aloïs Lanteret, der als Chef der Schweizer Armee von seinem Amt suspendiert worden war, nachdem ihn eine Frau zu Jahresbeginn der Vergewaltigung bezichtigt hatte, herrscht große Bestürzung. Vor einigen Tagen hat die Verteidigung die Ablehnung des Generalstaatsanwalts Christian Clerc erreicht und rückwirkend auch jene der Waadtländer Anklagebehörde. In der Angelegenheit war es um einen Verstoß gegen das Berufsgeheimnis des Anwalts gegangen, den die Staatsanwaltschaft hätte verhindern müssen, indem sie die Abschrift der illegalen Telefonüberwachung von Gesprächen zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger vor der Erstellung der Anklageschrift aus der Akte hätte entfernen lassen müssen. Das Bezirksgericht Lausanne hatte jedoch die von der Verteidigung beantragte Vertagung der Verhandlung auf das kommende Jahr abgelehnt. Und wie es das Gesetz in einer solchen – zum Glück sehr seltenen – Situation vorschreibt, hatten die Richter von Montbenon vom Büro des Großen Rats die dringende Ernennung eines außerordentlichen Staatsanwalts in der Person des Neuenburgers Norbert Jemsen zugesprochen bekommen. Dieser lehnt zur Stunde jeden Kommentar ab und erklärt lediglich, dass er bereit sei, die Anklage von Montagvormittag an zu unterstützen.
Am Ende der Sendung hatte der Journalist das Mikrofon an den Starmoderator Jean-Marc Richard übergeben, um die Aktion »Herz für Herz« zu präsentieren, die von mehreren Radio- und Fernsehsendern ausgestrahlt wurde. RTS und Chaîne de Bonheur machten sich dafür stark, so viele Spendengelder wie möglich für die Unterstützung von Kindern zu sammeln, die Opfer von Misshandlung und Missbrauch geworden waren. Der Moderator wies darauf hin, dass dies eine Realität sei, die in der Schweiz immer noch viel zu häufig verschleiert oder verkannt werde.
Jemsen stellte seinen Wagen im Parkhaus des CHUV ab und meldete an der Rezeption seinen Besuch bei einem Patienten auf der Onkologie an. Als man ihn darauf hinwies, dass die Besuchszeit vorbei sei, zeigte er seinen Dienstausweis vor. »Es handelt sich um einen Mitarbeiter der Waadtländer Kriminalpolizei. Er hat mich vorhin angerufen, weil er mich dringend sprechen möchte.«
»Ich verstehe«, erwiderte die Frau am Empfang. »Ich lasse jemanden kommen, der Sie zu ihm bringt. Gedulden Sie sich bitte einen Moment.«
Wenig später ging Jemsen in Begleitung einer Pflegekraft über die Krankenhausflure.
Mit Einbruch der Nacht war der hektische Rhythmus der Aktivitäten nach und nach einer Art lethargischer Ruhe gewichen. Die Schritte des medizinischen Fachpersonals klangen gedämpfter, und nur ein gelegentliches Murmeln hallte durch den Korridor.
Auf einem Plakat wurde der für die krebskranken Kinder organisierte bevorstehende Besuch des Weihnachtsmanns angekündigt. Jemsen dachte an die kleinen kahlköpfigen Kinder, denen der Heiligabend versagt blieb. Auch er feierte Weihnachten nicht, genauso wenig wie seine Verfahrensassistentin Flavie Keller und die Ex-Kommissarin Tanja Stojkaj. Für sie, die unter tragischen Umständen ein Kind verloren hatten, existierte Gott nicht. Bei ihm war es ambivalenter, doch Weihnachten wirkte auf ihn lediglich wie eine kommerzielle Maschinerie. Die jungen Patienten auf der Onkologiestation erwarteten keine Geschenke. Das Einzige, was man ihnen schenken konnte, war die Aussicht auf das Leben oder die Hoffnung, wenigstens noch eine Weile am Leben zu bleiben.
Die Krankenschwester blieb vor einer Zimmertür stehen und verabschiedete sich vom Staatsanwalt. Norbert Jemsen hielt einen Moment inne, die Hand bereits auf der Klinke. Er hatte Andreas Auer bislang noch nicht persönlich kennengelernt, doch sein Ruf eilte ihm voraus. Auer war der Leiter der Mordkommission der Waadtländer Kriminalpolizei. Er hatte in mehreren aufsehenerregenden Fällen ermittelt und sie jeweils mit Bravour gelöst. Erst letzte Woche hatten zwei Ermittlerinnen seines Teams, Karine Joubert und Kinga Nowak, Jemsen in seinem Büro der Neuenburger Staatsanwaltschaft wegen eines ungelösten Tötungsdelikts in La Chaux-de-Fonds aufgesucht.
Jemsen klopfte leise an die Tür und trat ein.
In der Mitte des Zimmers lag ein gut vierzigjähriger Mann mit grauem Haar und Dreitagebart auf seinem Krankenhausbett und schaute Fernsehen, während er auf ihn wartete. Auf einem Tisch neben seinem Bett standen zahlreiche Blumensträuße und eine Schachtel mit Geleefrüchten. Durch das Fenster konnte man den unaufhörlich fallenden Schnee sehen.
Jemsen ging auf Auer zu, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
»Erfreut, Sie endlich kennenzulernen, Monsieur le Procureur.«
»Ganz meinerseits«, antwortete Jemsen und nickte.
