Tonleiter der Gefühle - Christine Lange - E-Book

Tonleiter der Gefühle E-Book

Christine Lange

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Beschreibung

Doktor Rudolf Lauer trauert um seine Frau. Er betäubt sich immer öfter mit Tabletten und Alkohol. Zu allem Überfluss tritt auch noch eine Patientin in sein Leben, die sich ernsthaft für ihn zu interessieren scheint. Svea beschließt ihm bei der Bewältigung seiner Trauer zu helfen. Wenn es sein muss, auch ohne Timos Hilfe.

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Über den Autor:

Christine Lange ist 1990 in Halle (Saale) geboren und aufgewachsen.

Nach der Schule hat sie eine Ausbildung zur Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Bibliothek absolviert. In diesem Beruf arbeitet sie bis heute. Geschichten schreibt sie seit ihrer Kindheit. Allerdings mehr für sich allein. Doch mit der Veröffentlichung ihres ersten Buches hat sich das geändert.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Svea

Kapitel 2 - Rudolf

Kapitel 3 - Svea

Kapitel 4 - Rudolf

Kapitel 5 - Svea

Kapitel 6 - Svea

Kapitel 7 - Rudolf

Kapitel 8 - Rudolf

Kapitel 9 - Svea

Kapitel 10 - Svea

Kapitel 11 - Rudolf

Kapitel 12 - Svea

Kapitel 13 - Rudolf

Kapitel 14 - Svea

Kapitel 15 - Rudolf

Kapitel 16 - Svea

Kapitel 17 - Rudolf

Kapitel 18 - Svea

Kapitel 19 - Rudolf

Kapitel 20 - Rudolf

Kapitel 21 - Svea

Kapitel 22 - Rudolf

Kapitel 23 - Rudolf

Kapitel 24 - Svea

Kapitel 25 - Rudolf

Kapitel 26 - Svea

Kapitel 27 - Svea

Kapitel 28 - Rudolf

Kapitel 29 - Svea

Kapitel 30 - Rudolf

Kapitel 31 - Svea

Kapitel 32 - Rudolf

Kapitel 33 - Svea

Kapitel 34 - Svea

Kapitel 35 - Rudolf

Kapitel 36 - Svea

Kapitel 37 - Rudolf

Kapitel 38 - Rudolf

Kapitel 39 - Svea

Kapitel 40 - Svea

Kapitel 41 - Svea

Kapitel 1 - Svea

Ich schlage die Augen auf. Neben mir liegt Timo und schläft tief und fest.

Er sieht so süß aus, wenn er schläft, denke ich.

Deshalb wecke ich ihn nicht. Stattdessen gehe ich unter die Dusche und mache mich für die Arbeit fertig.

„Kriege ich auch etwas?“, kommt eine Stimme vom Bett, nachdem ich aus dem Bad komme.

Timo sitzt im Schneidersitz da und beobachtet mich – sichtlich amüsiert – mit schief gelegtem Kopf.

„Ohne Guten-Morgen-Kuss läuft hier nichts“, erwidere ich herausfordernd.

Ich liebe es, wenn unsere Kabbeleien schon morgens losgehen.

Da Timo nicht reagiert, decke ich weiter den Tisch. Plötzlich umarmt er mich von hinten und gibt mir einen Kuss in den Nacken.

„Wieso bist du schon wach?“, fragt Timo weiter. „Bei mir im Bett ist es viel kuscheliger.“

Ich drehe mich mühsam um, weil er mich immer noch umklammert.

„Wir kommen zu spät zur Arbeit“, ermahne ich ihn.

„Weißt du was der Vorteil ist, wenn man direkt da wohnt, wo man arbeitet?“, geht die Fragerei weiter.

Scheinbar hat Timo heute Morgen nur Fragen in seinem Wortschatz.

„Nein“, antworte ich knapp.

„Man muss nicht mitten in der Nacht aufstehen, weil man einfach durch die Tür geht und schon auf Arbeit ist. Sozusagen in Nullkommanichts“, erklärt Timo mir.

Ich verdrehe die Augen. „Na gut. Aber nur fünf Minuten. Ich sehe auf die Uhr!“

Freudestrahlend bringt mich Timo wieder ins Bett und wir kuscheln eine Weile.

Natürlich werden es deutlich mehr als fünf Minuten. Schnell ziehe ich mich um.

„Bis dann, mein Schatz. Ich muss los. Meine erste Therapiestunde beginnt gleich“, rufe ich ihm über meine Schulter hinweg zu.

„Sehen wir uns nachher?“, fragt Timo.

„Weißt du was der Vorteil ist, wenn man zusammen arbeitet?“, drehe ich den Spieß um.

