Tote Frauen schweigen nicht - Ralph Neubauer - E-Book

Tote Frauen schweigen nicht E-Book

Ralph Neubauer

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Beschreibung

Eine eingemauerte Leiche im Keller eines historischen Gasthauses in Lana wird durch Zufall freigelegt. Ist es ein Fall für die Archäologie oder für Comissario Fameo? Bei den Bergungsarbeiten finden die Ermittler eine zweite Leiche. Zweifelsfrei kein Fall für die Archäologie, sondern für die Polizia di Stato. Fabio Fameo nimmt die Ermittlungen auf und gerät in einen Parforceritt durch die letzten 100 Jahre. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Die Stellen, an denen die Ereignisse verknüpft sind, liegen zeitlich weit auseinander. Bevor sich die Zusammenhänge klären können, geschieht ein brutaler Raubmord an einer wohlhabenden Bäuerin. Sie ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Verdacht richtet sich auf reisende Banden. Oder gibt es Gründe für diese schreckliche Tat in der Vergangenheit der Frau? Selbsternannte Hobbydetektive arbeiten im Hintergrund, der Lokalreporter weiß vieles früher als der Polizia recht ist, alte Geschichten werden aufgehellt, endlich verstanden und alle Hauptfiguren des Krimis ändern ihren Platz im System. Danach steht alles wieder auf Anfang.

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Inhaltsverzeichnis

Lana im Oktober 1915

Lana im Oktober 2022 Samstagabend

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Drei Wochen später auf dem Weinhof von Margit in Tramin

Ein Nachwort nicht nur an die Leserinnen und Leser, die seit Band 1 dabei sind

Danksagungen

Lana im Oktober 1915

Als der letzte Stein gesetzt worden war, wurde es dunkel.

Für immer.

Lana im Oktober 2022 Samstagabend

»Nimm du das andere Eisen. Steck es in die rechte Spalte, ich nehm die linke Spalte. Jetzt andrücken und langsam gemeinsam ziehen.« Laurin stöhnte leise und schwitzte vor Anstrengung. Aber er ließ jetzt nicht mehr locker. Er rutschte ab, stieß aber sofort sein Eisen wieder in die Mauerfuge, drückte es an den Stein und zog daran. Leonor betrachtete Laurin neugierig. Was geht bloß in seinem Kopf vor?, überlegte sie. Sie machte aber gerne mit. Außerdem war es ihre Idee gewesen, in den alten Keller zu gehen.

Sie hatte nicht das Licht angeknipst, sondern Laurin eine Kerze in die Hand gegeben. Das machte es unheimlich, wenn man in das Kellergewölbe herabstieg. Man musste dann viel vorsichtiger sein. Aber Laurin schien keine Angst zu kennen. Er marschierte in den Keller, sein Gesicht schaurig erleuchtet durch flackerndes Kerzenlicht, als mache er das jeden Tag. Unten angekommen, versuchte er, im spärlichen Licht das Ausmaß des Raumes zu erfassen. »Das ist ja riesig hier!«, stieß er hervor. Leonor kicherte. »Ja, das ist ein Gewölbe. Unheimlich, nicht?«

Laurin lachte. »Nein, das kenne ich von zu Hause. Bei uns haben wir auch so riesig große Keller. Anfangs habe ich mich ein wenig gefürchtet, aber da gewöhnt man sich dran. Wir haben in unserem Keller auch kein richtiges Licht. Noch nicht, aber das wird schon.« Leonor fragte neugierig: »Wo wohnst du denn?« Laurin betrachtete die Wände näher. Dicke Felsbrocken waren übereinandergeschichtet und die Zwischenräume waren mit kleinen Steinen ausgefüllt. »So wie bei uns«, murmelte er. Laut sagte er: »Ich wohne im Ansitz Esser. Das ist ein altes Gebäude oben in Prissian. Kannst mich ja mal besuchen kommen.« Leonor freute sich über diese unerwartete Einladung. »Mach ich bestimmt.« Schnelle Antwort, dachte Laurin und freute sich. Vielleicht würde Leonor seine beste Freundin werden.

»Jetzt will ich dir aber noch die ganz tiefen Keller zeigen«, sagte Leonor. »Was? Es geht noch tiefer?«, wunderte sich Laurin.

»Ja, komm!« Sie ging mit ihrer Kerze voran und stand bald vor einem weiteren Treppenabgang. »Hier ist es echt gruselig«, meinte sie. Der tiefe Keller schien im rechten Winkel von dem Hauptgewölbe abzugehen, versuchte sich Laurin zu orientieren. Die Orientierung war nicht leicht, weil das schwache Licht der Kerzen nur kleine Ausschnitte des Raumes beleuchtete und sich der Kopf merken musste, was die Augen nicht mehr sehen konnten, sobald das Kerzenlicht gewandert war. »Vorsichtig!«, mahnte Leonor. »Die Stufen können glitschig sein.« Steinstufen, spürte Laurin unter seinen Füßen. Uneben, leicht rutschig. Er machte sich klein, um so den Boden besser ausleuchten zu können. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis sie die unterste Stufe erreichten. Sie betrachteten die Wände und leuchteten in Richtung Decke. Hier schien das Gewölbe nicht ganz so hoch zu sein wie im Hauptkeller. Auch waren die Seitenwände nicht weit voneinander entfernt. »Wie weit geht es denn hinein?«, fragte Laurin. »Dieser Keller ist nicht so lang«, antwortete Leonor. »Komm, gib mir deine Hand.« Leonor ging langsam und vorsichtig voran. Laurin kam es jetzt so vor, als mache es Leonor extra spannend. Nach nur wenigen Schritten standen sie bereits am Ende des Kellers. So sah es jedenfalls aus, als ihre Kerzen eine Mauerwand beleuchteten. »Ist hier Schluss?«, fragte Laurin und leuchtete in alle Richtungen. Im milden Schein der Kerze konnte er links und rechts am Boden Erhöhungen ausmachen. »Sind das Treppen?«, fragte er. »Geht das hier weiter?«

»Nein, das sind keine Treppen. Das sind nur Erhöhungen. Ich weiß auch nicht, wozu die da sind.« Laurin leuchtete die linke Erhöhung aus und folgte ihr bis zur Stirnwand. »Das ist interessant«, murmelte er.

»Was meinst du?«

»Na hier. Schau mal! Da ist ein Durchgang. Also früher jedenfalls. Jetzt ist er zugemauert.«

Laurin hielt die Kerze dicht an die Steinwand und ließ ihren Schein der Kontur folgen, die er als einen zugemauerten Gang erkannt zu haben glaubte. In der Tat schien es auch Leonor so, als wäre an dieser Stelle einmal ein Gang gewesen. Und dann sah Laurin am Boden diese zwei Eisen liegen. Spätestens jetzt entdeckte Leonor, dass Laurin im Grunde seiner Seele ein Abenteurer war. Kurze Zeit später waren die beiden damit beschäftigt, einen der Steine unten am Durchgang aus dem Mauerwerk zu lösen. Leonor verdrängte den Gedanken, dass es vielleicht nicht richtig war, was sie hier taten. Aber es kribbelte in ihrem Bauch, bei dem Gedanken im Dunkeln zusammen mit Laurin etwas Abenteuerliches, etwas Unerhörtes, Verbotenes zu tun.