In Anbetracht der kurzen Zeitspanne, die ihm zur Vorbereitung der Anhörung am Montag blieb, entschied sich Staatsanwalt Jemsen, ohne Umschweife zum Kern der Sache zu kommen. »Also, was gibt es denn so Dringendes?«
»Wir werden kollaborieren müssen«, antwortete Auer ernst und unmissverständlich.
Jemsen runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.«
»Der Name Julie Bossart sagt Ihnen doch sicherlich etwas.«
»Selbstverständlich. Sie ist die Klägerin im Lanteret-Prozess.«
»Sie wurde heute ermordet.«
Es wurde so still, dass nur noch der Fernseher gedämpft zu hören war. Jemsen sah aus, als habe man ihm eine Ohrfeige verpasst. Er wollte sich gerade nach Details erkundigen, als die Sendung unterbrochen wurde. Unwillkürlich starrten beide Männer auf den Bildschirm, auf dem jetzt der Berner Bundesplatz zu sehen war, auf dem dicht gedrängt eine Menschenmasse stand.
Alljährlich wurde dort um diese Zeit ein gigantisches Lichtspektakel auf die Fassade des Parlamentsgebäudes projiziert. Auf der Kuppel erschien das Gesicht des »Kleinen Prinzen« von Saint-Exupéry, der die Menschenmenge anzustarren schien. Auf dem Gebäude wurde eine endlose Wüste sichtbar, die wiederum nach und nach von der Großaufnahme eines Propellerflugzeugs überdeckt wurde.
Plötzlich wurde alles dunkel. Auf der Kuppel erschien eine weiße 5, gefolgt von den Zahlen 4, 3, 2, 1 … Dann tauchte in roten Großbuchstaben das Wort »ULTIMATUM« auf und nahm die gesamte Fläche der Fassade ein. Erneut wurde das Bild unscharf, und ein paar Sekunden lang flimmerte nur grauer Schnee über den Bildschirm. Kurz darauf erschien, zunächst unscharf, dann immer klarer, ein von einer Sturmhaube verdecktes Gesicht, dessen Augen direkt in die Kamera starrten. Hinter ihm flatterte die schwarze Flagge des Islamischen Staates auf der Wand.
Der Mann sprach Französisch mit einem leichten Akzent. »Im Namen Allahs, des Allmächtigen, des Allweisen. Allah, der Allhöchste, hat gesagt: ›Und sie meinten, dass ihre Festungen sie vor Allah schützten.‹ (Sure 59, Vers 2) Doch Allah kam über sie und hat Schrecken in ihre Herzen gejagt.
Zu unserer großen Verwunderung hat die Schweiz ihre so verdammt heilige Neutralität gebrochen und sich der Perversion ihrer französischen Nachbarn angeschlossen, die das Banner des Kreuzes in Europa tragen.
Die helvetischen Kreuzritter haben unseren Bruder Moussa Jassem al-Maliki, einen heiligen Mann, festgenommen. Sie haben ihn ins Gefängnis geworfen, weil er die Worte Allahs predigt, und sie drohen, ihn an das schändlichste aller Länder auszuweisen: die Vereinigten Staaten! Nach dem Vorbild der amerikanischen Ungläubigen scheint die Schweiz heute der ganzen Welt Lektionen erteilen zu wollen. Dafür wird sie die Konsequenzen tragen müssen.
Dies ist unsere einzige Warnung. Es wird weder Verhandlungen noch eine andere Form der Kommunikation geben. Sollte unser Bruder nicht bis nächsten Freitag, den 21. Dezember, mittags, aus der Haft entlassen worden sein, werden die schwarzen Blitze Allahs auf die Schweiz niederprasseln.
Gläubige Soldaten des Kalifats – denen Allah Macht und Ehre verleiht – stehen bereit, um an verschiedenen, minutiös ausgewählten strategischen Orten im Herzen eurer Institutionen, eurer Gewohnheiten und eurer kleinen friedlichen Existenzen zuzuschlagen. Unsere Waffenbrüder fürchten sich nicht davor, das irdische Leben zu verlassen. Ihr Tod führt sie auf den Weg zu Allah. Sie werden seiner Religion, seinem Propheten und seinen Verbündeten beistehen und seine ungläubigen Feinde demütigen. Unterstützt von Allah, der ihnen ihre Aufgabe erleichtern und ihnen den Märtyrertod gewähren wird, werden sie Furcht in die Herzen der Kreuzfahrer in ihrem eigenen Land säen. Die Zahl der Toten und der Verletzten wird in die Tausende gehen.
Die Feinde Allahs müssen wissen, dass sie weiterhin die wichtigsten Ziele des Islamischen Staates sind. Sie werden auch künftig den Geruch des Todes riechen, weil sie den Kreuzzug angeführt haben, weil sie es gewagt haben, den Propheten zu beleidigen, weil sie sich damit gebrüstet haben, den Islam in Europa zu bekämpfen und die Muslime im Land des Kalifats angegriffen haben.
Es ist an euch, dafür zu sorgen, dass dieser Sturm euer Land nicht verwüstet.
Allah ist der Allhöchste. Die Macht liegt bei Allah und bei seinem Gesandten und den Gläubigen. Doch die Heuchler wissen es nicht.«
3
Die drei Weihnachtsmänner hatten ihren Schlitten – einen schwarzen Ford Explorer – ein wenig abseits der versteckten Felsöffnung zurückgelassen. Als sie durch die schwere, knarzende Tür eintraten, ließen sie die pechschwarze, in Schneeflocken gehüllte Nacht hinter sich, um in einen Stollen einzutauchen, der geradewegs in die Eingeweide der Erde zu führen schien.