„Nein“, antwortet Timo, der sofort auf mein kleines Spielchen anspringt.

„Man läuft sich ständig über den Weg“, erkläre ich kurz.

Er kriegt einen flüchtigen Kuss von mir, dann bin ich auch schon zur Tür hinaus.

Es hat wirklich Vorteile, hier zu wohnen.

Seitdem ich im Wohnheim eingezogen bin, war ich nie mehr zu spät! Aber es gibt auch andere praktische Seiten. Ich kann hier die Therapien für meine Hand und mein Bein machen.

Die Behinderung hat sich fast komplett zurückgebildet. Ich kann ohne Hilfe laufen, einzig ein leichtes Humpeln ist noch da. Aber mein Therapeut ist der Meinung, das wird ebenfalls bald weg sein. Meine Hand ist auch wieder zu etwas zu gebrauchen. Ich kann sogar Gitarre spielen. Wenn ich weiter dran bleibe, wird es mir irgendwann wieder so gut gehen wie vor dem Unfall.

Meine Ausbildung zur Musiktherapeutin konnte ich – trotz der Einschränkungen – abschließen.

Jetzt sind Timo und ich richtige Kollegen. Als er noch mein Ausbilder war, hatte unsere Beziehung immer einen gewissen Beigeschmack.

Meine Lieblingsfeindin Elisabeth hat mir immer wieder um die Ohren gehauen, dass ich die Beziehung nutzen würde, um einen guten Abschluss zu machen. Aber Marie stand mir die ganze Zeit zur Seite.

Sie hat mir geholfen, wenn Hilfe nötig war, und hat mich gegenüber Elisabeth verteidigt. Wir sind beste Freundinnen geworden und treffen uns oft. Ansonsten telefonieren wir zum Ausgleich.

Das ging so weit, dass Timo eifersüchtig wurde. Bei dem Gedanken daran muss ich lachen.

Als ob mir jemals irgendjemand wichtiger sein könnte als er, geht mir durch den Kopf.

Als ich um die Ecke biege, laufe ich fast in Rudolf hinein.

„Hey hey!“, ruft er und fängt mich auf. „Nicht so schnell, junge Dame.“

„Hallo Psychodoktor“, begrüße ich ihn.

„Was kann so wichtig sein, dass du alte Männer über den Haufen rennst?“, fragt Rudolf mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich stupse ihn gegen die Schulter und sage: „Wieso? Ich sehe keinen alten Mann. Die paar Jahre Unterschied machst du mit deinem jugendlichen Charme wett.“

„Oh, da hat aber jemand gute Laune“, stellt Rudolf fest.

„Klar“, gebe ich zurück. „Warum auch nicht? Das Leben ist wunderschön. Ich habe alles, was ich brauche und du gehörst auch noch dazu.“

Jetzt stupst Rudolf mich gegen die Schulter.

„Ich bin ja ein richtiger Wunderdoktor“, sagt er mit stolzer Stimme. „Wer hätte gedacht, dass meine Therapie bei dir so gut anschlägt und vor allem so lange nachwirkt.“

Wir müssen beide lachen.

Seit meiner Therapie bei ihm möchte ich ihn nicht mehr missen. Daraus ist eine innige Freundschaft entstanden. Wir vertrauen einander viel an.

So habe ich zum Beispiel erfahren, dass er schon lange mit seiner Jugendliebe verheiratet ist und in einem Haus in der Nähe des Wohnheims lebt.

„Wie sieht es mit unserem zeremoniellen Mittagessen heute aus?“, fragt er geschwollen.

Ach du je, geht mir durch den Kopf. Das habe ich total vergessen!

Rudolf mustert mich. „Du hast es vergessen, oder?“

„Entschuldige, Gedankenleser“, versuche ich ihn zu beschwichtigen. „Was aber nicht heißt, dass es nicht stattfindet. Wir müssen eben nur auswärts essen.“

Mindestens einmal im Monat koche ich für uns ein Essen und wir verbringen gemeinsam eine lange Mittagspause. In letzter Zeit haben wir das Essen etwa alle zwei Wochen auf dem Plan.

„Das geht auch“, sagt Rudolf. „Und was machst du mit Timo?“

„Jetzt tu mal nicht so, als müsste ich mich um einen Hund kümmern!“, antworte ich streng. „Der kommt mit oder isst Brot.“

Rudolf schmunzelt vor sich hin. Manchmal würde ich auch gern wissen, was er denkt. Aber dieses Gedankenleser-Ding ist mir leider nicht vergönnt.

Scheint eine Stärke der Ärzte zu sein, denke ich.