Der Stein wackelte leicht. »Gleich haben wir ihn«, hörte Leonor Laurin mit gepresster Stimme ausstoßen. Gemeinsam ruckelten sie mit vereinten Kräften, bis der Stein ihnen vor die Füße fiel und in der Wand ein kinderkopfgroßes Loch hinterließ. Ein leichter Windhauch kam aus dem Loch. Es roch muffig.

»Gib mir mal die Kerze«, sagte Laurin. Das leicht flackernde Licht erhellte jetzt das Loch. Was die beiden dort sahen, konnten sie nicht einordnen. »Da ist was«, sagte Leonor und Laurin griff mutig hinein. Er konnte es ertasten, aber herausziehen ließ es sich nicht. Daraufhin stocherte er mit dem Eisen in das Loch, es knirschte leise und dann löste sich etwas. Laurin griff erneut hinein. Jetzt konnte er einige kleine Gegenstände fassen und zog sie vorsichtig aus dem Loch.

Im Kerzenschein sahen die beiden, was Laurin aus dem Loch hervorgeholt hatte. Bröseliges Material und kleine Knochen.

*

Als Laurin und Leonor in die Gaststube stürmten, herrschte dort gute Stimmung. Laurins Eltern unterhielten sich mit Leonors Eltern, Martina und Andreas, den Inhabern des Restaurants. Küchenchef Andreas hatte Feierabend, weil die wenigen Nachtische, die spätabends noch bestellt wurden, seine Beiköche leicht bewältigen konnten. Martina hatte den Service ihren Mitarbeiterinnen überlassen, weil sich das Restaurant inzwischen bis auf wenige Gäste geleert hatte. Alle lauschten den Klängen einer Gitarre. Dass Laurin und Leonor mit lautem Gepolter in die Stube gestürmt waren, nahmen die Eltern als nichts Besonderes wahr, denn sie waren es gewohnt, dass ihre Kinder nur den Sturmschritt kannten. Unter dem Tisch spielten Laurins Schwestern, die Zwillinge Frieda und Paula, mit Leonors Bruder Laurenz, und auch diese drei nahmen kaum Notiz von ihren großen Geschwistern. Laurenz dachte nur: Können die nicht leiser sein!, sagte aber nichts. Frida und Paula waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie nichts um sie herum wahrnahmen.

Laurin erkannte sofort, dass die Situation wegen der Anwesenheit des Gitarrenspielers nicht ideal war und stoppte Leonor, bevor sie lauthals verkündete, was sie im Keller gefunden hatten. Laurin bedeutete ihr, stehen zu bleiben, ging zu seinem Vater und flüsterte ihm ins Ohr.

Fabio schaute seinen Sohn überrascht an, blickte kurz zu Andreas, nickte ihm auffordernd zu und folgte Laurin und Leonor. Andreas, der verstanden hatte, kam mit.

»Hast du eine Taschenlampe?«, fragte Laurin Andreas, als sie im Flur des Restaurants standen, direkt vor der Tür zum steilen Abgang in den Keller. »Wieso denn?«, sagte Andreas, öffnete die Kellertür und knipste das Licht an. Laurin blickte Leonor an. Leonor grinste und zuckte leicht mit den Schultern. Bei voller Beleuchtung ließ sich die steile Kellertreppe leichter gehen und die große Halle erschien zwar noch groß, aber längst nicht so riesig, wie Laurin sie sich im Schein der flackernden Kerze vorgestellt hatte. Jetzt sah Laurin auch, dass Andreas diesen Keller als Vorratsraum für Weine benutzte. An den Wänden entlang standen Regale, in denen zahllose Flaschen gelagert waren. Alle Stellflächen waren durchnummeriert, sodass man leicht den im Restaurant benötigten Wein finden konnte. Laurin erkannte auch den Zugang in den tiefen Keller. Genau genommen waren es zwei Zugänge. »Welcher war es?«, fragte er Leonor. Sie zeigte auf den linken von den beiden. »Da ist es?«, fragte Fabio. »Dann hole ich doch schnell eine Taschenlampe«, sagte Andreas. »Da drin gibt es kein elektrisches Licht.«

Im hellen Strahl der großen Lampe konnten alle vier deutlich sehen, wie es in diesem Keller aussah. Links und rechts des Gewölbes gab es tatsächlich leichte Absätze und links hinten an der Stirnwand war ein zugemauerter Durchgang zu erkennen. Ein Stein war unten herausgebrochen und auf dem Boden lag das, was Laurin aus dem Loch hervorgeholt hatte. Die Kinder zeigten es ihren Vätern. Fabio nahm die Knochen in die Hand und betrachtete sie.

»Das ist ja ein Ding«, murmelte Fabio. Andreas wusste nicht, wie er das einordnen sollte. Fabio nahm die Taschenlampe und leuchtete in das Loch. Er sagte zunächst nichts, sondern richtete seinen Blick auf die Kinder. »Erzählt mal, ihr beiden.«

Leonor fing an. »Also, als wir gegessen hatten, wollten wir spielen, aber nicht so Kinderspiele wie früher. Das können ja die Kleinen machen. Wir wollten was Cooles machen.« Laurin nickte. »Leonor hat mir von den dunklen Kellern erzählt.«

»Wir haben Kerzen mitgenommen, weil das dann so schön gruselig ist, hier unten.« Leonor schaute Laurin mit einem Blick an, der signalisieren sollte, dass sie ihm etwas hatte bieten wollen. Sie machte eine kurze Pause. »Und dann hat Laurin gemeint, dass wir hinter diese Wand schauen sollten und ob wir nicht einen Stein rausmachen könnten. Da haben diese zwei Eisen gelegen und deshalb haben wir angefangen, rund um diesen Stein alles auszukratzen, bis er sich gelöst hat.«

Laurin fuhr fort: »Wir haben es geschafft. Der Stein kam raus und im Loch haben wir das gefunden.« Er deutete auf das Häuflein Knochen.

Andreas nahm seine Tochter bei den Schultern und schaute ihr tief in die Augen. Sie sagte kleinlaut, was nicht ihre Art war: »Tut mir leid, wir wollten nichts kaputt machen.« Andreas nickte und sah auf Fabio. »Und nun?«

Fabio wusste, was das bedeutete, und er wusste auch, dass sich Andreas noch nicht vorstellen konnte, wie es hier bald aussehen würde, wenn die Spurensicherung diesen Keller auseinandernahm.

