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Ein grausamer Mord, ein tödliches Geheimnis und eine gefährliche Freundschaft
Gleich die erste Mandantin stellt Anwältin Linn Geller in ihrer neu gegründeten Kanzlei vor gewaltige Probleme: Grace Riccardi ist wild entschlossen, den Mord an ihrem Ehemann zu gestehen. Linn findet jedoch schnell Hinweise auf die Unschuld der Frau. Warum will Grace freiwillig ins Gefängnis? Oder ist sie doch eine Mörderin? Linn ermittelt auf eigene Faust und wird plötzlich von der Jägerin zur Gejagten ...
Ein packender Thriller mit einer toughen Ermittlerin - für alle Fans von Lucy Foley, Marcus Hünnebeck und Ruth Ware.
Weitere Fälle für Linn Geller bei beTHRILLED:
NEBELJAGD
BLUTNARBE
Pressestimmen:
"Bestialisch gut." (KATIA BAIERLEIN, COSMOPOLITAN)
"Die Autorin beherrscht die Kunst, den Leser von der ersten bis zur letzten Seite zu 'fesseln'. [...] Grauenvolle Morde, eine kühne Anwältin, Spannung von der ersten bis zur letzten Zeile." (GEEK-WHISPER.DE)
"Nebeljagd ist ein brillanter Krimi, der atemlose Lesestunden beschert." (SIEGERLÄNDER WOCHEN-ANZEIGER)
Stimmen unserer Leserinnen und Leser:
»Ich wurde komplett in den Bann gezogen.« (JASMINLEON, Lesejury)
»Gelungener und spannender Auftakt der Reihe um die Rechtsanwältin Linn Geller, der mich von der ersten Seite an gefesselt hat.« (PETRA_SCH, Lesejury)
»Die Autorin Julia Hofelich webt einen Teppich aus Vermutungen, Ideen und Indizien, die sich erst zum Ende des Buches zu einem Ganzen zusammenfügen! Ich war begeistert und konnte das Buch nicht aus der Hand legen.« (LESEFEE2305, Lesejury)
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 428
Nebeljagd
Ein grausamer Mord, ein tödliches Geheimnis und eine gefährliche Freundschaft
Gleich die erste Mandantin ihrer neugegründeten Kanzlei stellt die Anwältin Linn Geller vor gewaltige Probleme: Grace Riccardi ist wild entschlossen, den Mord an ihrem Ehemann zu gestehen. Linn findet jedoch schnell Hinweise auf die Unschuld der Frau. Warum will sie freiwillig ins Gefängnis gehen? Oder ist Grace doch die Mörderin? Linn beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und wird plötzlich von der Jägerin zur Gejagten …
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.
Julia Hofelich studierte zunächst Germanistik und Komparatistik, bevor sie zu Jura wechselte. Nach ihrem Referendariat arbeitete sie als Rechtsanwältin und absolvierte ein Fernstudium zur Drehbuchautorin. Für ihre Kurzgeschichte Opfer wurde sie für den renommierten GLAUSER nominiert. Julia Hofelich ist verheiratet und hat zwei Kinder.
JULIA HOFELICH
TOT
WASSER
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1669-7
be-ebooks.de
lesejury.de
Die Luft in der kleinen Dachgeschosswohnung war stickig und heiß. Ein Geruch nach Staub und altem Holz erfüllte die Räume. Genauso hatte es auf dem Dachboden gerochen. An seinem neunten Geburtstag. Der Vater hatte ihn an den Haaren die knarrenden Stiegen hochgeschleppt, hatte ihn auf den warmen Boden geworfen, dass ihm fast die Luft weggeblieben war. Das Blut aus seiner Nase war ihm die Kehle hinuntergelaufen, hatte unerträglichen Brechreiz verursacht. Aber er hatte sich nicht übergeben. Er war kein Schwächling. Ein Wimmern entrang sich seiner Kehle. Der Vater hatte seinen Kopf auf das Holz geknallt und ihn festgehalten. Ihm war schwindlig geworden, als sich das enge Metallband um seinen Hals schloss, er würde ersticken, diesmal würde er ersticken. Grelles Flimmern vor seinen Augen, das süßliche Rasierwasser des Vaters und der metallische Geruch nach Blut, ein ekelerregender Gestank. Die Reitgerte in der Hand des Vaters war durch die Luft gezischt.
»Bitte«, hatte er geflüstert, »bitte nicht.«
Der Vater hatte nur gebrüllt und zum nächsten Hieb ausgeholt.
Er schlug seinen Kopf gegen den Türrahmen, immer und immer wieder. Er war kein Kind mehr. Er war nicht bei seinen Eltern. Der Vater konnte ihm nichts mehr anhaben. Der war nur in seinem Kopf. Verfluchter Kopf. Er musste sich auf das konzentrieren, was jetzt gleich kommen würde. Diese Anwältin war nicht dumm, und wenn er sich nicht anstrengte, würde sie merken, dass er hier war, bevor er sie außer Gefecht setzen konnte. Der schwarze Gott würde ihm keine Fehler verzeihen. Sein Atem beruhigte sich etwas. Die Stimme des Vaters, die immer noch in seinem Kopf schrie, wurde leiser. Aber das kalte Kribbeln auf seiner Haut, das diese Dachgeschosswohnung verursachte, blieb. Sein Blick glitt über das kleine Wohnzimmer, alles war harmlos hier. Ein beiges Sofa mit bunten Kissen, ein voller Wäscheständer, ein winziger, billiger Esstisch aus hellem Holz, zwei Stühle. Ein Blumenstrauß, bunte Bauernblumen, schon etwas welk, in einer hellblauen Vase. An allen Wänden Bücherregale, jede Menge alte Fachbücher für Wirtschaftsrecht. Besonders erfolgreich war die Anwältin seit ihrem Unfall nicht mehr, diese Wohnung hier bestätigte seine Recherchen. Erstaunlich, dass man ihr den Fall überhaupt übertragen hatte. Und noch viel erstaunlicher, dass sie so weit gekommen war. Als er sie das erste Mal mit dem nachgemachten Schlüssel heimlich besucht hatte, hatte sie in ihrem Bett gelegen und sich herumgewälzt. Sie hatte im Schlaf geheult. Sie hatte so erbärmlich gewirkt, dass er sie unterschätzt hatte. Aber das würde nicht noch einmal passieren. Er lächelte. Sie würde sterben, wie es einer Hexe gebührte. Vielleicht konnte er noch einen autoerotischen Unfall fingieren, um seine Spuren zu verwischen und um die Schlampe auch über ihren Tod hinaus zu demütigen. Ja, die Idee war nicht schlecht. Der schwarze Gott sah es gerne, wenn seine Opfer langsam starben, und ihm selbst gefiel es auch. Er zog das weiche Band in seinen geballten Händen stramm. Ging lautlos in den Flur. Er hatte die Macht. Er würde diese widerliche Anwaltsschlampe erledigen, bevor sie noch mehr Unheil anrichten konnte. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihn zerstörte. Sie glaubte offenbar jede Lüge, die ihr aufgetischt wurde. Grace war schuldig. Die Wahrheit war so einfach, jeder erkannte das, nur diese Hexe nicht. Alle Fasern in seinem Körper spannten sich plötzlich an. Da waren Schritte im Treppenhaus. Sein Atem ging schneller. Er stand jetzt direkt hinter der Wohnungstür. Wenn sie hereinkam, konnte er sie sofort packen und aufs Sofa zwingen, während er ihr von hinten die Luft abschnürte, bis sie ohnmächtig geworden war. Er atmete, so leise es ging, bewegte sich nicht mehr. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür wurde aufgestoßen, und Rechtsanwältin Dr. Linn Geller betrat ihre Wohnung.
1 »Im Moment dürfte deine neue Mandantin die meistgehasste Frau Deutschlands sein. Sie hat den Hauptdarsteller von Schmerzen des Erfolgs umgebracht. Nico Benten, den begehrtesten Mann der Nation.«
»Sie wird verdächtigt, ihn umgebracht zu haben. Sonst bist es doch immer du, der die Unschuldsvermutung so hochhält.« Linn Geller tauchte den Pinsel, mit dem sie die Fensterrahmen ihrer neuen Kanzlei strich, in die meerblaue Farbe und schaute zu ihrem Kanzleikollegen Götz hinüber.
