Traces - Regine Kölpin - E-Book

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Regine Kölpin

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Beschreibung

Achtung, Hochspannung! Was geschah wirklich in Mückemoor? Eigentlich verirrt sich kein Fremder nach Mückemoor. Eigentlich. Denn eines Tages taucht Leone auf, ein junger Italiener. Den Menschen im Dorf ist er suspekt, denn der Unbekannte stellt ihnen Fragen, viele Fragen. Leone ist gekommen, um herauszufinden, was mit seiner Großmutter Maria Greco geschehen ist, die vor Jahrzehnten als Gastarbeiterin nach Mückemoor kam und nie wieder in ihre Heimat Italien zurückgekehrt ist. Elsa, die mit ihrer Familie auf einem Pferdehof lebt, beschließt Leone zu helfen. Schnell wird beiden klar, dass niemand außer ihnen ein Interesse daran hat, die Geheimnisse der Vergangenheit ans Licht zu holen. Elsa kennt die Bewohner*innen des kleinen norddeutschen Dorfs am Moor schon ihr Leben lang. Kann es wirklich sein, dass hier jemand etwas mit dem Verschwinden von Maria Greco zu tun hat? Fesselnder Mix aus Heimatkrimi, Romance und Familiengeschichte. - Ein ungeklärter Vermisstenfall, ein Unbekannter aus Italien und die junge Reiterin Elsa bringen Unruhe in die verschwiegene Dorfgemeinschaft inmitten einer dunklen, norddeutschen Moorlandschaft. - Folge Leone bei seiner Suche nach Großmutter Maria, die einst als Gastarbeiterin aus Italien nach Mückemoor kam. - Atmosphärisch dicht erzählte Mischung aus Thriller und zarter Liebesgeschichte für Young Adults. - Von Regine Kölpin, die für ihre packenden Krimi- und Familiensagas von vielen Fans geschätzt wird.

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Über dieses Buch

DIE VERGANGENHEIT RUHT NICHT.

Mückemoor, ein Kaff in den Weiten Norddeutschlands. Backsteinhäuser, Tratschunter Nachbarn – und Elsas Heimat. Hierhin verirrt sich niemand Fremdes. Eigentlich. Bis Leone mit den schönen Augen auftaucht und anfängt, Fragen zu stellen. Seine Großmutter ist vor Jahren spurlos verschwunden. Ihr letzter Aufenthaltsort? Mückemoor.

Elsa ist skeptisch, sie kennt alle hier schon ihr Leben lang. Unvorstellbar, dass irgendwer etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun haben soll. Doch dann bekommt Leone anonyme Drohungen, und Elsa beschließt, auf ihr Herz zu hören und ihm zu helfen.

Und wird damit selbst zur Zielscheibe.

1

Ich wusste, dass dieser Tag nichts Gutes bringen würde. Schon in der Nacht war der Wind sehr heftig aufgefrischt und hatte eine Schubkarre auf dem Hof umgeworfen. Dazu peitschte heftiger Regen ums Haus und prasselte mit Wucht gegen die Fenster. Der Sturm hatte am Gutshof gerüttelt und zwischenzeitlich so laut geächzt, als müsse er Luft holen, bevor er weiter Fahrt aufnahm und erneut seine Kraft gegen die Mauern spuckte.

Zum Glück hatte der Wind jetzt nachgelassen, denn ich wollte gleich mit Pegasus trainieren. Der nächste Distanzritt stand an – da durfte ich mir auch bei schlechtem Wetter keine Pause gönnen.

Dieses Mal wollte ich weit vorn landen und mich nicht mit einem hinteren Platz zufriedengeben. Ich liebte diese Art des Wettkampfs. Reiten in der Natur, eins mit mir und meinem Pferd. Was konnte es Schöneres geben! Vor allem jetzt, mitten im Herbst.

Ich zog den Kragen meiner dicken Jacke enger am Hals zusammen, als ich vor die Tür trat und quer über unseren Gutshof zum Stall ging.

Pegasus kam an die Gitterstäbe seiner Box und schnaubte, als er meine Schritte hörte. Er erkannte mich immer sofort.

