Gier ist ein Luder - Ralph Neubauer - E-Book
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Gier ist ein Luder E-Book

Ralph Neubauer

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Beschreibung

Der ausgefeilte Tourismusbiotop Südtirols wird durch die Ideen eines erfolgreichen Hoteliers aus Trafoi durchgerüttelt. Die Polizia interessiert sich für ihn, weil die Identität eines toten Hotelgastes aus Schenna nicht zu ermitteln war. Die beiden kannten sich gut und Commissario Francesca Giardi muss Verstrickungen erkennen, um Klarheit zu gewinnen. Dadurch erkennt Vicequestore Fabio Fameo, welche Mächte sich im Hintergrund aufbauen. Die Fassaden werden zwar durchsichtiger, aber auch die Polizia kommt nicht durch die Tür. Die Mendel, Girlan, Trafoi, Stilfs und Schenna sind das weit gesteckte Feld der Handlung dieses Krimis.

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Inhaltsverzeichnis

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 10

Tag 11

Tag 12

Tag 13

Tag 14

Tag 15

Tag 16

Tag 17

Tag 18

Tag 19

Tag 20

Tag 21

Tag 22

Tag 23

Nachwort, Danksagungen und ein Rezept

Elisabeths Rezept für die Quiche mit Pilzen

Literaturliste

Anmerkungen

Tag 1

- 1 -

Das junge Paar hatte eine Romantikwoche im Hotel Schennerhof gebucht. Die junge Frau bewunderte die Lichtinstallation im Treppenhaus des Neubaus. »Schau mal«, sagte sie, »all diese Lampen. Wenn du von unten schaust, hast du einen Himmel voller leuchtender Himmelskörper.«

Ihr frisch angetrauter Mann stimmte zu. »Mir gefällt es hier auch supergut. Aber jetzt lass uns das Spa genießen.« Die beiden betraten den Bereich des Hotels, in dem Sauna, Schwimmbad und Massageräume zu finden waren.

»Wo ist der alte Stollen, von dem man uns erzählt hat? Lass uns den zuerst suchen«, sagte die Frau.

Hotelchef Thomas hatte ihnen erzählt, dass früher in Schenna Bergbau betrieben worden war. Beim Bau dieses Hotels hätte man bei Ausschachtungsarbeiten einen alten Stollen freigelegt, den die Gäste zum Entspannen nach der Sauna nutzen können. Es sei ein besonderes Erlebnis, in den Berg hineinzugehen.

Der Stollen reichte ungefähr 15 Meter weit hinein, war spannend ausgeleuchtet und ließ noch erahnen, wie schwierig es gewesen sein musste, ihn in den Berg zu stemmen. Schroff und uneben waren Seitenwände und Decke. Der Weg hinein war für die Hotelgäste komfortabel mit großen Steinplatten geebnet, die in einem Bett aus Kieseln lagen. Am Ende des Stollens stand eine Bank, von hinten angestrahlt. Moose wuchsen in Gesteinsritzen, von der Decke tropfte Wasser, das sich seinen Weg durch den Fels gesucht hatte. Es roch angenehm frisch. Es war kühl.

»Da sitzt einer. Wir wollen ihn nicht stören«, flüsterte die Frau.

Der Mann war mutiger − oder neugieriger. »Wir stören doch nicht. Wir sind auch Gäste. Ich würde mir den Stollen gerne ansehen.« Er ging hinein. Mit jedem Schritt, den er sich näherte, konnte er Details ausmachen. Der Mann trug ein großes Handtuch um seine Hüften, war ansonsten unbekleidet. Er wird sich hier nach dem Saunagang abkühlen. Ungewöhnlich war, dass der Mann nicht reagierte, weder seinen Kopf bewegte noch seine Haltung änderte, obwohl sich ihm jemand näherte. Die Augen schienen weit geöffnet, der Kopf leicht zur rechten Seite geneigt. Nur noch 2 Meter bis zur Bank aus Metall. Jetzt war deutlich zu erkennen, dass die Augen reglos geradeaus starrten. Der junge Mann ging die letzten Meter schneller, sprach den Mann an: »Hallo, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Der Mann auf der Bank rührte sich nicht.

Als der junge Mann ihn anstupste, kippte er etwas zur Seite und blieb regungslos auf der Bank hängen.

- 2 -

Marzollo schien heute guter Laune. Irgendetwas schien ihn zu erfreuen. »Vicequestore, wir werden uns einem neuen Schwerpunkt zuwenden. Wir werden damit Erfolg haben.« Mit diesen Worten hatte Marzollo Fabio begrüßt, als er ihn zum morgendlichen Rapport einbestellte.

»Schauen Sie, die Carabinieri, die Stadtpolizei, alle sind mehr oder weniger erfolgreich im Einsatz gegen den Drogenhandel. Sie kümmern sich um die Schulen, wollen die Schüler schützen. Alles gut, alles richtig. Hier und da fangen die Carabinieri eine größere Lieferung ab. Alles schön und gut, aber die großen Handelsströme durch unser Land, die bekommt niemand in den Griff. In Neapel wird das Zeug verpackt und über die Brennerautobahn nach Norden transportiert. Hier will ich ansetzen! Das ist Ihr neuer Aufgabenschwerpunkt, Vicequestore. Sie organisieren das mit Ihren Leuten. Ich verspreche Ihnen, es werden keine Zufallsfunde wie bei den Carabinieri sein. Nein, wir werden zielgenau vorgehen. Unterrichten Sie Ihre Leute. Es wird bald losgehen.«

Mit diesen Worten war Fabio entlassen.

- 3 -

Das Hotel Trafoi brummte. Die Ankunft eines speziellen Gastes war vorzubereiten. Wie die meisten Gäste hatte er zuvor Wünsche geäußert. In diesem Hotel gab es nur Wünsche, keine Sonderwünsche. Jeder Wunsch wurde erfüllt. Dabei war es völlig egal, was gewünscht wurde. Wer sich das Hotel Trafoi leisten konnte, für den war jeder Wunsch inklusive.

»Dimitri, organisiere das komplette Programm mit allen drei Damen. Du holst sie in Bozen in der Schlachthofstraße am Kreisverkehr ab. Ich habe mit ihnen vereinbart, dass du sie rechtzeitig vorher anrufst. Unser Gast kommt in acht oder auch erst in neun Tagen. Die Damen werden sich bereithalten. Du holst sie sicherheitshalber einen Tag vorher ab. Sie können solange in den Zimmern 100 bis 103 bleiben. Lass die Zimmer entsprechend herrichten. Der Gast nimmt die Suite Nummer 2. Er bleibt für zwei Übernachtungen.«

Dimitri nickte und verabschiedete sich. Georg blickte zufrieden auf die Buchungsliste des Hotels und nickte seinem Bruder Alois zu, dem Chefkoch des Hauses, der die große Hotellobby auf seinem Weg in die Küche durchquerte. Es war noch früh an diesem Tag.

- 4 -

Die Anspannung im Management des Hotels Schennerhof war groß, als das junge Paar aufgeregt erzählte, dass es einen Toten im alten Stollen gefunden hätte. Sofort wurde nach der Rettung telefoniert, mit dem Hinweis, dass ein Notarzt mitkommen solle. Gleichzeitig rannte Thomas zusammen mit seinem Neffen Rudolph sofort zum Stollen, um sich selbst ein Bild zu machen. Das Paar wurde gebeten, niemandem von seinem Fund zu erzählen.