Schweigend folgten sie dem mannshohen, komplett mit Beton ausgekleideten Tunnel, an dessen Decke die Rohre für die Kanalisation verliefen und daneben dünne Stahlrohre für Stromkabel und Telefonleitungen. In regelmäßigen Abständen verbreitete eine Wandleuchte ein wenig Licht in der Dunkelheit.
Wegen der Kampfstiefel hallten die Schritte der drei Weihnachtsmänner wider und setzten sich als Echo von Wand zu Wand fort, sodass es den Anschein hatte, ein ganzes Bataillon marschiere diese Gänge entlang.
Die drei Weihnachtsmänner schritten an einer Abzweigung vorbei, dann an einer zweiten und dritten. In diesem unterirdischen Labyrinth kamen sie links und rechts an gepanzerten Türen vorbei, setzten aber ihren Weg unbeirrt fort. Sie kannten diesen Ort in- und auswendig und wussten genau, wohin sie gehen mussten: dorthin, wo sie Schneewittchen und die anderen vier Zwerge erwarteten.
Vor ihnen endete der Gang vor einer weiteren Panzertür. Der erste Weihnachtsmann öffnete sie, ließ die anderen beiden eintreten und schloss sie danach hinter sich.
Sie befanden sich in einem lang gezogenen großen Saal. In der Mitte stand ein Fließband auf einem metallenen Gestell, das ein wenig an eine Fertigungsstraße in einer Fabrik erinnerte. Der Betonboden war mit Epoxidharz beschichtet, der im weißlichen Neonlicht glänzte. Man hätte meinen können, sich in einer Vintage-Fertigungshalle zu befinden. Das Fließband transportierte siebzig Zentimeter lange kupferfarbene Patronenhülsen, die einen Durchmesser von fünfzehn Zentimetern hatten. Weiter vorne waren auf einem Laufwagen knallgelbe Granaten vom gleichen Kaliber gestapelt, die man für mit Orangensaft gefüllte Flaschen hätte halten können. Das Fließband endete an einem Paternoster, der als Munitionsaufzug diente.
Die Weihnachtsmänner blieben vor einem an die Wand geschraubten Kleiderständer stehen, zogen ihre roten Mäntel aus, hängten sie auf und brachten ihre Kampfanzüge in Ordnung.
Zwei Männer und eine Frau. Der breitschultrigere Mann trug einen echten schwarzen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, und ein aufgenähtes Namensschild, das ihn als Hatschi auswies. Der zweite war schmaler gebaut, deutlich unauffälliger und trug das Pseudonym Pimpel. Die taillierter geschnittene Schweizer Militärkleidung der dritten Person ließ einen athletischen Körper erahnen. Ihr kantiges Kinn und ihr kurz rasiertes Haar, das ihre abstehenden Ohren entblößte, verliehen ihr ein markantes Aussehen. Die Frau wirkte wie eine moderne Version gewisser ikonografischer Darstellungen der Jeanne d’Arc in Rüstung, die in der einen Hand ein Schwert trug und mit der anderen eine Fahne schwenkte. Ihr Gesichtsausdruck war so hart, dass man ihr nicht in einer dunklen, verlassenen Gasse hätte begegnen mögen. Sie nannte sich Schlafmütz.
»Dein Kragen«, bemerkte Hatschi. »Reinige ihn und dann komm. Schneewittchen erwartet uns.«
Schlafmütz senkte ihren Blick, konnte aber die Stelle nicht sehen, auf die Hatschi gezeigt hatte. Schweigend ging sie zu einem emaillierten Waschbecken mit Spiegel. Im Spiegelbild bemerkte sie die dunkelroten Flecken. Ihr falscher Bart und ihr Mantel hatten sie nicht ausreichend vor dem umherspritzenden Blut Nadines geschützt. Sogar auf ihrer Haut und ihrer Camouflagejacke fand sich getrocknetes Blut.
Schlafmütz befeuchtete die Ecke eines Schwammes mit kaltem Wasser, wischte ihren Hals ab und rieb so lange auf dem Stoff herum, bis auf den hellsten Flecken ihrer Jacke nur noch vage Ränder zu sehen waren. Sie nutzte die Gelegenheit, auch ihr Messer mit der achtzehn Zentimeter langen Karbonstahlklinge zu reinigen. Das Wasser im Waschbecken färbte sich rot. Mit dem Ergebnis zufrieden, wischte Schlafmütz die Waffe trocken, schob sie in die Messerscheide an ihrem Gürtel zurück und trat zu ihren beiden Komplizen.
Zu ihrer Rechten befand sich eine Art verglaste Kommandozentrale. Inmitten des veralteten Materials aus dem Kalten Krieg hatten Schneewittchens »Männer« – die alle einen Namen der sieben Zwerge trugen – das allerneueste Hightech-IT-Equipment installiert. Computer, Festplatten, zahlreiche Bildschirme und Tastaturen nahmen den ganzen verbliebenen Platz ein. Wie ein DJ hinter seinem Mischpult bediente Seppl als Informatiker die Technik, ohne die in dieser ultravernetzten Welt nichts mehr lief. Hinter ihm standen kerzengerade und mit verschränkten Armen drei weitere Soldaten: eine Frau, die sich Chef nannte, und zwei Männer mit Namen Happy und Brummbär sowie der achtunggebietende Dirigent der Truppe, dem die Zwerge aufs Wort gehorchten: Schneewittchen.