»Na, mein Großer«, flüsterte ich und strich ihm über die weichen Nüstern.

Ich holte ihn aus der Box und bemerkte, dass sein fuchsbraunes Fell sauber und glatt war. Unser Pferdewirt Jonas musste ihn bereits geputzt haben. Ich seufzte. Er wollte mir bestimmt nur eine Freude machen, aber das war genau das Problem. Ich hatte das Gefühl, dass für ihn mehr dahintersteckte, und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Außerdem liebte ich es, mein Pferd zu striegeln und es für den Ritt fertig zu machen – all die routinierten Handgriffe, die friedliche Atmosphäre, bevor es dann gemeinsam ins Gelände ging.

Pegasus war etwas unruhig, der Sturm in der letzten Nacht hatte wohl auch an seinen Nerven gezehrt.

Da ich meine Freundin Mieke nirgendwo entdecken konnte, obwohl wir uns zum Ausritt verabredet hatten, schaute ich zuerst bei ihrem Pferd Tommy nach. Keine Spur von Mieke.

Ich zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte sie verschlafen, ich musste mich wohl allein auf den Weg machen.

Ich sattelte Pegasus und sprach beruhigend auf ihn ein. Beim Auftrensen schlug er mit dem Kopf, aber als ich ihm über das warme Fell strich und seinen Hals klopfte, beruhigte er sich schnell.

Pegasus war wunderschön. Kräftig gebaut, mit langen starken Beinen und einem federnden Gang. Seinen Kopf zierte eine schmale Blesse, die sich zu den Nüstern hin verjüngte. Das war aber auch das einzig Weiße an ihm. Seine Fesseln, alles glänzte in diesem wunderschönen Rostrot. Am liebsten beobachtete ich ihn auf der Weide, wenn er mit stolz erhobenem Kopf über die Wiese trabte.

Mein Pferd und ich – zwischen uns passte kein Blatt. Andere liebten ihren Hund oder ihre Katze, ein Mädchen in meiner Klasse würde für ihre Ratte sterben – und ich eben für Pegasus. Ich war bei seiner Geburt dabei gewesen, ich hatte ihn aufwachsen sehen und ihn eingeritten.

Sein Hufschlag klang laut auf dem Kopfsteinpflaster, als ich ihn auf den Hof führte. Suchend sah ich mich noch einmal nach Mieke um. Falls sie eine Nachricht geschrieben hatte, würde ich es erst später lesen können – mein Handy hatte ich in meinem Zimmer vergessen. Das passierte mir ständig. Ich überlegte kurz, es zu holen, verwarf den Gedanken aber. Pegasus war ohnehin so nervös, ich wollte ihn nicht auch noch allein im Hof stehen lassen und beschloss, schon mal vorzureiten.

Ich schwang mich auf Pegasus’ Rücken und fröstelte trotz meiner warmen Kleidung, der eisige Wind schien einfach hindurchzugehen. Wenigstens regnete es nicht mehr, als ich den Trautmannshof verließ. Das Gestüt gehörte seit Generationen meiner Familie, und seit Generationen züchteten wir dort Oldenburger, die robuste, aber zugleich edle Pferderasse, an die wir alle unser Herz verloren hatten.

Ich schaute noch einmal zurück zum roten Backsteingebäude, das von einer roten Mauer umfriedet war. Ich liebte unseren Hof, auch wenn ich nicht alles in Mückemoor mochte. Aber der Gutshof war mein Zuhause, hier war alles, was mir etwas bedeutete.

Rings um den Hof befanden sich mit Holz eingezäunte Koppeln, auf denen unsere Pferde grasten. Im Augenblick gehörten dreißig Tiere zu unserem Bestand. Darunter fast alle Farben. Rappen und Füchse. Schimmel und Braune. Ein paar Pferde setzten sich in Bewegung, als sie uns entdeckten, und begleiteten uns am Zaun entlang. Pegasus wieherte und wollte das Tempo anziehen.

»Alter Angeber!« Ich lachte und verdrehte die Augen, zügelte ihn aber.