Thomas und Rudolph wussten, was zu tun war. Rudolph fühlte dem Gast, der bewegungslos seitlich gekippt auf der metallenen Bank saß, den Puls und konnte keinen spüren. Auf Ansprache und leichtes Klopfen auf die Wangen reagierte er nicht. Rudolph versuchte eine Reanimation. Thomas stellte sicher, dass niemand den Stollen betreten konnte, und sorgte dafür, dass die Sanitäter den Bereich finden würden. So warteten sie, bis die Rettung eintraf.

- 5 -

Tommaso bummelte durch Prissian. Er hatte noch nicht gefrühstückt. Zu Anna hatte er gesagt: »Ich gehe Semmeln holen. Vielleicht gehe ich auch noch ein wenig spazieren.«

Morgens klingelte jetzt der Wecker nicht mehr. Er war frei. Als Pensionär ist man frei. Weil der Wecker nicht mehr die jahrelang eingeübte und gewohnte Tagesstruktur anlaufen lässt, die mittlerweile nicht mehr existiert bzw. sich aufgelöst hat. Die ersten Monate waren klasse. Ein Gefühl wie im Urlaub. Dann trat der Gewöhnungseffekt ein. Irgendwann empfand er es als normal, dass der Wecker morgens nicht mehr klingelte. Das Frühstück war jetzt eine gemeinsame Zeit für seine Frau Anna und ihn. Als er früher jeden Morgen nach Bozen zur Arbeit fuhr, war dafür keine Gelegenheit. Jetzt war es täglich so, wie sonst nur an Sonntagen. Tommaso ertappte sich dabei, dass er gelegentlich an einem Wochentag ein Sonntagsgefühl hatte. Die Tage wurden gleichförmiger. Nicht nur, dass die Tagesstruktur nicht mehr durch das Schrillen des Weckers gestartet wurde, auch die Wochenstruktur verlor an Kontur. An einem Sonntag hatte er vor dem Bäckerladen in Tisens gestanden und sich gewundert, dass geschlossen war. Er hatte geglaubt, es sei ein Freitag.

Neu und gewöhnungsbedürftig war es auch, dass er bei seinen Streifzügen durch das Dorf von vielen angesprochen und in ein Gespräch verwickelt wurde. Er kannte diese Menschen bisher nur flüchtig vom Vorbeifahren. Jetzt bekamen sie Gesichter, Namen und wurden mit der Zeit Teil von Geschichten. Diese Entwicklung fand Tommaso zunächst befremdlich, schließlich teilweise interessant, schlussendlich wurden diese Eindrücke und Erlebnisse langsam aber zunehmend zu seinem neuen Leben.

Die meisten Menschen aus dem Dorf begegneten ihm mit freundlichem Interesse. Ihm war bewusst, dass sie das, was er ihnen berichtete, in Variationen dem Nächsten gleich weitererzählten. Dorfgespräche funktionieren so. Darin liegt ihr Reiz. Die Gemeinschaft ist überschaubar. Die interessanten Leute sind zum Beispiel der Pfarrer und was er gesagt oder getan hat oder was er nicht getan hat. Dasselbe gilt für den Bürgermeister und vielleicht noch für den einen oder anderen Obmann, sei es von der Musikkapelle oder einem der vielen Vereine. Vielleicht war er als altgedienter Maresciallo auch so eine Person von Interesse. Er wusste es nicht. Dann interessierten allgemein Schicksalsschläge jeglicher Art, außerdem jeder Wechsel der Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden. All das erreichte auch Tommasos Ohren. Als er davon seiner Frau Anna berichtete, konnte die nicht verstehen, warum es ihn verwunderte: »Das war schon immer so. Du hast früher nur keine Zeit gehabt, zuzuhören.«

Tommaso fügte sich langsam in das Tempo und den Rhythmus des Dorfes ein. Irgendwann bin ich das Dorf, sinnierte er bei seinem Spaziergang, weil das Dorf in mich eingezogen ist. Ob das jedem hier so ergeht?, fragte er sich gerade, als er den Obmann der Musikkapelle traf.

- 6 -

»Da kommt jede Hilfe zu spät. Der Mann ist tot.« Der Arzt hatte keinerlei Lebenszeichen feststellen können. Die Sanitäter hatten den Mann zuvor auf den Boden gelegt und versucht, ihn wiederzubeleben. Schnell bemerkten sie jedoch, dass in ihm kein Leben mehr war. Der Arzt hatte es jetzt bestätigt. Thomas sorgte dafür, dass der Leichnam möglichst unauffällig aus dem Stollen geschafft wurde, denn das Urlaubserlebnis der Hotelgäste sollte nicht beeinträchtigt werden.

»Todesursache?«, fragte Thomas den Arzt. »Ich tippe auf Herzversagen. Darauf tippe ich meistens, wenn nichts anderes augenfällig ist.« Der Arzt zeigte auf den Toten. »Der Mann ist noch nicht alt. Ein plötzlicher Tod steht meist in Zusammenhang mit einem Herzversagen. Hat er Angehörige, mit denen er gemeinsam Urlaub macht? Die könnte man fragen, ob ein Herzproblem bekannt war.«

Thomas überlegte. »Angehörige hat er keine dabei. Er hat ein Einzelzimmer belegt. Ich vermute, dass er geschäftlich hier war. Das nehme ich deshalb an, weil er sich hin und wieder mit jemandem im Restaurant getroffen hat. Die beiden hatten einiges zu besprechen. Ansonsten war er häufig unterwegs. Allerdings nicht so wie im Rhythmus eines Urlaubers.«

»Sehen Sie in seinem Zimmer nach, ob Sie Medikamente finden. Die können auch Aufschluss geben. Mehr kann ich jetzt nicht machen.« Mit diesen Worten verabschiedete sich der Arzt und die Rettungssanitäter trugen den Leichnam in ein Zimmer nahe der Tiefgarage, von dem aus der Bestatter die Leiche abholen konnte, ohne dass es Aufsehen erregen würde.

Thomas suchte nach dem jungen Paar, das den Toten gefunden hatte, berichtete den beiden, dass der Mann vermutlich an Herzversagen gestorben war, dankte für ihr umsichtiges Handeln und lud sie zu einem Candle-Light-Dinner am Abend ein. »Das ist eine kleine Aufmerksamkeit für Sie von der Hotelleitung. Wir hoffen sehr, dass wir Ihnen damit zumindest den Abend des heutigen Tages genussvoll gestalten können.« Anschließend holte Thomas den Schlüssel zum Zimmer des Verstorbenen.

- 7 -

Fabio hatte Francesca und Eduard zu sich gerufen. »Was will er denn konkret von uns?«, fragte Francesca, nachdem Fabio von Marzollos Befehlsausgabe berichtet hatte. »Sollen wir jetzt in Konkurrenz zu den Carabinieri treten?«, fragte Eduard. »Die sind doch oft besser informiert.«

»Zudem sind die Carabinieri auf den Straßen unterwegs, häufiger und mit viel mehr Mannschaften als wir«, warf Francesca ein.

