Tony Woolf & das letzte Opfer - Tom Bamann - E-Book

Tony Woolf & das letzte Opfer E-Book

Tom Bamann

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Beschreibung

Ein kaltblütiger Mord! Kein Motiv! Der Beginn eines mörderischen Verwirrspiels! Gerade hatte es sich Tony Woolf auf seinem neuen Posten als Todesfallermittler in der beschaulichen Oberlausitz gemütlich gemacht. Da passt es ihm überhaupt nicht, dass seine Chefin ausgerechnet ihm die Leitung der Ermittlungen in diesem Fall überträgt. Schnell werden Tonys schlimmsten Befürchtungen wahr. Das Opfer scheint ein Mann ohne Vergangenheit zu sein. Ein Motiv ist weit und breit nicht in Sicht. Stattdessen türmen sich immer neue Fragen. Warum hortete das Opfer so viele Medikamente in seiner Wohnung? Wer verbirgt sich hinter dem mysteriösen Büro 39? Begleiten Sie Tony Woolf und sein zusammengewürfeltes Team bei seinem ersten Fall, in dem hinter jeder Antwort nur neue Fragen lauern. Besonders immer wieder die eine: Wer ist wirklich das letzte Opfer?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog: Dienstag 1. Juli

Kapitel 1: Mittwoch, 2. Juli

Kapitel 2: Donnerstag, 3. Juli

Kapitel 3: Freitag, 4. Juli

Kapitel 4: Samstag, 5. Juli

Kapitel 5: Montag, 7. Juli

Kapitel 6: Dienstag, 8. Juli

Kapitel 7: Mittwoch, 9. Juli

Kapitel 8: Donnerstag, 10. Juli

Kapitel 9: Freitag, 11. Juli

Kapitel 10: Montag, 14. Juli

Kapitel 11: Dienstag, 15. Juli

Kapitel 12: Mittwoch, 16. Juli

Kapitel 13: Donnerstag, 17. Juli

Kapitel 14: Freitag, 18. Juli

Kapitel 15: Samstag, 19. Juli

Kapitel 16: Montag, 21.07.2021

Kapitel 17: Dienstag, 22. Juli

Kapitel 18: Freitag, 25. Juli

Prolog Dienstag 1. Juli

Ein Schmerz, der sich in Sekundenbruchteilen von der rechten Hand durch seinen Arm brannte, riss Kenneth Wesesa aus seiner Ohnmacht. Noch ehe er klarsehen oder auch nur denken konnte, spürte er einen festen Griff an seinem linken Handgelenk und schon loderte der gleiche Schmerz auch durch diesen Arm.

Mit dem Adrenalin, das seinen Körper jetzt durchflutete, beschleunigte sich sein Herzschlag innerhalb eines Augenblicks in den absolut ungesunden Bereich. Kalter Schweiß brach ihm aus. Instinktiv versuchte er, seine Hand wegzuziehen. Eine Bewegung, die er sofort bereute. Ein erstickter Schmerzenslaut quälte sich durch den Knebel, der seinen Mund verschloss. Tränen schossen Kenneth in die Augen. Ihm wurde übel, die Welt um ihn herum begann, sich zu drehen.

Mit der Zeit gelang es Kenneth, den Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln. Er saß in seiner kleinen Wohnung an seinem Esstisch.

Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des kleinen, zerkratzten Esstisches, stand sein Gast und stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne des zweiten Stuhls. Während sein Besucher ihn aus kalten Augen anblickte, umspielte ein kaum sichtbares Lächeln seine Lippen. Gerade dieses Lächeln flößte Kenneth Angst ein.

Der Mann begann, mit leiser, tiefer Stimme zu sprechen. Unter anderen Umständen hätte Wesesa sie möglicherweise als angenehm und sympathisch empfunden, jetzt jagte sie ihm kalte Angstschauer über den verschwitzten Rücken. Je länger der Mann sprach, desto mehr stellten sich bei Kenneth die Haare auf. Woher wusste er von diesem streng gehüteten Geheimnis? Nur wenige Menschen waren eingeweiht, und seine Komplizen hätten ihr Schweigen nie gebrochen. Dafür hatte Kenneth gesorgt.

Wie ein Schlag traf ihn die Gewissheit. Mit einem Mal wusste er, dass er am Ende seines Weges angekommen war. Und ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass er selbst für dieses Ende verantwortlich war. Einmal zu oft hatte er Menschen, die ihm vertrauten, hintergangen. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass sie ihm diesen Fehler niemals verzeihen würden. Aber die Aussicht auf Gewinn hatte sein Urteilsvermögen getrübt. Er war sich unbesiegbar vorgekommen.

Plötzlich spürte er einen festen Griff an seiner Stirn, die seinen Kopf nach hinten riss. Kenneth bäumte sich in einem letzten Versuch des Widerstands auf. Im selben Moment wurde ihm tief in seinem Inneren instinktiv klar, dass er selbst das gurgelnde Röcheln verursachte, das er hörte.

Und noch bevor der Reiz die kurze Strecke bis in sein Gehirn zurückgelegt und dort das Feuerwerk aus elektrischen Impulsen ausgelöst hatte, die wir als Schmerz empfinden, umfing Kenneth Wesesa endgültig Dunkelheit.

Kapitel 1 Mittwoch, 2. Juli

Pünktlich mit dem Beginn der Sommerferien schickte eine tropische Hitzewelle ihre Ausläufer bis in den östlichsten Winkel Deutschlands. Seit Tagen brannte die Sonne gnadenlos über Bautzen und der ganzen Oberlausitz, als wollte sie die Menschen für den nassen und kühlen Frühling entschädigen. Sie bescherte den Herstellern diverser Duftwässerchen einen Umsatzrekord nach dem anderen und den Freibädern schon früh in der Saison ungeahnte Besucherzahlen.

An der schweren Feuerschutztür, die das Treppenhaus der Polizeidirektion vom Gang des Dezernats 1 trennte, blieb Kriminalhauptkommissar Tony Woolf kurz stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Als er den langen, mit blau-grauem Teppichboden belegten, Gang betrat, kitzelte sofort Kaffeeduft seine Nase. Das verführerische Aroma drang aus der weit geöffneten Tür des Geschäftszimmers, das gleich rechts neben dem Eingang lag.

Tony hörte, wie die Wetterfrau im Radio gerade fröhlich verkündete, dass allen wieder ein wunderbarer, sonniger Sommerferientag bevorstand. Er fragte sich, wie viele Zuhörer genau in diesem Augenblick schlechte Laune bekamen, weil sie keine Ferien hatten und ein anstrengender Arbeitstag vor ihnen lag. Er streckte den Kopf durch die Tür und rief Margitta Fröhlich, die gerade ihre Pflanzen auf dem Fensterbrett goss, ein nicht ganz so fröhliches »Guten Morgen« zu.

Die drehte sich mit der kleinen Gießkanne in der Hand zu ihm um und erwiderte den Gruß.

Margitta Fröhlich, die gute Seele des Dezernats, war eine Frau von etwa sechzig Jahren. Ihr blauen Augen blitzten verschmitzt hinter den runden Gläsern ihrer Brille. »Herr Woolf. Die Chefin ist schon da. Es scheint irgendetwas passiert zu sein. Sie sollen sofort zu ihr kommen!« Zur Bekräftigung zog Margitta Fröhlich ein ernstes Gesicht, spitzte ihre schmalen Lippen und nickte ein paar Mal. Mit der Gießkanne wies sie in Richtung des Büros der Dezernatsleiterin.

Erstaunt zog Tony seine Augenbrauen nach oben. »Aha. Na, da bin ich ja mal gespannt. Danke, Frau Fröhlich!« Mit einem kurzen Winken wandte er sich zum Gehen.

Nachdem Tony sein Büro betreten hatte, öffnete er wie immer in den letzten Tagen weit die Fenster. Er hoffte, so etwas wie frische Luft in den kleinen, stickigen Raum zu bekommen, bevor die Sonne alles wieder in ein klebriges, staubiges, schweißtreibendes Ungetüm verwandelte.

Während er ein paar Atemzüge nahm, überlegte er, was Claudia Neumüller, seine Chefin, von ihm wollen könnte. Es klang wichtig. Langsam breitete sich ein leichtes Kribbeln in seinem Bauch aus. Das Hupen eines Autos unten auf der Straße riss ihn aus seinen Gedanken. Er schloss Fenster und Jalousien, um so wenig Hitze in sein kleines Büro zu lassen, wie möglich.