Schneewittchen und die Zwerge starrten auf einen der Bildschirme, auf dem das Ende des Ultimatums der islamistischen Terroristen zu sehen und zu hören war: »Die Macht liegt bei Allah und bei seinem Gesandten und den Gläubigen. Doch die Heuchler wissen es nicht.« Das Bild verschwamm, und der Mann mit der Sturmhaube verschwand. Einen Moment lang sah man nichts als grauen Schnee, dann kehrte das Bild zurück und zeigte den Moderator Jean-Marc Richard. Er schien wie auch die vielen tausend Zuschauer aus der Westschweiz, die die Sendung »Herz für Herz« live verfolgt hatten, nicht zu verstehen, was gerade passiert war. Mit einem Finger das Headset ans Ohr drückend und in der anderen Hand ein Mikrofon schaute er nicht mehr in die Kamera, sondern schien sich mit der Regie in Genf auszutauschen.
Als Schneewittchen die Rückkehr der drei Soldaten bemerkte, wandte es sich ihnen zu und fragte lediglich: »Und?«
»Auftrag erledigt«, erwiderte Hatschi.
Noch 5Tage bis zum Ablauf des Ultimatums
Terroristische Bedrohung in der Schweiz
Der Islamische Staat fordert die Freilassung des Terroristen Moussa Jassem al-Maliki
Eine nie da gewesene Krise erschüttert derzeit die Schweiz. Terroristen, die behaupten, dem Islamischen Staat anzugehören, haben der Schweizer Regierung ein Ultimatum gestellt. Sie fordern die Freilassung einer Galionsfigur des internationalen Terrorismus.
Infolge eines doppelten Hackerangriffs wurde eine alarmierende Botschaft auf die Fassade des Berner Bundeshauses projiziert und live von den drei nationalen Fernsehsendern übertragen. Die Terroristen fordern die Freilassung von Moussa Jassem al-Maliki, der aktuell in der Justizvollzugsanstalt Thorberg einsitzt.
Der Islamische Staat droht damit, die »schwarzen Blitze Allahs« über der Schweiz zu entfesseln, und sprach von Tausenden Todesopfern, sollte seiner Forderung nicht nachgekommen werden. Eine derartige, noch nie zuvor erlebte Bedrohung hat die Schweizer Regierung völlig unvorbereitet getroffen.
»Während die Bevölkerung auf schnelle und wirksame Maßnahmen hofft, lassen konkrete Entscheidungen auf sich warten«, kritisierte die Schweizerische Volkspartei, SVP, in einer Pressemitteilung. Die Partei beklagte eine »generelle Unsicherheit, die Angst und Unruhe schürt«, und forderte eine Mobilisierung der Armee.
Einige Kantone haben bereits reagiert und ihre Polizeikräfte mobilisiert, um die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten.
Nachrichtenagentur Keystone-SDA
4
Das schwere metallene Garagentor der Zentrale der Kantonalen Polizei Blécherette öffnete sich lautlos. In ihrem Zivilfahrzeug fuhr Karine Joubert langsam bis zu dem für sie reservierten Parkplatz, stieg aus und ließ die Fahrertür zuschlagen. Sie hatte das Gefühl, die Szene von vor zwei Wochen erneut zu durchleben. Ein Verbrechen am Samstagabend. Eine schlaflose Nacht. Und am Sonntagmorgen bei Tagesanbruch die Einrichtung einer Sonderkommission, die weitere schlaflose Nächte versprach.
Als sie am Vortag Andreas im Krankenhaus besucht hatte, hatte sie ihm angekündigt, dass sie ein paar Tage Urlaub einreichen werde. Das letzte Ermittlungsverfahren war abgeschlossen, der Abschlussbericht geschrieben. Und dann hatte ihr Telefon geklingelt, und sie hatte einen neuen Fall am Hals, der es in sich hatte. Sobald die Identität des Opfers bekannt wäre, würden sich die Medien darauf stürzen, und man würde von nichts anderem mehr sprechen als von Julie Bossart. Mit etwas Glück würde das gestern Abend von den Terroristen gestellte Ultimatum die Aufmerksamkeit der Presse ablenken, sagte sich Karine.
Andreas’ Krankenhausaufenthalt näherte sich dem Ende. Er würde nach Hause zurückkehren dürfen, allerdings hatten ihn die Ärzte noch für mindestens zwei Monate krankgeschrieben. Karine würde also erneut mit Kinga zusammenarbeiten. Sie wusste, dass ihr Chef und Freund immer in ihrer Nähe sein würde. Sie konnte stets auf ihn zählen, auch wenn die Chirurgin ausdrücklich erklärt hatte, dass Andreas sich ausruhen müsse. Seine Gesundheit hänge davon ab.
Als Karine die Räumlichkeiten der Mordkommission der Waadtländer Kantonspolizei betrat, diskutierten Kinga Nowak und Bakary Zuma in der Nähe des Kaffeeautomaten über das Ultimatum.
Für Bakary war eine terroristische Bedrohung der Schweiz außerhalb seines Vorstellungsvermögens. »Wir haben uns immer in Sicherheit gewiegt. Und jetzt trifft es uns mit voller Wucht.«
»Die Verhaftung des Islamisten hat unser Image in den Augen der Amerikaner aufgewertet«, mischte sich Karine in das Gespräch ein. »Vor allem nach den ganzen Bankenskandalen, die dem guten Ruf unseres Landes geschadet haben. Und plötzlich verwandelt sich das in ein vergiftetes Geschenk.«
»Und wir stehen auf derselben Liste wie die Vereinigten Staaten als Feinde Allahs …«, erwiderte Bakary.
»Unsere schöne Neutralität«, sagte Karine ironisch. »Wir strengen ein Auslieferungsverfahren an, um diesen Extremisten in die USA zu schicken, und schon setzen uns diese Fanatiker mit den Amerikanern gleich.«
»Die Bundespolizei Fedpol muss Gewehr bei Fuß stehen«, sagte Kinga.