»Wie sollen wir denn zu zweit mehr Erfolg haben beim Abfischen von großen Drogenfuhren?« Eduard musste dabei ein wenig lachen. Dann wurde er ernst. »Oder weiß Marzollo, nach wem wir konkret fahnden sollen?«

Fabio schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es wundert mich allerdings nicht, dass Marzollo auf sich aufmerksam machen will. Marzollo will weiterkommen. Er sucht den Erfolg. Mit Erfolg, so meint er, erklimmt er die nächste Karrierestufe. Mir wäre es recht, wenn das bedeutet, dass er von hier wegversetzt wird.«

Alle drei wussten, dass sich das Klima in der Questura verschlechtert hatte, seit Marzollo sich entfalten durfte. Der Quästor schien ihn nicht daran zu hindern. In der Hierarchie hatten sie den Befehlen von oben zu folgen.

- 8 -

Das Zimmer sah vor allem wegen des ungemachten Bettes unordentlich aus. Das Zimmermädchen war noch nicht hier gewesen. Thomas öffnete die Schränke, fand zwei Koffer, die er auf das Bett legte, dann aufklappte. Er nahm die Hemden, die Hosen und alles andere, was der Verstorbene im Schrank aufbewahrt hatte, und legte es ordentlich in die beiden Koffer. Dabei entdeckte er zwischen den Hemden ein Bündel Geldscheine: Euros und Schweizer Franken. Nichts Ungewöhnliches für einen Hotelgast. Nicht jeder benutzte den kostenlos zur Verfügung gestellten Safe. Thomas suchte nach Medikamenten, Hinweisen auf Verwandte, weiteren Wertsachen. Ihm fiel eine leicht verrutschte Wandlampe auf, die er, seiner Gewohnheit als oberster Housekeeper folgend, geraderücken wollte. Der Gast hatte offensichtlich die Lampe zuvor von der Wand gelöst und in dem Hohlraum des Lampenkörpers etwas versteckt. Einige Karten fielen Thomas vor die Füße. Er hob sie auf und blickte auf drei Personalausweise. Jeder der Ausweise zeigte das Gesicht des Verstorbenen, wies aber jeweils einen anderen Namen aus. Thomas wusste, dass der Verstorbene als Christos Charalambous, ein Zyprer, eingecheckt hatte. Auf diesen anderen drei Ausweisen war er ein Grieche mit Namen Elias Papadopoulos, ein Russe mit Namen Anatolij Iwanow und zum Dritten ein Schweizer mit Namen Beat Müller.

Damit wird sich die Polizia für den Mann interessieren, dachte Thomas, ließ alles so, wie es war, und verschloss die Tür von außen. Dem Housekeeping gab er bekannt, dass dieses Zimmer bis auf Weiteres nicht betreten werden durfte. Nachdenklich wählte er die Nummer der Polizia.

- 9 -

»Das wäre großartig, wenn du uns aushelfen würdest. Ist nicht für ewig. Nur so lange, bis der gebrochene Arm unseres Paukisten wieder heil ist. Du schaffst das schon. Schau auf den Dirigenten. Wenn er dir das Zeichen gibt, schlägst du auf die Pauke. Irgendwann weißt du intuitiv, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Also, sehen wir uns bei der Probe?«

Tommaso war überrumpelt worden. Er hatte es zugelassen, überrumpelt zu werden. Jetzt würde er also beim nächsten gemeinsamen Konzert der Musikkapellen Prissian und Tisens die Pauke schlagen. Ganz einfach sei das, hatte ihm der Obmann erklärt. Das könne jeder. Tommaso war nicht dieser Meinung, aber der Obmann hatte ihn schließlich überzeugt oder überredet oder überrumpelt. Ich wollte nur Semmeln holen und ein wenig frische Luft atmen, dachte Tommaso. Jetzt habe ich mich verpflichtet. Es war für den anderen nicht schwer, mich zu verpflichten. Wäre mir das passiert, als ich noch Carabiniere war? Wohl nicht. Erklärt sich meine nachgiebige Seite durch den Zustand als Pensionär? Tommasos eigene Analyse machte ihn nachdenklich. Oder hatte der Obmann so leicht Erfolg, weil er sich nach einer Aufgabe sehnte? Vermisste er es vielleicht, keine Aufgabe mehr zu haben? Keine wichtige Aufgabe?

- 10 -

Francesca hörte genau hin. »Vier Pässe, sagen Sie. Zyprer, Grieche, Russe und Schweizer. Eine hübsche Mischung. Die Namen habe ich notiert. Ich komme morgen früh zu Ihnen. Dem Bestatter sagen Sie bitte vorerst nur, dass Sie sich darum kümmern, die Angehörigen zu unterrichten.«

Eduard hatte das Gespräch mitgehört. »Das ist ein interessanter Vogel. Vier Identitäten, das ist doch was. Ich lasse die Namen gleich durch unsere Fahndungscomputer laufen. Vielleicht landen wir einen Treffer.«

Tag 2

- 1 -

Holzboden, lichtgraue Wände, die gepolsterten Stühle mit einem samtigen grauen Stoff bezogen, wie auch die Rücklehnen der Bänke. Die Sitzflächen der Bänke kontrastierten dazu mit einem mittleren Braun. Die Gaststube des Hotels Schennerhof war in einem modernen Stil eingerichtet. Nur die Geweihe, Gehörne und Gamskrucken an der Stirnwand des Speisesaales gaben einen rustikalen Einschlag und erinnerten daran, dass einer aus der Familie Jäger war. Die moderne Bar inmitten des großen Raumes teilte diesen in einen zur Straßenseite orientieren vorderen und einen hinteren Teil. Dieser erweiterte sich nach außen durch eine großzügig angelegte Terrasse. Thomas hatte Francesca hierhergebeten, als sie sich am Empfang als Commissaria auswies.

Jetzt saßen sie direkt links vom Eingang mit Blick auf die Bar, die Stirnwand mit den Trophäen und die Terrasse, wo die ersten Gäste ihr Frühstück einnahmen.

»Sie sind früh dran«, begann Thomas das Gespräch, nachdem er sie mit einem Caffè versorgt hatte.

»Bei der Polizia sind wir immer die Ersten«, scherzte Francesca. »Schneller, als die Polizei erlaubt, wenn Sie verstehen. Denn das war interessant, was Sie uns berichtet haben. Die vier Namen sagen uns übrigens nichts. Vier unbeschriebene Blätter. Dennoch ist die Frage interessant, warum jemand vier Identitäten hat. Darum fangen wir hier an. Was wissen Sie über Ihren Gast?«

Thomas räusperte sich. Auf diese Frage hatte er sich vorbereitet. Er holte einen Zettel hervor und reichte ihn Francesca. »Alle Daten habe ich Ihnen aufgeschrieben. Der Gast hatte sich vor zwei Wochen unter dem Namen Christos Charalambous eingetragen. Der Pass wies ihn als Zyprer aus. Er hat gesagt, dass er noch nicht wisse, wie lange er bleiben würde. Er fragte, ob er gegebenenfalls sein Zimmer länger haben könne. Er schien kein Urlauber zu sein, sondern jemand, der hier geschäftlich unterwegs war. Er kam und ging zu Zeiten, die sich von den normalen Zeiten der Urlauber unterschieden. Mal war er früh fort, mal blieb er den ganzen Tag im Hotel. Dann nutzte er unseren Wellnessbereich oder wir haben ihn lesend angetroffen. Er war angenehm als Gast. Höflich, zuvorkommend, zugänglich. Er wirkte unkompliziert. Einige Male hat er abends im Restaurant gegessen. Aber nicht immer. Er hat lediglich Übernachtung und Frühstück gebucht. Mehr kann man über ihn nicht sagen. Die Zimmermädchen berichteten, dass er zu den eher sauberen Gästen gehörte. Also nicht viel Unordnung, kein Schmutz im Zimmer. Völlig unauffällig also.«