»Ich bin kein Anatom, sondern ein Commissario, aber nach meiner Einschätzung sind das Knochen von einem Fuß. Konkret würde ich sie für Zehenknochen halten.« Er atmete schwer, sah auf die Kinder. »Ihr beiden müsst das für euch behalten. Es kann sein, dass ihr etwas gefunden habt, wofür sich die Polizia interessieren muss. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr mit niemandem außer mit uns darüber sprecht. Habt ihr das verstanden?«

Beide nickten. »Du, Papa, ist hinter der Wand eine Leiche?« Fabio schaute seinen Sohn an, dann Andreas und Leonor. »Das werden wir bald wissen.«

Sonntag

»Wir müssen die Mauer eines zugemauerten Durchgangs einreißen. Direkt hinter der Mauer könnte sich eine Leiche befinden. Wir sollten also vorsichtig Stein für Stein abtragen. Bekommen Sie das hin?«

Der Bereitschaftsdienstleiter der Spurensicherung hatte aufmerksam zugehört. Kein alltäglicher Fall. Auch wenn er sich keine Kritik an einem Einsatz an einem Sonntag erlauben wollte, so verstand er nicht, warum die Sache nicht auch Zeit bis Montag gehabt hätte. Dann wären alle an Bord. Und eine eingemauerte Leiche, vielleicht verwest, würde auch einen Tag länger hinter einer Mauer keine anderen Erkenntnisse liefern als heute. Am Sonntag bekam er nur einen Teil seiner Mannschaft zusammen. Als ob Fabio die Gedanken des Mannes gehört hätte, sagte er: »Ich bin mir bewusst, dass wir das auch auf Montag verschieben könnten, aber es ist so, dass wir heute ganz unbehelligt im Keller arbeiten können. Das Restaurant hat am Sonntag seinen Ruhetag. Und wir sollten den Betrieb nicht mehr als nötig stören.« Fabio hörte ein leichtes Stöhnen. Aber er war der Chef. »Kommen Sie bitte zum Restaurant 1477 Reichhalter in Lana, Metzgergasse 2. Sie wissen, wo das ist?«

Fabio hatte gestern Abend mit Andreas besprochen, dass der Ruhetagssonntag für das mit Lärm verbundene Abstemmen der Wand genutzt werden sollte. Andreas hatte Sorge, dass sein Betrieb unter diesen Arbeiten leiden könnte. Wer hat schon gerne eine Leiche im Keller?

Andreas hatte ihm etwas Interessantes über den Keller erzählt. »Weißt du, ich bin hier seit einigen Jahren Pächter. Und als ich den großen Keller gesehen habe, fand ich ihn ideal als Weinlager. Meine Vorgängerin hat ihn auch so genutzt. Man hat mir erzählt, dass ich die beiden kleineren Keller nicht nutzen solle. Warum das so ist, weiß ich nicht. Bisher hat es mich auch nicht interessiert.«

Fabio unterrichtete Andreas darüber, dass die Spurensicherung gegen Mittag bei ihm sein werde. Er, Fabio, würde ebenfalls dabei sein. Anschließend versuchte er seine beiden Assistenten zu erreichen, Francesca und Eduard. Francesca sagte sofort zu, dass sie kommen werde. Allerdings hörte Fabio auch in ihrer Stimme einen Unwillen, den er noch nie zuvor bei ihr vernommen hatte. Eduard war nicht zu erreichen. Wahrscheinlich ist er heute in den Bergen im Sarntal, überlegte Fabio. Vielleicht kein Handyempfang, aber er wird sich melden.

Gegen 12 Uhr trafen sie sich alle im 1477 Reichhalter in Lana. Eine kleine Truppe der Spurensicherung, sichtlich schlecht gelaunt, Francesca, ebenfalls sichtlich nicht gut gelaunt, Fabio und Andreas. Als Gastwirt spürte er die merkwürdige Stimmung und bot zur Aufhellung allen zunächst Espressi an.

»Also, wo müssen wir hin?«, fragte der Bereitschaftsdienstleiter, nachdem er seinen Espresso getrunken hatte. Fabio ging voraus und zeigte die Fundstelle. »Mehr Licht«, rief einer sofort, woraufhin ein anderer starke Leuchten auf ein Stativ stellte und sie an den Strom anschloss. Im nächsten Augenblick war der Keller taghell ausgeleuchtet.

Fabio verwies auf die gefundenen Knochen und das zerbröselte Material, das sein Sohn am Vorabend aus der Wand geholt hatte, und zeigte auf das Loch. Die Fachleute der Spurensicherung betrachteten die Gegenstände, machten erste Fotos.

»Fußknochen?« Dieses Wort schwebte im Raum und die Männer schauten auf den zugemauerten Durchgang. »Wenn das Teile eines Fußes sind, dann finden wir dahinter den Rest.« Mit diesen Worten gingen sie an die Arbeit. Es staubte und war laut, als sie ihre Werkzeuge ansetzten, um die Wand abzutragen.

»Lasst uns nach oben gehen«, sagte Fabio zu Andreas und Francesca. Andreas war auf dem Weg zur Treppe, als Fabio merkte, dass Francesca zögerte. »Lass mich hier unten«, war alles, was sie sagte.

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, fiel Fabio dazu ein, während er Andreas folgte.

»War ein netter Abend«, begann Fabio, als Andreas zwei Espressi vor ihnen abstellte. Sie saßen am selben Tisch wie gestern, hinten rechts in der Ecke im Herrgottswinkel. Fabio bemühte sich um ein leichtes Gesprächsthema und lobte die Gemütlichkeit der Stube. »Schön, dass ihr alles so gelassen habt.« Andreas war froh, dass er zu diesem unverfänglichen Thema etwas sagen konnte. »Als die langjährige Wirtin, die Balbina, gestorben war, gab es zunächst niemanden, der sich getraut hätte, das Gasthaus weiterzuführen. Das Haus ist sehr alt und es waren hohe Investitionen nötig, um es auf den Stand der Zeit zu bringen. Aber schließlich hat sich jemand getraut und ein Architekt hat es geschafft, das Alte mit dem Neuen zu vermählen, ohne dass der Charme des alten Gasthauses verloren gegangen ist.« Fabio nickte zustimmend und dachte dabei an seinen Erwerb des Ansitzes Esser vor einigen Jahren. Dem Charme dieses Anwesens war vor allem Elisabeth verfallen und sie hatte ihn überzeugt, das Wagnis einzugehen, ihn zu kaufen. Der Kaufpreis war zu stemmen gewesen, aber die Renovierungskosten machten ihnen zu schaffen. So ging es seit Jahren langsam voran, sie konnten darin wohnen, die Heizung und die Bäder funktionierten, Strom war auch installiert. Aber eine ordentliche Renovierung, die, wie sagte Andreas gleich, den Charme des Alten mit den Erfordernissen des Neuen vermählte, überstieg ihre finanziellen Verhältnisse. Als Commissario verdiente er zwar nicht schlecht und Elisabeths Apotheke erwirtschaftete Gewinn, aber große Sprünge konnten sie nicht machen.

»Wie fandest du deinen Fisch?« Mit dieser Frage holte Andreas Fabio aus seiner Gedankenspirale. »Der Wolfsbarsch? Der war klasse. Vor allem die Kombination mit Fenchel und Kapern. Das habe ich zuvor noch nicht gegessen. Der Sud war fantastisch.«

»Die Venusmuscheln nicht zu vergessen!«

Fabio musste lachen. »Du bist ein sehr guter Koch. Elisabeth fand das auch.«

»Was hatte Elisabeth?«

»Elisabeth hatte deine Kombination von Kalbsbrust und Kalbssteak genommen. Den Lammrücken will sie das nächste Mal probieren. Wenn wir ohne Kinder kommen.«

»Wieso?«

»Laurin hat eine kleine Ziege und seither hält er uns alle für Barbaren, wenn wir kleine Tiere, wie zum Beispiel Lämmer, essen.«

»Aber Kalb geht?«

»Da hat er bisher nicht protestiert.«

Beide mussten lachen.