»Ich möchte mir das gar nicht bildlich vorstellen«, erwiderte Karine. »Aber schließlich können wir uns mit unserem gewöhnlichen Mord, wenn man das so sagen darf, auch nicht beschweren –«
Viviane Bourgeaux war zu ihnen getreten und unterbrach sie. »Und wir werden unsere Arbeit machen«, erklärte sie, um zu zeigen, dass sie das Ende ihrer Diskussion mitbekommen hatte. »Also, ans Werk! Wir haben einen Fall zu lösen …«
Sie folgten der Leiterin der Kriminalpolizei in den Besprechungsraum, wo sie Christophe von der Spurensicherung bereits erwartete.
Viviane legte ohne Umschweife los. »Letzte Nacht hat der diensthabende Staatsanwalt Jean-Luc Nicod die Wohnungsdurchsuchung des Opfers angeordnet, aber letztlich ist Norbert Jemsen seit heute Morgen mit dem Mordfall in Montreux betraut.«
»Ein Neuenburger wird unsere Ermittlungen leiten?«, fragte Bakary erstaunt mit einem Schmollmund.
»Ganz genau. Da das Opfer Julie Bossart als Klägerin im Lanteret-Prozess auftreten sollte, hielt es das Büro des Großen Rats, das zuvor bereits Jemsen zum außerordentlichen Staatsanwalt im Prozess gegen den Armeechef ernannt hat, angesichts der Ablehnung in corpore durch die Anklagebehörde für unpassend, einen Waadtländer Staatsanwalt mit der Untersuchung ihres gewaltsamen Todes zu betrauen.«
»Wir hatten schon mit Jemsen zu tun«, bemerkte Kinga.
»Ja, ich weiß. Ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen, und er hat mir erzählt, dass er gestern Abend Andreas im Krankenhaus aufgesucht hat«, antwortete Viviane und starrte dabei Karine vorwurfsvoll an.
»Ich gebe zu, dass ich Andreas über den Mord informiert habe«, sagte Karine. »Und er hat daraufhin Jemsen kontaktiert.«
»Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass Andreas krankgeschrieben ist?«, fragte Viviane streng.
Karine verneinte, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Gut!«, erklärte Viviane. »Ich möchte nichts mehr von ihm hören, solange er nicht wieder genesen und zurück im Dienst ist. Ist das klar?«
»Ist notiert«, sagte Karine, neigte den Kopf und schielte ironisch lächelnd zu Viviane.
Viviane schüttelte nur den Kopf und seufzte. Sie wusste wohl, dass es sinnlos wäre, weitere Worte darüber zu verlieren, wenn diese kein Gehör fanden, daher fuhr sie fort. »Staatsanwalt Jemsen, der derzeit wegen des morgigen Prozessauftaktes sehr beschäftigt ist, hat mich wissen lassen, dass er uns mit den Ermittlungen betraut. Allerdings muss ich ihn regelmäßig über den aktuellen Stand und sämtliche neuen Entwicklungen informieren.«
»Wie werden wir uns gegenüber den Medien verhalten?«, fragte Bakary.
»Keine Pressekonferenz zum jetzigen Zeitpunkt. Das Thema muss mit Jemsen im Laufe des Tages erörtert werden. Bis dahin erwarte ich absolute Diskretion. Ich habe mit unserem Pressesprecher geredet. Er wird heute Vormittag ein kurzes Kommuniqué zum Mordfall verschicken, ohne die Identität des Opfers zu nennen. Karine, du wirst die Ermittlung leiten, und Kinga wird dir dabei zur Seite stehen. Bakary, du bist für die Koordination verantwortlich.«
Nachdem alle genickt hatten, begann Karine mit den Ausführungen. »Die Identität des Opfers ist bestätigt. Es handelt sich um die dreißigjährige Julie Bossart. Eine High-Class-Escort-Lady, die sich Nadine nannte. Offiziell hat sie auf eigene Rechnung gearbeitet und besaß eine eigene Website. Gewohnt hat sie in einem Appartement mitten in Lausanne am Place de la Palud in der Cité. Julie Bossart war Klägerin im Prozess gegen den Armeechef Aloïs Lanteret. Sie beschuldigte ihn, sie im Januar, am Abend des Neujahrsempfangs der Polizeiakademie in Savatan, vergewaltigt zu haben.«
»Da war ich auch«, sagte Viviane. »Wie jedes Jahr.«
»Hast du Julie Bossart gesehen?«, fragte Karine.
»Ich kann mich nicht an sie erinnern. Es waren unendlich viele Leute da, Polizisten und Staatsanwälte aus allen Kantonen und auch jede Menge Militärs.«
»Ich glaube, dass wir uns noch einmal mit der Vergewaltigungsaffäre beschäftigen müssen«, erklärte Bakary. »Ich denke, wir alle haben diesen Fall nur von Weitem verfolgt, denn der wurde ja damals von den Kollegen von der Sitte behandelt.«
»In der Tat müssen wir diese Angelegenheit nochmals genau unter die Lupe nehmen«, sagte Viviane. »Ihre Ermordung könnte damit in Zusammenhang stehen. Lanteret wäre der perfekte Verdächtige. Und hat sicher ein Interesse daran, dass Bossart nicht aussagt, auch wenn diese Hypothese nach meinem Geschmack etwas zu naheliegend erscheint. Auf jeden Fall werde ich die Sitte um Akteneinsicht ersuchen.«
»Einverstanden«, erklärte Karine. »Es ist wichtig, diesen Fall ohne Vorurteile anzugehen und ihn von hinten aufzurollen. Wir müssen Bossarts Leben durchleuchten. Vielleicht passte ihr Tod ja auch anderen Leuten in den Kram.«
»Ich konnte bereits die Videoaufzeichnungen aus dem Parkhaus organisieren«, gab Bakary bekannt.