„Dann ist das gebongt. Bis nachher“, verabschiedet sich Rudolf.

Ich sehe auf die Uhr.

Mist, denke ich erschrocken. Erst lasse ich mich von Timo aufhalten und jetzt von Rudolf. Wenn ich nicht renne, komme ich zu spät.

Ich beeile mich, zum Therapieraum zu kommen. Dort steht Lars bereits vor der verschlossenen Tür.

Völlig außer Atem begrüße ich ihn: „Hallo Lars. Tut mir leid, dass ich zu spät bin.“

„Als du nicht pünktlich bei mir warst, bin ich allein losgelaufen“, schreit er mich an.

Ich werde mich wohl nie komplett an sein Schreien gewöhnen, denke ich.

„Es tut mir leid. Aber ich wurde aufgehalten“, erkläre ich ihm.

„Ja, von Timo. Ich weiß schon“, stellt er trocken fest.

„Morgen hole ich dich wieder persönlich ab, versprochen!“, schwöre ich ihm. „Außerdem war es letzten Endes nicht Timo, der mich so lange aufgehalten hat. Ich habe mit Doktor Lauer geredet.“

Lars macht ein entsetztes Gesicht.

„Musst du wieder zum Seelenklempner? Geht es dir nicht gut?“, fragt er besorgt.

Ich muss lachen. Lars‘ Sicht der Dinge ist wirklich sehr eigen.

„Nein, nein“, beruhige ich ihn. „Du weißt doch, dass der Doktor und ich befreundet sind.“

„Na dann ist es ja gut“, seufzt Lars erleichtert. „Können wir jetzt reingehen und anfangen?“

Bei der ganzen Plauderei habe ich vergessen, den Raum aufzuschließen.

„Natürlich“, sage ich schnell und bitte Lars herein.

„Was spielen wir heute?“, fragt er neugierig.

„Weil ich heute zu spät war, darfst du dir aussuchen, was du machen möchtest“, antworte ich augenzwinkernd.

Lars klatscht vor Begeisterung in die Hände.

Meine erste Therapiestunde des Tages wird gut werden, denke ich.

Kapitel 2 - Rudolf

Ich habe einen Tisch in meinem Lieblingsrestaurant reserviert. Da ich gerade etwas Leerlauf habe, spaziere ich eine Runde durch den Garten. Auf dem Weg zurück in meine Praxis kommt mir Timo entgegen.

„Hey, Timo“, begrüße ich ihn. „Hat Svea dich schon gefragt?“

Überrascht sieht er mich an.

„Was soll sie mich fragen?“, will er wissen.

„Sie hat unser gemeinsames Mittagessen vergessen...“, beginne ich meine Erklärung.

„Nicht dein Ernst!“, ruft Timo aus. „Muss ich mir Sorgen um euch beide machen?“ Er zwinkert.

„Ha ha“, antworte ich. „Auf jeden Fall haben wir beschlossen, in ein Restaurant essen zu gehen. Ich habe auch schon einen Tisch reserviert. Svea wollte dich fragen, ob du mitkommen möchtest.“

Timo tut so, als würde er überlegen.

Ich merke, wenn ich veralbert werde, denke ich. Aber das kann ich auch!

„Gut, dann nicht. Bis später“, verabschiede ich mich.

„Hey!“, beschwert sich Timo lautstark. „Natürlich komme ich mit. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bin mit Svea zusammen und wir beide verbringen auch Mal wieder Zeit miteinander.“

Ich nicke begeistert. Wir verabreden uns und gehen dann getrennte Wege.

Svea und Timo passen so gut zusammen.

Fast so gut wie Evelyn - die Liebe meines Lebens - und ich. Zuerst hatte ich Bedenken, dass ihr die Freundschaft zwischen mir und Svea nicht passt.

Aber sie hat zu mir gesagt: „Wenn ich immer noch deine Nummer Eins bin und du ihr keine teuren Geschenke machst, ist das okay.“

Ich lache in mich hinein, weil ich die Situation wieder vor mir sehe.

Als ob ich mit jemand anderem zusammen sein könnte, denke ich.

Wir sind schon unser halbes Leben zusammen und lieben uns immer noch wie am ersten Tag.

Ich sehe auf die Uhr. Gleich habe ich einen Gesprächstermin mit einem Patienten. Ich muss mich beeilen.

Als ich zur verabredeten Zeit zum Treffpunkt komme, warten Svea und Timo schon ungeduldig.

„Na komm alter Mann!“, ruft mir Svea zu. „Wir haben nicht ewig Zeit.“

Das ist eindeutig die Retourkutsche für heute Morgen.