Francesca hatte fleißig Notizen gemacht. »Wie ist er angereist? Mit dem Auto, mit der Bahn?«

»Er hat einen Parkplatz in Anspruch genommen. Also ist er mit einem Auto gekommen. Das steht sicher in der Garage. Der Schlüssel ist möglicherweise noch in seinem Zimmer. Das habe ich gestern begonnen, nach den Adressen seiner Angehörigen zu durchsuchen.«

»Und jetzt?«

»Das Zimmer habe ich verschlossen, als ich die drei Personalausweise gefunden hatte. Seit gestern war niemand mehr dort. Ich habe das Housekeeping angewiesen, dieses Zimmer nicht mehr zu betreten. Wollen Sie es untersuchen?«

»Das machen wir gleich zusammen. Also, es gibt ein Auto. Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Besucher vielleicht?«

»Ja, der Gast hatte hin und wieder Besuch von Georg Pinggera, einem Hotelier aus Trafoi. Pinggera ist in der Hotelbranche bekannt. Er hat den elterlichen Betrieb in Trafoi luxussaniert, wie es noch niemand zuvor gemacht hat. Das ist eine neue Dimension von Hotel. Das hat Südtirol noch nicht gesehen. Deshalb kennt ihn hier jeder.«

»Und diesen Georg Pinggera hat ihr Gast also getroffen. Wo genau?«

»Genau hier, wo wir jetzt sitzen. An diesem Tisch. Ich kann mich an zwei Treffen erinnern. Beim ersten Mal, es war gegen Nachmittag, haben sie nur Espresso getrunken. Beim zweiten Mal hat der Gast darauf bestanden, genau diesen Tisch für ein Abendessen zu bekommen. Wir haben das ermöglicht, obwohl das ein Tisch für sechs Personen ist und unser Gast ja nur mit Georg Pinggera verabredet war, sie also zu zweit waren.«

»Was, glauben Sie, hatten die beiden zu besprechen?«

»Dazu kann ich nichts sagen. Pinggera ist eine schillernde Figur in der Branche wegen des unglaublichen Umbaus des elterlichen Hotels. Da müssen Unsummen investiert worden sein, wird erzählt. Ich selbst habe das Hotel noch nicht gesehen. Es liegt in Trafoi, da komme ich nicht mal so eben hin. Ich weiß das alles nur aus Berichten.«

»Georg Pinggera finde ich also in Trafoi?«

»Genau, und das Hotel heißt auch wie der Ort, Hotel Trafoi.«

Francesca suchte die Website des Hotels im Internet. »Komisch. Hier ist nur ein Bild und der Hinweis ›Preis auf Anfrage‹. Das ist doch merkwürdig.«

»Doch, das kann passen. Es heißt, dass man dieses Hotel nur als Ganzes mieten kann, also nicht einzelne Zimmer oder Suiten, nur als Ganzes. Ich sagte schon, ein schillerndes Projekt.«

»Und das funktioniert?«

»Ich kann mir das nicht vorstellen. Aber da müssen Sie Georg Pinggera selbst fragen.«

»Wissen Sie mehr über Pinggera?«

»Im Dorf geht das Gerücht um, dass er sich für drei Objekte in Schenna interessiert. Bei Gerüchten muss man vorsichtig sein, aber es könnte stimmen. Die Inhaber dieser Objekte, es handelt sich um kleinere Hotels aus der 2-Sterne-Kategorie, stehen vor schweren Entscheidungen. Wie Sie vielleicht wissen, sind die meisten Hotels Familienbetriebe, wie auch zum Beispiel das unsere. Wir leben in schwierigen Zeiten und das in vielerlei Hinsicht. Eine der Schwierigkeiten, die derzeit bestehen, ist der anstehende Generationenwechsel. Bei vielen Betrieben ist zu entscheiden, ob die nachfolgende Generation übernimmt. Die Jungen sind nicht alle glücklich darüber, dass sie das elterliche Hotel übernehmen sollen. Es gibt familiäre Konstellationen, die diese Entscheidung schwierig machen.«

»Ich bin Polizistin. Tut mir leid, aber ich verstehe das nicht. Können Sie mir erklären, was Sie damit meinen?«

»Eine Konstellation wäre, dass die Eltern, die den Betrieb aufgebaut haben, schwer erkranken oder viel zu früh sterben. Die Kinder, die als nächste Generation bereitstünden, das Hotel weiterzuführen, sind aber noch jung, sagen wir 20 bis 25 Jahre alt. Das Hotel ist in die Jahre gekommen und mit seiner Kategorie mit einem oder zwei Sternen kaum noch konkurrenzfähig. Es müsste viel investiert werden, um das Hotel auf eine höhere Kategorie zu heben. Das Geld steht aber nicht zur Verfügung, die Banken sind skeptisch, ob die jungen Leute das Unternehmen erfolgreich weiterführen. In einem solchen Fall drängt sich der Verkauf geradezu auf. Ein weiteres Beispiel sind Kinder einer Hoteldynastie, die in dem Leben eines Hoteliers nicht mehr die Erfüllung finden wie frühere Generationen derselben Familie. Sie haben einen anderen Beruf erlernt, möchten für ihre eigene Familie da sein und nicht von morgens bis abends den Gästen zur Verfügung stehen, wie sie es von ihren Eltern kennen. Diese Nachfolgegeneration sagt ihren Eltern klipp und klar, mit uns nicht. Verkauft den Laden, zahlt uns aus. Die nehmen das Geld und beenden damit eine Familiengeschichte. Außerdem gibt es Familien, die deswegen oder auch aus anderen Gründen zerbrochen sind. Auch in diesen Fällen steht ein Verkauf im Raum. Leute wie Georg Pinggera sind an einem Kauf interessiert. Er scheint Kapital zu haben, das er investieren möchte. Oder er gilt als kreditwürdig und kann die Renovierung fremdfinanzieren.«

»Das verstehe ich jetzt. Georg Pinggera will diese Hotels kaufen?«

»Es heißt, dass er in Schenna Gespräche geführt hat. Was genau und mit wem, nun, das ist Gerüchteküche. Da wird was dran sein, aber ich weiß nichts Konkretes. Da müssen Sie Pinggera selbst fragen. Allerdings wüsste ich nicht, warum er Ihnen von seinen Geschäften berichten sollte. Mit dem Mann der vier Identitäten wird er in geschäftlichem Zusammenhang gesprochen haben. Meine Beobachtungen der beiden Treffen lassen nicht auf ein inniges Verhältnis schließen. Dazu waren die beiden zu distanziert, förmlich fast, würde ich meinen.«

- 2 -

Georg Pinggera hatte groß auffahren lassen. Der Wohnhof der Kellerei Weger in Girlan war zweigeteilt. Im überdachten Teil hatte das Restaurant Weger ein für den späten Vormittag üppiges Buffet aufgebaut, das darauf schließen ließ, dass sich die Informationsveranstaltung, zu der er eingeladen hatte, über die Mittagszeit hinziehen würde. Das Wetter spielte mit. Es war warm und hell um diese Zeit und die meisten der Gäste hatten daher gute Laune. Außerdem waren sie im Groben darüber informiert, worum es gehen würde. Pinggera hatte das Feld bestellt, viele Gespräche geführt und vor allem mit Geld gelockt. Mit viel Geld. Viel mehr Geld als die alte Landesregierung je herausgerückt hätte, wäre sie noch im Amt und hätte sie ihre Ankündigungen in die Tat umgesetzt.