Hinter den Pferdekoppeln begann das Mückemoor. Es hatte unserem Dorf den Namen gegeben, und wenn ich an die vielen Mücken dachte, dann war mir auch klar, woher er kam.

Das Moor übte auf mich seit jeher eine unglaubliche Faszination aus.

Diese unendliche triste Landschaft, die das Dorf vom Rest der Welt abgrenzte und es sich einverleibte. Manchmal hatte man fast das Gefühl, dass von hier keiner einfach so wegkam, was natürlich Quatsch war. Aber jede Straße nach Mückemoor führte durchs Moor. Wer zu Fuß unterwegs war, musste aufpassen, auf den Wegen zu bleiben. Achtgeben, nicht von den zahlreichen Mücken zerstochen zu werden, die nur darauf warteten, dass sich einer zu ihnen verirrte.

Ich beschloss, Miekes und meine liebste Trainingsstrecke zu nehmen. Hier würde sie mich finden, falls sie doch nachkommen sollte. Dazu musste ich das Dorf durchqueren, damit ich den Weg am Fehnkanal erreichte, von wo es rechts ins Moor ging.

Ich hatte keine Angst, denn ich kannte die Gegend seit meiner Kindheit. Ehrlich gesagt amüsierten mich die Schauergeschichten, die sich immer wieder um Moorirrlichter und verschollene Menschen rankten. Ernst nahm ich sie nicht.

Und doch hörte ich im Dorf immer wieder Sprüche wie: »Das Moor spuckt keinen wieder aus!« oder »Wer sich da verläuft, den greift es sich«.

Nirgendwo wurde das so oft gesagt wie in Mückemoor. Es war wie ein Mantra, das nur oft genug wiederholt werden musste, damit es der Wahrheit entsprach.

Trotzdem kannte ich niemanden, der im Mückemoor umgekommen war. Aber es klang an den langen Winterabenden immer schön schaurig, wenn die Männer und Frauen es mit düsterer Stimme erzählten.

Ich ritt an der Dorfkneipe Linde vorbei. Das war ein inzwischen total heruntergekommener Schuppen und könnte sich damit rühmen, noch nie renoviert worden zu sein. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln des rot geklinkerten Gebäudes. Das Efeu an der Hauswand schrie förmlich danach, gekappt zu werden, es verdeckte die meisten der kleinen weißen Sprossenfenster, weshalb es in der Gaststube immer dunkel war. Aus dem Inneren drang lautes Gelächter, die Linde hatte bereits geöffnet.

Ich war schon fast vorbei, als ein klägliches Ächzen erklang und mir eine Gänsehaut die Arme hinaufjagte. Erschrocken riss ich den Kopf herum, nur um zu sehen, wie die Fensterläden sich im Wind in ihren rostigen Angeln bewegten und dabei fast klangen, als riefe jemand mit heiserer Stimme um Hilfe. Ich grinste. Der Sturm hatte wohl meine Nerven ein bisschen bloßgelegt. Als ob in Mückemoor je etwas Schlimmes passiert wäre!

2

Noch ganz in Gedanken bog ich auf die nächste Straße ab und zuckte zusammen, weil da ein junger Typ herumlief, der nicht nach Mückemoor gehörte.

So etwas fiel in unserem Dorf sofort auf, schließlich kannte hier jeder jeden. Die Mückemoorer bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft, die nur dann jemanden neu aufnahm, wenn einer von ihnen heiratete. Aber auch der- oder diejenige wurde von oben bis unten und wieder seitlich und rundum abgecheckt.

Viele junge Leute lebten gar nicht mehr im Dorf, und auch ich würde nächstes Jahr nach dem Abi von hier weggehen. Zwar gab es mir jetzt schon einen Stich, wenn ich daran dachte, Pegasus zurückzulassen, aber in Mückemoor gab es in Zukunft einfach nichts für mich. Und ich würde ihn natürlich bei jeder Gelegenheit besuchen kommen.

Ich näherte mich dem Typen, der zwischen den Backsteinhäusern mit den roten Dächern vollkommen fehl am Platz wirkte.