„Ach“, sage ich. „Auf einmal bin ich alt, ja? Heute früh waren es nur ein paar Jahre.“

„Ja, aber das ist schon ein paar Stunden her“, gibt Svea augenzwinkernd zurück.

Wir begrüßen uns mit einem High Five. Eine Art traditionelle Begrüßung zwischen uns. Ich weiß gar nicht, wann das entstanden ist. Irgendwann haben wir damit angefangen und seitdem nicht wieder aufgehört. Timo verdreht genervt die Augen.

„Und wer begrüßt mich?“, fragt er.

Ich gebe ihm traditionell die Hand.

„Hallo Timo, freut mich“, sage ich förmlich, woraufhin er mir sanft gegen die Brust boxt. Ich erwidere die Geste.

„Wenn das Männlichkeitsritual vollzogen ist, können wir dann los?“, fragt Svea ungeduldig.

Ich deute eine kleine Verbeugung an.

„Bitte sehr, die Dame“, sage ich und biete ihr meinen Arm zum Einhaken an.

Svea nimmt das Angebot an und greift mit der anderen Hand nach Timo. So spazieren wir gemeinsam los.

„Wo gehen wir hin?“, fragt Svea wissbegierig.

„In ein Restaurant“, sage ich grinsend.

Sie reißt die Augen auf.

„Ist nicht dein Ernst?“, erwidert sie gespielt überrascht und streckt mir die Zunge heraus.

Ich lache nur und gehe weiter.

Sie ist so neugierig, denke ich. Und sie merkt nicht, dass ich nur deshalb solche Antworten gebe, weil es mir Spaß macht, wenn sie so ungeduldig ist.

Nach einiger Zeit sind wir im Restaurant. Wir bestellen uns etwas zu essen und zu trinken.

„Wie war euer Tag so?“, beginne ich ein Gespräch.

„Super“, antwortet Svea sofort.

„Lars?“, frage ich zurück.

Svea nickt nur lachend. Mehr muss ich nicht wissen. Sie versteht sich mit ihm fast so gut wie mit mir.

„Und bei dir?“, frage ich an Timo gewandt.

„Ging so“, erwidert er knapp.

„Papierkram?“, rate ich.

Timo nickt und seufzt. Der Bürokratismus wird ihm wohl immer schwerfallen. Das kann ich nachvollziehen. Mir gefallen die Gespräche mit meinen Patienten auch besser als die Buchführung.

Aber wer macht so etwas schon gern, überlege ich.

Bevor wir weiterreden können, wird unser Essen gebracht.

Als wir unser Dessert gegessen haben, fragt Svea: „Wie geht es deiner Frau?“

„Super“, erwidere ich. „Sie entdeckt gerade ihre kindische Seite.“

Svea mustert mich interessiert.

„Inwiefern?“, will sie wissen.

Auch Timo scheint sich dafür zu interessieren. Er setzt sich aufrechter hin und stützt die Ellenbogen auf dem Tisch ab.

Ganz der aufmerksame Zuhörer, denke ich.

„Sie hört andauernd diese Kinderlieder“, sage ich.

„Cool. Von wem?“, fragt Svea ehrlich interessiert.

„Ähm...“, überlege ich. „Ich glaube, der heißt Rolf Zuckowski. Der hat auch so eine Art Musical gemacht. Das heißt ‚Der kleine Tag‘.“

„Oh ja, das kenne ich“, sagt Svea begeistert. „Ich kann mir vorstellen, welches Lied Evelyn gefällt.“

Fragend ziehe ich die Augenbrauen nach oben.

Svea sieht sich verstohlen im Restaurant um. Dann fängt sie an, auf dem Tisch zu trommeln. Sie beginnt dazu zu singen. Es ist das Lied, das Evelyn so sehr gefällt. Plötzlich steigt Timo mit ein. Er schnipst mit den Fingern und singt mit.

Da muss ich wohl mitmachen, denke ich. Die Leute gucken ohnehin schon.

Ich nehme zwei Löffel vom Tisch und schlage sie im Takt gegeneinander. So spielen wir zu dritt ‚Einfach nur so‘.

Nachdem das Lied zu Ende ist, müssen wir lachen.

„Du hast nur Blödsinn im Kopf“, stelle ich außer Atem fest.

„Wieso?“, fragt Svea unschuldig und klimpert mit den Wimpern. „Deine Frau wäre bestimmt begeistert.“

„Ja, das stimmt“, sage ich und denke für kurze Zeit verträumt an Evelyn.

„Du liebst sie wahnsinnig, oder?“, holt mich Svea aus meinem Tagtraum zurück.

Ich nicke bestätigend.