Er spielte die Aufnahmen des Mordes auf einem LED-Bildschirm an der Wand ab. Sie konnten zwei Weihnachtsmänner erkennen, die Nadine verfolgten, und dann einen dritten, der sie von hinten überraschte, sie packte und ihr die Kehle durchschnitt.
Die Bilder machten sie sprachlos.
»Der Weihnachtsmann, der Bossart die Kehle durchgeschnitten hat, wirkte femininer beziehungsweise zierlicher als die beiden anderen«, sagte Kinga. »Was sich mit der Aussage der Zeugin aus Montreux deckt, die uns alarmiert hat. Er ist kleiner als die beiden anderen, die eine beeindruckende Statur haben.«
»In der Blutlache des Opfers haben wir einen Schuhabdruck Größe 38 sichern können«, mischte sich Christophe ein. »Dieser passt zu einem ehemaligen Kampfstiefel der Schweizer Armee – dem Modell KS 90.«
»Diese Stiefel sind auf den Aufnahmen gut zu erkennen«, bestätigte Bakary. »Aber davon gibt es in der Schweiz Tausende.«
»Als wir in der Nacht im Appartement von Julie Bossart Spuren gesichert haben«, fuhr Christophe fort, »haben wir dort ebenfalls Abdrücke dieser Kampfstiefel gefunden. Einen davon in Größe 38 und zwei in Größe 46.«
»Unsere drei Weihnachtsmänner haben offensichtlich auch die Wohnung des Opfers aufgesucht«, sagte Kinga. »Bei der Wohnungsdurchsuchung haben wir festgestellt, dass dort alles auf den Kopf gestellt war.«
»Was haben sie dort gesucht?«, murmelte Bakary, als spräche er zu sich selbst.
»Kannst du das Bild von einem der Weihnachtsmänner vergrößern?«, fragte Karine.
Bakary kam ihrer Bitte nach.
»Unmöglich, bei dieser Verkleidung ihre Gesichter zu erkennen«, sagte Karine. »Man sieht nur die Augen hinter den Brillen. Und die Tarnkleidung, die unter den roten Mänteln hervorschaut.«
»Vom Chef der Armee angeheuerte Soldaten, um die Klägerin auszuschalten? Ein von Lanteret persönlich befohlener Auftragsmord?«, schlug Kinga vor.
»Wenn es sich wirklich um Angehörige der Armee handeln würde, warum tragen sie dann Militärkleidung?«, fragte Bakary. »Das würde sie doch verraten. Es sei denn, sie wollten Aufmerksamkeit erregen und eine Botschaft übermitteln. Oder Spuren verwischen.«
»Glaubst du, dass sie absichtlich versucht haben, den Eindruck einer militärischen Beteiligung zu erwecken?«, fragte Viviane.
»Vor dem Hintergrund des aktuellen Prozesses würde ich, wenn ich diese junge Frau töten wollte, auf jeden Fall dafür sorgen, dass es so aussieht, als hätte dieser Armeechef etwas damit zu tun«, sagte Bakary. »Alle Schweizer, die im Militär waren oder sind, haben dieses Kampfstiefelmodell und diese Feldjacke bei sich zu Hause. Aber jeder kann die Sachen auch in Armeeshops und im Internet kaufen. Nichts leichter als das.«
»Allerdings«, bemerkte Kinga, »wirkt die Vorgehensweise der drei Weihnachtsmänner sehr professionell.«
»Ein Auftragsmord ist absolut plausibel«, gab Karine zu. »Bis wir weitere Spuren gefunden haben, sollten wir schleunigst Lanteret vorladen. Wir müssen sein Alibi überprüfen und sein Smartphone und seinen Computer auswerten.«
Viviane hüstelte diskret. »Ich habe diese Möglichkeit bereits mit Staatsanwalt Jemsen besprochen«, sagte sie. »Er hat keine Einwände, verlangt aber, dass Lanteret vor einer Einvernahme zunächst morgen früh vor Gericht erscheint. Er ist sicher, dass der Prozess aufgrund des Todes der Klägerin vertagt wird. Von diesem Zeitpunkt an gehört Lanteret uns.«
Alle nickten.
Nach einer kurzen Pause ergriff Kinga wieder das Wort. »Wer, glaubt ihr, könnte noch Interesse an Julie Bossarts Tod haben?«
»Es könnte eine andere Spur geben, die zur Armee führt«, sagte Bakary. »Die Debatten über das Budget der Armee haben markante Kontroversen offenbart. Vorstellbar wäre also auch ein Gegner des Militärs, der die Armee diskreditieren will, indem er Lanteret den Mord anhängt. Oder ein leidenschaftlicher Anhänger des Militärs, der dem obersten Befehlshaber der Armee eine strafrechtliche Verurteilung ersparen will. Sämtliche Hypothesen sind möglich.«
5
In einem zu engen Dreiteiler und mit einer schief sitzenden Krawatte stand Serge Hamon leicht gebeugt und mit den Händen auf dem Rücken verschränkt an einem Fenster im ersten Stock des Westflügels des Bundeshauses. Mit ernster Miene und mit den Gedanken woanders blickte er hinab auf die mäandernde Aare, ohne sie wirklich zu sehen. Sie umschloss die Berner Altstadt und floss friedlich unter den Brücken hindurch. In der Morgensonne glitzerte ein zarter Schneefilm auf den Dächern und in den Gärten. Die Schornsteine rauchten, und die Temperatur war eisig. Ganz Bern blieb geschlossen. Die Straßen waren menschenleer.