Es galt, einen alten Schatz zu fördern. Das war ein Satz, den Pinggera gerne in den Mund nahm, wenn er von dem Projekt sprach, um das es ihm ging. Girlan war lange Jahre der Dreh- und Angelpunkt des Südtiroler Weinhandels gewesen. Hier wurden die sogenannten Lepszüge mit Wein beladen, die dieses Produkt güterzugweise nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz brachten. Wein nicht von der Qualität, die den Wein heute auszeichnet, sondern Leps, ein einfacher Wein, der aber massenhaft getrunken worden war. Um diesen Umschlagplatz großer Weinmengen zu managen, hatte Girlan ein unterirdisches Kellersystem, das fast mehr Quadratmeter Fläche hatte als oberirdisch Gebäude standen. Traditionsreiche, historische, pittoreske Keller, die meisten in privater Hand. Das war der Schatz, den Pinggera heben wollte. Dabei hatte er viele interessierte Zuhörer und traf auf ein Interesse, das auch seit einigen Jahren von der Weinwelt Girlan vertreten wurde. Die Weinwelt war ein Verein, der sich dafür einsetzt, die unterirdischen Keller als einmaliges historisches Erbe zu erhalten, statt sie Immobilienspekulanten zu überlassen, die gerne die überirdischen Flächen neu gestalten wollten. Damit bestünde die Gefahr, dass die unterirdischen Flächen verkommen oder abgebrochen würden.

Der Verein verfolgte seit Jahren die Idee, die alten Keller zu erhalten und sie, wenn möglich, zu verbinden. Auch eine Bewerbung zur Aufnahme als Weltkulturerbe wurde erwogen. Seit vielen Jahren mangelte es dafür am nötigen Geld, denn das Projekt, geeignete Keller miteinander zu verbinden, sie zu sanieren und touristisch oder weinwirtschaftlich zu nutzen, hatte keine finanzielle Grundlage. Diese fehlte in der Gemeindekasse, in der Vereinskasse und auch in der Landeskasse. Jetzt kam dieser Georg Pinggera mit einem interessanten Vorschlag, und für ihn schien die Finanzierung kein Problem darzustellen. Pinggera war geschickt und er wusste die Südtiroler zu nehmen, war er doch selbst einer. Ein Hotelier, von dem man viel gehört hatte. Der sich etwas traute und der den Menschen selbstsicher und sympathisch gegenübertrat. Heute hatte er alle eingeladen, mit denen er Gespräche geführt hatte und auch die, deren Unterstützung er brauchte, um seinen Plan umzusetzen.

Die Köche des Restaurants Weger hatten Köstlichkeiten aufgetischt, denn Pinggera wusste, dass es nicht nur auf seine Worte ankam. Die Menschen mussten überzeugt werden, damit sie ihn gewähren ließen. Es war ein wichtiger Tag.

- 3 -

Francesca erzählte Eduard, was sie im Hotel Schennerhof erlebt hatte. »Den Wagen haben wir schnell gefunden. Es handelt sich um einen Mietwagen aus München. Außen und innen alles unauffällig. Wir haben die Mietwagenfirma kontaktiert. Sie schicken jemanden, der den Wagen abholt. Gemietet wurde er über den zyprischen Personalausweis. Sein Zimmer war unauffällig. Auffällig nur das gewählte Versteck für die anderen drei Pässe. Irgendwelche Unterlagen, die darüber Auskunft geben könnten, warum er in Schenna war, haben wir nicht gefunden. Die Koffer mit seinen Habseligkeiten werden uns geschickt. Ich habe allerdings keine Ahnung, was wir damit machen sollen. Das Hotel weiß nicht, ob es Angehörige gibt. Unser Toter scheint vom Himmel gefallen zu sein. Das Einzige, was derzeit zu tun bleibt, ist, dass ich mich mit Georg Pinggera unterhalte. Die beiden haben sich zwei Mal im Schennerhof getroffen. Pinggera wird wissen, warum.«

»Hast du überlegt, ob es Sinn macht, dass sich Phillipi die Leiche ansieht? Ich meine, bei einem Mann mit vier Identitäten könnte es ja sein, dass irgendeiner nachgeholfen hat.«

»Das habe ich mir auch gedacht. Phillipi war nicht überzeugt, aber er will sich die Leiche schicken lassen. Kann aber dauern, hat er mitgeteilt. Schneller geht es nur, wenn wir konkrete Anhaltspunkte haben.«

»Was sagt denn der Hotelier? Gab es äußere Verletzungen?«

»Der Arzt hat nichts festgestellt, ging recht schnell von einem Herzversagen aus. Der Mann war nackt, als er gefunden wurde. Kam aus der Sauna, hatte nur ein Tuch um die Lenden. Eine äußere Verletzung hätte jeder sofort gesehen.«

Da klingelte ihr Telefon. Francesca hörte dem Anrufer zu, zog ihre Stirn kraus, blickte Eduard an, kritzelte etwas auf einen Zettel. Sie nickte in den Hörer, merkte verärgert, dass diese Geste nicht beim anderen ankommen konnte, und presste heraus: »Wird erledigt.«

Sie schaute Eduard irritiert an. »Das war Marzollo. Der hat noch nie bei uns direkt angerufen. Wir sollen einen weißen Sprinter auf der Brennerautobahn abfangen. Hier ist das Kennzeichen. Das hat er mir durchgegeben. Er habe Informationen, dass mit diesem Wagen eine größere Menge Kokain transportiert würde. Der Wagen sei derzeit noch auf der Höhe von Trient. Wir können ihn also noch abfangen, wenn wir es geschickt anstellen.«

»Was machen wir?«, fragte Eduard.

»Das war ein Befehl, was machen wir also?«

Sie griffen nach ihren Jacken.

- 4 -

»Ein Problem haben wir noch nicht geklärt. Wenn das Projekt gelingen soll, brauchen wir Parkplätze, richtig viele Parkplätze. In Girlan gibt es aber nicht genügend Parkplätze, also müssen wir sie schaffen.« Georg Pinggera hatte einen guten Lauf. Seine Zuhörer hatten bis zu diesem Punkt an seinen Lippen gehangen. Er hatte ihnen eine rosige Zukunft ausgemalt. Er beschrieb die Idee, Keller miteinander zu verbinden und so eine große unterirdische Fläche zu schaffen, die sich für viele denkbare Veranstaltungsformate und vor allem für Gastronomie eignen würde. Pinggera malte das Bild von begeisterten Besuchern, die diese unterirdische Welt zu schätzen wüssten. Oberirdisch würde sich nichts verändern. Oberirdisch bliebe Girlan weitgehend so bestehen, wie es war. Notausgänge müsste man schaffen. Das wäre es aber auch schon. Das Dorfleben würde nicht berührt. Den Eigentümern der Keller hatte er ein verführerisches Angebot gemacht. Eine noch zu gründende Gesellschaft würde die Keller auf mindestens 30 Jahre zu einem interessanten Pachtzins pachten. Sie würde die Kosten der Renovierung übernehmen. Dafür würden die Eigentümer die Nutzung der Keller im Sinne der Gesellschaft gestatten.