„Artet das jetzt in ein Frauengespräch aus?“, mischt sich Timo ein.

„Aber natürlich nicht, mein Schatz“, antwortet Svea.

Timo verdreht die Augen. Svea und ich sehen uns an und brechen wieder in Gelächter aus.

Sie ist wirklich eine gute Freundin, geht mir durch den Kopf. Immer witzig und lebensfroh. Sie macht jeden Unsinn mit. Das sah bis vor einiger Zeit noch ganz anders aus.

Ich muss lächeln.

„Woran denkst du denn jetzt schon wieder?“, fragt sie nach.

„Daran wie toll du bist“, antworte ich wahrheitsgemäß. Timo räuspert sich. „Als Kumpeline natürlich“, ergänze ich.

„Du auch, Kumpel“, gibt sie zurück und boxt mich sanft gegen den Arm.

„Vielleicht sollte ich euch allein lassen“, sagt Timo gespielt genervt.

Wieder lachen wir.

„Ich muss jetzt leider los“, sage ich dann. „Ich habe noch einen Termin mit einer Patientin.“

„Kein Problem. Wir müssen auch los“, sagt Svea.

Nachdem wir bezahlt haben, gehen wir gemeinsam zurück ins Wohnheim.

Das war ein schönes Mittagessen, denke ich und freue mich schon auf das nächste Mal.

Kapitel 3 - Svea

Am nächsten Tag steht zuerst meine eigene Therapie an. Dehnung, Bewegung, Kraft – um es in kurzen Worten zu erklären.

Durch die lange Zeit, in der ich mein Bein und meinen Arm nicht richtig bewegt habe, beziehungsweise bewegen konnte, haben sich die Muskeln zurückgebildet. Deshalb ist das Krafttraining immer noch sehr wichtig für mich.

Meine Bewegungsfähigkeit ist fast wieder normal, weshalb dieser Punkt momentan eine untergeordnete Rolle innehat. Ich arbeite nach wie vor hart an mir.

Irgendwann kann ich wieder normal laufen, sage ich mir bei jedem Training.

Mein Therapeut glaubt fest daran und baut mich auf, wenn ich doch einmal verzweifeln sollte.

Rudolf unterstützt mich auch ungemein. Er ist immer noch der Mensch, mit dem ich am besten reden kann.

Ich spreche zwar auch mit meinen Eltern und Timo über alles, aber mit Rudolf ist es anders. Er hat mir aus meiner Depression geholfen. Wir hatten schon immer einen guten Draht zueinander.

Zum Glück respektieren das meine Eltern und Timo. Keiner von ihnen ist eifersüchtig oder beleidigt, wenn ich manche Dinge erst mit Rudolf bespreche.

„Na, worüber grübeln wir heute?“, fragt Timo.

Ich setze eine Unschuldsmiene auf und antworte: „Über gar nichts, mein Schatz.“

Timo zieht die Augenbrauen hoch. Ein sicheres Zeichen, dass er mir nicht glaubt und gleich mit seinem Verhör beginnt.

Deshalb füge ich schnell hinzu: „Gut. Über fast nichts. Ich liebe dich ganz schrecklich!“

Er lächelt mich an.

„Schlimm?“, frage ich.

Timo schüttelt den Kopf und zieht mich zu sich heran.

„Gar nicht schlimm. Ich liebe dich auch ganz schrecklich!“, sagt er und küsst mich.

„Was machst du heute?“, frage ich.

„Arbeiten, denke ich“, erwidert Timo.

„Ha ha. Ich wollte wissen, ob du dich heute endlich mal um deine Akten kümmerst, die sich seit ewigen Zeiten auf deinem Schreibtisch türmen“, rüge ich ihn.

Timo seufzt und verdreht die Augen.

„Genau das hatte ich vor, Mama“, antwortet er genervt.

Sanft stupse ich ihn auf die Nase.

„Dann mach das mal. Ich muss auch los“, erkläre ich ihm und schiebe ihn von mir weg.

Schließlich muss ich eine Therapiestunde vorbereiten. Dieses Mal will ich pünktlich sein und nicht hetzen müssen.

Je eher, desto besser, denke ich, schnappe mir eine CD und mache mich auf den Weg.

Im Therapieraum angekommen, starte ich sofort mit den Vorbereitungen für die folgende Stunde.

Bloß gut, dass es in jedem Raum ein Radio mit CD-Player gibt, denke ich und lege eine CD ein.

Mit Musik geht bei mir alles besser. Es läuft ‚Dies ist der Augenblick‘ von Rolf Zuckowski. Ich nehme eine Trommel, tanze mit ihr durch den Raum und singe mit.