Der zerrte an einem Abklebeband. »Sie hätte es wenigstens erst nach dem Ende der sechsten Staffel machen können«, sagte er. »Ich habe mir die Serie fünf Jahre lang reingezogen und werde nie erfahren, wie die Geschichte ausgeht.« Das Band verdrehte sich um die Rolle, riss aber nicht.
Linn malte die letzte Ecke des Rahmens an, zog die Malerschutzkappe von ihren schulterlangen schwarzen Haaren und holte die Aktentasche unter ihrem Schreibtisch hervor. »Ich fahre jetzt ins Gefängnis und spreche mit Frau Riccardi. Ich muss mich nur noch umziehen.«
Götz schmiss das Abklebeband auf den Boden. »Warum kriegst du eigentlich auf Anhieb so eine riesige Pflichtverteidigung in einer Mordsache? Ich bin Fachanwalt für Strafrecht, nicht du. Du machst doch nur Zivilrecht. Warum hat der Ermittlungsrichter nicht mich genommen? Ich stehe seit fünfzehn Jahren auf der Strafverteidigerliste des Gerichts und habe jede Menge Erfahrung. Und du, du bist gerade mal seit drei Tagen auf der Liste. Drei Tage!«
Linn konnte verstehen, dass er verärgert war. »Es kam auch für mich sehr unerwartet.« Ihre rechte Hand zitterte plötzlich, und sie hatte für eine Sekunde Angst, die Aktentasche könnte ihr hinunterfallen. Sie packte den Griff fester. »Ich weiß gar nicht, ob ich den Fall überhaupt will, aber wir können es uns nicht leisten, einen Auftrag abzulehnen. Schon gar nicht so einen.« Sie stockte. »Es wird für mich nicht ganz einfach werden, ein Topmodel zu vertreten.« Mit den Fingerspitzen berührte sie die dünne, hellrosa Narbe, die ihre rechte Wange seit ihrem Unfall vor knapp vier Jahren in zwei Hälften teilte.
Götz sah betroffen aus. »Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Du kannst mit jedem Model mithalten.« Er hob das Klebeband wieder auf und kam einen Schritt auf sie zu. »Tut mir leid, dass ich den ganzen Vormittag so ein Ekel war. Wenn ich ganz ehrlich bin, was mir im Moment etwas schwerfällt, dann muss ich dem Gericht recht geben. Du bist die beste Anwältin, die ich kenne, und ich bin mir sicher, du wirst Grace Riccardi ausgezeichnet verteidigen.« Seine Stimme klang jetzt wieder so gutmütig wie immer.
Linn machte eine abwinkende Handbewegung, aber sein Kompliment freute sie.
»Findest du es eigentlich nicht merkwürdig, dass eine Frau wie Grace Riccardi überhaupt einen Pflichtverteidiger braucht? Sie ist reich. Sie könnte sich jeden Anwalt leisten, den sie will. Ich meine, nichts gegen unsere Kanzlei, aber …« Sie zeigte mit dem Arm auf das Chaos aus mit Malerplane abgedeckten Aktenstapeln, Pinseln und Farbkübeln.
Götz zuckte die Schultern. »In Kürze werden wir ganz oben sein.«
»Dann sollten wir uns mit dem Streichen der Fensterrahmen beeilen. Damit es nicht ganz so auffällt, dass unsere Spitzenkanzlei nur aus zwei etwas angeschlagenen Anwälten besteht, winzig ist und sich nicht gerade im besten Viertel von Stuttgart befindet.«
Ihr Geschäftspartner grinste ein wenig halbherzig.
Sie verließ den Raum. Ihr ebenfalls seit dem Unfall kaputtes Bein, das ein wenig seitlich abstand, machte ihren Gang zu einem langsamen Humpeln.
Grace Riccardi hatte gelocktes, schwarzglänzendes Haar, das ihr ebenmäßiges, perfekt geschminktes Gesicht umrahmte. Trotz der Sommerhitze trug sie einen langärmligen weißen Pullover mit einem Rollkragen und eng anliegende Jeans. Bis auf ihren dünnen, silbernen Ehering hatte sie keinerlei Schmuck.
Unbeweglich und kerzengerade wie eine griechische Statue saß sie auf dem grünen Plastikstuhl in dem beengten, dunkelgrau gestrichenen Besprechungsraum der Justizvollzugsanstalt und starrte ins Nichts. In ihrer Hand hielt sie einen halbvollen Wasserbecher. Sie wirkte jünger und noch viel schöner als auf den Werbeplakaten für Sommerkleider, die die ganze Stadt zierten. Und das, obwohl sie schon seit zwei Tagen in U-Haft saß.
Linn streckte ihr die Hand hin. Das Model reagierte nicht. Erst als sie sich mühsam auf den Stuhl gegenüber setzte, nickte die Frau kurz in ihre Richtung. Der Hauch eines teuren, frischen Parfüms lag in der Luft. Linn unterdrückte den Reflex, über die Narbe auf ihrer Wange zu streichen. Sie atmete tief durch.
»Frau Riccardi«, sagte sie und packte einen Kuli und einen Notizblock aus ihrer Lederaktentasche, »ich bin Linn Geller. Ich bin Ihre Pflichtverteidigerin.«
Ihre Mandantin schaute sie nun direkt an, ihr Blick schien an ihrer Narbe zu kleben. »Sie sollten Ihr Haar etwas länger tragen.« Grace Riccardi legte ihre eigenen Haare über ihre Wange. »So.«
Für eine Sekunde war Linn sprachlos. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, die Anmerkung der Mandantin zu ignorieren. »Sie werden beschuldigt, Ihren Mann umgebracht zu haben. Deshalb bin ich hier«, sagte sie.
»Haben Sie wirklich einen Doktortitel? Wie die Polizistin vorhin gesagt hat? Warum brauchen Sie denn einen Doktortitel? Sie sind doch nur eine Pflichtverteidigerin«, fragte ihre Mandantin.
»Ich bin eine ganz normale Anwältin, und ich bin ziemlich gut«, antwortete sie. »Ich habe vor meiner Selbständigkeit für eine internationale Großkanzlei gearbeitet, Vance, Lewis und Smith, von denen haben Sie vielleicht schon mal gehört. Machen Sie sich also keine Sorgen. Sie sind bei mir gut aufgehoben.«
»Ich will keinen Anwalt«, sagte Grace Riccardi. »Das habe ich auch diesem Richter gesagt.« Ihre Hände kneteten den Plastikbecher, ein wenig Wasser schwappte auf den Tisch. Sie schien es nicht zu bemerken.
»Ich kann verstehen, dass das alles sehr schwer für Sie ist, aber es ist wichtig, dass wir uns unterhalten.«
Grace Riccardis Hände kneteten schneller. »Sie können gar nichts verstehen! Gar nichts. Es gibt Sachen, die sind so unvorstellbar, und dann muss man eben Dinge tun …« Sie zerknüllte den Becher zu einem Ball, das Wasser floss über ihre vor Anspannung weißen Fingerknöchel, über den Tisch, über ihre Hose. »Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich werde gestehen. Ich werde den Mord an Nico gestehen.«
»Haben Sie Ihren Mann denn umgebracht?«, fragte Linn.
Tränen schossen in Grace Riccardis Augen. »Schauen Sie nicht fern? Dann wüssten Sie es nämlich, wie alle anderen.« Sie stand ruckartig auf, ging zur Tür und klingelte an dem Knopf daneben. »Bitte. Lassen Sie mich einfach in Ruhe!« Sie klingelte erneut, diesmal heftiger. »Wenn Sie da herumwühlen, machen Sie alles nur noch schlimmer.«
Von außen wurde mit lautem Klappern die Tür aufgeschlossen.
»Sprechen Sie bitte mit niemandem über die Tat, bevor Sie nicht mit mir gesprochen haben«, sagte Linn.
»Ich lasse mir von Ihnen doch nicht den Mund verbieten.« Grace Riccardis Stimme war hart, aber in ihren dunklen Augen glänzten Tränen. Sie wandte sich ab. Die Justizbeamtin, die die Tür geöffnet hatte, verschwand mit ihr in den tristen Gefängnisflur.