Fabio wollte ansetzen, das fantastische Schokoladendessert zu loben, als Francesca den Raum betrat. Leicht mit Staub bedeckt, wirkte sie bleich, fand Fabio. Ob das nur an dem Staub liegt, fragte er sich.

»Ich kann das nicht fassen«, kam aus ihr heraus und die beiden Männer folgten ihr unverzüglich in den Keller. Dort hing eine Staubwolke in der Luft, hinter der sich die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen wie Wesen aus einer anderen Welt bewegten.

»Wenn sich der Staub gleich legt, können Sie mehr sehen«, rief einer der Männer Fabio zu. »Aber Sie können jetzt schon einiges erkennen. Kommen Sie!«

Das Licht der starken Lampen war im Moment von Nachteil, weil es die Staubwolke gut ausleuchtete und nicht direkt bis zur freigelegten Wand vordrang. Es schien aber in dem Keller ein stetiger Luftzug die Räume zu durchdringen, denn die Staubwolke zwängte sich durch ein Luftloch in der Decke und verschwand allmählich. Fabio sah, was die anderen vor ihm gesehen hatten.

Heilige Scheiße!, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Gekreuzigter!

*

Der Staub hatte sich gelegt, viele Fotos waren gemacht worden. Fabio und Francesca hatten die Leiche genau betrachtet, die wie ein Gekreuzigter hinter der Wand aufrecht eingemauert worden war. Von wem und wann, das waren jetzt die Fragen. So einen Leichenfund hatten sie noch nie. Die Überreste waren teilweise mumifiziert. Der Mensch war mitsamt seiner Kleidung eingemauert worden. Diese hielten zusammen, was früher Knochen und Fleisch war. Alles wirkte eingetrocknet, geschrumpft. Der Leichnam trug einen Hut auf den Resten seines Kopfes. Mehr Knochen als Haut waren zu erkennen. Die Augenhöhlen waren leer. Alles, was Flüssigkeit im Körper gewesen war, war ausgetreten. In das Mauerwerk. Verblieben war der vertrocknete Rest. Fabio konnte Zähne erkennen und Haare schauten unter der Kopfbedeckung hervor. Da wird die Gerichtsmedizin einiges zu tun bekommen, dachte er.

»Wo sollen wir die Hämmer hintun?«, wurde Fabio gefragt. Die Spurensicherung hatte hinter der Wand auch zwei Hämmer gefunden, die eine besondere Form aufwiesen. Fabio kannte sich mit Hämmern nicht aus, aber sie wären ein Hinweis auf die Identität der Leiche. Fabio bedeutete ihm, sie am Fundort zu belassen.

»Kommt noch jemand von der Gerichtsmedizin?«, fragte der Mitarbeiter der Spurensicherung.

Francesca beantwortete die Frage, denn Fabio hatte sich bisher nicht darum gekümmert.

»Ich habe Paula erreicht. Sie war am Gardasee, kommt aber. Kann sein, dass sie jede Minute hier eintrifft. Dr. Phillipi ist im Ausland.«

Fabio nickte ihr wohlwollend zu. Francesca war umsichtig. Sie erwiderte seine Anerkennung kaum merklich.

»Dann lassen wir euch das Licht hier«, gab es als Antwort von der Spurensicherung, die ansonsten alles zusammenpackte, was sie an Gerätschaften benötigt hatte.

*

»Also, was meinst du? Soll ich es machen?« Anna nickte. Sie hatte im Stillen gehofft, dass er es tun würde. Reinreden wollte sie ihm nicht. Besser, er entscheidet es selbst, hatte sie gedacht.

»Dann mache ich es«, brummelte es aus Tommaso heraus. »Gleich morgen. Dann ist in einem halben Jahr Schluss.«

Anna kuschelte sich an ihren großen, schweren Mann. »Das ist das Richtige. Wir haben dann noch einige Jahre nur für uns.« Tommaso nickte. Er freute sich auch, aber die Entscheidung fiel ihm schwer. Er war gerne Carabiniere. Sein Beruf hatte ihn erfüllt, dem Leben Sinn gegeben und ihm Freude gemacht, auch wenn es nicht immer einfach war. Er dachte an die Zeit seiner Ausbildung zurück. Damals galt noch das Gebot, erst mit dreißig heiraten zu dürfen. Und wenn er ein Verhältnis mit einer Ansässigen begonnen hätte, wäre er sofort versetzt worden. Strenge Zeiten damals. Er dachte an die vielen Aufgaben, die er seither erledigt hatte. Manchmal an den Buchstaben des Gesetzes vorbei, aber immer mit einem guten Ergebnis. Er dachte an seine spätere Freundschaft mit Fabio, der von der anderen Truppe war, der Polizia, deren Angehörige so ganz anders ausgebildet waren als die Carabinieri. Und wie es zwischen ihnen jederzeit harmoniert hatte, seit ihrer ersten Begegnung. Das war, er musste kurz überlegen, zwölf Jahre her. Wie die Zeit doch vergeht. Aber es gibt für alles ein Ende. Ich bin jetzt 62, damit soll es gut sein. Gleich morgen, am Montag, würde er den Antrag auf Pensionierung bei seinem Oberst einreichen. Was Fabio dazu sagen wird? Es fiel ihm schon heute schwer, seinem Freund seine Entscheidung gleich morgen mitzuteilen. Denn sie bedeutete, dass ihre gemeinsame Zeit als Polizisten langsam zu Ende ging.

*

Leonor wohnte mit ihrer Familie nicht im Reichhalter. Von zu Hause aus hatte sie gleich nach dem Frühstück mit Laurin telefoniert, weil sie das Erlebte nicht losließ. »Was meinst du, haben wir eine Leiche gefunden?«, flüsterte sie. Laurin wohnte am Berg in Prissian im Ansitz Esser und wäre am liebsten runter nach Lana gefahren, um mit Leonor weiter in dem Fall zu ermitteln. Aber er wusste, dass er dann Ärger mit seinem Papa bekommen würde, dem Commissario. Er flüsterte zurück, denn er wollte nicht, dass seine Mama etwas mitbekam, weil sie es dem Papa sagen würde.

»Klar war das eine Leiche. Eine alte, schätze ich. Sie hat nicht mehr gestunken. Es ist nur die Frage, wie sie hinter die Wand gekommen ist.«

»Das müssen wir noch herausfinden. Was meinst du, wird dein Vater die Leiche ausbuddeln lassen?«

»Ich glaube, die sind schon dabei. Er ist aus dem Haus und hat vorher noch viel telefoniert. Ich kenne das schon, das ist so, wenn er einen neuen Fall hat.«

»Das ist bestimmt spannend bei euch, wenn solche Fälle passieren!«

»Hier ist immer was los. Mein Papa hat täglich mit Mördern zu tun, das ist sein Beruf.« Laurin war sich bewusst, dass er ziemlich dick auftrug, aber unbewusst hoffte er, damit bei Leonor zu punkten. Sie besuchten dieselbe Klasse der Mittelschule in Lana und gestern Abend hatten sie sich das erste Mal außerhalb der Schule getroffen. Laurins Eltern kannten Leonors Eltern, deshalb war die ganze Familie Fameo am Vorabend im Restaurant von Leonors Eltern in Lana essen. Für die Kinder hatte es Spaghetti mit Tomatensoße gegeben und während sich die jüngeren Geschwister Paula und Frieda mit Laurenz, dem dreijährigen Bruder von Leonor, zum Spielen unter dem Tisch trafen, hatten sie ihr erstes gemeinsames Abenteuer erlebt.