Völlig in das Lied versunken, schnappe ich mir alles, was ich brauche und stelle es an die richtige Stelle. Auf einmal erklingt hinter mir Timos Stimme, die im richtigen Moment in das Lied einstimmt.

Wir tanzen gemeinsam durch den Raum.

Für diese gemeinsamen, spontanen Glücksmomente liebe ich ihn, denke ich verträumt.

Als die Musik endet, liege ich strahlend in seinen Armen.

„Haben wir nichts zu tun, Herr Ludwig?“, frage ich ihn schelmisch.

„Doch“, sagt er augenzwinkernd. „Ich muss ganz dringend meiner Herzallerliebsten einen Kuss geben.“

„Oh, das ist natürlich wichtig. Ein paar Minuten habe ich noch“, gebe ich glücklich zurück.

Als wir uns küssen, erklingt eine Stimme.

„Nehmt euch ein Zimmer!“, sagt Rudolf streng.

„Mach die Tür zu, dann haben wir eins“, kontert Timo.

Rudolf überlegt kurz und sagt dann: „Na gut. Ich lasse euch allein. Aber denkt dran ... Tut nichts, was ich und Evelyn nicht auch tun würden.“

„Raus!“, schimpft Timo.

Daraufhin geht Rudolf laut lachend.

„Ich muss seine Frau unbedingt einmal kennenlernen“, überlege ich laut.

„Wir können uns gerne mit ihnen treffen. Evelyn ist super“, antwortet Timo.

Ich mustere ihn gespielt kritisch.

Schnell fügt er hinzu: „Also sie passt super zu Rudolf.“

„Da hast du gerade noch die Kurve gekriegt“, rüge ich ihn.

„Du weißt doch, dass es nur dich für mich gibt“, beruhigt er mich.

Ich lächle ihn an, gebe ihm einen letzten Kuss und scheuche ihn dann aus dem Zimmer. Meine Therapiestunde beginnt.

Am Ende des Tages erbarme ich mich und helfe Timo bei seinem Papierkram.

„Eigentlich sollte ich dir nur dabei zusehen, anstatt dir zu helfen“, schimpfe ich. „Schließlich hast du dir die Situation selbst eingebrockt.“

„Ja, ich weiß. Das sagst du jedes Mal“, erwidert er seufzend.

Ich nicke und hebe oberlehrerhaft den Finger.

„Und vielleicht solltest du dir meine Worte einmal zu Herzen nehmen“, antworte ich ihm. „Ich werde dir nämlich nicht noch einmal helfen!“

Timo lacht und wirft mir einen verliebten Blick zu.

„Auch das sagst du jedes Mal, mein Schatz.“

Ein genervter Laut kommt mir über die Lippen. Aber dann muss ich doch lachen.

Was soll ich dagegen schon sagen, frage ich mich. Er hat ja Recht! Ich lasse mich jedes Mal breitschlagen.

„Das ist reiner Eigennutz“, habe ich das letzte Wort. „So habe ich dich eher für mich allein.“

Danach machen wir uns wieder an den Aktenberg.

Als wir abends auf der Couch liegen und irgendeinen sinnlosen Film gucken, den Timo ausgesucht hat, frage ich ihn: „Was hältst du eigentlich davon, wenn wir uns eine gemeinsame Wohnung suchen?“

Überrascht sieht mich Timo an.

„Wir haben doch eine Wohnung“, antwortet er, mit einer Geste, die den ganzen Raum einnimmt.

„Ich weiß“, sage ich. „Aber ich brauche keine Hilfe mehr und könnte den Platz für jemand anderen freimachen.“

Timo nimmt eine Denkerpose ein.

„Ja, das könntest du. Allerdings würdest du dann nicht mehr direkt da wohnen, wo du arbeitest. Das würde bedeuten, du müsstest zeitiger aufstehen. Was wiederum bedeutet, dass du jeden Tag hierher hetzen musst, weil du es nicht pünktlich aus dem Haus schaffst“, schildert Timo die Situation.

„Aber“, lege ich meine Gegenargumente dar, „wenn du mich nicht jeden Morgen aufhalten würdest, dann müsste ich nicht hetzen. Außerdem hätte ich dann jeden Tag mein Training integriert. Immerhin müsste ich dann hierher laufen, was meinen Therapeuten bestimmt glücklich macht. Er ist ohnehin der Ansicht, ich bewege mich zu wenig.“

Timo hebt beschwichtigend die Hände.

„Okay, okay“, lenkt er ein. „Du darfst uns eine Wohnung suchen. Aber ich will jede mit angucken und wir entscheiden gemeinsam. Einverstanden?“

Ich nicke und reiche ihm die Hand. Timo ergreift sie, aber nur deshalb, damit er mich zu sich in den Arm ziehen kann.