Was, wenn ich den Keller selbst nicht brauche, dieser Keller aber nach Verpachtung monatlich ein stattliches Geld einbringt?

Diese Frage stellten sich viele, die heute im Restaurant Weger zusammengekommen waren. Kein Aufwand, eine solide Sanierung und monatlich Geld für die nächsten 30 Jahre. Verlängerung nicht ausgeschlossen. Die Frage, was Pinggera mit den Kellern wollte, beschäftigte nicht alle, die heute das vorzügliche Buffet genossen. Als die Frage nach den Parkplätzen aufgeworfen wurde, waren viele mit ihren Tellern beschäftigt, auf denen die köstlichen Happen lagen. Auf das Reizwort »Parkplätze« reagierten die meisten aber sofort, Teller hin, Teller her. Denn Parkplätze gab es in Girlan nicht viele. Die meisten hatten ihre Autos auf dem eigenen Grundstück stehen. Wollten sie damit ins Zentrum, wurde es eng. Außerdem musste man für viele Parkplätze zahlen. Das beschäftigte hier die Gemüter. Stichwort »Parkplätze« und Pinggera hatte die volle Aufmerksamkeit.

»Wir müssen mit vielen Gästen rechnen und das täglich. Das habe ich schon ausgeführt. Einige werden als Gruppe mit Bussen anreisen, aber auch für Busse gibt es nicht genügend Parkplätze. Die individuell anreisenden Gäste benötigen viele Parkplätze für ihre Autos. Das ist ein Problem, das wir vorab lösen müssen.« Pinggera machte eine dramaturgisch bedeutsame Pause, holte Luft. »Eine Lösung fällt mir dazu ein, von der ich glaube, dass sie gefallen könnte. Was wäre, wenn man die Autos nicht sehen würde, was wäre, wenn sie in angemessener Entfernung vom Dorf in der Erde verschwinden würden und auch die Gäste nicht in langen Marschkolonnen durchs Dorf laufen müssten, sondern direkt von ihren Parkplätzen aus in die Keller gelangen würden? Wäre das nicht eine gute Idee?« Er blickte in die Augen seiner Zuhörer. Einige hatten verstanden, andere schauten noch ungläubig.

»Ja meinst du eine Tiefgarage? Aber wo soll die denn hin?«

Plötzlich war es still. Eine Tiefgarage in Girlan, was für eine tollkühne Idee. Überall wuchs der Wein. Girlan war ein Weindorf. Wo wollte er denn die Erde dafür aufwühlen? Wer würde seinen Grund dafür hergeben?

»Ich denke sogar an eine große Tiefgarage mit einem direkten Zugang zu den Kellern. Es gibt viele gute Gründe, in diese Richtung zu denken.« Georg Pinggera ließ jetzt Bilder über Power-Point aufleuchten. Darauf war der Planungsentwurf zu sehen. Das, was zu sehen war, sah nicht anders aus als Girlan wie es jetzt bestand, nur von oben betrachtet. Es gab nur eine kleine Veränderung. Von der Zufahrtsstraße zweigte eine neue Straße ab, nicht lang, die in eine Tunneleinfahrt mündete. Das nächste Bild zeigte dieselbe Ansicht, mit dem Unterschied, dass jetzt, rot umrandet, die Dimensionen der Tiefgarage eingezeichnet waren. Das umrandete Areal war das einzige Gebiet des Dorfes Girlan, auf dem Gemüse angebaut wurde. Ein Bio-Bauer hatte es gepachtet, weil es sich für den Gemüseanbau eignete. Alle anderen Gebiete waren Rebenflächen – und Reben liebten eher die steinigen Böden.

»Hier wäre der Platz für die Tiefgarage. Erstens ließe sich hier leicht nach unten bauen. Zweitens hätten wir hier eine gute Verbindung zum ersten Keller. Drittens bauen wir so tief, dass nach Bauabschluss der alte Zustand wiederherzustellen wäre. Wir haben nur die Ein- und Ausfahrt. Die Autos verschwinden, bevor ihr Scheinwerferlicht den Dorfrand berührt.«

Georg Pinggera ließ seine Worte wirken. Er wusste, dass dies der Knackpunkt des Projektes war. Er wollte die längste Weintheke Italiens, vielleicht sogar Europas, bauen. Alles unterirdisch. Ein Weinparadies der Superlative. Ausbaufähig in vielerlei Hinsicht. Geeignet für ein Massenpublikum, aber auch für den Weinkenner, den Connaisseur, den professionellen Verkoster, den engagierten Amateur. Alles war denkbar, alles war möglich, wenn erst die Pachtverträge unter Dach und Fach waren. Ihm war klar, dass Girlan sich verändern würde. Aber das Leben ist Veränderung. Es galt, in Girlan einen Schatz zu heben. Pinggera beobachtete seine Zuhörer, wie sie die Köpfe zusammensteckten, tuschelten. Sicher fragten sie sich, ob der Verpächter des Gemüsebauern informiert sei, ob er da mitmachen würde. Außerdem würden einige überlegen, ob das Baurecht es zuließe und was es mit den Böden machen würde, wenn ein solches Bauwerk in die Erde gesetzt würde. Die Eigentümer der angrenzenden Flächen wackelten skeptisch mit den Köpfen. Pinggera hatte zuvor genau studiert, wer sich betroffen fühlen könnte. Antworten auf alle denkbaren Fragen hatte er vorbereitet.

»Das Grundstück ist doch verpachtet.« Das war der erste Zwischenruf. »Was sagt denn der Pächter dazu, dass du dort buddeln willst?« Leichtes Lachen aus der Gruppe.

Georg Pinggera hatte damit gerechnet. »Das ist eine wichtige Frage. Ich bin sicher, wir können uns einigen. Mit uns meine ich alle Betroffenen. Mir ist klar, dass eine so große Baustelle, die nicht in einigen Monaten abgeschlossen ist und auch einen tiefen Eingriff in die Landschaft darstellt, nur toleriert werden kann, wenn alle Betroffenen zufriedengestellt sind. Ich gebe aber zu bedenken, dass der Rückbau des Bodens oberhalb der Tiefgarage Teil des Projektes sein wird. Wir tragen die Erde ab und lagern sie, bis wir dieselbe Erde nach Abschluss der Bauarbeiten auf das Bauwerk wieder aufschütten. Nach zwei Jahren sieht es dann genauso aus wie zuvor. Für die Bauzeit plus diese zwei Jahre müssen wir eine Lösung für alle Betroffenen finden, die zufriedenstellt. Das könnte machbar sein, wenn es gewollt wird. Das Unternehmen muss man mit Blick auf die Perspektiven sehen, die dieses Projekt bietet. Da wären die Pachteinnahmen für die Eigentümer der Keller, da wären auch Steuereinnahmen fürs Land, aber auch für die Kassen der Gemeinde. Da ist auch der Erhalt dieses historischen Kellerensembles, für den sich viele hier im Dorf seit Jahren einsetzen. Hinzufügen möchte ich noch, dass die Gesellschaft, die dieses Projekt betreiben wird, sich ganz sicher der Gemeinde gegenüber großzügig zeigen wird, wenn Bedarf besteht. Ich denke hier an die Förderung des Kindergartens, Ausstattung der Schule, Errichtung von Sozialwohnungen. Das sind alles Felder, die gerne in den Blick genommen werden vor dem Hintergrund eines gedeihlichen Miteinanders.«

Pinggera beobachtete genau, wie seine Worte wirkten. Er dachte: Das muss sich jetzt setzen. Darüber müssen sie alle nachdenken. Lassen wir es für heute dabei.