Dann schaute er zu dem verwaisten Arbeitsplatz seines Kollegen und Mentors Günther Englert hinüber. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass Englert ungewöhnlich spät dran war. Normalerweise saß der Kollege schon an seinem Platz, wenn Tony eintraf, schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee und biss in ein Hackepeterbrötchen. Ihm wurde plötzlich klar, dass die Bürotür noch verschlossen gewesen war. Günther Englert konnte also noch nicht auf der Dienststelle erschienen sein.

Als Tony vor gut einem halben Jahr ins Dezernat 1 gewechselt war, dem Dezernat, das sich mit der Aufklärung schwerster Straftaten befasste, hatte ihn der erfahrene Ermittler unter seine Fittiche genommen. Nach den ersten Wochen war Tony klar geworden, dass Mord und Totschlag selten waren. Seine Hauptaufgabe bestand zurzeit vielmehr darin, von Pflegeheim zu Pflegeheim oder von Krankenhaus zu Krankenhaus zu fahren, um dort Todesfälle zu untersuchen, bei denen Ärzte keine klare Todesursache festgestellt hatten. Oder es ging um Fälle von Suizid. Bis jetzt waren alle Todesfälle auf eine natürliche Ursache, Suizid oder einen Unfall zurückzuführen. Nach und nach hatte sich seine Arbeit zu einer täglichen Routine entwickelt, die ihn mehr und mehr zu langweilen begann.

Ein weiterer Blick zur Uhr zeigte ihm, dass es höchste Zeit wurde, seiner Chefin die Aufwartung zu machen. Er beschloss, nicht auf seinen Partner zu warten.

Nach etwa der Hälfte des Weges kam Tony an der Ahnengalerie des Dezernats vorbei. So nannten die Kollegen despektierlich die Porträts ehemaliger Ermittler. Insgeheim wünschte sich wahrscheinlich jeder, einmal sein Bild dort hängen zu sehen. Das zugeben und sich dadurch dem Verdacht auszusetzen, ehrgeizig oder eitel zu sein, würde jedoch keiner.

Unter den Porträts befand sich auch ein Bild von Tonys Onkel. Karl-Friedrich Woolf war der Grund, warum Tony unbedingt Polizist werden wollte, sehr zum Leidwesen seiner Eltern. Ihnen wäre es lieber gewesen, wenn ihr Sohn die Tischlerei übernommen hätte. Mit Grausen erinnerte sich Tony an die heftigen Zerwürfnisse, die er damals mit seinen Eltern ausfechten musste. Das lag lange zurück. Länger zumindest als die Ereignisse, die seinen Onkel so abrupt aus dem Leben gerissen hatten.

Im Vorbeigehen zwinkert er dem Porträt seines Vorbilds mit einem schiefen Lächeln zu. »Wünsch mir Glück, Onkel Karl!«

Die Tür zu Claudia Neumüllers Büro stand wie immer weit offen.

Tony zögerte kurz, klopfte dann gegen den Türrahmen.

Claudia Neumüller schaute hinter ihrem Schreibtisch auf. »Ah, endlich. Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür!«

Kriminaldirektorin Neumüller war eine beeindruckende Frau um die vierzig Jahre. Hochgewachsen überragte die meisten ihrer Mitarbeitenden. Die dunkle Seidenbluse mit dem Blumenmuster spannte um ihre muskulösen Schultern. Ihre glatten, dunkelblonden Haare trug sie zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Jurastudiums war sie zur Polizei gegangen und hatte schnell Karriere gemacht. Natürlich gab es die Neider, die ihren Aufstieg ausschließlich ihrer Attraktivität und ein paar sehr delikaten Fähigkeiten zuschrieben. Wer mit ihr zusammenarbeitete, wusste jedoch, sie war eine harte, aber faire Chefin mit einem unglaublich umfassenden Wissen. In atemberaubendem Tempo hatte sie sich alle notwendigen Kenntnisse angeeignet, um das Dezernat führen zu können.

Als Tony das Büro betrat, wehte ein leichter Luftzug ihm den zarten Duft von Claudia Neumüllers frischem, blumigem Parfüm entgegen.

Er blieb vor dem Schreibtisch stehen.

Claudia Neumüller nickte in Richtung eines Stuhls. »Setzen Sie sich!« Sie griff nach einer dünnen, grünen Aktenmappe und schlug sie auf. »Ich habe eine Aufgabe für Sie. Heute Morgen wurde in einer Wohnung die Leiche eines Afrikaners gefunden. Sein Name ist Kenneth Wesesa. Definitiv ein Tötungsdelikt.«

Tonys Herz kam für einen Moment aus dem Takt. Einerseits waren die Fälle bisher allesamt sterbenslangweilig gewesen. Andererseits hatte er sich sehr schön mit seiner derzeitigen Aufgabe arrangiert, bot sie ihm doch ausreichend Gelegenheit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, wie Sport, zum Beispiel. Aufregung und Action hatte er als Streifenpolizist wahrlich genug gehabt.

Claudia Neumüller schaute ihn an. »Ich werde Ihnen die Leitung der Sache übergeben. Fahren Sie zum Tatort und verschaffen Sie sich einen ersten Überblick. Die Tatortgruppe ist schon auf dem Weg. Kollegen des Reviers sperren derweil den Tatort ab. Laut Auskunft der ersten Streife vor Ort soll das Opfer ein Asylbewerber sein. Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, dass über kurz oder lang wieder ganz Deutschland auf uns schauen wird!«

Hatte die Frau gerade gesagt, dass er den Fall leiten sollte? Schließlich gehörte er erst ein halbes Jahr zum Dezernat. »Aber das bringt meinen ganzen Plan durcheinander«, entfuhr es Tony.

Sofort biss er sich auf die Zunge. Glühend schoss ihm das Blut ins Gesicht. Er hasste diese Schwäche, zu reden und danach erst zu denken.

Claudia Neumüller riss die Augen auf. Ihr Mund blieb vor Verblüffung offen stehen. Nach einem kurzen Augenblick der Stille runzelte sie die Stirn. Mit kalter Stimme fragte sie: » Haben sie etwas Wichtigeres vor?«

Tonys Gesicht wurde noch heißer. »Nein, natürlich nicht. Nur, die anderen Fälle …« Er merkte, dass er dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Also würgte er den Rest des Satzes herunter. Schließlich fügte er hinzu: »Ich warte noch auf Günther Englert. Der muss jeden Augenblick da sein. Dann fahren wir los.«

Claudia Neumüllers Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Oh, Sie wissen es noch gar nicht?«

Tony schaute verwirrt zu seiner Chefin. Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, konnte den Ausdruck aber nicht einordnen. »Was weiß ich noch nicht?«

Claudia Neumüller lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und holte schwer Luft. »Kollege Englert wurde gestern nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Ich hatte angenommen, Sie wüssten das schon.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Tut mir leid.«

Schon zum zweiten Mal hatte Tony das Gefühl, nicht richtig verstanden zu haben. Vor Aufregung sprang er von seinem Stuhl auf. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen starrte er Claudia Neumüller an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, dass die Knöchel weiß anliefen. Er brauchte eine Zeit, bis die Bedeutung ihrer Worte vollständig in sein Bewusstsein gedrungen war. Dann brach es aus ihm heraus: »Ach du Schei… Wie geht es ihm? Wird er wieder?«

Claudia Neumüller hob abwehrend ihre Hände. »Ich weiß, dass Sie und Kollege Englert gut befreundet sind. Tut mir sehr leid, aber mehr weiß ich nicht.«

Schließlich fiel Tony in den Stuhl zurück. Seine Gedanken überschlugen sich. Mit größter Mühe gelang es ihm nach einer Weile, sich auf sein aktuelles Problem zu konzentrieren. Er schaute zu Claudia Neumüller hinüber. Heftig den Kopf schüttelnd, sagte er: »Das ist doch kein Fall für einen Einzelkämpfer. Wann kommt der Rest der Mannschaft zurück?«

Der Großteil der Beamten des Dezernats und auch Kolleginnen und Kollegen aus der Kriminaltechnik waren kurzerhand zu einer Sonderkommission formiert und zur Unterstützung nach Polen geschickt worden. Zurück blieben nur Günther und er als die letzten beiden Ermittler des Dezernats, die sich um die täglich anfallenden Todesfälle kümmern mussten, bei denen die Mediziner eine unklare Todesursache bescheinigt hatten.