„Können wir dann jetzt diesen Film weitergucken?“, fragt er.

„Ja“, antworte ich knapp. „Wenn du einen Film gucken willst, stimmst du allem zu, was ich sage.“

Erschrocken sieht mich Timo an. Er hat scheinbar begriffen, warum ich das Thema mit der Wohnung mitten im Film angeschnitten habe.

Egal, denke ich. Ich habe mein Ziel erreicht und weiß auch so, wie ich meinen Willen kriege.

Kapitel 4 - Rudolf

Als ich zum Arbeitsbeginn auf dem Weg in mein Büro bin, werde ich von Timo aufgehalten.

„Hey, Rudolf“, ruft er mir zu.

„Guten Morgen, Timo“, sage ich förmlich.

Timo mustert mich.

„Was ist los?“, frage ich verwirrt.

„Wieso hast du bei mir immer so eine reservierte Haltung und bei Svea so eine verrückte?“, fragt er zurück.

Ich muss lachen. Aber ich versuche, ernsthaft darüber nachzudenken.

„Keine Ahnung“, sage ich dann. „Mit Svea ist es anders. Sie hat eine Art an sich ... Da muss ich einfach mitmachen. Ich mag sie wirklich.“

Timo klopft mit dem Fuß auf den Boden und wirft mir noch einen abschätzigen Blick zu.

„Ach ja“, sagt er fast beleidigt, „und ich bin spießig, oder was?“

„Nein, natürlich nicht.“ Genervt verdrehe ich die Augen und frage: „Müssen wir jetzt eine Grundsatzdiskussion führen, oder darf ich in meine Praxis gehen?“

Timo grinst und fragt zurück: „Was ist dir denn lieber?“

Ich boxe ihm freundschaftlich gegen den Arm und gehe an ihm vorbei.

„Oh, warte!“, ruft er mir hinterher.

„Was ist denn noch?“, frage ich und drehe mich wieder zu ihm.

„Svea würde Evelyn gern kennenlernen“, erklärt Timo. „Könntest du da etwas arrangieren?“

„Wer ist denn jetzt hier der reservierte Typ?“, frage ich lachend zurück.

Timo legt den Kopf schief und zieht eine traurige Schnute.

„Bitte“, sagt er. „Tu es für mich und unsere jahrelange Freundschaft. Und bedenke bitte, wie glücklich du Svea damit machen könntest.“

Er weiß, welche Knöpfe er drücken muss, sagt mein Kopf.

„Also gut“, erwidere ich. „Ich werde Evelyn fragen, wann es ihr passt. Aber jetzt muss ich wirklich los.“

Timo bedankt sich überschwänglich bei mir. Dann darf ich endlich meinen Weg fortsetzen.

Vor meiner Bürotür steht eine Frau und wartet.

„Guten Tag“, begrüße ich sie. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, ich warte auf Doktor Lauer“, sagt sie.

Mit einem Lächeln antworte ich: „Das bin dann wohl ich.“

Überrascht sieht sie mich an.

„Oh, Entschuldigung. Das wusste ich nicht“, sagt sie, peinlich berührt.

„Woher sollten Sie auch?“, sage ich freundlich. „Kommen Sie erst einmal mit herein. Dann können Sie mir erzählen, was ich für Sie tun kann.“

Sie lächelt mich dankbar an und folgt mir in mein Büro.

„Ich habe Sie hier noch nie gesehen“, beginne ich ein Gespräch. „Sie sind keine Bewohnerin, oder?“

„Nein“, sagt sie kopfschüttelnd. „Sie wurden mir empfohlen. Ich brauche psychologische Hilfe, denke ich.“

Überrascht sehe ich sie an.

„Okay“, antworte ich gedehnt. „Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen. Sie wissen wer ich bin, aber ich kenne Ihren Namen noch gar nicht.“

Erschrocken sieht sie mich an.

„Oh je, das habe ich total vergessen“, sagt sie entschuldigend. „Mein Name ist Stella Morgenstern.“

Wieder lächle ich sie beruhigend an.

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, erwidere ich und reiche ihr die Hand.

Sie scheint nervös zu sein, überlege ich.

Ich biete ihr einen Platz an, um mich mit ihr zu unterhalten.

„Warum denken Sie, dass Sie einen Psychologen brauchen?“, frage ich interessiert.

Normalerweise werden die Menschen von einem Arzt zu mir geschickt, wundere ich mich. Es ist selten, dass jemand einfach so einen Psychologen aufsucht. Außerdem kennt fast niemand meine Praxis hier im Wohnheim.