Leonor dachte, dass er ganz schön übertrieb, merkte aber, dass er ihr damit imponieren wollte. In der Klasse galt Laurin als schlau, Leonor ebenfalls und es war eine gute Idee, sich zu verbünden.

»Wir könnten eine Detektivbande gründen!«, schlug Leonor vor. »Und wir zwei sind die Anführer!«

Laurin sah sich und Leonor, wie sie diesen Fall und noch viele andere lösen würden.

»Super! Das machen wir.«

*

Paula hatte sich beeilt. Das schien ein spannender Fall zu sein. Eine eingemauerte Leiche hatte sie noch nicht auf dem Tisch. Seit einem Jahr hatte sie eine feste Anstellung im Institut für Rechtsmedizin von Dr. Phillipi. Und heute kann ich ganz alleine raus, dachte sie. Ihr Chef war auf einem Seminar in der Schweiz.

Beim Betreten des Kellers leuchten ihre Augen auf, als sie den Leichnam sah. Die Arme waren, wie bei einem Gekreuzigten, leicht schräg nach oben fixiert worden. So passte die Leiche exakt in den Durchgang, füllte ihn von oben bis unten aus.

»Das muss harte Arbeit gewesen sein, diesen Menschen dort einzumauern«, sagte sie in die Stille hinein. Während sie mit Akribie die Leiche betrachtete, waren alle anderen verstummt und beobachteten, wie Paula vorging. »Gehen wir davon aus, dass der Mensch bereits tot war, bevor er eingemauert wurde, dann ist es schwierig, einen Körper ohne jegliche Körperspannung derart aufrecht an die Wand zu stellen, ohne dass der Körper in sich zusammensackt. Man braucht dann andere, die die Leiche festhalten, während sie eingemauert wird, oder«, sie erhob ihre Stimme, »man nagelt die Arme in die Steinwand.« Sie zeigte auf eine Erhebung am linken Arm. »Hier, schaut mal, das sind wahrscheinlich geschmiedete Nägel.« Paula untersuchte den rechten Arm und fand schnell dieselbe Erhebung. »Zwischen Elle und Speiche. Das hält die Arme in dieser Position. So könnte es auch einer alleine geschafft haben, einen leblosen Körper in aufrechter Stellung einzumauern.«

Fabio und den anderen liefen leichte Schauer über den Rücken, als Paula diese Sätze vor sich hinsprach. Sie sprach mehr zu sich selbst, so als spräche sie in ihr Diktiergerät im Institut, wenn sie eine Leiche seziert.

Sie drehte sich um. »Leute, ich hätte zwar gerne die Leiche heute noch auf dem Tisch, aber ich meine, wir sollten zunächst einen Archäologen hinzurufen. Wir sollten nichts zerstören, was für die Altertumsforschung wertvoll sein könnte. Ich schlage vor, dass ich eine Kollegin anrufe, die ich kenne. Sie kann besser als ich einschätzen, ob wir hier einen historisch interessanten Befund haben oder nur eine Leiche, die etwas älter ist.« Zu Fabio gewandt, meinte sie scherzhaft: »Zum Todeszeitpunkt kann ich beim besten Willen nichts sagen. Auch die Todesursache kann ich jetzt noch nicht feststellen.«

*

Elisabeth hatte im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre öfter erlebt, dass ihr Mann zu jeder unmöglichen Tages- und Nachtzeit an den Fundort einer Leiche gerufen wurde. Aber heute passte ihr dies überhaupt nicht in ihren Kram. Sie war nachmittags mit Evi im Hofstätterhof verabredet.

Über die alte Handwerkstechnik des Brotbackens – Evis Mann Oskar betrieb am Hof einen Brotbackofen – waren sie vor drei Monaten ins Gespräch gekommen. Elisabeth, Fabio und die Kinder hatten damals an einem freien Wochenende ohne Leichenfund einen Ausflug zum Hofstätterhof gemacht. Der Spaziergang vom Ansitz Esser nach Naraun war angenehm: für die Kinder nicht zu weit und für die Erwachsenen weit genug, um sich Appetit zu holen. An einem der Holztische im Freien vor dem Hof hatten sie Platz genommen und sich auf Pressknödel mit Kraut oder Rippchen gefreut. Außerdem gab es dort herrlichen Apfelstrudel. Die Kinder hatten viel Platz zum Toben und Fabio und Elisabeth fanden Zeit zum Plausch mit dem Wirtsehepaar Oskar und Evi. Man kannte sich ohnehin. Alle kamen sie in Elisabeths Apotheke in Tisens vorbei.

Elisabeth bewunderte den Holzbackofen, berichtete von ihrem eigenen Ofen im Ansitz Esser und so drehte sich das Gespräch schnell um Rezepte, Teigführung und die Kunst des Backens. »Die Steine im Ofen müssen eine bestimmte Farbe haben, dann weiß ich, dass der richtige Zeitpunkt erreicht ist, um mit dem Backen zu beginnen«, hatte ihr Oskar erklärt.

Bei einem späteren Backtag hatte Elisabeth mit eigenen Sinnen wahrnehmen können, was er damit gemeint hatte. Evi hatte sie eingeladen, den alten Hof zu besichtigen. »Den Hof gibt es schon sehr lange. Urkundlich erwähnt wurde er bereits 1357 als Hofstätte der Leonburg, er gehört also zum damaligen Einflussbereich des Geschlechts Brandis.«

»Ach ja, wie die Fahlburg in Prissian. Das sind unsere Nachbarn«, meinte Elisabeth.

»Ja, soviel ich weiß, gehört sowohl die Leonburg als auch die Fahlburg den Grafen von Brandis.«

»Aber jetzt gehört euch der Hofstätterhof?«

»Oskar hatte die Idee, hier einen Buschenschank einzurichten. Wie das damals ausgesehen hat! Überall hat das alte Zeug herumgestanden, das man für die Arbeit auf einer Hofstelle benötigt hatte. Heute sind das Antiquitäten. Wir haben einige ausgestellt.«

Sie betraten die große Gaststube des Hofstätterhofes. Ein tiefer Raum öffnete sich ihrem Blick. Links befand sich die rustikale Theke aus altem Holz, die voller Gebrauchsspuren waren und davor eine gemütliche Sitzbank rund um einen schweren, groben Tisch. Eine Art Rundbogen spannte sich durch den Raum und es schien, als trage er die Decke. Rechts an der Wand war ein gemütlich wirkender Rundofen zu erkennen.