Linn packte ihren Kuli und den leeren Notizblock zurück in ihre Tasche. Das war ja richtig gut gelaufen. Das kürzeste Mandantengespräch aller Zeiten. Warum hatte sie sich überhaupt überreden lassen, dieses Mandat anzunehmen? Es hätte sicherlich andere Wege gegeben, sich zu beweisen, dass sie wieder ganz die Alte war. Verdammt, sie war nicht die Alte. Sie würde nie wieder die Alte sein. Sie hatte sich zu viel zugetraut, so sah es doch aus. Wenn sie wieder einen Fehler machen würde wie bei den Ermittlungen zu ihrem Unfall damals, als sie unbedingt gewollt hatte, dass jemand anders als der Zufall schuld an ihren schrecklichen Verletzungen war, war sie erledigt. Und wie hatte sie glauben können, dass es ihr nichts ausmachen würde, ein Model mit einem wunderschönen Gesicht zu vertreten? In einem Fall, der im Fokus der Medien stand? Sie musste kurz innehalten und tief durchatmen, bevor sie mit unsicheren Händen ihre Tasche verschloss. Vermutlich würde es Fotos von ihr geben, neben Grace Riccardi. Die Schöne und das Biest, Brain and Look, sie konnte die Überschriften schon vor sich sehen. »Es ist für die neue Kanzlei sehr wichtig. Also stell dich nicht so an. Du kannst das«, sagte sie laut.
Ihr war schlecht.
2 »Frau Dr. Geller«, sagte Oberstaatsanwalt Faber und streckte ihr die Hand hin. Sein rechter Mundwinkel zuckte dauernd nach oben.
Linn ignorierte seine Hand. »Herr Dr. Faber.«
Faber drehte sich um und ging durch die trostlosen, zu hell erleuchteten Gänge der Staatsanwaltschaft vor ihr her in sein mit billigen Holzmöbeln ausgestattetes, winziges Büro. Seine schütteren, wirren Haare waren mittlerweile eisgrau. »Ich habe lange überlegt, ob ich Sie als Pflichtverteidigerin von Frau Riccardi vorschlagen soll«, sagte er, nachdem sie Platz genommen hatten.
Ihr fiel beinahe der Stift aus der Hand, den sie gerade aus ihrer Tasche gezogen hatte. »Sie haben mich vorgeschlagen?«
»Nur damit Sie keinen falschen Eindruck bekommen: Ich kann Sie nicht leiden, wirklich nicht. Aber Sie sollen vor Ihrem«, er zögerte kurz, »Unfall juristisch ein Ass gewesen sein. Und ich denke, davon wird ja noch ein bisschen übrig sein. Außerdem schätze ich die Tatsache, dass Sie sich von niemandem bei Ihrer Arbeit beeinflussen lassen.« Er räusperte sich und schob seine strenge, randlose Brille wieder nach oben, die auf die Nasenspitze hinuntergerutscht war. »Wir brauchen in diesem Fall jemand, der sich nicht von den Medien unterkriegen lässt. Der Tote war sehr beliebt. Und die Öffentlichkeit hält Ihre Mandantin für ein Monster. Sie verstehen, was ich meine?«
Linn nickte. Eine Weile schwiegen sie beide, nur das Surren des Ventilators, der in einer Zimmerecke stand und kaum gegen die Sommerhitze ankam, war zu hören. Sie verstand nur zu gut, was der Oberstaatsanwalt meinte. Er wollte, dass sie einen aussichtslosen und arbeitsintensiven Fall verlor und in den Medien diejenige war, die ein Monster vertrat. Sie setzte ein Lächeln auf. Sie konnte Faber auch nicht leiden. Er war bei ihrem Unfall der ermittelnde Staatsanwalt gewesen, und sie hatte ihm damals Rechtsbeugung und Bestechlichkeit vorgeworfen.
Fabers Gesichtsausdruck war unergründlich. Seine Augen hinter den Brillengläsern glitten hin und her. »Kennen Sie denn überhaupt schon den genauen Sachverhalt?« Er lächelte jetzt spöttisch.
»Nein. Deshalb bin ich hier.«
»Wenn das so ist, hole ich mir noch einen Kaffee.« Ohne ihr ebenfalls etwas anzubieten, stand er auf und verließ den Raum.
Linn überflog noch einmal die Aufzeichnungen ihrer kurzen Recherchen, die sie am Vormittag in der Kanzlei auf Plastikplane neben Farbeimern sitzend mit ihrem Laptop getätigt hatte.
Nico Benten war der bekannteste und beliebteste deutsche Schauspieler gewesen. Er hatte zusammen mit seiner Frau in Stuttgart gewohnt. Die Serie Schmerzen des Erfolgs, in der er die Hauptrolle gespielt hatte, war bereits während der ersten Staffel in den Olymp der erfolgreichsten Serien aufgestiegen. Gedreht wurde hauptsächlich in Cornwall, derzeit die fünfte und damit vorletzte Staffel. Die Filme wurden in dreißig Ländern ausgestrahlt, und vor einigen Monaten hatte Hollywood sein Interesse an einem Remake mit Benten selbst bekundet.
In der Serie ging es um einen jungen Boxer namens Mason Shepard, verkörpert von Benten, der sich aus einer brutalen Brennpunktsiedlung und den Fängen seiner sadistischen Pflegeeltern an die Uni kämpfte und schließlich Biochemie studierte. Auf dem Weg dorthin rettete er diverse Frauen, Freunde und ein paarmal auch die Welt vor dem Untergang. Nebenher suchte er seine leiblichen Eltern und versuchte, seine große Liebe Annie für sich zu gewinnen, die bedauerlicherweise mit einem seiner Hochschulprofessoren liiert war.
Ein seriöses Wirtschaftsmagazin hatte herausgefunden, dass sich seit Beginn der Ausstrahlung die Studienzahlen für Biochemie fast verdoppelt hatten und Boxen gerade eine Trendsportart wurde.
Die Leute liebten aber nicht nur die Serie, sondern auch die Schauspieler, allen voran natürlich Benten. Im Netz hatte Linn einige Filmchen gesehen, in denen kreischende Fans durchdrehten oder ohnmächtig wurden, sobald der Schauspieler mit dem braungebrannten Sixpack und den markanten Gesichtszügen in ihre Nähe kam. Benten schien immer freundlich zu seinen Fans gewesen zu sein, hatte sich in seiner Freizeit für misshandelte Frauen in Indien engagiert und eine Menge Geld für den Tierschutz gespendet. Wenn man der Presse glauben durfte, hatte er seine ihn liebende Frau auf Händen getragen und unter den Kollegen nur Freunde gehabt, niemand hatte auch nur den geringsten Groll gegen ihn gehegt.
Trotzdem war er ermordet worden.
An einem Donnerstag vor zwei Wochen, einige Stunden, nachdem er das Filmset bei dem Dörfchen Trevone in Cornwall verlassen hatte. Die englische Polizei hatte später herausgefunden, dass er vom Dreh in sein Ferienhaus bei Padstow gefahren war. Gegen 16.30 Uhr war er von dort mit dem Auto wieder aufgebrochen, in Richtung irgendwelcher Klippen. Eine Nachbarin hatte durch die Autoscheibe noch mit ihm gesprochen.
Ein Knall schreckte Linn auf. Faber war zurück und hatte einen riesigen, grellbunten Kaffeebecher in Form einer Katze brutal auf den Schreibtisch gestellt. »Ich werde Ihnen einen kurzen Überblick verschaffen.« Er setzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ich fand auch, dass er ein lausiger Schauspieler war, aber deshalb hätte Ihre Mandantin ihn ja nicht gleich umbringen müssen«, sagte er.