Er erinnerte sich noch gut an die Schlagzeile, die vor einer Woche die Nachrichten beherrscht hatte: Deutsche Verkehrsmaschine über Polen abgestürzt!

Kurz hinter der Grenze war ein Airbus mit über zweihundert Passagieren an Bord vom Radar verschwunden.

Der Gesichtsausdruck der Dezernatsleiterin entspannte sich ein wenig. »Ich fürchte, Sie sind der letzte Mohikaner in meinem Dezernat. Ich habe gestern mit Wolfgang Petermann gesprochen. Im Augenblick sind sie noch damit beschäftigt, die Leichenteile an der Absturzstelle einzusammeln. Bis jetzt konnte noch kein einziger Passagier identifiziert werden. Von den meisten wissen sie noch nicht einmal, ob es eine Frau oder ein Mann war.«

Ein kalter Schauer kroch langsam Tonys Rücken hinauf. Unwillkürlich zog er die Schultern an die Ohren. Er war nicht religiös, dankte aber dem großen Weltenlenker aus tiefstem Herzen, ihm diesen Job erspart zu haben.

»Trotzdem werde ich Unterstützung brauchen!«, beharrte er fast trotzig.

Mit einem Lächeln schloss Claudia Neumüller die dünne grüne Mappe und reichte sie Tony. »Ja, natürlich. Darum kümmere ich mich gleich. Fahren Sie jetzt erst einmal los, damit Sie nachher etwas zu berichten haben.«

Auf dem Weg zurück in sein Büro fühlte sich Tony völlig überfahren. Er war jetzt vierzig Jahre alt und gerade einmal seit einem halben Jahr bei der Kriminalpolizei. Manch anderer Kollege diente hier schon jahrelang, ohne je an einem wirklich großen Fall gearbeitet zu haben.

Instinktiv war er stolz auf das Vertrauen, das Claudia Neumüller ihm schenkte. Bis ihm nur einen Augenblick später schlagartig klar wurde, dass seine Chefin gar keine andere Chance gehabt hatte, als ihn mit der Aufgabe zu betrauen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Sie hatte nicht einmal die Wahl zwischen Not und Elend gehabt, weil nur noch Not übrig geblieben war.

Was hatte die Neumüller noch gleich gesagt? Das Opfer war ein afrikanischer Asylbewerber? Also vermutlich ein Schwarzer. Das rief reflexartig ein paar Namen in seinem Gedächtnis wach.

Je mehr er über die Angelegenheit nachdachte, desto mehr begriff er, dass er dabei war, geradewegs auf ein Pulverfass zu steigen, dessen kurze Lunte bereits brannte, um damit einen wilden Ritt zu beginnen. Sachsen und besonders Bautzen waren als brauner Sumpf, als Nazizone und Dunkeldeutschland verschrien. Er ahnte, welche Schlagzeilen ein toter Asylbewerber deutschlandweit hervorrufen würde.

Tony konnte sich also vorstellen, wie die Dezernatsleiterin und die gesamte Polizeiführung seine Arbeit beobachten würden. Einen zweiten NSU-Skandal durfte es unter keinen Umständen geben.

Was würde Günther an seiner Stelle tun? Sein Freund fehlte ihm jetzt schon. Mit seiner ruhigen, pragmatischen Art fand Englert für jedes Problem eine Lösung, während Tony eher der Typ war, der für jede Lösung ein Problem liefern konnte. In seinen vielen Jahren hatte Englert schon fast alles erlebt. Tony war sicher, auf dieser Welt gab es kaum noch etwas, was seinen Partner in Erstaunen versetzen konnte.

Mittlerweile war er in seinem Büro angekommen. Abwesend kramte er seine Sachen zusammen, klaubte die Autoschlüssel aus der Schreibtischschublade und verließ sein Büro. Immer noch tief in Gedanken, stieg er in den grauen VW-Golf im Hof der Dienststelle.

Je länger Tony über die Angelegenheit nachdachte und die vielen Nachteile gegeneinander abwägte, begann in ihm eine neue Idee zu wachsen: Er hatte gerade eine unglaubliche Chance bekommen. Während sich der Rest der Mannschaft durch Gepäckstücke und Leichenteile grub, konnte er einen Mordfall aufklären. Statistisch gesehen waren die meisten Tötungsdelikte Beziehungstaten. Täter und Opfer kannten sich also auf irgendeine Art. Langwierige und komplizierte Ermittlungen waren selten. Immer größeren Raum nahm diese Idee ein, bis sie schließlich die Bedenken so überlagerte, dass Tony einen entschlossenen Gesichtsausdruck aufsetzte und beherzt aufs Gaspedal trat.

Politische Tretminen hin oder her – das Leben hatte ihm den Fehdehandschuh hingeworfen – er würde ihn aufnehmen.

Die Hitze zwischen den Häusern war unerträglich. Kein Lüftchen bewegte sich. Die Sonne schien jede Farbe und jeden Kontrast aus der Welt zu brennen. Alles wirkte matt und ohne Glanz. Eine feine Staubschicht überzog jeden Gegenstand. Die kleinen Rasenflächen vor den Häusern begannen bereits, einen gelblich-braunen Ton anzunehmen.

Entschlossen, sich der Aufgabe zu stellen, blinzelte Tony zu dem riesigen grauen Kasten hinüber. Er straffte sich und versuchte, seinem Gesicht einen entspannten, zuversichtlichen Ausdruck zu geben, was sich schwieriger als erwartet gestaltete. Nach ein paar Schritten spürte er, wie sich seine Kiefermuskeln verspannten. Jetzt galt es erst einmal, sich einen Überblick zu verschaffen. Schließlich wollte er seinem Team, das ihm Claudia Neumüller versprochen hatte, ein paar erste Ergebnisse präsentieren. Zudem konnte es nicht schaden, wenn alle gleich mitbekamen, wer der Chef war.

Der Wohnblock, auf den Tony zuschritt, unterschied sich von den umliegenden Häusern. Es war ein riesiges, zehngeschossiges Ungetüm. Durch je eine Tür am linken und am rechten Ende gelangte man hinein. Vor den Eingangstüren deuteten riesige Metallklingeltafeln an, wie viele Menschen hier lebten. Die Vielzahl der Bewohner, ihre bunte Mischung an Herkunft und Weltanschauung und die kleinen Behausungen sorgten immer wieder für Ärger, der die Polizei auf den Plan rief. Viele der deutschen Hausbewohner hatten Schwierigkeiten, sich mit der Lebensweise ihrer neuen Nachbarn zu arrangieren. In jeder Etage hatte die Ausländerbehörde einige Wohnungen angemietet, in denen sie Asylbewerber unterbrachte.

Auf dem Weg zum Haus stellte Tony fest, wie wenig reale Tatorte doch denen im Fernsehen ähnelten. Hier gab es keine gaffende Menschenmenge, keine geifernde Reportermeute. Niemand rannte gehetzt hin und her oder brüllte hektisch Kommandos.

Wenn da nicht die uniformierten Polizisten an den Hauseingängen gestanden hätten, würde nichts auf die dramatischen Geschehnisse hinter diesen Mauern hinweisen.

Tony schritt auf den rechten der beiden Eingänge zu. Dort lehnte einer der beiden Uniformierten an der Hauswand neben der Tür und rauchte. Der andere beugte sich einige Meter abseits hinter einen gelb blühenden Kugelginster, dessen Blätter trotz der Hitze prall und grün und gesund aussahen, und erbrach sich gerade geräuschvoll.

Als Tony nähertrat, erkannte er in dem rauchenden Polizisten Dirk Wiedemuth. »Hey, Dirk, grüß dich!«

Der etwa vierzigjährige Beamte stieß sich von der Wand ab und schnippte lässig den Zigarettenstummel weg. Er lächelte matt, als er Tony erkannte. »Mensch, Tony, sei gegrüßt! Hast du hier den Hut auf?« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Eingang.