»Schaut, hier geht es zu den Räumen, die im Herbst voller Gäste sind.« Evi führte Fabio und Elisabeth in die Nebenräume. Das wird früher ein Stall gewesen sein«, erläuterte sie. »Und hier, unsere Besonderheit!« Sie wies auf einen Raum hin, der in der Tat eigenartig aussah. »Hier sitzt ihr im Inneren eines Fasses. Das Fass haben wir eingebaut. Es ist riesig und drin sitzt man gemütlich. Und dann muss ich euch noch etwas Besonderes zeigen, kommt mit.« Evi ging voraus an das Ende des Hauptraumes. »Man denkt, hier hört der Raum auf, aber es geht noch weiter. Nicht gleich zu erkennen.« Evi bewegte sich nach rechts und durch einen niedrigen, rund gemauerten, weiß gekalkten Gang gelangte die Gruppe in einen winzigen Vorraum, der sich nach links in einen lang gestreckten Raum öffnete, an dessen Ende der Durchgang zu einem weiteren Raum zu erkennen war.

»Das sind die Räume, in denen zur Faschistenzeit die Katakombenschule untergebracht war. Für den Fall, dass es Kontrollen gab, konnte man noch rechtzeitig alles Unterrichtsmaterial verstecken und das Strickzeug rausholen. Die Lehrerin konnte durchs Fenster entwischen.«

Elisabeth musste Fabio erklären, was eine Katakombenschule war, denn er stammte nicht von hier. »In der Faschistenzeit war in Südtirol die deutsche Sprache verboten. Es gab nur noch Unterricht in Italienisch, egal, ob du als Kind diese Sprache gesprochen hast. Damals sprach hier niemand Italienisch, denn bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war dies ein Zipfel von Österreich-Ungarn, dem Vielvölkerstaat, in dem überall die Sprachen gesprochen wurden, die es in diesem riesigen Kaiserreich gab. Als Italien nach Kriegsende Südtirol als Beute zugesprochen wurde, galten ganz plötzlich andere Regeln. Alles Deutsche sollte ausradiert werden. Dagegen formierte sich Widerstand, wie du dir vorstellen kannst. Eine Maßnahme war, dass die Kinder in den sogenannten Katakombenschulen in der deutschen Sprache unterrichtet wurden. Das waren Geheimschulen, die allesamt von der faschistischen Regierung verboten waren. Erwischten sie Lehrerinnen oder Lehrer, drohten ihnen harte Strafen. Wir Südtiroler halten diese Katakombenschulen daher in guter Erinnerung.«

Elisabeth war von dem langen Raum angetan, es war ihr, als wollte ihr der Raum etwas sagen. Fabio wandte sich zum Gehen, während seine Frau noch zögerte, sich nicht lösen konnte. Evi bemerkte Elisabeths Veränderung. »Gell, der Raum hat was. Geht mir auch so.« Elisabeth nickte und folgte dann ihrem Mann zum Ausgang.

Seit diesem Tag hatte sich in Elisabeth ein Gedanke festgesetzt. Sie hatte diese noch nicht ausgereifte Idee seit Jahren, nie war sie ausgesprochen worden, aber sie rumorte in ihrem Kopf, ohne dass sie sich konkretisieren wollte. Ein latenter Gedanke mit einem unförmigen, amorphen Körper, der sich mal in die eine, mal in die andere Richtung streckte, ausdehnte oder zusammenzog. Plötzlich verschwunden, um dann unvermittelt wieder aufzutauchen.

In den Räumen des Hofstätterhofes, die einst als Katakombenschule gedient hatten, formte sich dieser Gedanke schließlich, bekam eine Gestalt und wurde zu einem Plan. Mit Evi hatte sie darüber gesprochen und heute wollten sich die beiden treffen, um gemeinsam zu überlegen, ob und wie sich der Plan in die Tat umsetzen ließ.

Und ausgerechnet jetzt musste Fabio nach Lana, eine Leiche ausgraben, statt, wie verabredet, auf die Kinder aufzupassen. Denn die wollte Elisabeth bei dem Treffen mit Evi nicht dabeihaben. Freie Hände wollte sie haben und nicht im Beaufsichtigungsmodus laufen.

*

»Tja, meine Archäologin kann heute nicht hierherkommen. Erst am Mittwoch hat sie Zeit, freut sich aber über den Fund. Sie sagte, der Stadtteil Gries in Lana habe mittelalterliche Wurzeln. Lana sei aus archäologischer Sicht ohnehin interessant, weil man hier schon einiges gefunden hat, was auf eine frühe Besiedlung schließen lasse. Funde aus der Römerzeit gebe es hier viele. Langer Rede kurzer Sinn: Meine Archäologin freut sich

auf den toten Menschen und bittet uns, ja nichts weiter anzufassen, weil sie, ich zitiere wörtlich, ›aus archäologischer Sicht die groben Methoden der Kriminalpolizei in keinster Weise billigen‹ kann.«

Paula schaute in erstaunte Gesichter, als sie ihre Rede beendet hatte.

»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte Andreas. »Ich mache morgen wieder auf. Muss ich damit rechnen, dass mein Betrieb gestört wird?«

Fabio griff beruhigend seinen Arm und meinte: »Das bekommen wir schon hin.«

Francesca fragte Paula: »Was ist deine Einschätzung, ist das ein Fall für die Archäologie oder für die Polizei?«

»Wenn ich mir den Zustand des gekreuzigten Kameraden so ansehe, dann schätze ich den Fall so ein, dass die Polizei, sollte es sich hier um einen Kriminalfall handeln, reichlich spät dran ist, einen Täter zu ermitteln. Nennen wir ihn vorerst nicht Täter, sondern den Maurer. Wer auch immer diese Mauer errichtet hat, muss das vor vielen, vielen Jahren getan haben. Dass der Maurer noch unter den Lebenden weilt, bezweifele ich stark. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir getrost zuerst die Archäologin ranlassen können. Sie hat an der Leiche vielleicht mehr Freude als die Polizia.«

»Tja, mein Freund«, Fabio wandte sich an Andreas, »dann hast du jetzt eine Ausgrabungsstätte in deinem Keller.«

Alle vier gingen nach oben und Andreas ließ es sich nicht nehmen, sie an die Theke zu einem Glas Wein zu bitten. Fabio hatte noch etwas auf dem Herzen. »Andreas, da war doch gestern Abend ein alter Bekannter von dir gekommen. Er hat mit euch geredet, sich die Gitarre geschnappt und auf ihr gespielt. Hat er was von der Sache mitbekommen?«

»Das war Joschi. Ein Vinschger aus Laas.« Andreas machte eine kurze Pause. »Er wird das schon mitbekommen haben, denke ich.« Er holte Luft. »Den kenne ich seit der Schulzeit, also seit unserer gemeinsamen Zeit in der Hotelfachschule in Meran, wo er seine Hotelfachausbildung gemacht hat. Damals habe ich Koch gelernt. Und wir jungen Leute, die rund um den Tourismus ihre Ausbildung machten, haben uns gerne getroffen. Er ist damals intensiv seinem Hobby nachgegangen, Musik zu machen. In der Gaulschlucht war er öfter bei Festivals und Konzerten und ist auf der Gaulbühne auch selbst aufgetreten. Mit Lana verbindet ihn also einiges. Ich habe mich gefreut, ihn gestern wiederzusehen. Warum fragst du?«

»Wir würden gerne die Deutungshoheit über die Ereignisse behalten. Wenn Joschi jemand ist, der gleich alles rumerzählt, dann hast du morgen hier nicht nur die örtliche Presse auf der Matte stehen. Eine eingemauerte Leiche ist ein Thema für den Boulevard. Und wenn dann noch rauskommt, dass du einen Gekreuzigten in deinem Keller hast, dann werden dir die Leute die Bude einrennen. Die kommen aber nicht alle, um hier zu essen, glaube mir.«

Andreas wurde jetzt erst bewusst, dass die Ereignisse des Samstagabends ohne Weiteres sein Restaurant bekannt machen würden. Lieber wäre es ihm gewesen, es würde ausschließlich wegen seiner Kochkunst bekannter.