»Ob meine Mandantin die Tat …«
»Schon klar.« Er machte eine abwinkende Handbewegung. »Sie hat sich mit Benten auf den Klippen getroffen, am Abend seines Todes.«
»Vermuten Sie.«
»Alles deutet darauf hin. Der Tatort ist eine grasbewachsene Steinplattform, auf der man anscheinend über dem Meer schwebend Sex haben kann, wenn man ein bisschen schwindelfrei ist und das Wetter mitmacht. Der Kollege aus Padstow, der als Erster vor Ort war, hat da nicht mit Details gespart. Sehr einsam und sehr spektakulär, so hat er es zusammengefasst.« Faber räusperte sich. Sein Mundwinkel zuckte. »Es dürfte also relativ einfach gewesen sein, Benten dort zu überwältigen. Ihre Mandantin und er trinken Wein. Er zieht sich aus, vielleicht schlafen sie noch zusammen. Irgendwann holt sie den Taser raus und jagt Elektroschocks durch seine verschwitzte, nackte Brust, bis er in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist. Im Todeskampf windet er sich, verletzt sich an einem Stein, blutet. Sie wickelt die Leiche in ihren Wollumhang. Lässt sie, warum auch immer, noch etwa zwei Stunden auf der Plattform liegen. Schließlich zieht sie den Toten über den leicht abschüssigen Hang und wirft ihn ins Wasser. Danach hilft die Natur. Die starke Strömung am Fuße der Klippen erfasst Bentens Leiche und trägt sie aufs offene Meer, wo sie bis heute herumschwimmt.« Er lächelte bösartig. »Diese Klippen müssen der perfekte Platz sein, um eine Leiche zu entsorgen, hier ist der Kollege geradezu ins Schwärmen gekommen. Der Felsvorsprung liegt hoch über dem Meer, und das Wasser unten ist von messerscharfen, spitzen Steinnadeln durchzogen.« Fabers Mundwinkel zuckten so stark, dass er kurz innehalten musste. »1429 soll sich da eine Lady aus Dartmoor von den Felsen gestürzt haben, die ihre Kinder stranguliert hatte. Sie konnte durch einen Fluch nicht mehr sterben, sondern musste Jahrzehnte als Untote durch das Herrenhaus geistern und ihre Kinder beklagen. Nach ihrem Sprung hat es in dem Haus nicht mehr gespukt, weil niemand den Sturz von diesen Klippen überleben kann, nicht mal ein Geist. Seither, wenn man verhindern will, dass ein Toter zurückkommt …« Er breitete in einer theatralischen Geste die Arme aus.
»Wenn Sie an Geister glauben, sind Sie vielleicht schon zu lange bei den Kapitalverbrechen.« Linns Hand spielte mit ihrem Stift. »Wie kommen Sie darauf, dass ein Taser benutzt wurde?«
»Er lag am Tatort. Mit den Fingerabdrücken Ihrer Mandantin drauf.« Faber lachte trocken. »Es wäre für Frau Riccardi ziemlich riskant gewesen, ihren Mann lebendig von den Klippen zu stoßen. Er war ein Boxer, der regelmäßig trainierte, und sie ist völlig abgemagert und schwächlich. Das hätte ganz leicht in die Hose gehen können, und wir würden jetzt die Leiche ihrer Mandantin im Atlantik suchen.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Außerdem spricht die Situation, die wir dort vorgefunden haben, eine eindeutige Sprache. Benten muss sich auf dem Boden zuckend gewälzt haben, es gibt keine andere Erklärung für einige der Spuren. Und das wiederum sieht für uns eindeutig nach Elektroschock aus. Wussten Sie, dass Ihre Mandantin vor wenigen Wochen in London diesen verbotenen Taser gekauft hat? Ein Exemplar, das tödliche Elektroschocks austeilt? Glauben Sie, das ist Zufall?« Faber lächelte. »Und dass Benten schon tot war, als er ins Meer geworfen wurde, hat der Augenzeuge bestätigt.«
»Es gab einen Augenzeugen?«
»Ein Fischer hat gesehen, dass eine Person etwas Großes, Unbewegliches, offenbar unglaublich Schweres an den Rand der Klippen gezogen und in den Atlantik gestoßen hat. Er konnte nur vage Umrisse erkennen, da sich sein Boot weit draußen auf dem Meer befand. Und die Abendsonne hat ihn auch geblendet. Er ist zunächst davon ausgegangen, dass jemand illegal seine Abfälle entsorgt, was leider wohl häufiger vorkommt. Erst am nächsten Tag, als seine Frau von ihrer Schicht in der örtlichen Bäckerei zurückgekommen ist und ihm erzählt hat, dass Bentens verlassenes Auto auf den Klippen gefunden wurde, hat er den Zusammenhang gesehen und ist zur Polizei gegangen.«
»Vielleicht hat da tatsächlich nur irgendjemand seinen Müll ins Meer geworfen.«
Faber zuckte die Schultern. »Das wäre denkbar. Aber an genau der Stelle, die der Fischer beschrieben hat, hat die englische Spurensicherung die ganzen Spuren gefunden.«
»Selbst wenn der Fischer die Entsorgung der Leiche beobachtet haben sollte: Es wäre genauso gut möglich, dass Benten eines natürlichen Todes gestorben ist, ohne Elektroschock, zum Beispiel an einem Herzinfarkt. Und zwar bevor er runtergestoßen wurde.«
»Das Szenario der liebenden Ehefrau, die, anstatt den Krankenwagen zu rufen, ihren toten Mann ins Meer stürzt?«
»Wer auch immer so etwas getan hätte, in dem Fall hätte er oder sie Benten nicht getötet.« Linn setzte sich aufrecht hin und schaute Faber herausfordernd an. »Sie stellen hier ausschließlich Vermutungen an. Ich kann nicht nachvollziehen, dass bei der Sachlage ein Richter einen Haftbefehl gegen meine Mandantin erlassen hat. Wir werden Haftprüfung beantragen.«
»Ich sage Ihnen mal, wie die Sachlage meines Erachtens aussieht, Frau Dr. Geller. Wir haben den Zeugen, die Tatwaffe und die Indizien. Nico Benten ist spurlos verschwunden, und zwar, wie es aussieht, nackt und ohne Papiere und Brieftasche. Ihre Mandantin hat ein mögliches Motiv für einen Mord und ist ganz zufällig auch noch zur Tatzeit am Tatort. Sie hätte eigentlich ein Fotoshooting in Mailand gehabt, wussten Sie das? Eine richtig große Sache, selbst für ein Topmodel. Sie geht aber nicht hin, sagt nicht einmal ab, sondern nimmt stattdessen am Morgen des Tattags den Flieger nach London. Sie ist mit einem Mietwagen bis nach Padstow gefahren und gegen 17.30 Uhr im Ferienhaus der Familie angekommen.«
»Also nachdem Benten schon eine Stunde weg war.«
Faber machte eine wegwerfende Handbewegung. »Als wir zum ersten Mal mit ihr gesprochen haben, hat sie angegeben, sie habe Benten an dem Abend gar nicht getroffen. Sie habe den ganzen Abend auf ihn gewartet, habe das Ferienhaus nicht verlassen, eine knallharte Lüge. Sie behauptet, sie sei in der gleichen Nacht mit dem Mietwagen zurück nach London gefahren, von wo aus sie wieder nach Stuttgart zurückgeflogen sei. Nein, sie habe sich keine Sorgen um Benten gemacht. Auf dem Felsvorsprung sei sie noch nie in ihrem ganzen Leben gewesen. Nur blöd, dass wir ihre DNA dort gefunden haben.«
»Es gibt andere Wege, wie die DNA dort hingekommen sein könnte.«
Faber schaute sie durchdringend an, sagte aber nichts.
Linn legte den Stift auf den Tisch und verschränkte ihre Arme.
Faber schob seine Brille erneut nach oben. »Für mich sieht das alles nach dringendem Tatverdacht aus.«
»Für mich nicht«. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »An was für ein Motiv dachten Sie denn eigentlich? Nico Bentens und Grace Riccardis Ehe scheint doch sehr glücklich gewesen zu sein.« Jedenfalls, wenn man den Fernsehreportagen vertraute.