Die Achtlosigkeit, mit der Wiedemuth seinen Stummel in die Gegend schnippte, störte Tonys Ordnungssinn. Wegen ihrer langen Freundschaft ignorierte er die Nachlässigkeit des Kollegen. Die Miene, die Wiedemuth dabei aufsetzte, gab Tony einen kleinen Stich. Aus ihr sprach der pure Zweifel. Mit einem Ton, der schärfer geriet als gewollt, antwortete er: »Erraten.« Tony blickte zu dem jungen Beamten am Ginsterbusch, der wieder zu Atem zu kommen schien. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck wischte er sich die tränenden Augen. Tony reichte dem jungen Mann ein Taschentuch. »Erstes Praktikum? Hauptsache, gut gefrühstückt, damit es sich lohnt.« Dann wandte er sich Wiedemuth zu. »Wart ihr die Ersten hier?«

Der nickte. Ihm standen immer noch Zweifel ins Gesicht geschrieben. »Wo ist Englert? Sollte er nicht mit von der Partie sein?« Suchend schaute er an Tony vorbei. »Was ist passiert?«

Tony setzte ein schiefes Grinsen auf. »Du wirst wohl mit mir vorliebnehmen müssen.« Dabei beließ er es.

Wiedemuth zuckte mit den Schultern und zog sein Notizbuch aus der schwarzen Schutzweste. »So eine Art Sozialarbeiter hatte heute einen Termin mit dem Opfer. Sein Name ist Paul Ogwambi. Er wollte den Toten, einen Kenneth Wesesa, zu irgendeinem Termin begleiten. Als sein Klient nicht aufmachte und er das Blut an der Tür sah, rief er beim Notruf an. Wir haben die Feuerwehr die Tür aufmachen lassen. Sieht nicht schön aus. Die Techniker sind schon oben. Ogwambi wartet auch noch.« Er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Luft.

Tony konnte deutlich erkennen, wie mit jedem Satz ein Teil der zur Schau gestellten Lässigkeit von Wiedemuth abfiel. Immer wieder musste er sich räuspern. Tony warf einen weiteren Blick auf das grün-graue Gesicht von Wiedemuths Praktikanten. Auf dessen Hose waren ein paar verräterische Sprenkel übrig geblieben. »Wirklich so schlimm?«

Sein Freund schloss die Augen und zog die Brauen nach oben. Dann atmete er tief ein und schnaufend wieder aus. »Schau es dir einfach selbst an! Ich habe ja schon viel gesehen. Aber so etwas … nein!« Er schüttelte den Kopf. Mit zittrigen Fingern fummelte Tonys Kollege eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Er brauchte vier Versuche, bis er sein Feuerzeug ruhig genug halten konnte, um sie anzuzünden. Mit geschlossenen Augen inhalierte er den Rauch, so tief er konnte. Wiedemuth hielt die Luft an und ließ ihn Sekunden später in einer großen Wolke wieder aus seinen Lungen entweichen. Etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Das Zittern seiner Hände ebbte ein wenig ab. Mit hochgezogenen Augenbrauen sagte er zu Tony: »Ich will dir ja nicht zu nahetreten, aber ich glaube nicht, dass das eine Sache für einen Anfänger wie dich ist.«

Tony verzog bedient das Gesicht. »Herzlichen Dank für dein Vertrauen.«

Er verkniff sich den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, als er in Wiedemuths graues Gesicht sah. In ihm meldete sich ein ungutes Gefühl. Wenn ein so abgebrühter Beamter wie Dirk Wiedemuth zitterte, musste es schlimm aussehen in der Wohnung. Ein wenig beruhigte ihn der Gedanke, dass bereits Kollegen dort arbeiteten.

Dirk Wiedemuth schaute neugierig in Richtung von Tonys Dienstwagen. »Warum bist du allein? Wo ist denn dein Bärenführer Englert? Urlaub?« Er schnippte die Asche von seiner schon wieder ziemlich kurzen Zigarette achtlos auf das Pflaster vor dem Eingang.

Bärenführer. Den Begriff hatte Tony schon eine Weile nicht mehr gehört. Er war die Bezeichnung für Beamte, die Praktikanten bei ihren ersten Gehversuchen im Polizeidienst betreuten.

Er beschloss, vage zu bleiben. »Ach, frag nicht! Günther geht es nicht gut. Jetzt bin ich quasi der letzte Mohikaner im Dezernat.« Er berührte Wiedemuth freundschaftlich am Oberarm. »Schreibst du mir bitte noch heute deinen Bericht?« Wiedemuth nickt. »Klar doch.«

Tony trat in einen kleinen Vorraum.

Eine Armee von Briefkästen nahm die volle Breite der linken Wand ein. Darunter standen ein paar Pappkartons, gefüllt mit Prospekten. Rechts an der Wand standen drei ziemlich ramponierte Kinderwagen. Einer wies unübersehbare Brandspuren auf.

Die frischen Farben an den Wänden bewiesen, dass sich die Vermieter große Mühe gaben, das Haus in Schuss zu halten. Trotzdem bedeckten schon wieder unzählige Kritzeleien die Briefkästen, Wände und die Glasscheiben der Türen. Der Sinn der meisten erschloss sich niemandem als dem Schmierfinken.

Mit einem ungläubigen Blick nach links fragte er sich, wie man unter dieser Unmenge an Briefkästen seinen eigenen finden konnte, ohne jedes Mal stundenlang suchen zu müssen. Tony registrierte das beschädigte Schloss der Tür zum Treppenhaus. Er machte sich eine Notiz, die Hausverwaltung danach zu fragen, wie lange das Schloss schon kaputt war. Die Techniker hatte es wahrscheinlich schon untersucht. Tony nahm sich vor, trotzdem sicherheitshalber zu fragen.

Ein neues Gefühl hatte sich zu seinem Unbehagen gesellt. Zuerst konnte er es nicht beschreiben, dann erkannte Tony erstaunt, dass ihn das Jagdfieber gepackt hatte. Als er die Treppen zum ersten Obergeschoss hinaufstieg, musterte er aufmerksam Wände und Stufen. Auch hier verunzierten Graffiti und obszöne Sprüche die frische Farbe an den Wänden.

An der schweren Schwingtür, die den langen Gang, der zu den Wohnungen führte, vom Treppenhaus trennte, stand ein weiterer uniformierter Polizist. Tony kannte ihn nicht. Sein jugendliches Alter wollte er wohl mit einem besonders grimmigen Gesichtsausdruck wettmachen. Lässig trat er einen Schritt auf Tony zu und hob seine rechte Hand. Die andere steckte in seiner schwarzen Schutzweste, die er trotz der Hitze trug. »Hier geht es nicht durch.«

Tony kramte seine Marke aus der Tasche. »Guten Morgen. Für mich schon.« Er lächelte den jungen Mann an. »Ich glaube, es ist nicht notwendig, so grimmig zu schauen. «

Ein paar Schritte entfernt lehnte ein Schwarzer an der Hauswand und schaute neugierig zu Tony herüber.

Tony nickte ihm knapp zu. »Guten Tag. Sind Sie Paul Ogwambi?«

Der Mann stieß sich von der Wand ab und nickte. »Ja, bin ich.«

Tony reichte ihm die Hand. »Danke, dass sie gewartet haben. Ich komme gleich noch einmal zu Ihnen, wenn das in Ordnung ist. Ich habe noch ein paar Fragen.«

Der Mann nickte matt und, wie es Tony schien, auch ein wenig genervt. »Natürlich.«

Tony zog die schwere Schwingtür zu dem langen Verbindungsgang zwischen den beiden Treppenhäusern auf und trat hinein.

Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an das Schummerlicht zu gewöhnen.

Weil der Gang keine Fenster besaß, beleuchteten ihn nur ein paar kleine Lämpchen, die in regelmäßigem Abstand an der Decke verteilt waren. Links und rechts lagen sich im Abstand von etwa fünf oder sechs Metern die charakterlosen Wohnungstüren gegenüber. Der Gang wirkte wie eine anonyme Hoteletage, nur weniger gepflegt. Hier und da versuchten Bewohner, ihrer Tür ein wenig mehr Charme zu verleihen. Sie hatten einen Kranz oder ein Bild daran gehängt oder eine Fußmatte davorgelegt.