*

»Was ist denn so dringend, dass du es heute mit Evi besprechen musstest?«

Als die Kinder im Bett waren, hatte Elisabeth ihrer Enttäuschung Luft gemacht, dass sie das geplante Gespräch mit Evi nicht führen konnte. Fabio hatte das nicht verstanden. Dass sein Beruf ihn auch am Wochenende forderte, war bisher nie ein Streitthema gewesen.

»Ach, was ist schon dringend. Es hätte heute gut gepasst, bei mir und bei Evi. Wer weiß, wann sich das wieder fügt. Evi hat selten Zeit, so wie ich. Ich habe meine Apotheke und Evi hat ihren Betrieb. Heute Nachmittag hätten wir beide Zeit gehabt.« Elisabeth schmollte, das sah Fabio deutlich. Aber er verstand noch nicht.

»Worum geht es denn?«, erkundigte er sich.

Elisabeth holte tief Luft, antwortete aber nicht sofort. Dann setzte sie an. »Ich verfolge seit Jahren einen Gedanken, von dem ich nicht weiß, was er mir sagen will, von dem ich nicht weiß, ob er zu einer guten Idee führt.«

Fabio schaute sie neugierig an. Davon hatte sie noch nie erzählt. Diese Frau ist immer für eine Überraschung gut, dachte Fabio. Es gab Geheimnisse, die sie für sich behielt. Interessant.

»Ich hatte Glück, wie du weißt.«

Fabio wusste nicht, welches Glück sie meinte. Wahrscheinlich das Glück, mich kennengelernt zu haben.

»Meine Eltern haben mich studieren lassen, ich konnte raus aus Südtirol, also hinter die Berge schauen, wenn du so willst.«

Ach, das Glück. Ich bin nicht gemeint. Obwohl! Ich bin schon auch ein Glück für sie. Fabio nickte zustimmend.

»Das konnten damals nicht viele Frauen. Heute geht das eher, auch wenn sich das überkommene Rollenverständnis der Frau in Südtirol hartnäckig hält.«

Oha! Das war also das Thema. Ich wusste nicht, dass sich Elisabeth damit beschäftigt. Fabio nickte aufmunternd.

»Und überhaupt! Jeden dritten Tag wird hier im Land eine Frau ermordet!«, schoss es aus Elisabeth heraus.

Fabio schreckte auf. »In Südtirol? Also nein, das wüsste ich doch.«

»In Italien! Ich finde das erschreckend. Und in Südtirol wird vielleicht nicht gleich gemordet, aber häusliche Gewalt wird es hier genauso geben wie im ganzen Stiefelraum.«

Fabio nickte. Das war ihm bekannt. »Aber das gibt es überall, auch in Deutschland, der Schweiz, in Österreich, um gleich alle Nachbarn zu nennen. Das ist kein spezielles Problem hier in Südtirol.«

»Aber es ist ein Problem. Und ich frage mich, woran es liegt, dass Frauen viel zu häufig Opfer von Gewalt werden, dass Frauen schlechter bezahlt werden als Männer, dass Frauen auf weniger gut bezahlte Berufe zusteuern oder zugesteuert werden, ihnen also Chancen vorenthalten werden?«

Fabio atmete durch. Dass diese Fragen seine Frau umtrieben, war ihm bisher verborgen geblieben. Er schaute sie an und sein Blick sagte ihr, dass sie fortfahren solle.

»Mir geht so vieles gegen den Strich. Und je älter ich werde, umso schlimmer wird es.« Sie machte eine Pause.

»Schau dich um. Es ist überall. Nehmen wir die italienischen Medien. Was für ein Frauenbild wird dort gepflegt? Wir schauen ja selten in den Fernseher, aber was sehen wir dann, wenn wir es tun? Insbesondere bei italienischen Sendern? Halbnackte Moderatorinnen, nett anzusehen, aber haben sie auch etwas zu sagen? Die Medienwelt ist überwiegend sexualisiert. So empfinde ich das. Und was macht das mit den Konsumenten? Die sehen dort Frauen, die einem ganz bestimmten Rollenbild entsprechen. Es gibt keine Diversität, es gibt eine Idealfigur. Und was machen die Frauen? Sie eifern diesem Idealbild nach.«

Fabio nickte, wusste aber nicht, worauf Elisabeth hinauswollte. Und was hat das mit Evi zu tun?

»Auch hier im eher biederen Südtirol schleicht sich das ein. Über Jahre kann man das festhalten. Die Frau in Südtirol, du kennst dieses People-Magazin. Allein der Titel. Als müsste die Südtirolerin so sein, wie in der Zeitung dargestellt. Miss Südtirol ist doch ein Abklatsch von Miss Italia oder Miss Irgendwo. Weißt du, wie viele Mädchen bei mir in der Apotheke nach Schlankheitspillen fragen? Die sind doch alle gehirngewaschen! Und gefährden ihre Gesundheit durch Diäten, eifern Idealmaßen nach und werden im schlimmen Fall magersüchtig. Wenn die sich nur dann gut fühlen, wenn die Waage stimmt, dann läuft etwas schief. Ja, ja, ich weiß, das ist kein spezielles Südtiroler Problem, das gibt es überall. Aber deshalb ist es doch nicht gut.«

Elisabeth redete jetzt ohne Pause. Fabio hatte keine Einwände vorgetragen, aber sie nahm mögliche Einwände vorweg und erwiderte sie gleich. Offensichtlich hatte sie sich intensiv mit dem Thema beschäftigt.

»Wir sind in Südtirol gerne in einem Schwarz-Weiß-Denken verhaftet. Das ist viel einfacher, als die Dinge differenziert zu betrachten. Die Frau gehört an den Herd, ist eine gute Mutter, kümmert sich um die Kinder und die Alten. Der Mann geht raus und arbeitet hart, und wenn sein Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht, hat die Frau versagt.«

Fabio zuckte. »Aber …«

»Bei uns ist das nicht so. Ich weiß. Aber wir sind nicht der Durchschnitt, wir hatten Glück, eine gute Erziehung und es gab ein offenes Feld für uns. Wir durften uns entwickeln und können uns auf Augenhöhe begegnen. Aber das ist eben nicht selbstverständlich.«

Du meine Güte, dachte Fabio. Da habe ich ein Fass aufgemacht. Und das zu so später Stunde. Ich will nur schlafen.