Der Mittag ging vorüber, die Leute hatten viel Redebedarf, vor allem untereinander. Solche Dinge, solch ungeheuerliche Dinge, wie sie Pinggera plante, wollten ordentlich besprochen werden. Von Pinggera hatten sie alle gehört. Es gab die tollsten Gerüchte über sein Hotel Trafoi. Er wirkte wie ein neuer Stern am Himmel der Hotelbranche. Sein Auftreten war untadelig, wie man sich untereinander versicherte. »Der hat Ideen«, war eine der Feststellungen unter den Leuten aus Girlan. »Der hat große Pläne, der bewegt was.«

Pinggera selbst hatte seit heute Morgen, als ihn eine Commissaria von der Polizia angerufen hatte, andere Überlegungen im Kopf. Sie hatte ihn gefragt, ob er Christos Charalambous kenne und als er das bejahte, wollte sie mit ihm persönlich sprechen. Er insistierte worüber, und sie teilte ihm mit, dass Herr Charalambous tot aufgefunden worden war. Wahrscheinlich sei er einem Herzleiden erlegen. Sie wolle dennoch mit ihm sprechen, denn er sei der einzig bekannte Kontakt. Man wisse nicht, wie man Angehörige des Verstorbenen ermitteln solle. Dass er ihr dabei nicht helfen könne, hatte er ihr schon gesagt. Er kenne Charalambous aus einem geschäftlichen Grund, privat nicht. Dennoch wollte sie ihn unbedingt besuchen. Sie hatten daraufhin den nächsten Morgen ausgemacht, Treffpunkt Hotel Trafoi.

Pinggera wunderte sich, warum die Commissaria so hartnäckig war. Es war blöd, dass Charalambous ausgerechnet jetzt verstorben war. Aber Ersatz würde es wohl geben.

- 5 -

»Wie machen wir es?« Eduard hatte keinen Plan. Francesca aber eine Idee: »Wir fahren jetzt auf die Autobahn und parken auf dem nächsten freien Parkplatz für LKWs am rechten Fahrbahnrand. Dann versuchen wir, einen weißen Sprinter mit diesem Kennzeichen zu erspähen.« Sie reichte Eduard einen Zettel mit dem Kennzeichen. »Sollte uns dies gelingen, nehmen wir die Verfolgung auf und fordern den Fahrer des Wagens auf, an der nächsten Raststelle anzuhalten. Dann durchsuchen wir den Wagen. Das ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe. Wenn der Sprinter jetzt in Trient durch ist und Richtung Brenner fährt, können wir das von der Zeit her schaffen.«

Eduard nickte ihr zu. »Vor Waidbruck gibt es eine Tankstelle mit Rastplatz. Hier wäre eine Möglichkeit, den Wagen zu stoppen. Vorausgesetzt, er entgeht uns nicht. Wir haben den Typ?«

Francesca nickte. »Exakt. Weißer Sprinter, italienisches Kennzeichen. Mehr haben wir nicht.«

»Na dann los. Bin gespannt, ob der Oberboss Dinge weiß, die ich auch gerne wüsste.«

- 6 -

Auf der Fahrt von Girlan nach Trafoi telefonierte Pinggera im Auto mit seinem Freund Yurii.

»Wie ist es gelaufen?«, wollte Yurii wissen.

»Genau so, wie ich es vorausgesehen habe. Das ist kein Selbstläufer in Girlan. Dafür sind zu viele Akteure im Spiel, zu viele Einzelinteressen, zu viele kritische Geister. Die Veranstaltung selbst ist gut gelaufen. Das Feld ist bestellt, würde ich sagen. Es braucht noch ein wenig Einzelbeatmung. Viele sind interessiert, sehen das große Geld.« Georg musste lachen.

Yurii stimmte ein. »Gier ist ein Luder, das wissen wir doch.«

»Da ist noch was und das ist nicht lustig. Ich hatte heute einen Anruf von der Polizia. Sie wollen mich morgen wegen meiner Verbindung zu Charalambous sprechen. Er soll tot sein. Herzleiden haben sie mir gesagt und dass sie nach Angehörigen suchen. Da kann ich nicht helfen. Aber was sage ich ihnen morgen?«

Yurii überlegte kurz. »Sag ihnen, dass du ihn über mich kennengelernt hast. Den Rest mache ich schon. Ist jetzt ungünstig. Wo bekommen wir schnell einen anderen Geologen her? Ich kümmere mich und schicke dir einen, sobald ich fündig geworden bin. Was anderes. Was macht die Mendel?«

»Da habe ich es einfacher als mit den Kellern in Girlan. Da gibt es weniger Ansprechpartner, weniger Menschen, die eigene Interessen haben. Diese Interessen kann ich möglicherweise bedienen. Ich habe die Idee eines nachhaltigen Golfplatzes in die Waagschale geworfen. Das könnte uns das benötigte Wohlwollen sichern, um den großen Saal des Penegal zu bekommen. Wir haben bis heute 10 Prozent der Wohnungen erworben. Da bleiben wir dran. Sobald wir die Mehrheit haben, legen wir wie geplant los. Das könnte allerdings noch ein zähes Ringen werden. Da ist es eher so wie in Girlan. Viele Einzelinteressen und überall gibt es Störenfriede. Da werden wir einen langen Atem brauchen. Was die Hotels angeht, war ich auf einem guten Weg. Jetzt fehlt mir an diesem Punkt die Expertise von Charalambous. Ich bin überall dran, wie besprochen.«

»Gut, dann sei so gut und ruf mich an, wenn du mit der Polizia gesprochen hast. Ich muss wissen, ob sie auf mich zukommen werden.«

»Mach ich. Wo steckst du gerade? Kommst du mal wieder vorbei?«

Yurii lachte. »Weißt du doch. Ich bin überall und nirgends. Irgendwann schaue ich bei dir vorbei. Bis dahin viel Erfolg bei den Geschäften.«

Georg schmunzelte. Überall und nirgends, typisch Yurii.