Die dritte Tür links führte unverkennbar zum Tatort. Ein starker Scheinwerfer beleuchtete die gespenstische Szene. Neben der Tür standen die großen Aluminiumkoffer der Tatortgruppe. Eine pummelige Gestalt in einem weißen Overall betrachtete den Türrahmen eingehend durch eine große Lupe und diktierte anschließend etwas in ein kleines Diktafon. Auf einem Klapptisch lagen verschiedene Werkzeuge der Kriminaltechniker, eine große Digitalkamera, verschiedene Pinsel, Döschen und Tüten. Abgesehen von der weiß gewandeten Gestalt, war der lange Gang menschenleer.

Tony roch sofort tausend verschiedene Dinge. Eine Mischung aus exotischen Gewürzen, kaltem Rauch und alter Wäsche. Dazu mischte sich der typische metallische Geruch nach Blut. Überlagert wurde dieser Mix von einem üblen Gestank. Der verstärkte sich umso mehr, je näher er dem Tatort kam.

Auf dem Weg dorthin besah er sich die Wohnungstüren. Sie schienen alle neu zu sein. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass sie äußerst stabil waren. Er konnte sich lebhaft an einen Einsatz hier in diesem Haus erinnern, bei dem eine Frau in ihrer Wohnung um Hilfe gerufen hatte. Die Feuerwehrleute, die die Tür öffnen sollten, hatten sich am Ende nicht anders zu helfen gewusst, als mit der Kettensäge ein Loch in das Türblatt zu sägen, weil die sich jedem ihrer Öffnungsversuche widersetzt hatte.

Die Gestalt in dem weißen Einweganzug entpuppte sich als eine Frau. Vorsichtig bestäubte sie den Rahmen mit einem Pulver. Sie bewegte sich präzise und elegant. Der Anzug saß ein wenig knapp um ihre üppigen Hüften, dafür war er ihr zu lang. Da sie eine Maske vor Mund und Nase trug, war von ihrem Gesicht kaum etwas zu erkennen.

Tony beobachtete sie einen Augenblick lang interessiert. Der Farbe des Pulvers nach zu urteilen, benutzte sie Rußpulver, um Fingerabdrücke sichtbar zu machen. An einigen Stellen hatte sie bereits Spuren mit einem Klebeband eingerahmt, das einen Maßstab zeigte, um sie fotografieren zu können. Als sie Tony bemerkte, drehte sie sich um und nickte ihm zu. »Oh, auch schon da? Jetzt hätte ich auch ausgeschlafen.«

Tony erkannte Saskia Krey an ihrer Stimme. Er konnte einen Anflug von Ärger nicht verhindern. Ihn hatte dieser dümmliche Spruch schon immer gestört. Es war ein Running Gag, der immer gerissen wurde, sobald sich jemand verspätete. Dabei war der Grund der Verspätung völlig egal. Viel mehr als dieser Witz traf ihn jedoch die seltsam brüchige Stimme der Kollegin. Hatte die Frau etwa einen Frosch im Hals?

Als Kriminaltechnikerin hatte sie regelmäßig mit Leichen in allen Stadien der Zersetzung zu tun. Auch wenn fast nie ein Verbrechen hinter den Todesfällen stand, wurden auch Kriminaltechniker zu jedem Fall hinzugezogen, bei dem ein Arzt eine unbekannte Todesart feststellte.

Die Technikerin reckte den Kopf und blickte an Tony vorbei. »Wo ist Günther?«

Tony rollte genervt mit den Augen. »Was wollt ihr immer mit Günther? Er ist nicht da. Und er wird auch nicht kommen.« Obwohl Saskia Krey ihn mit neugierigem Blick ansah, beließ er es dabei. »Woher bekomme ich einen Anzug?«

Mit dem Kinn wies sie auf eine blaue Kiste neben der Tür und wandte sich mit einem Schulterzucken wieder ihrer Arbeit zu.

Tony schlüpfte in den weißen Schutzanzug und suchte Überzieher für die Schuhe heraus. Bevor die Kriminaltechnikerin zur Seite trat, um Tony eintreten zu lassen, fügte sie noch hinzu: »Ich habe ja schon eine Menge Leichen gesehen – ganz frische und auch welche, die ein Güterzug über Hunderte Meter verteilt hatte. Aber das hier …« Kopfschüttelnd ließ sie den Satz unbeendet. Ihre Rechte ballte sich dabei so fest um den Griff des Vergrößerungsglases, dass die Gelenke leise knackten.

Tony konnte ihren Gesichtsausdruck wegen ihrer Montur nicht erkennen. Aber ihre Stimme kam ihm jetzt noch um einiges brüchiger vor.

Wie immer stellte sich ein beklemmendes Gefühl ein, als Tony den Tatort betrat. Der Anzug und die Maske verstärkten es noch. Angestrengt rang Tony nach Luft. Er zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen. Nach ein paar Atemzügen ging es ihm besser.

Um ein wenig Zeit zu gewinnen, widmete er sich zuerst der Wohnungstür. Sie machte auf den ersten Blick einen unbeschädigten Eindruck. An Saskia Krey gerichtet fragte er: »Hast du irgendwelche Einbruchsspuren an der Tür erkennen können?«

Die Frau sah von ihrer Arbeit auf. »Nein, keine offensichtlichen. Zwar müssen wir uns das Schloss noch genauer ansehen, aber bis jetzt sieht es so aus, als hätte das Opfer den Täter selbst hereingelassen.«

Tony wandte sich in den winzigen, fensterlosen Flur, der sonst nur von einer matten, nackten Glühlampe erhellt wurde, die an einem kurzen Kabel von der Decke baumelte. Jetzt tauchte auch hier ein kräftiger Strahler alles in gleißendes Licht. Rechts von ihm führte eine Tür zu einem noch kleineren Bad. Gegenüber gab eine dritte Tür den Blick ins Wohnzimmer frei. Zwei nackte Schrauben in der Wand dienten als Garderobe. Dutzende der unvermeidlichen Fliegen hatten sich an den Wänden und der Decke niedergelassen oder schwirrten mit hektischem Gebrumm um die Lampe.

Ein penetranter Gestank lag in der Wohnung. Tony meinte, ihn als leichten grünen Schleier in der Luft wabern zu sehen. Er war Gerüchen gegenüber äußerst empfindlich. Der bloße Anblick einer verwesten, von Maden befallenen Leiche machte ihm nicht viel aus, aber den Gestank, den der sich zersetzende Körper verströmte, ertrug er nur schwer. Hier war es aber nicht der Verwesungsgeruch, sondern ein anderer, ebenso widerlicher. Tony drehte noch einmal um. In der Kiste im Treppenhaus musste ein Tiegel mit der Mentholsalbe liegen. Er strich sich einen breiten Streifen unter die Nase. Sofort stellte sich das bekannte Brennen auf der Haut ein. Die Salbe vertrieb den Gestank nicht, machte ihn aber erträglicher.

Die Beamten der Tatortgruppe hatten auch in dem winzigen Flur ihre Koffer und Taschen abgestellt. Eine zweite weiß vermummte Gestalt visierte gerade etwas mit einer Kamera an der Wand an, was Tony nicht erkennen konnte.

Hier herrschte eine höllische Hitze. Dem leichten Luftzug, der von der Tür hereinströmte, fehlte die Kraft, sie zu mildern.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung drängte sich Tony an dem Beamten vorbei. Dann betrat er das Wohnzimmer.

Trotz des weit geöffneten Fensters war der Geruch nach Tod und Fäkalien überwältigend.

Die Verwesung begann unmittelbar nach Einsetzen des Todes. Hier war sie offenbar noch nicht weit fortgeschritten. Trotzdem schwebte ihr süßlich-fauliges Aroma bereits in der Luft. Hinzu mischte sich der Gestank eines Dixi-Klos nach einem dreitägigen Rockfestival im Hochsommer. Selbst die reichlich aufgetragene Menthol-Salbe kam nicht dagegen an.