»Sie glauben an glückliche Ehen?« Faber schnaubte. »Das ist bloß ein Mythos. Das Einzige, was mich an der Sache wundert, ist, dass die Presse keinen Wind davon bekommen hat, dass Benten nicht nur der liebe Sunnyboy gewesen ist, für den ihn die ganze Nation hält. Die Haushälterin in der Villa am Kräherwald wollte zwar nichts Schlechtes über ihn sagen, aber es schimmerte doch durch, dass er sehr schnell wütend auf seine Frau werden konnte. Und dass seinen Worten gelegentlich Taten folgten. Und dann waren da ja noch die ganzen Hämatome. Ihre Mandantin war bei ihrer Verhaftung von oben bis unten mit etwa zwei Wochen alten Hämatomen übersät, hat sie Ihnen das nicht erzählt? Oder woher sie in den letzten Jahren sechs Knochenbrüche hatte?«
»Er hat sie geschlagen?«
»So könnte man das auslegen, ja.«
»Das heißt noch lange nicht, dass sie ihn getötet hat.«
»Einer von uns beiden ist hier ein wenig naiv.« Faber lächelte erneut. »Ich habe gehört, Ihre Mandantin will die Tat nun doch gestehen. Ist da was dran? Ich meine, im Hinblick darauf, dass die Tötung eines Gewalttäters durchaus verständlich wäre, könnte man sicherlich einen für beide Seiten gangbaren Weg finden.«
Linn antwortete nicht.
»Manchmal ist ein Geständnis die beste Verteidigung«, sagte er. »Das ist die brutale Realität.«
Sie stand auf. »Das mag sein. Aber es gibt keine Leiche. Wir wissen also nicht einmal, ob Nico Benten überhaupt tot ist. Das, Herr Dr. Faber, ist die brutale Realität.«
»Die englischen Kollegen hatten zwei Leichenspürhunde vor Ort. Beide haben eindeutig angezeigt, dass da oben vor kurzem eine Leiche gelegen hat.«
»Es muss nicht Bentens Leiche gewesen sein.«
Faber lachte rau auf. »Vielleicht war es doch ein Fehler, Sie als Pflichtverteidigerin vorzuschlagen«, sagte er. Er wirkte seltsamerweise sehr zufrieden.
3 Linn fuhr mit der U-Bahn von der Staatsanwaltschaft direkt nach Hause. In ihrer Wohnung im Dachgeschoss eines Altbaus war es noch heißer als auf der Straße. Es roch nach der frisch gewaschenen Wäsche, die sie am Morgen in der Küche auf dem klapprigen Wäscheständer aufgehängt hatte und die mittlerweile staubtrocken war. Sie öffnete als Erstes alle Fenster, damit die Sommerhitze wenigstens zirkulieren konnte, und duschte in ihrem winzigen Bad ausgiebig mit kühlem Wasser. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, und eigentlich wäre sie gerne auf den Marienplatz gegangen, um eine Pizza zu essen, ein Gläschen Wein zu trinken und den französischen Krimi weiterzulesen, aber sie bekam ihren neuen Fall nicht aus dem Kopf. Die Staatsanwaltschaft hielt Grace Riccardi für schuldig. Und so, wie Faber die Sache dargestellt hatte, sicherlich auch nicht grundlos. Linn stellte die Dusche ab und angelte sich ein Handtuch, trocknete sich langsam ab und zog sich schließlich Unterwäsche und ein langes T-Shirt an, das wie ein Kleid über ihrem schlanken Körper hing. Sie band ihre nassen Haare zu einem Pferdeschwanz, ging barfuß über den warmen Holzboden in die Küche und hängte die Wäsche ab. Grace Riccardi hatte zu ihr gesagt, sie würde die Tat gestehen. Auf die Frage, ob sie Nico Benten getötet habe, hatte sie allerdings nicht direkt mit ja geantwortet. Konnte das bedeuten, dass sie vielleicht unschuldig war? Ziemlich unwahrscheinlich. Warum wollte sie dann keinen Anwalt? Weil er in dem Fall »herumwühlte«? Aber was für ein Geheimnis konnte so furchtbar sein, dass man lieber einen Mord gestand, als es an die Öffentlichkeit dringen zu lassen? Grace Riccardi war eindeutig verzweifelt, das hatte man gemerkt. Als sie in den Gefängnisflur hinausgetreten war, hatte es ausgesehen, als flehten ihre Augen stumm um Hilfe. Trotzdem hatte sie während des Gesprächs alles dafür getan, Hilfe abzuwehren. Denn das war doch wohl der Grund für ihr beleidigendes Verhalten gewesen. Und einen Anwalt hatte sie auch nur deshalb, weil jeder, der in Untersuchungshaft saß, notfalls zwangsweise einen Pflichtverteidiger bekam.
Linn klappte den Wäscheständer zusammen. An der Sache war etwas merkwürdig. Auch wenn sie damit klarkommen musste, dass nicht nur das Gericht und die Staatsanwaltschaft, sondern auch ihre Mandantin sie als Gegnerin betrachtete, würde sie versuchen, Grace Riccardi so gut es ging zu helfen und die Wahrheit herauszufinden. Und solange es kein überzeugendes Geständnis und nicht einmal eine Leiche gab, musste sie von Frau Riccardis Unschuld ausgehen und auf einen Freispruch hinarbeiten.
Linn brachte den vollen Wäschekorb in ihr Schlafzimmer, ging in die Küche zurück und befüllte die vollautomatische Kaffeemaschine, eines der wenigen wirklich wertvollen Stücke, die ihr aus ihrer Großkanzleizeit geblieben waren. Schließlich schnitt sie eine Scheibe Brot ab und belegte sie mit Käse und Essiggurken. Während ein starker Kaffee durch die Maschine lief, blätterte sie die dicke Akte durch, die man ihr in der Staatsanwaltschaft kopiert hatte.
Wütend, weil ihre Hand ein wenig zitterte, zog sie die große Tasse aus der Maschine und setzte sich mit den Kopien auf den an die Küche angrenzenden kleinen Balkon.
Nach dreieinhalb Stunden stand sie auf und streckte sich. Sie war völlig verschwitzt, holte eiskalten Grapefruitsaft aus dem Kühlschrank und trank mehrere Schlucke direkt aus der Flasche. Als sie wieder an ihrem Tischchen auf dem Balkon Platz nahm, wurde es langsam dämmrig, und ein leichter Wind kam auf. Sie schaltete eine Lampe ein. Betrachtete noch einmal die griseligen Kopien der Tatortfotos und die Notizen, die sie sich gemacht hatte. 2. Juni, 16.30 Uhr: Nico Benten bricht von seinem Ferienhaus in Padstow in Cornwall auf, redet noch mit der Nachbarin.
Unbekannte Uhrzeit: Nico Benten kommt bei den Klippen an, stellt sein Auto nicht auf dem normalen Wanderparkplatz ab, sondern in einer Sackgasse, die zu einer Schafweide führt, ein wenig versteckt zwischen Bäumen. (Hier wird jedenfalls am nächsten Tag sein verlassenes Auto gefunden, im Handschuhfach seine Brieftasche mit all seinen Papieren und Bankkarten. Seit seinem Verschwinden hat es keinerlei Lebenszeichen mehr von ihm gegeben. Zeugen haben ausgesagt, er sei erfolgshungrig gewesen und würde nie ein Hollywoodengagement oder auch nur Dreharbeiten an der sechsten Staffel von Schmerzen des Erfolgs einfach sausen lassen).
War er mit Grace Riccardi am Tatabend verabredet? Sex? (Anzugteile wurden gefunden, d.h., war er nackt?)
Geschätzter Todeszeitpunkt: 19.00 Uhr (Leiche muss danach eine Weile auf den Klippen gelegen haben (gab es dafür einen Grund???), sonst hätten die Leichenspürhunde nichts gerochen).
Ca. 21.00 Uhr: Fischer beobachtet vermutlich, wie Bentens Leiche in den Atlantik geworfen wird.
Am Tatort: Taser mit Fingerabdrücken von Grace Riccardi. Diverse Blut- und Kampfspuren von Benten. Schleifspuren. Sein zerschmettertes Handy am Fuß der Klippen. Faserspuren eines Wollumhangs, der Grace Riccardi gehört, ein Haar von ihr.
In der Nähe des Tatorts: Grace Riccardis Schuhabdrücke und die Spuren ihres Fahrrads.
Handyortung: Grace Riccardis Handy war am Tattag zwischen 18.40 Uhr und 19.48 Uhr am Tatort oder jedenfalls im Umkreis von ein paar Kilometern von dort.
Linn trank einen weiteren Schluck Grapefruitsaft.
Aussage von Grace Riccardis bester Freundin: »Die Grace hat mich gefragt, was man gegen blaue Flecke machen kann. Sie hat arg geweint und gesagt, sie hält des Leben nicht mehr aus und wird den Nico eines Tages umbringen.«
Linn schaute eine Weile über die Brüstung ihres Balkons auf die benachbarten Häuser. Das sah nicht besonders gut aus für ihre Mandantin.