»Und ich frage mich, warum das so ist. Welche Einflüsse prägen das Frauenbild in Südtirol?«

»Und hast du eine Erklärung gefunden?«

»Es gibt nicht die eine Erklärung. Es sind vielfältige Einflüsse. Zunächst die Medien, das hatten wir schon. Nach meiner Einschätzung drücken uns die Medienwelt und vor allem die Medien, die über Bilder kommunizieren, also das Fernsehen, die sozialen Medien und die Hochglanzmagazine das Bild der Frau in das Gehirn. So musst du sein, so hast du auszusehen. Die Folge sind Schönheitsoperationen, Diäten, Essstörungen, Magersucht und psychische Störungen. Wenn das Selbstwertgefühl an Messdaten hängt, dann entsteht kein gesundes Selbstbewusstsein. Es entsteht ein Erwartungsdruck. Der wirkt auf die jungen Frauen ein. Und das beginnt früh. Neulich hatte ich eine Achtjährige, die nach Schlankheitspillen fragte. Eine Achtjährige! Stell dir das mal vor! Sie war übrigens nicht dick. Sie war normal. Sah gut aus.«

»Und was hast du gemacht?«

»Ich habe ihr gesagt, dass sie die nicht braucht, dass sie gesund aussieht und dass die Pillen auch gefährlich sind, besonders für junge Menschen im Wachstum.«

»Und dann?«

»Ich weiß nicht, ob ich bis zu ihrem Verstand vorgedrungen bin. Letztlich bekommst du alles auch im Internet.«

»Und was hast du noch als prägend für das Frauenbild ausgemacht?«

»Das sind die Worte aus berufenen Mündern. Nein, besser formuliert, aus Mündern, die sich berufen fühlen. Worte prägen Gedanken, Worte prägen und verdichten Denkweisen, insbesondere wenn sie von Männern kommen, denen man in Südtirol traditionell gerne Glauben schenkt.«

»Du meinst die Priester? Heißes Eisen.«

»Ich meine die Kirche. Lies mal, was Päpste zur Rolle der Frau sagen. Seit Jahrzehnten prägen sie mit ihren Worten das Denken der Gläubigen. Aber es ist nicht nur die Kirche, die ein ganz spezielles Frauenbild pflegt. Es sind auch Politiker, Prominente, Menschen, Männer, die in der Öffentlichkeit stehen, die Formulierungen verwenden, dass es alle Frauen umhauen müsste. Ich denke da an Männer wie Berlusconi. Er besitzt auch noch die Medienmacht, Worte bildhaft werden zu lassen. Nein, es ist ein Konglomerat von verschiedenen Ursachen, die zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte Wirkungen erzeugen konnten. Denk an die Zeit des Faschismus in Italien und was er ganz konkret hier in Südtirol ausgelöst hat. Das Frauenbild des Faschismus ist rückschrittlich zu nennen. Frauen, die in diesem Zeitraum erwachsen geworden sind, haben sich mit viel Kraft dagegen auflehnen müssen. Viele hatten die Kraft nicht. Einige jedoch haben pfiffige Wege gefunden, damit umzugehen.«

»Was meinst du konkret?«

»In den Zeiten, als Südtirol italianisiert wurde, also in der Zeit zwischen den Weltkriegen, da sind recht viele Mädchen in Diensten wohlhabender Familien in die Großstädte Italiens gegangen. Dort wurden sie zwar auch streng gehalten, aber sie haben Eindrücke mitgenommen, die sie zu Hause in den Dörfern, aus denen sie gekommen sind, niemals gewonnen hätten. Der Blick über den damals engen Horizont eines Dorfes brachte viel Mut, Unternehmertum und Lebenswitz ein. Ich kenne Frauen, die nach ihrer Rückkehr hier in ihrer Heimat eine Existenz aufgebaut haben, auch ohne Mann, oder, wenn er schon da war, trotz des Mannes. Sie wurden selbstständig, als Vermieterinnen, führten Pensionen oder eine Gaststätte. Heute würde man sie Jungunternehmerinnen nennen und vor ihnen Respekt haben. Da waren die Frauen ihren Männern überlegen. Aber man muss die armen Teufel nicht verdammen. Die haben in den Krieg gemusst oder haben sich auf den armseligen Höfen kaputt gearbeitet.«

Elisabeth hatte sich warmgeredet. »Ich könnte noch ganz viel mehr aufzählen, was mir alles im Kopf herumgeht. Aber du wolltest wissen, warum ich heute mit Evi sprechen wollte.«

»Das war die Ausgangsfrage. Aber alles, was du erzählt hast, ist interessant.«

»Es war der Raum damals. Du erinnerst dich an den Raum, in dem die Katakombenschule untergebracht war?«

Fabio nickte zustimmend.

»Der Raum hat mich nicht losgelassen. Es war ein Gefühl. Ich kann das nicht so recht in Worte fassen. Aber ich glaubte, dass dies der Raum sein müsse, in dem ich mein Netzwerk zusammenführen sollte.«

»Von einem Netzwerk weiß ich nichts.«

»Das gibt es auch noch nicht, aber ich weiß, was ich machen will. Meine Idee ist, jungen Frauen Vorbilder an die Seite zu stellen. Es gibt viele vorbildhafte Frauen, die ihren Weg gefunden haben, die erfolgreich sind, die ähnlich wie die Männer agieren, arbeiten, die Augenhöhe herstellen und wissen, wie Frau das macht. Diesen Spirit gilt es weiterzugeben. Auf dass unsere jungen Frauen in Südtirol mit einem starken Selbstbewusstsein ins Leben starten.«

»Du willst also ein Gegenbild zu den Frauenbildern erzeugen, die durch Medien, Kirche und einflussreiche Männer entstehen?«

»Das ist das Mindeste. Ich habe keine konkreten Pläne. Zunächst will ich ein Netzwerk erfolgreicher, selbstbewusster Frauen gründen und möchte mit Evi besprechen, ob wir uns in der alten Katakombenschule treffen können. Der Raum hat eine schwer zu beschreibende Aura.«

»Jetzt wird mir alles klar. Jetzt verstehe ich. Also, ich finde die Idee gut. Tut mir leid, dass dir unser Leichenfund einen Strich durch die Terminplanung gemacht hat. Aber bedenke, dass es dein Sohn war, der den Stein ins Rollen gebracht hat.« Bei dieser Formulierung musste er schmunzeln. Im Moment danach war er eingeschlafen.

Mein müder Mann, dachte Elisabeth. Aber er hat mir zugehört.

Montag

Tommaso schraubte sich in Fabios kleine Fulvia, wie jeden Morgen, wenn sie gemeinsam vom Berg runter nach Bozen fuhren. »Du wirst besser«, ermunterte Fabio seinen Freund. »Bald kannst du als Schlangenmensch im Varieté anfangen.«

Der Umstand, dass es für den Riesen Tommaso nur mit Verrenkungen möglich war, in den kleinen Zweisitzer einzusteigen, war der rote Faden ihres morgendlichen Begrüßungsgeplauders seit zwölf Jahren. Tommaso wollte den Gesprächsfaden gerne aufgreifen und Worte sagen, wie: »Bald wird der kleine Wagen mit leichterer Last ins Tal fahren«, oder: »Jetzt habe ich den Dreh raus, aber bald werde ich hier nicht mehr einsteigen«, oder: »Zwölf Jahre geübt, endlich gelungen und dann hört es auf«, aber Fabio bestürmte ihn mit den Ereignissen vom Wochenende. Und Tommaso hatte ohnehin einen Kloß im Hals.