Der Gestank verfehlte seine Wirkung auf Tony nicht. Sofort begann das Brechzentrum in seinem Hirn wie verrückt, Impulse durch seinen Körper zu jagen. Zwerchfell und Bauchmuskeln begannen, Druck auf seinen Magen auszuüben. Der gab nach kurzer Gegenwehr nach und entließ den wenigen Inhalt in Richtung Speiseröhre, wo er sich brennend seinen Weg in Richtung Rachen bahnte. Tony blieb stehen und schloss die tränenden Augen. Verzweifelt kämpfte er mit heftigen Schluckbewegungen gegen den Brechreiz. Nach ein paar Sekunden puren Leids hatte Tony es geschafft. Sein Puls beruhigte sich, seine Augen hörten auf zu tränen. Zurück blieb der widerliche bittere Geschmack im Mund. Sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischend schaute er sich um. Befriedigt stellte er fest, dass offenbar niemand etwas von dieser Beinahekatastrophe mitbekommen hatte. Dankbar schickte er ein Stoßgebet an die Erfinder von Einwegoverall und Schutzmaske. Mit zurückerlangtem, wenn auch etwas angekratztem, Selbstvertrauen, weil er beinahe den Tatort kontaminiert hätte, trat er einen Schritt weiter in das Zimmer.

Der Raum war nicht groß und nur sehr spärlich möbliert. Rechts neben der Tür stand eine Klappcouch, die gleichzeitig als Bett diente, wie die zerwühlte Bettwäsche bewies. Davor fristete ein niedriger, zerkratzter Couchtisch sein trauriges Dasein. An der gegenüberliegenden Wand duckte sich eine billige, ramponierte Schrankwand schüchtern in die Ecke. Sie hatte einen leichten Haltungsschaden und ließ ihre linke Schulter etwas hängen. Weiter hinten in einer Ecke verdeckten zwei Techniker größtenteils den Blick auf einen kleinen Esstisch mit zwei Stühlen. Tony konnte zuerst nicht erkennen, was die beiden Kriminalisten betrachteten. Erst als er hüstelte, drehten sich Reinhardt Borchert und Marius Nickl zu ihm um und gab damit den Blick auf den Tisch frei.

Nichts auf dieser Welt hätte Tony auf den Anblick vorbereiten können, der sich ihm bot. Ungläubig starrte er auf die Szene. Zuerst glaubte er, es würde sich um einen makaberen Scherz handeln. Um eine Art fehlgeleitete Kunstinstallation. Als er in Borcherts Augen blickte, erkannte er jedoch die brutale Realität.

Am Kopfende des billigen Holztisches saß ein Schwarzer. Sein Körper und die Arme waren mit Klebeband an die Lehne des Stuhls gefesselt. Beide Hände ruhten, wie bei einer Sphinx, flach auf dem Tisch.

Tony konnte sich nicht erklären, warum sie nach wie vor so unverrückbar dort zu liegen schienen. Erst als er nähertrat und genauer hinsah, erkannte er die Ursache: Aus beiden Handrücken ragten die Köpfe zweier starker Nägel.

Obwohl er schon eine Menge Gruseliges in seinem Dienst erlebt hatte, lief Tony ein Schauer über den Rücken. Wer, zum Kuckuck, nagelte einem gefesselten Mann auch noch die Hände fest? Um Oberkörper, Arme und Beine wanden sich mehrere Lagen Klebeband. Er hatte sich unmöglich bewegen können.

Das Grässlichste jedoch war, dass der Körper kopflos am Tisch saß. Der Kopf stand aufrecht zwischen den festgenagelten Händen des Toten. Als der Tod eintrat und alle Muskeln erschlafft waren, hatten sich Darm und Blase entleert und bildeten jetzt eine widerliche Pfütze um den Stuhl.

Tony war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Jetzt konnte er Wiedemuths Zittern verstehen. Er beglückwünschte sich innerlich zu der Entscheidung, keine dummen Witze gerissen zu haben.

Zögernd trat er noch näher an den Tisch. Nun konnte er dem abgetrennten Kopf ins Gesicht sehen. Alles wirkte surreal, so albtraumhaft wie ein Bild von Salvador Dalí. Der Anblick und der höllische Gestank erzeugten eine kaum zu ertragende Szenerie des Grauens. Dazu kamen Hunderte Fliegen, die durch den Raum summten und sich überall niederließen. Tony hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen. Dadurch wirkte der Anblick aber auch seltsam faszinierend. Er konnte seinen Blick nicht abwenden. Ungläubig starrte er zwischen dem kopflosen Torso und dem Kopf hin und her.

Zu seinem eigenen Erstaunen beruhigte sich Tony umso mehr, je länger er das Opfer betrachtete. Immer besser gelang es ihm, sich auf die sachlichen Details zu konzentrieren. Fast fürchtete er sich über sich selbst. War er wirklich schon so abgebrüht, dass ihn der brutale Tod eines Menschen nur kurz naheging und dann einem Gefühl der Neugier wich?

Er betrachtete die Schnittstelle am Hals, in dem Versuch, ein paar anatomische Einzelheiten zu erkennen. Was er sah, war eine formlose Masse aus Hautfetzen, menschlichem Fleisch und schwarzen, geronnenen Blutes. Einzig ein kantiges Stück eines Halswirbels stach hell heraus.

Der Mann trug ein kurzärmeliges, hellblaues Hemd und eine kurze, schwarze Sporthose. Seine Füße steckten in Badelatschen.

Oberkörper, Bekleidung und Stuhl waren über und über mit Blut besudelt, wenn auch nicht so viel, wie er erwartet hatte. Selbst an der Zimmerdecke über dem Opfer konnte Tony einige wenige Spritzer erkennen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Herz noch kräftig geschlagen hatte, als der Kopf abgetrennt wurde, der Tod aber schnell eingetreten war.

Wenn das Herz nach dem Tod das Blut nicht mehr durch den Körper pumpt, folgt es den Gesetzen der Schwerkraft und sammelt sich am tiefsten Punkt, um dort Leichenflecken zu bilden.

Tony wandte sich dem Kopf zu. Der schien seinen eigenen Körper durch halb geschlossene Lider abschätzig zu taxieren. Der halb geöffnete Mund gab den Blick auf gelbe, unregelmäßige Zähne frei. Rund um den Hals war das Blut auf der Tischplatte zu einer ekeligen, gallertartigen, braunen Masse geronnen. Filzige Dreadlocks wandten sich um den Kopf oder standen grotesk ab, als würden sie ein Eigenleben führen. Aus dem Gesicht war jede Farbe gewichen, es erschien jetzt schmutzig grau. Wegen der tiefen Falten, die es durchzogen, schätzte Tony das Alter des Opfers auf Mitte sechzig. Gegen das Alter sprach jedoch die tiefe Schwärze des Haares ohne einen Einflug von Grau. Eine mächtige Beule am Hinterkopf zeugte von einem kräftigen Schlag oder einem Anstoß. Möglicherweise hatte der Mörder sein Opfer zuerst bewusstlos geschlagen und dann auf den Stuhl gefesselt.

Unablässig umkreisten Fliegen den Kopf. Sie krochen aus Nase, Mund und Ohren. Tony wusste, dass sie nur Minuten nach dem Tod anfingen, die Leiche zu besiedeln. Schon jetzt hatten sie die ersten Eier abgelegt. Es würde nicht lange dauern, bis die Maden schlüpften. Er erwartete jeden Augenblick, dass sich der Kopf schüttelte, um die lästigen Störenfriede loszuwerden.

Ein ungepflegter Vollbart kräuselte sich auf Kinn und Wangen. Irgendetwas an dem Bart kam Tony seltsam vor. Er musste genau hinschauen, um unter dem verkrusteten Blut zu erkennen, was es war. Auf der rechten Seite des Kinns fehlten die Pigmente in den Barthaaren. Dadurch erschien er dort unter dem geronnenen Blut ein wenig heller als der Rest.

Hätte ihm nicht die humorloseste Frau der Welt persönlich den Auftrag erteilt, wäre Tony sicher gewesen, Opfer eines geschmacklosen Aufnahmerituals unter Todesfallermittlern geworden zu sein.

Als er das realisierte, spürte er, wie das ohnehin winzige Fünkchen Selbstvertrauen in seinem Inneren noch einmal kurz aufflackerte, um dann vollständig zu erlöschen.

Der gruselige Tatort nahm ihn vollständig gefangen. Er musste sich eingestehen, dass er im Augenblick vermutlich nicht einmal seinen Namen fehlerfrei schreiben könnte, geschweige denn dazu fähig war, allein einen Mord aufzuklären. Die offensichtliche Skepsis der Kollegen an seinen Fähigkeiten als Ermittler half auch nicht dabei, seine Selbstzweifel zu zerstreuen. Krampfhaft versuchte Tony, die Gedanken, die ihm unkontrolliert durchs Hirn schossen, in halbwegs geregelte Bahnen zu lenken. Er kam sich vor wie ein Schauspieler, der bei seinem ersten großen Auftritt vor dem Publikum steht und seinen Text vergessen hat. Aber hier gab es keine Souffleuse, die ihm weiterhalf.