Allerdings hatten sich die Ermittlungen, nachdem Grace Riccardi die Hauptverdächtige geworden war, auch nur noch um sie gedreht. Alternativen Spuren war sicherlich nicht mehr nachgegangen worden.
Sie würde sich deshalb in den nächsten Tagen sämtliche Spurenakten besorgen und nach Hinweisen auf unbeachtete alternative Tathergänge und Verdächtige durchsuchen. Wahrscheinlich würde sie sogar nach England fliegen müssen, mit den Polizisten vor Ort reden, den Tatort anschauen. Sie presste die kalte Grapefruitsaftflasche an ihre Stirn und beugte sich wieder über die Akte.
Das Brummen eines Motors in der Dunkelheit. Plötzlich Scheinwerfer. Das Auto rast auf sie zu, schneller und schneller. Sie versucht auszuweichen, aber das Auto erfasst sie, der Boden unter ihren Füßen wird weggerissen, sie fliegt in die Luft, fliegt und fliegt und fliegt, höher und höher, dann Blut, überall Blut.
Mit einem Schrei fuhr Linn auf. Kein Auto. Keine Straße. Sie saß noch auf ihrem Balkon, war in Sicherheit. Sie musste über der Akte eingenickt sein. Mit zitternden Händen rieb sie sich die Augen. Ihr versehrtes Bein schmerzte, und sie stand auf und streckte sich. Schaute eine Weile in die orangefarbene Stadtnacht, lauschte auf das Rauschen und Hupen, das niemals verstummte. Schließlich sortierte sie die Aktenblätter, die teilweise vom Tisch gefallen waren, und warf einen Blick auf die Uhr. Bereits weit nach Mitternacht. Sie nahm ihre Sachen und humpelte nach innen, schloss sorgfältig die Balkontür, obwohl es immer noch siedend heiß in der Wohnung war, und kontrollierte das Sicherheitsschloss an ihrer Eingangstür, bevor sie sich schlafen legte. Eine absurde Handlung, das wusste sie seit Jahren. Niemand hatte versucht, sie umzubringen, ihr Unfall war ein Unfall gewesen. Das hatte sie schließlich akzeptieren müssen, egal wie viele Ungereimtheiten es bei den Ermittlungen gegeben haben mochte. Das Böse war nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen. Sie fröstelte. Anders als jetzt. Als Strafverteidigerin war man tatsächlich in Gefahr, dem realen Bösen ziemlich nahe zu kommen.
4 Als Linn mit einer Tasse Kaffee und einem letzten Rest Müsli beim Frühstück in der Küche saß, schaltete sie ihr Handy ein, das sie über Nacht immer ausstellte. Sechs Anfragen für Interviews, die sie alle löschte. Sie schickte Götz eine SMS mit einer Zusammenfassung des Gesprächs mit ihrer neuen Mandantin, ging dann ins Internet und überflog die Nachrichten, während sie abwesend ihr Müsli auslöffelte. Die Öffentlichkeit hatte ihre Mandantin bereits verurteilt. Und nicht nur das. Auf einer Fanseite von Nico Benten diskutierten diverse Fans gänzlich ungeniert, wie man Grace Riccardi am besten lynchen könnte. Sie fand auch ein Forum, in dem diskutiert wurde, ob es legitim sei, »so eine Fotze zu vertreten«. »Anwälte sind doch alles Huren des Bösen«, schrieb einer. »Nur ein toter Anwalt ist ein guter Anwalt« ein anderer. Sie schickte die Links direkt an die Polizei weiter, schloss mit einem unguten Gefühl ihren Laptop, trank ihren Kaffee aus und ging ins Bad. Ließ sich eiskaltes Wasser über die Hände und Unterarme laufen. Gut, dass sie nie aufgehört hatte, ihre Türen nachts zu verbarrikadieren. Sie kämmte sich die Haare, ohne in den Spiegel zu schauen. Schließlich holte sie ihr Make-up aus dem Regal und verteilte es mit einem Schwämmchen auf ihrem Gesicht. Legte einen dezenten Lippenstift auf. Fing an, ihre langen Wimpern zu tuschen. Das fremde Gesicht mit der Narbe, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, entmutigte sie wie jeden Morgen. Sie tuschte weiter. Verdrängte das makellose Gesicht ihrer Mandantin aus ihren Gedanken. Brachte noch etwas mehr Make-up auf der Wange auf. Sie war ein Profi, und so musste sie auch nach außen hin auftreten. Das war das Erste gewesen, was sie im Jurastudium gelernt hatte: Egal, wie es einem ging, man hatte nur dann eine Chance zu gewinnen, wenn man wenigstens so aussah und so agierte, als gehöre einem die Welt.
Schließlich betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel. Mit ihrer schlanken Figur, ihren großen, braunen Augen, dem Mund, den diverse Exfreunde als sinnlich beschrieben hatten, und der etwas dunkleren Haut sah sie aus wie eine Südfranzösin. Erstaunlicherweise war ihr heute das Make-up zur Verdeckung ihrer Narbe besonders gut gelungen, man konnte die alte Linn erahnen. Sie lächelte ihr Spiegelbild zurückhaltend an, knöpfte ihre Bluse zu und zog einen schwarzen, maßgeschneiderten Blazer an, der seit ihrem Unfall unbenutzt in ihrem Schrank gehangen hatte.
In der Kanzlei roch es trotz der geöffneten Fenster nach Farbe. Linn stellte die zwei Stücke Käsekuchen, die sie auf dem Hinweg für Götz beim Bäcker gekauft hatte, in die Küche und brühte sich auf der mit Malerplane abgedeckten Arbeitsplatte einen dreifachen Espresso. Die Tassen mussten noch in einem der Umzugskartons sein, die Götz bei sich zu Hause im Keller zwischengelagert hatte, deshalb nahm sie die Kanne mit in ihr Büro, dem einzigen Raum, der bereits so gut wie fertig war. Götz und sie hatten die ganzen letzten Tage tapeziert und gestrichen, damit sie so schnell wie möglich wenigstens ein renoviertes Zimmer für Mandantenbesprechungen zur Verfügung hatten. Dafür, dass es die Arbeit zweier Akademiker ohne handwerkliche Vorerfahrung war, war es gar nicht schlecht geworden. Wenn die Plane entfernt war und sie noch Möbel und Pflanzen aufgestellt hatten, dann würde das hier ein richtig schöner Raum werden. Sie stellte den Espresso auf den Boden, zog sich die kleine, farbverspritzte Leiter ans Fenster und setzte sich mit der Akte Riccardi und ihrem Handy auf die oberste Sprosse. Die lauwarme Morgenluft umspielte ihre Arme. Sie schlug die Akte auf und wählte die Telefonnummer eines Labors für Haaranalysen. Es gab einiges, was sie zu dem am Tatort gefundenen Haar von Grace Riccardi wissen wollte.
Nach dem Telefonat machte sie einen dicken Haken auf ihren Notizzettel, rief im Internet eine genaue Karte von Cornwall auf und wandte sich den Daten der Handyortung von Grace Riccardis Handy zu. Das flaue Gefühl, das sie seit der Übernahme des Mandats im Magen hatte, verschwand langsam.
Ein Schlüssel drehte sich in der Tür, danach waren schwere Schritte im Flur zu hören, die knisternd über die Plane in die Küche liefen. Sie schaute hoch. Kurz lief ihr ein Schauer über den Rücken, aber sie schüttelte das ungute Gefühl ab. Das musste Götz sein, auch er kam meistens früh ins Büro. Hoffentlich würde er sich über den Kuchen freuen. Sie kletterte von der Leiter zurück auf den Boden.
Mit einem freundlichen Grinsen und einem Teller Käsekuchen betrat ihr Kanzleipartner ihr Zimmer. Götz war ein gutmütiger, rundlicher und kluger Idealist Anfang vierzig, der, wenn er nicht gerade Kant las oder einen seiner bettelarmen Mandanten in der Abschiebehaft besuchte, gerne für ein Schwätzchen zu haben war. Wie meistens trug er ein grellbuntes Hawaiihemd, Jeans und Birkenstocks. Von anderen Kollegen wurde er heimlich nur »der Bunte« genannt. Sie konnte ihn gut leiden, auch wenn sie ihn privat im Grunde nicht kannte. Es war ein glücklicher Zufall gewesen, dass sie ihn vor einem Jahr bei einem Seminar zum Familienrecht kennengelernt hatte.