„Ich habe ständig Angst“, sagt Frau Morgenstern traurig.

„Wovor?“, frage ich weiter.

Sie weicht einen Moment meinem Blick aus, ehe sie antwortet: „Ich weiß nicht, wovor ich Angst habe. Deshalb wollte ich mit einem Psychologen reden. Vielleicht können Sie herausfinden, was mit mir los ist.“

Ob das die Wahrheit ist, frage ich mich.

Auf mein Gefühl kann ich mich in der Regel verlassen.

„Wir können gern probieren, es herauszufinden. Aber ich kann nichts versprechen“, halte ich mich bedeckt. „Ich kenne mich natürlich mit Angststörungen aus, aber jede ist anders. Genau so, wie auch jeder Mensch anders ist.“

Frau Morgenstern hört mir zu und nickt.

„Ich möchte es gern versuchen“, sagt sie dann. Wieder lächle ich sie an.

„Gut. Dann lassen Sie uns einen Gesprächstermin vereinbaren“, schlage ich vor.

„Gern“, erwidert sie dankbar.

Jetzt wirkt sie ruhiger, stelle ich fest.

Nachdem wir einen ersten Termin gefunden haben, verlässt Frau Morgenstern meine Praxis wieder. Jedoch nicht, ohne sich mehrfach zu bedanken.

Ich befürchte, das wird ein weiter Weg werden, überlege ich.

Aber eine Herausforderung spornt mich an. Ich versuche, jedem meiner Patienten so gut wie möglich zu helfen.

Bei Svea ist mir das besser gelungen, als ich gedacht habe, denke ich froh. Es wird mir auch bei Frau Morgenstern gelingen!

In meiner Mittagspause klingelt mein Handy.

„Hallo, Frau Lauer“, sage ich spielerisch.

„Hallo, Herr Lauer“, kommt vom anderen Ende.

„Doktor Lauer bitte. So viel Zeit muss sein!“, setze ich unser Spiel fort.

„Deiner Laune nach zu urteilen, hast du bisher einen guten Tag gehabt“, sagt Evelyn.

„Ja, den hatte ich“, stimme ich zu. „Jetzt ist er sogar perfekt, nachdem ich deine Stimme höre.“

Gott, bin ich wieder schmalzig, denke ich. Aber ich liebe sie nun einmal. Da sollte so etwas erlaubt sein.

„Ach, mir fällt gerade etwas ein“, sage ich. „Svea und Timo wollen sich gern mit uns beiden treffen. Hast du etwas dagegen?“

„Nein, gar nicht“, antwortet Evelyn sofort. „Ich freue mich, deine Svea auch endlich einmal kennen zu lernen.“

Ich verdrehe die Augen.

„Sie ist nicht meine Svea“, berichtige ich Evelyn. „Sie ist Timos Svea.“

„Na gut, dann eben so“, antwortet sie. „Ich habe nichts dagegen, Timos Svea und deine beste Kumpeline kennen zu lernen.“

Ich kann ihr Grinsen direkt vor mir sehen.

Evelyn mag das Wort Freundin bei mir und Svea nicht. Sie meint, es klingt danach, als hätte ich eine Affäre.

Ich kann ihr da nicht recht geben. Aber wenn sie glücklicher damit ist – Svea als meine Kumpeline zu titulieren – dann darf sie das gern.

„Super“, führe ich das Gespräch fort. „Wann soll ich die beiden denn einladen?“

Evelyn überlegt und sagt dann: „Wie wäre es mit nächstem Wochenende? Da haben wir noch nichts vor.“

Mein wandelnder Terminkalender, denke ich verliebt.

„Alles klar. Dann sage ich Svea und Timo Bescheid“, sage ich zustimmend.

„Bis heute Abend, mein Schatz“, verabschiedet sich Evelyn. „Ich liebe dich!“

„Ich dich auch. Pass auf dich auf“, antworte ich.

Nachdem wir aufgelegt haben, beschließe ich, Timo und Svea gleich Bescheid zu sagen.

Die beiden haben auch gerade Mittagspause. Sie sitzen in der Cafeteria, wie immer.

„Hallo ihr beiden“, begrüße ich sie.

„Hey Psychodoktor“, erwidert Svea.

Sie kann es einfach nicht lassen, denke ich amüsiert.

„Ich habe gerade mit meiner Frau telefoniert“, erkläre ich. „Sie lädt euch nächstes Wochenende zu uns ein.“

Svea hüpft auf ihrem Stuhl herum.

„Wirklich?“, fragt sie zur Sicherheit nach.

Ich nicke bestätigend.