Um Zeit zu gewinnen, schaute er sich scheinbar interessiert im Raum um. Umständlich fummelte er unter dem Overall eine kleine Digitalkamera aus seiner Tasche. Rasch fotografierte er den Raum und den Toten.

Borcherts gereizte Stimme drang nur undeutlich zu Tony durch. »Kann ich Ihnen helfen?«

Reinhardt Borchert betrachtete gemeinsam mit Marius Nickl den Kopf auf dem Tisch. So etwas hatte er in seinen vierzig Dienstjahren auch noch nicht gesehen. Jetzt beschäftigte ihn vor allem ein Problem: Wie bekam er den Kopf spurenschonend in sein Labor. Er konnte sich nicht erinnern, dazu etwas im Handbuch gelesen zu haben. Marius Nickl, sein Stellvertreter, hatte sich ebenfalls zu dem Kopf hinuntergebeugt und brummte es Unverständliches vor sich hin. Borchert holte gerade Luft, um einen Vorschlag zu machen, als er hinter sich ein Hüsteln hörte.

Ärger durchfuhr ihn, weil ihn jemand in seinen Gedankengängen störte. Von seinen Leuten wusste alle, dass an einem Tatort Ruhe zu herrschen hatte. Zumal es ohnehin nicht so viel zu sagen gab. Jeder kannte seine Aufgabe und arbeitete konzentriert. Geschwätz war bei der Spurensicherung fehl am Platz. Was hier zählte, waren Ruhe und Akribie.

Verärgert betrachtete Reinhardt Borchert den jungen Mann, der eingetreten war und um Aufmerksamkeit warb. Er bemerkte trotz der Maske, wie dessen anfangs forsche Miene beim Anblick, der nun für ihn sichtbaren Leiche, zu einer angeekelten Grimasse gefror. Jetzt stand er in seinem weißen Anzug hilflos mitten in dem kleinen Raum und sah aus wie ein Junge, der seine Mutter im Einkaufszentrum verloren hatte. Borchert erkannte den Neuen, der vor ein paar Monaten im Dezernat 1 angefangen hatte. Verdammt, wie hieß er doch gleich? Irgendein Tier. Fuchs oder Bär? Er konnte sich Namen schlecht merken. Glücklicherweise war das bei seiner Arbeit auch nicht notwendig.

Offenbar ratlos starrte der Eindringling in dem kleinen Raum umher. Sein Blick blieb an dem Kopf auf dem Tisch hängen.

Reinhardt Borchert runzelte die Stirn. Er hasste es, wenn Fremde unangemeldet seinen Tatort betraten. Er empfand jede Person als potenzielle Gefahr für seine Spuren. Spuren waren nun einmal sein Reich, ergo hatte niemand außer dem kleinen, elitären Zirkel seiner Tatortgruppe hier herumzuschnüffeln. Sein Missfallen stieg weiter, als der Kerl auch noch an den Tisch trat und begann, das Opfer eingehend zu betrachten und anschließend Fotos von seinem Tatort zu machen. Er zwang sich zu einem Mindestmaß an Höflichkeit. »Kann ich helfen?«

Der Mann schien aus einer Art Schockstarre aufzufahren. Nun blickte er ihn endlich an. »Guten Morgen. Tut mir leid, dass ich so spät komme! War alles ein wenig chaotisch heute früh.«

»Morgen«, antwortete Borchert knapp. Dann blickte er auf sein linkes Handgelenk, als wollte er die Uhrzeit ablesen. »Sie sind wirklich spät dran. War der Kaffee heute Morgen noch zu heiß? Wo ist Günther?« Borchert gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen.

Die Augen des Mannes verengten sich leicht. »Wir hatten einen … Notfall. Günther fällt länger aus. Ich leite die Ermittlungen. Mein Name ist Tony Woolf.« Mehr sagte er zu dem Thema nicht. »Können Sie mir schon etwas sagen?«

Borchert war endgültig bedient. Dieser Grünschnabel wollte bei diesem Fall die Leitung übernehmen? »Können Sie mir etwas sagen?«, echote er. »Natürlich kann ich Ihnen etwas sagen. Ich kann Ihnen alles Mögliche sagen.« Zufrieden sah Borchert, wie sich das Gesicht von Marius Nickl neben ihm hinter der Maske zu einem Grinsen verzog. »Wenn Sie etwas Bestimmtes wissen wollen, stellen Sie eine konkrete Frage. Wir sind mitten in der Arbeit.«

Woolfs Augenbrauen zogen sich unwillig noch weiter zusammen. »Haben Sie ganz konkret eine Tatwaffe gefunden?«

Borchert überhörte die Spitze, konnte aber nicht verhindern, dass sein Puls an Fahrt aufnahm. »Nein, noch nicht. Ich habe auch wenig Hoffnung, dass sie hier in der Wohnung noch auftaucht. Aber, wie gesagt, wir sind noch mittendrin statt nur dabei.« Borchert breitete die Hände aus und wies auf die vielen Spurenkärtchen, die im Raum verteilt standen.

»Wissen wir schon mit Sicherheit, wer er ist?« Woolf deutete mit dem Kinn auf den Kopf.

Jetzt war es an Borchert zu grinsen, als Nickl zu einer Aufenthaltsgestattung griff, die auf dem niedrigen Couchtisch gelegen hatte und das Passbild neben den Kopf hielt. Er tat so, als würde er Bild und Kopf intensiv miteinander vergleichen. »Ich glaube, schon. Kenneth Wesesa. Flüchtling aus Ruanda.« Nickl blickte nach Zustimmung heischend zu seinem Chef herüber.

Woolf nickte, ohne die alberne Szene zu kommentieren. »Sieht so aus, als wäre das auch der Tatort.« Er blickte auf die vielen Blutspritzer, die auf Tisch, Wänden und Fußboden verteilt waren.

Borchert wandte sich an Nickl: »Hört, hört. Er ist da, der Vorsitzende des Komitees zur Verbreitung des Offensichtlichen.« An Woolf gewandt fügte Borchert hinzu: »Natürlich ist das hier der Tatort.«

Woolf griff, ohne etwas zu erwidern, nach der Aufenthaltsgestattung. »Darf ich die schon mitnehmen?«

»Ja, dürfen Sie. Und genau, weil das hier der Tatort ist, würde ich es begrüßen, wenn Sie uns unsere Arbeit machen ließen und später noch einmal vorbeischauen.« Borchert zeigte mit der Linken in Richtung Ausgang.

Woolf ignorierte Borcherts Bemerkung und deutete auf die Wunde am Hinterkopf. »Habt Ihr irgendwas gefunden, was das hier verursacht haben könnte?«

Borchert deutete in den kleinen Raum. »Bis jetzt noch nicht. Wenn er niedergeschlagen wurde, hat der Täter die Waffe wahrscheinlich wieder mitgenommen.« Er zeigte erneut in Richtung Ausgang.

Woolf starrte ihn eine Sekunde lang entgeistert an, dann zuckte er mit den Schultern. Vorsichtig ging er durch den Raum, um noch einen Blick in die Küche zu werfen. Anschließend machte er sich ebenso vorsichtig auf den Weg zum Ausgang.

Nickl hielt Woolf kurz am Arm zurück und deutete auf die Kamera. »Wozu die Fotos? Ihr bekommt erstklassige Aufnahme von allem hier.« Er deutete mit einer ausladenden Geste durch den Raum.

Woolf sah auf die Kamera in seiner Hand. »Meine Chefin wird etwas sehen wollen. Ich glaube nicht, dass sie so viel Geduld hat, bis ihr alles fertiggemacht habt.« Dann verließ er die Wohnung.

Borchert war froh, wieder seine Ruhe zu haben. Er konzentrierte sich auf den Tisch und fragte sich, wie er die festgenagelten Hände von der Tischplatte lösen könnte.