»Wow, du siehst aber toll aus heute«, sagte er.
Sie lächelte, auch wenn es ihr unangenehm war, über ihr Aussehen zu sprechen.
Er hielt den Teller hoch. »Darf ich davon was essen?«
»Der Kuchen ist für dich. Als Versöhnungsangebot. Ich hoffe, du bist nicht mehr sauer, weil ich das Mandat bekommen habe und nicht du«, sagte sie.
Götz schüttelte den Kopf. »Ich war nie sauer auf dich. Nur aufs Gericht. Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass wir die Kanzlei ja zusammen führen. Du wirst an dem Fall arbeiten, und ich werde an dem Honorar teilhaben. Das ist doch nicht schlecht, oder?«
Sie lachte und warf eine Papierkugel nach ihm. »Ich fürchte, ganz so billig kommst du nicht davon, ich werde deine Hilfe brauchen.«
»Ich stehe immer zu deiner Verfügung.« Er biss ein Stück von seinem Käsekuchen ab.
»Ich weiß jetzt, warum der Ermittlungsrichter im Fall Riccardi auf uns gekommen ist und nicht eine der großen Strafrechtskanzleien angerufen hat. Oberstaatsanwalt Faber hat mich als Pflichtverteidigerin vorgeschlagen. Kannst du dir das vorstellen?«, sagte sie.
Götz hörte auf zu kauen. »Wow«, sagte er. »Hast du nicht mal erzählt, er mag dich nicht?«
Sie nickte.
Götz grinste. »Die vorsitzende Richterin in Grace Riccardis Verfahren wird mit ziemlicher Sicherheit Richterin Borchert sein.«
»Vermutlich. Aber was hat das mit Faber und mir zu tun?«
»Es gibt da so Gerüchte. Faber und Borchert …« Götz’ Grinsen wurde so breit, dass es fast über sein Gesicht hinausging. »Soll nicht gut ausgegangen sein. Man munkelt, sie habe Faber abserviert. Und zwar öffentlich, in einer Gerichtsverhandlung.«
»Du willst aber nicht andeuten, dass Faber mich als Pflichtverteidigerin vorgeschlagen hat, weil er glaubt, dass ich der vorsitzenden Richterin am meisten auf die Nerven gehe?«
»Och«, lachte Götz. »Vielleicht will er ja auch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Richterin Borchert ist nämlich auch nervig. Sie hasst Strafverteidiger. Ich hatte schon ein paarmal das Vergnügen mit ihr, als Wahlverteidiger allerdings. Wenn man den Mund aufmacht, ist man sofort ein Querulant. Es wird behauptet, dass es nur drei Strafverteidiger gibt, die sie von sich aus als Pflichtverteidiger ernennt. Alois Binder, der über achtzig und so senil ist, dass er nie eine Frage stellt, selbst wenn er den Gerichtssaal findet, und die Kollegen Meret Lauer und Christof Schuler, die wiederum so jung und so pleite sind, dass sie alles tun, um an neue Pflichtverteidigungen zu kommen und sich nicht trauen, der Richterin zu widersprechen. Pflichtverteidigerprostitution. So garantiert sie sich schnelle, einfache Verfahren ohne große Gegenwehr. Sie hat die höchste Zahl an erledigten Fällen im ganzen Gericht. Und das geht alles zu Lasten der Angeklagten.« Götz hatte sich richtig in Rage geredet. »Wahrscheinlich haben die sich alle gedacht, wenn sie eine so kleine Kanzlei wie unsere mit einem so großen Fall beauftragen, werden wir dem Gericht vor Dankbarkeit die Hände küssen und spuren.«
»Dann haben sie sich getäuscht.« Linn zeigte auf die Akte. »Diese Anklage, die die Staatsanwaltschaft in Kürze erheben will, steht auf Beinen, die nicht so stabil sind, wie Faber das gestern dargestellt hat. Ich bin noch nicht ganz durch mit den Kopien, aber bis jetzt beweist keine der Spuren eindeutig, dass unsere Mandantin überhaupt am Tatort war, und es gibt keine Leiche. Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass Frau Riccardi unschuldig ist.«
»Warum will sie dann gestehen?«
»Ich weiß es nicht.« Linn wiegte den Kopf hin und her. »Für mich hat sich das sowieso nicht überzeugend angehört. Sie hat nicht direkt gesagt, dass sie ihn getötet hat. Ein Geständnis kann außerdem auch falsch sein.«
»Theoretisch ja, aber in der Praxis gestehen dann doch meistens nur die, die schuldig sind. Ich will gar nicht andeuten, dass du in dem speziellen Fall nicht richtig liegst, aber du hast doch gerade erst angefangen, dich einzuarbeiten.«
»Wenn sie wenigstens mit mir reden würde.« Sie ging einen Schritt auf Götz zu, die Plane knisterte unter ihren nackten Füßen. »Sie will keinen Anwalt.«
»Sie braucht einen, und sie wird dich nicht so einfach los. Das ist ja das Angenehme an Pflichtverteidigungen.« Er warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
»Aber wenn sie sich wirklich nicht helfen lassen will?«
»Solltest du trotzdem dafür sorgen, dass ihre Rechte gewahrt werden. Und herausfinden, warum sie sich so sträubt. Du wirst bestimmt noch einen Draht zu ihr finden.«
Für eine Sekunde sah sie das makellose Gesicht ihrer Mandantin vor sich, als diese gesagt hatte, sie, Linn, solle sich die Haare über die Wange legen. »Ich könnte das Mandat auch wieder abgeben.«
»Quatsch«, sagte Götz. »Das wird ein Riesenverfahren mit vielen Hauptverhandlungstagen. Das sichert unsere Miete in der Zeit.«
»Früher warst du nicht so materialistisch.«
»Früher hatte ich auch nicht die Chance, das richtig große Geld zu verdienen. Die habe ich erst, seit ich mit einem Genie wie dir zusammenarbeite.« Er wurde ein bisschen rot. »Außerdem wird unsere Kanzlei durch den Fall bekannt«, fuhr er schnell fort.
»Danke, aber Genie ist ein bisschen übertrieben. Und ich war vorhin im Internet. Es gibt da einige verrückte Fans von Benten, die wollen Grace Riccardi lynchen und ihre Anwältin gleich mit. Vielleicht will ich gar nicht so bekannt werden.«
5 Ein paar Tage später stand Linn erneut in dem düsteren, kleinen Besprechungszimmer der JVA, einen Becher Saft in der Hand. Sie hatte zusammen mit Götz noch einmal die Akte durchgearbeitet und zudem damit begonnen, die Spuren zu sichten, die die Staatsanwaltschaft als irrelevant betrachtet hatte. Gemeinsam hatten sie eine erste Verteidigungsstrategie entwickelt, die darauf abzielte, ihre Mandantin zunächst einmal aus der U-Haft herauszuholen. Wenn Grace Riccardi mitmachte, dann konnte sie aller Voraussicht nach bald wieder auf freiem Fuß sein. Linn lächelte. Grace Riccardi würde bestimmt mit ihrer Arbeit zufrieden sein und Vertrauen zu ihr fassen.
Als ihre Mandantin in den Raum geführt wurde, war sie da nicht mehr so sicher. Grace Riccardi setzte sich wortlos auf ihren Stuhl, schaute sie nicht einmal an. Linn nahm ihr gegenüber Platz.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
Das Model starrte auf den Tisch. Antwortete nicht.
»Frau Riccardi, ich bin hier, weil wir über die Vor- und Nachteile eines Antrags auf Haftprüfung nachdenken sollten, und eine Pressekonferenz wird auch bald stattfinden.«
Grace Riccardi schwieg weiterhin.