Auch Serge Hamon, der auf die sechzig zuging, hätte gerne von einem Sonntag zusammen mit seiner Familie, im Warmen, in seiner Villa in Grandvaux, an der Seite seiner zehn Jahre jüngeren Frau Caroline und der beiden spät geborenen Kinder geträumt: der achtjährigen Cindy und des sechsjährigen Arthur. Doch die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, verlangte große Opfer. Er war einer der sieben Bundesräte, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, VBS, und zudem Mitglied der nationalkonservativen SVP, eine der größten Parteien der Schweiz. Die Sicherheit des Landes war sein Steckenpferd. Die terroristische Bedrohung der Schweiz bot eine außergewöhnliche politische Gelegenheit, ein günstiges Zeitfenster.
Zu allem Überfluss hatte Hamon für ein Jahr das rotierende Amt des Bundespräsidenten inne. Er war zwar nicht das Staatsoberhaupt, wie sein Titel hätte vermuten lassen können, sondern lediglich Primus inter Pares, also der Erste unter Gleichgestellten im Bundesrat.
Hamon nahm seine Brille ab, wischte die Gläser mit der Rückseite seiner Krawatte ab und setzte sie wieder auf. Die dicken und nicht getrimmten dunklen Augenbrauen über dem dünnen Titangestell verliehen ihm das Antlitz einer Eule. Er liebte das Sitzungszimmer, in dem der Bundesrat allwöchentlich zusammenkam und das den Beinamen »Chalet fédéral« trug: die Wandtäfelung aus dem 19. Jahrhundert, die hohe Stuckdecke, den riesigen Leuchter als Relikt aus den Anfängen der Gasbeleuchtung …
Hamon klopfte auf die Armlehne seines Sessels und schaute auf die Uhr. Sein Gesprächspartner würde in einer Minute eintreffen, präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Im Land der Uhrenindustrie galt militärische Genauigkeit als Dogma. Hamon erhob sich und ging langsamen Schrittes ins Vorzimmer hinüber.
In der Mitte stand ein moderner, von zehn Stühlen mit geschwungenen Lehnen umrahmter Tisch, an dem die Bundesräte üblicherweise ihre Pausen verbrachten und gelegentlich gemeinsam den Lunch einnahmen. In der Tischmitte stand ein Blumenstrauß. Der Kamin auf der rechten Seite war das einzige Überbleibsel der ursprünglichen Ausstattung des Raumes. Aufrecht wie ein Stock stand Korpskommandant Martin Humel mit kurz geschnittenem grauem Haar, einer taillierten grünen und mit Streifen und Abzeichen bedeckten Uniform in der Tür des Vorzimmers und begrüßte Hamon mit einem militärischen Salut.
»Unter uns doch nicht, Martin«, murrte Hamon und reichte ihm die Hand.
»Ganz wie du willst, Monsieur le Président«, antwortete Humel lächelnd.
Das Protokoll sah vor, dass man sich aus Respekt vor Dienstgraden und Funktionen siezte, doch Humel hatte sich nie viel aus Formalitäten gemacht oder vor Politikern gekatzbuckelt.
»Ist Reinmann schon da?«, fragte Humel.
»Er erwartet uns im Bureau de la présidence. Widmer sollte ebenfalls eingetroffen sein.«
Nachdem Aloïs Lanteret aufgrund des laufenden Strafverfahrens von seiner Verantwortung als Armeechef entbunden worden war, hatte Serge Hamon dessen Stellvertreter bestellt. Korpskommandant Martin Humel hatte den Posten kommissarisch übernommen und nahm parallel weiterhin seine Aufgaben als Chef des Einsatzkommandos wahr.
Auf dem Korridor, der zum Bureau de la présidence führte, flüsterte Hamon: »Dass das zwischen uns klar ist, Martin, vor Reinmann und Widmer bist du lediglich als Berater zugegen.«
»Das ist mir absolut bewusst.«
»Gut. Ich möchte so weit wie möglich verhindern, dass das Gerücht über einen möglichen Einsatz der Armee in der Bundeskriminalpolizei oder in anderen Institutionen die Runde macht. Oder, was noch schlimmer wäre, in den Medien oder in der Bevölkerung.«
»Ich habe es klar und deutlich verstanden.«
Das Bureau de la présidence im ersten Stock des Westflügels wurde häufig als Sitzungszimmer genutzt. Nach den üblichen Begrüßungs- und Vorstellungsfloskeln setzten sich Serge Hamon, Martin Humel, Beat Reinmann als Direktor des Bundesamts für Polizei Fedpol und Bundesanwalt Gabriel Widmer um den großen ovalen Tisch. An den Wänden hingen Tapisserien, Bilder von Le Corbusier und ein Fernsehbildschirm.