Der Kopf schien Borchert mit seinen halb geschlossenen Lidern verschwörerisch zuzwinkern. Das irritierte ihn ein wenig. Borchert konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine besonders gelungene Halloween-Dekoration handelte. In seinen vierzig Dienstjahren hatten Leichen jeglichen Grusel verloren. Schließlich hatte er jeden Körperteil eines Menschen schon in jedem Zustand des Zerfalls gesehen.

In einem erneuten Anflug von Ärger wandte er sich an Marius Nickl. »Was glaubt der Kerl, wer er ist? Columbo?« Borchert schüttelte genervt den Kopf.

Um die Blutlache nicht unnötig zu verschmieren, klebte er den Maßstab vorsichtig auf die Tischplatte. Borchert ließ Nickl den Kopf aus allen möglichen Perspektiven fotografieren. Ratlos kratzte er sich am Kopf. »Wie wollen wir den Kopf einpacken?«

Nickl schaute auf. »Reicht es nicht, wenn wir ihn eintüten?«

Borchert zog eine Grimasse. »Wir können doch nicht mit dem Kopf in der durchsichtigen Tüte durch die Gegend laufen. Ich kann die Schlagzeilen schon deutlich vor mir sehen. Nein, wir müssen ihn irgendwo reinstecken, wo ihn niemand sehen kann.«

Nickl war neben Borchert getreten und wieder sahen sie gemeinsam auf den Kopf hinab. »Haben wir nicht diese Kühlbox hinten im Auto? Da müsste die Rübe doch reinpassen?«

Anerkennend klopfte ihm Borchert auf die Schulter. »Tadellose Idee. Wenn du mit den Fotos fertig bist, holst du sie hoch und wir probieren es aus.«

Ein paar Minuten später stand die schwarze Styroporbox neben dem Tisch. Borchert nahm noch einmal mit den Augen Maß, dann stellte er den Kopf vorsichtig hinein. Die Rechtsmedizin würde ihn im Labor in aller Gründlichkeit untersuchen.

Anschließend griff Nickl zu einer Stichsäge. Er sägte rund um die Hände großzügig ein Loch in die Tischplatte. So konnten sie die Hände samt Nägeln in Spurenbeuteln eintüten.

Zum letzten Mal warf Borchert zufrieden einen Blick in die Runde. Alle Quadranten der Wohnung waren untersucht worden. Er vertraute seinen Leuten, die übersahen nicht die kleinste Spur. Alles war markiert, fotografiert, vermessen und eingetütet. Sie waren hier fertig.

Borchert wusste, das Theater, das er dem jungen Sherlock für Arme vorgespielt hatte, diente nur dazu, sein Revier zu markieren. Mit Günther Englert hatte die Arbeit immer gut funktioniert. Schließlich entstammten sie beider derselben Generation und hatten schon vor dreißig Jahren zusammen Spuren gesichert, als der Kerl noch in Lederhosen über den Bolzplatz gerannt war.

Auch wenn Woolf jetzt erst einmal das Feld kommentarlos geräumt hatte, war Borchert eines klar: Er musste wohl oder übel nach Woolfs Pfeife tanzen. Aber das sollte der Jungspund ruhig allein herausfinden.

Als Tony wieder auf dem schummrigen Gang stand, schloss er, froh, der beklemmenden Atmosphäre und dem Gestank entkommen zu sein, die Augen. Er riss sich die Maske vom Gesicht und atmete gierig die abgestandene Luft. Overall und Maske warf er in einen Müllsack und ging dann mit eiligen Schritten zurück ins Treppenhaus. Dort fiel sein Blick auf den jungen Schwarzen, der immer noch auf der Treppe saß und ungeduldig hin und her rutschte.

Der uniformierte Wachposten lehnte gelangweilt an der Wand und schaute nur einmal desinteressiert von seinem Handy auf.

Tony sah auf seine Uhr und stellte mit Erschrecken fest, dass der Zeuge schon mehr als zwei Stunden hier wartete. Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen. So zückte er sein Notizbuch und trat zu dem Wartenden. »Guten Tag, mein Name ist Tony Woolf. Ich leite die Ermittlungen. Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.«

Der Schwarze erhob sich und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Ein unsicheres Lächeln trat in sein Gesicht. »Hallo, mein Name ist Paul Ogwambi.« Seine dunkle Stimme klang ruhig und angenehm, aber seine Augen huschten gehetzt hin und her, wie bei einem Tier, das in die Ecke gedrängt worden war und verzweifelt einen Ausweg suchte.

Tony war überrascht. Sein Gesprächspartner sah nicht wie ein Feigling aus, aber er wirkte wie eine gespannte Feder, die gleich zerspringen würde. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, nur ein paar Fragen. Erzählen Sie mal! Was ist passiert?«

Ogwambi schien sich seine Worte sorgfältig zurechtzulegen. »Ich arbeite für den Verein Hoffnung geben hier in Bautzen. Wir kümmern uns hauptsächlich um afrikanische Flüchtlinge. Ich helfe, wo ich kann. Meistens beim Übersetzen oder mit den Ämtern. Heute wollte ich zu Kenneth, wegen Wohngeld und so. Als er nicht aufgemacht hat, dachte ich mir zuerst nichts dabei. Aber dann habe ich die komischen Flecken an der Tür gesehen …« Er brach ab.

Tony sah auf. »Was für Flecken?«

»So dunkle, am … Wie heißt das, wo man anfasst an der Tür?« Ogwambi deutete eine Bewegung an, als würde er eine Tür aufziehen.

»Sie meinen den Türknauf?« Tony drehte sich um und wies auf die Tür hinter sich.

»Ja, richtig, Türknauf.« Ogwambi wiederholte das Wort, wohl um es seinem Vokabular einzuverleiben. »Es sah aus wie getrocknetes Blut. Dann habe ich die Polizei gerufen.«

Tony blickte interessiert auf und nickte. »Aha. Wann war das?«

»So um halb acht. Ich kann nachsehen.« Ogwambi zog sein Handy aus der Tasche und hielt es dem Beamten hin.

Langsam schien sich sein Zeuge ein wenig zu entspannen.

»Nein, danke.« Tony wehrte mit einer Handbewegung ab. »Und, wie ging es weiter?«

Plötzlich hallten im Treppenhaus laute Stimmen herauf. Etwas schepperte blechern. Tony trat einen Schritt nach vorn und spähte durch das Geländer nach unten. Bis jetzt konnte er nur ein paar Hände sehen, die in schwarzen Anzugärmeln steckten. Sie bewegten sich im gleichen Takt nach oben – immer im selben Abstand. Als die Männer den letzten Absatz erreichten, konnte er sie erkennen. Es handelte sich um Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts, die einen Zinksarg nach oben schleppten.

Die beiden Männer – ihrem Aussehen nach schienen sie Vater und Sohn zu sein – blieben stehen und schauten erwartungsvoll von Tony, zu Ogwambi, dann zu dem Uniformierten und wieder zurück. Es dauerte einen Augenblick, bis Tony begriff. Er streckte den Arm in Richtung Tür aus. »Durch die Tür. Die dritte links«.

Dann nahm er das unterbrochene Gespräch mit dem Zeugen wieder auf. »Wie gut kannten Sie Herrn Wesesa?«

Der blickte an die Decke und tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Nase. »Nicht besonders. Wir hatten nur wenig miteinander zu tun. Kenneth sprach sehr wenig deutsch. Aber sonst …« Er schüttelte den Kopf und kratzte sich gedankenversunken am Kinn. »Er hat nicht viel von sich erzählt. Kam aus Ruanda. Aber woher genau und warum, keine Ahnung.« Entschuldigend zuckte er mit den Achseln.

Tony machte sich ein paar Notizen, darauf bedacht, dass Ogwambi sie nicht lesen konnte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, warum Wesesa nach Deutschland gekommen war. Sehr deutlich erinnerte er sich an die Bilder von den Leichenbergen an Straßenrändern und der unrühmlichen Rolle des Westens. Dann schaute er Paul Obwambi ein paar Sekunden lang ins Gesicht. Er erwischte sich dabei, wie er nachdenklich auf dem Ende seines Stiftes kaute. »Hatte er Freunde?«

Ogwambi wiegte den Kopf und schürzte die Lippen. »Weiß ich nicht. Ich habe ihn nur zwei- oder dreimal getroffen, immer nur allein. Ein oder zweimal kam er zu uns ins Vereinshaus.«