Linn stellte den Saft vorsichtig auf den Tisch. »Aber als Erstes sollten wir darüber sprechen, was genau an dem Abend passiert ist, als ihr Mann gestorben ist.«
»Ihr Make-up ist zu dick. Es sieht klumpig aus.«
Linn fühlte einen Stich in der Magengegend, riss sich aber zusammen. »Über Make-up können wir gerne ein anderes Mal reden, aber heute sollten wir Ihren Fall besprechen. Am Tattag hatten Sie doch eigentlich ein Fotoshooting in Mailand. Warum sind Sie stattdessen nach Cornwall zu Ihrem Mann geflogen?«
»Ich habe einen Blog. Über Make-up. Ich kenne mich da echt aus. Wenn Sie mit einem etwas helleren Puder …«
»Entschuldigen Sie bitte, aber wir haben wirklich dringlichere Probleme als Kosmetik. Sie werden verdächtigt, Ihren Mann ermordet zu haben!«
»Was zwischen Nico und mir ist, geht Sie nichts an.«
»Frau Riccardi, ich weiß nicht, ob Sie schuldig sind oder nicht, aber ich habe mir die Indizien und Beweise in der Akte angeschaut. Die Sache ist keineswegs so eindeutig, wie die Staatsanwaltschaft das darstellt. Meines Erachtens bestehen Chancen, dass Sie aus der U-Haft herauskommen und später möglicherweise sogar freigesprochen werden. Vielleicht können wir eine Hauptverhandlung vor Gericht auch komplett verhindern. Aber dazu müssen Sie mit mir reden.« Linn faltete die Hände. »Die können nicht einmal eindeutig nachweisen, dass Ihr Mann tot ist, und dass Sie zur Tatzeit am Tatort waren, schon gar nicht. Nehmen wir beispielsweise das Haar, das die Polizei gefunden hat und das von Ihnen stammen soll. Es handelt sich um ein altes Haar, um eines, das nicht ausgerissen wurde, sondern ausgefallen ist. Es könnte von ihrem Mann selbst versehentlich an den Tatort geschleppt worden sein. Und es könnte sogar sein, dass es gar nicht Ihr Haar ist, sondern von einem Ihrer Verwandten stammt, denn man konnte lediglich mitochondriale DNA gewinnen. Diese DNA wird von der Mutter auf die Kinder vererbt und ist über viele Generationen bei allen Nachkommen gleich. Jeder, der über die mütterliche Linie mit Ihnen verwandt ist, hat also mit ziemlicher Sicherheit die gleiche mitochondriale DNA wie Sie. Wäre es möglich, dass einer Ihrer Verwandten am Tatort war?«
Grace Riccardi holte tief Luft. Es klang wie ein verzweifeltes Seufzen.
»Nico ist tot, und ich habe ihn getötet. Ich will keinen Haftprüfungstermin.«
Linn schaute auf ihre Hände. So viel zu ihrem Gefühl, dass ihre Mandantin unschuldig war und an der Sache etwas nicht stimmte. Einige Zeit schwiegen sie beide.
»Der Staatsanwalt hat mir gesagt, dass Sie sich als meine Pflichtverteidigerin nach mir richten müssen«, fuhr Grace Riccardi schließlich fort. »Wenn ich gestehen will, dann müssen Sie mich gestehen lassen.«
»Sie haben mit dem Staatsanwalt gesprochen?! Mit Faber? Wann?« Ein alarmierendes Kribbeln machte sich in Linns Nacken breit.
»Er hat mich angerufen.«
Linn setzte sich aufrecht hin. »Das kann ja wohl nicht sein! Der Staatsanwalt darf Sie nicht einfach anrufen und Ihnen solche Sachen sagen. Ich werde diesem Mann so was von die Meinung …«
»Nein, das werden Sie nicht. Sie sind meine Anwältin und müssen tun, was ich von Ihnen verlange.«
»Das ist nur bedingt richtig. Ich vertrete Sie und muss in Ihrem Sinne handeln, aber ich bin nicht Ihre Leibeigene.«
Grace Riccardi drehte an ihrem Ehering. »Ich war nach unserem letzten Gespräch richtig froh«, sagte sie. Ihr Tonfall war trotzig. »Ich dachte, Sie sind jemand, dem es egal ist, ob er gewinnt. Wenn er nur sein Honorar erhält.«
»Wie kommen Sie denn auf so einen Unsinn?«
»Sie sehen aus, als ob Sie nicht viel Auswahl hätten.«
»Da irren Sie sich. Ich bin Inhaberin einer gutgehenden Kanzlei.«
»Wieso laufen Sie dann so herum und nehmen Pflichtverteidigungen an? Ihr Make-up ist billig, und Ihre Hose ist viel zu eng über diesem krummen Bein. Sie brauchen mehr Beinweite.«
»Verdammt noch mal!« Linn schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich versuche nur, Ihnen zu helfen. Ich will meinen Job machen, und der ist so schon schwer genug. Und Sie sitzen hier wie die Primadonna und meinen, Sie hätten das Recht, mein Make-up und meine Hosen zu kritisieren und mit mir umzugehen, wie Sie wollen, weil ich ›nur‹ Ihre Pflichtverteidigerin bin und Sie ein Star. Aber das haben Sie nicht. Sie haben kein Recht dazu.«
»Es sollte keine Kritik sein. Ich wollte nur einen Verbesserungsvorschlag machen. Ich finde es toll, dass Sie trotzdem, also so, wie Sie aussehen, trotzdem …«
Für einen Moment verschlug es Linn die Sprache. Tränen traten in ihre Augen. Dann brach eine Wut aus ihr hervor, die seit Jahren in ihr geschlummert zu haben schien. »Es reicht jetzt! Halten Sie endlich den Mund!« Sie stemmte sich mühsam von ihrem Stuhl hoch und musste sich am Tisch festhalten, um nicht zu stolpern. »Ich werde das Mandat niederlegen, dann können Sie einen anderen Anwalt beschimpfen. Oder gleich zur Staatsanwaltschaft gehen und später dankend die Höchststrafe in Empfang nehmen. Ich brauche dieses Mandat nicht. Ich habe mehr als genug gute Fälle.«
Sie sollte jetzt einfach gehen. Aber sie beugte sich über den Tisch, schaute von oben auf ihre Mandantin, und sagte: »Ich habe sehr viel dafür getan, um eine gute Anwältin zu werden. Und Sie? Sie haben nichts dafür getan, dass Sie schön sind, Sie sind einfach so geboren. Es ist nichts, worauf Sie stolz sein können!« Sie stieß sich vom Tisch ab, machte einen ungeschickten Schritt nach hinten. Ihr Stuhl kippte krachend auf den Boden.
Grace Riccardi krümmte sich zusammen. Sie sah klein und verletzlich aus. »Erzählen Sie mir nicht, dass ich nichts für meinen Erfolg getan habe!«
Linn prustete wütend.
»Haben Sie je in Ihrem Leben Hunger gehabt?«, fragte Grace Riccardi. »So großen Hunger, dass Sie die Welt nur noch flimmernd sehen? Dass sie Watte essen, nur um irgendwas im Magen zu haben?«
»Sie hätten kein Magermodel werden müssen. Sie hätten überhaupt kein Model werden müssen. Das war Ihre freie Entscheidung.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, wenn man immer so aussehen muss wie ich?«
»Von meiner Seite können Sie da auf wenig Mitleid hoffen.«
»Seit ich ein Baby bin, war ich nur die bella bambina, die principessa, die jeder auf den Schoß nehmen durfte, die hübsche Kleidchen tragen musste. Das ist deine Bestimmung, das hat meine Mutter gesagt. So will es der liebe Gott.« Grace Riccardi lachte bitter auf. »Mit elf war ich schon ein alter Hase. Sie haben keine Ahnung, was das für ein Geschäft ist. Das hat mit Gott nichts zu tun. Ich habe für dieses Geschäft Sünden begangen, für die es keine Vergebung gibt. Für die ich in die Hölle kommen werde. Und ich habe es verdient. Also erzählen Sie mir nicht, dass ich nichts dafür getan habe.«
Linn trank einen Schluck Saft.
»Das hier ist der einzige Weg, wie ich ein bisschen davon wiedergutmachen kann«, sagte Grace Riccardi leise.
»Indem Sie Ihre Rechte nicht wahrnehmen?«
Grace Riccardi sah Linn in die Augen. »Nein, indem ich einmal für meine Taten Verantwortung übernehme. Ich bin schuldig. Und ich habe nicht vor, das mit juristischen Kniffen zu verdecken. Ich will es jedem sagen.«