»Zu Beginn möchte ich die Abwesenheit meines Amtskollegen vom Justiz- und Polizeidepartement entschuldigen, der aufgrund anderer Verpflichtungen verhindert ist«, verkündete Hamon. »Per Videokonferenz ist uns der Direktor des Nachrichtendienstes des Bundes zugeschaltet. Er konnte nicht in persona erscheinen, dennoch wollte ich, dass er uns einen Überblick über die Lage gibt. Charles, ich überlasse Ihnen das Wort.«
»Ich werde mich kurzfassen«, ließ der Direktor des Nachrichtendienstes über den Bildschirm verlauten. »Die Schweiz ist Teil der westlichen Welt, die von Dschihadisten als islamfeindlich eingestuft wird. Dennoch sind andere Länder wie beispielsweise Frankreich aufgrund ihrer militärischen Beteiligung an internationalen Allianzen gegen den Islamischen Staat, was uns aufgrund unserer Neutralität natürlich verwehrt ist, deutlich exponierter. Bisher war das plausibelste Terrorszenario für die Schweiz die Tat eines vom Dschihad inspirierten, psychisch gestörten Einzeltäters, der es auf Ansammlungen unschuldiger Menschen, zum Beispiel auf Weihnachtsmärkten, abgesehen hat. Doch dieses Ultimatum verändert die Lage. Wir haben derzeit keine Hinweise auf eine konkrete Planung eines großen Anschlags auf unserem Staatsgebiet, dennoch nehmen wir dieses Risiko sehr ernst.«
Hamon bedankte sich und beendete die Videokonferenz. Er warf Martin Humel einen kurzen Blick zu und fuhr fort: »Wenn wir hier heute mit dem Armeechef ad interim zusammengekommen sind, dann, weil wir von Ihnen, Herr Reinmann, erwarten, dass Sie uns über den aktuellen Stand der Ermittlungen informieren. Das Ultimatum läuft in fünf Tagen ab, und wir müssen in Echtzeit über alle Parameter verfügen, um zu entscheiden, ob eine militärische Intervention wünschenswert wäre.«
»Sie erwägen die Verhängung des Kriegsrechts?«, fragte der Fedpol-Direktor lächelnd.
»So weit sind wir noch nicht«, antwortete Hamon ernst. »Sollte sich das jedoch als erforderlich erweisen, würde ich nicht zögern, meine Kollegen von der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme zu überzeugen, um die Bevölkerung zu schützen.«
»Wenn es dazu kommen sollte, wären einige Vorbereitungen zu treffen«, erklärte Humel.
»Die Idee wäre«, fügte Hamon hinzu, »wie Frankreich und Belgien das Militär nach dem Vigipirate-Sicherheitsplan einzusetzen, um die Orte mit dem größten Publikumsverkehr zu sichern.«
»Die Armee für ein Problem hinzuzuziehen, das die innere Sicherheit betrifft, ist eine Schwelle, die ich lieber nicht überschreiten möchte«, mischte sich Bundesanwalt Widmer ein.
Der Fedpol-Direktor stimmte ihm schweigend zu.
»Sie wissen, was Sie tun müssen, um dies zu verhindern, Reinmann. Identifizieren Sie diese Terroristen so rasch wie möglich, um deren Pläne zu durchkreuzen«, sagte Hamon.
Der Fedpol-Direktor nickte und wandte sich an Widmer. »Was sagt das Gesetz zu einer Mobilisierung der Armee?«
»Die Verfassung überträgt dem Bundesrat die Befugnis, außerordentliche Anordnungen zu treffen, die im Bundesgesetz im Maßnahmenkatalog für den Fall einer außergewöhnlichen Gefahr geregelt sind. Diese umfassen insbesondere die Mobilisierung der Armee, was wiederum die Verlegung von Truppen, den Schutz der Grenzen und andere Vorkehrungen zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit beinhalten kann.«
Hamon unterbrach ihn. »Herr Bundesanwalt, Korpskommandant Humel wird Ihnen bei Bedarf den Mobilisierungsplan zukommen lassen, den er vorbereitet hat.«
»Der logistische Aspekt fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich«, erwiderte Widmer. »Ich werde mich darauf beschränken, die Rechtmäßigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen und die Einhaltung des Individualrechts zu überprüfen.«
»Selbstverständlich. Dieses Ultimatum kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die Sitzungsperiode der Kammern ist in vollem Gange, und wie Sie wissen, haben die Parlamentarier die Abstimmung über den Bundeshaushalt auf Freitag verschoben. Respektive vertagt, weil große Uneinigkeit über den für die Armee vorgesehenen Etat herrscht.«
»Welche Haltung vertritt denn der Bundesrat bezüglich einer eventuellen Freilassung des inhaftierten Moussa Jassem al-Maliki?«, fragte Widmer.
»Es steht außer Frage, den Forderungen der Terroristen nachzugeben«, erwiderte Hamon.
»Wir prüfen gerade die Möglichkeit, Zeit zu gewinnen«, warf der Fedpol-Direktor ein. »Zunächst einmal könnten wir dem Antrag stattgeben, den die Terroristen gestern Abend nach dem Ultimatum schriftlich bei der Bundeskanzlei eingereicht haben, nämlich den Gefangenen von der Justizvollzugsanstalt Thorberg nach Bochuz zu verlegen. Das erfordert allerdings gewisse Vorkehrungen.«
»Haben die nicht auch anschließend einen Transport des Häftlings zum Militärflugplatz Payerne gefordert und eine Bereitstellung eines Flugzeuges?«, fragte Widmer.
»Exakt«, erwiderte Hamon.
»Und das ist auch der Grund, warum ich heute hier bin«, fügte Humel hinzu. »Diese zweite Forderung könnte jedoch eine Falle sein. Wir befürchten, dass die Terroristen vielmehr während der Verlegung des Häftlings von Thorberg nach Bochuz einen Anschlag planen, um ihn zu befreien.«
»Ziehen Sie in Erwägung, dass die Armee den Gefangenentransport eskortiert?«, fragte der Fedpol-Direktor.