- 7 -

Hans Brugger und seine rote Vespa gehörten in Stilfs zum Dorfbild. Wenn der 90-jährige Hans damit umherfuhr, wussten die Menschen, dass er in wichtigen Geschäften unterwegs war. So erzählte er es jedem, ob er es hören wollte oder nicht. Immer waren es wichtige Geschäfte. Doch sein Knie war der Grund und nicht irgendwelche Geschäfte. Mit 90 macht niemand mehr Geschäfte. Ausnahmen bestätigen diese Regel, aber Hans war keine Ausnahme. Es war ein Granatsplitter, den er sich als Bub während des Zweiten Weltkriegs eingefangen hatte. Je nach Wetterlage zwickte ihn dieser winzige Splitter arg. Dann nahm er seine rote Vespa und fuhr die Wege ab, die er gewöhnlich zu Fuß bewältigte. Bis auf den ärgerlichen Splitter hatte er keine ernsten gesundheitlichen Beschwerden. Einer aus einem Bergdorf wie er, von klein auf draußen unterwegs, ein arbeitsames Leben hinter sich und auch heute noch jeden Tag in Bewegung, rostete nicht so schnell ein. Zäh und kräftig sind sie hier am Hang. Jedenfalls die Alten, es sei denn, dass ihnen der Alkohol zugesetzt hat. Denn einfach war es in Stilfs nie. Im Alkohol kann man Trost suchen, findet aber den Niedergang. Hans hatte Alkohol nicht nötig gehabt. Er war in Stilfs geboren, hier zur Schule gegangen, hatte eine Frau aus Stilfs geheiratet, immer viel gearbeitet und eine Familie gegründet. Sein Sohn Werner besuchte ihn regelmäßig, trotz des weiten Weges, denn er wohnte in Bozen. War früher bei der Polizia, sogar Commissario. Seit zwei Jahren war er pensioniert und nahm sich seither die Zeit, seinen Vater zwei Mal in der Woche zu besuchen. Für Hans eine wohltuende Unterbrechung seines Alltags, denn seine Frau war vor 15 Jahren verstorben.

Heute also war Hans wieder in wichtigen Geschäften unterwegs. Er grüßte nach links und rechts auf seinem Weg hinaus aus dem Dorf. Er hatte ein Ziel. Bei seinen Spaziergängen war ihm etwas aufgefallen, das er noch nicht einordnen konnte. Seine Gedanken kreisten um eine Beobachtung, die er gemacht hatte. Hans verstand das als Zeitvertreib, so wie sie früher als Schüler einen willkürlich ausgesuchten Menschen bespitzelt hatten. Mal war es der Küster, mal der Schulhausmeister, mal ein Lehrer. Sie dachten sich Geschichten aus, warum der zu Beobachtende dies oder jenes tat, warum er wohin ging, was er dort wohl täte. Fantasiespiele waren das. Harmlos und unterhaltsam. Denn es gab damals in der Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht viel, was unterhielt. In einem Bergdorf musste man sich seinen Spaß selbst machen. Hans hatte das nie vergessen, welche Freude solches Tun bereiten konnte. Wenn er sich die Fernsehprogramme ansah, die es heute im Überfluss gab, da überkam ihn eine Sehnsucht nach den guten alten selbst gemachten Ablenkungen. Die fertig konfektionierte Unterhaltung hatte keinen Reiz für ihn, sie ödete ihn an. Im Dorf gab es immer etwas zu beobachten. Wobei er sich eingestehen musste, dass es heute anders zuging als früher. Früher saßen die Leute vor den Häusern, hatten Zeit für ein Gespräch. Besonders die Alten. Heute sausten die Jungen früh mit dem Auto raus aus dem Dorf, kamen abends spät wieder rein, um schnell hinter die eigene Tür zu kommen. Drinnen, so vermutete Hans, endete die Tagesroutine in vielen Fällen vor dem Fernseher. Früher war gewiss nicht alles besser, aber es war anders. Da war mehr Unterhaltung möglich.

Hans ließ es nicht zu, dass ihn die neuen Zeiten in Depressionen stürzten. Dafür bestand auch derzeit kein Anlass, denn im Dorf tat sich was. Ein Projekt sollte entwickelt werden, von dem sich der Bürgermeister für das Bergdorf Stilfs einiges versprach. Touristisch war Stilfs noch in einem Dornröschenschlaf, aber mit dem geplanten Bergbaumuseum sollten zumindest Tagestouristen angezogen werden. Wenn die Gefallen am pittoresken Bergdorf gefunden hätten, so die Hoffnung, kämen sie für länger und das Dorf könnte sich weiterentwickeln, statt ärmer an wichtigen Einrichtungen zu werden, wie zum Beispiel dem Despar-Laden oder dem Dorfarzt. Beide Einrichtungen waren Knotenpunkte für das Dorfgespräch, sowohl das Wartezimmer der Arztpraxis als auch der kleine Laden, wo man sicher sein konnte, jemanden zu treffen, mit dem man sich über das aktuelle Geschehen im Dorf austauschen konnte. Der Laden öffnete jetzt nur noch wenige Stunden in der Woche. Das bedeutete, dass man fahren musste, wenn man Dinge des täglichen Gebrauchs benötigte. Das war problematisch für die Alten, die nicht alle über ein Auto verfügten, denn der Bus fuhr selten. Der Bürgermeister setzte daher viel Hoffnung auf das Bergbaumuseum.

Es gab bereits ein Projekt in Stilfs, das als permanente Ausstellung konzipiert worden war: Bergbau und Siedlung am Ortler. Es sollte einen ersten Eindruck zur Geschichte des Bergbaus liefern. Aber ein Publikumsmagnet war es nicht. Das sollte das Bergbaumuseum werden. Privat finanziert, vermarktet zugunsten des Bergdorfes Stilfs. Ein großzügiger Sponsor war aufgetreten, Georg Pinggera. Er wollte einen alten Stollen reaktivieren und begehbar machen. So könne der Besucher in die historische Welt des Bergbaus in Stilfs eintauchen, hatte er auf einer Informationsveranstaltung mitgeteilt. Pinggera hatte ihnen vorgerechnet, wie viele Besucher jährlich kommen würden und die Gastwirte und Hoteliers waren hellhörig geworden. Stilfs hatte eine lange Bergbaugeschichte. Das stimmte.

Hans fand die Idee interessant. Stilfs und der Bergbau, das war eine Erfolgsgeschichte. Heute vergessen und verstaubt. Die Berge in der Umgebung sind noch durchlöchert von alten Stollen, wie ein Schweizer Emmentaler. Allein der Stilfser Berg ist von 21 Stollen durchzogen. Der Höhepunkt der Förderung lag zwischen 1400 und 1500, danach ging es mit dem Bergbau zu Ende. 1790 war endgültig Schluss. Das Silber von heute ist der Tourismus. Die Zeit nach dem Niedergang des Bergbaus und vor den Anfängen des Tourismus war hart für die Menschen am Berg. Der Boden war karg, gab nicht viel her. Arbeit gab es keine. Die Handwerker, die rund um den Bergbau ihr Auskommen hatten, wanderten ab. Einheimische wanderten aus, sogar nach Amerika. Erst der um 1900 aufkommende Fremdenverkehr brachte ersten Aufschwung, später auch Wohlstand. Wäre der Erste Weltkrieg nicht gewesen, hätte sich diese Entwicklung ungestört fortgesetzt. Die Faschistenzeit zwischen den Kriegen war ambivalent. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging es so richtig aufwärts und der Fremdenverkehr wurde zur neuen Silbermine.

Seit Georg Pinggera das Projekt in Stilfs vorgestellt hatte, war knapp ein Jahr vergangen und die Arbeiten hatten danach sofort begonnen. Der alte Stollen, den Pinggera erschließen wollte, lag oberhalb von Stilfs. Es sollte nur einen gut ausgebauten Fußweg hinauf geben. Alle Fahrzeuge, mit denen die Besucher anreisen würden, sollten vor dem Dorf in einem noch zu errichtenden Parkhaus Platz finden.