Er trug einen langen schwarzen Ledermantel und dunkle Jeans. Seine Haare waren schwarz und lockig und fielen ihm etwas verwegen in die Stirn. Ich schätzte ihn etwas älter als mich selbst, ungefähr neunzehn oder zwanzig. Der Typ wirkte gehetzt, obwohl er sich langsam bewegte. Aber er schaute sich ständig um, als würde er verfolgt werden – oder sich beobachtet fühlen.

Als er mich sah, blieb er kurz stehen und strich sich das Haar mit einer lässigen Bewegung zurück. Dann steuerte er auf mich zu, blieb in der Kurve mitten auf der Dorfstraße stehen, stellte den dunkelgrünen Reiserucksack ab und wartete, bis ich ihn erreicht hatte und Pegasus vor ihm zum Stehen brachte.

Mein Pferd scharrte unruhig mit den Hufen, aber das schien den Typen nicht zu beeindrucken. Ganz ruhig legte er die Hand auf seine Nüstern und strich ihm über den Kopf. Pegasus genoss die Berührung sichtlich und schnaubte wohlig. Und dann sah der Junge mich an.

Wow, dachte ich. Schokoaugen. Warme, wunderschöne Schokoaugen. Für einen Moment war mein Gehirn wie leer gefegt.

»Guten Tag.« Sein Lächeln wirkte wider Erwarten unsicher. Die Stimme klang weich und angenehm.

»Moin«, antwortete ich und setzte nach: »Bei uns sagt man Moin.«

Innerlich schlug ich mir gegen die Stirn. Was Dümmeres war mir wohl gerade nicht eingefallen.

»Dann Moin«, kam die Antwort überraschend schnell.

Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich sagen sollte, und fragte mich, warum das so war. Lag es daran, dass hier so selten ein Fremder auftauchte? Am ungewöhnlichen Mantel? An seinen schönen Augen oder dem Blick, der unstet hin und her schweifte und seine aufgesetzte Lässigkeit genauso Lügen strafte wie das oberflächliche Lächeln?

Doch es war nicht nur das. Seine Haltung wirkte lauernd und so, als wäre er auf der Pirsch.

Jetzt wusste ich, was mich so aufwühlte. Er hatte etwas von einer Raubkatze. Der athletische Körperbau. Die elegante und zugleich vorsichtig selbstverständliche Art, sich zu bewegen …

In mir regte sich ein Fluchtinstinkt. Aber meine Neugier siegte.

»Ich bin Leone«, stellte er sich schließlich vor. »Ich suche ein Zimmer.«

»In Mückemoor?«

Ich wusste selbst, wie dämlich die Frage war, aber es war für mich unvorstellbar, dass jemand freiwillig in diesem Dorf übernachten wollte. Hier war die Zeit stehen geblieben. Es gab sogar noch eine gelbe Telefonzelle, die die Telekom vermutlich vergessen hatte auszutauschen. Zweimal am Tag rauschte der Schulbus durch den Ort, sog die Schülerinnen und Schüler ein und spuckte sie am Nachmittag wieder aus. Wer den Ort verlassen wollte, konnte mitfahren. Der Einkauf wurde bei Mina im Lädchen erledigt, wer ein Auto hatte, fuhr in die zehn Kilometer entfernte Stadt und brachte den anderen mit, was ihnen fehlte. Gerüchte gab es bei Mina gratis, Tratsch aus dem Nachbarort erhielten die Mückemoorer am Eierwagen. Der kam wöchentlich und verkaufte seine Produkte für eine halbe Stunde am alten Marktplatz. Keiner, der nicht von hier kam, hielt sich länger als nötig in Mückemoor auf. Dorf pur. Ohne Highlights, ohne Abwechslung.

Hinterwald eben. Oder der Arsch der Welt.

Nur laut sagen durfte das niemand in Mückemoor. Hier hielt man zusammen. Immer.

»Ja. Warum?«, riss Leone mich aus meinen Gedanken. »Gibt es in diesem Dorf keine Unterkunft?« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

Er meinte es echt ernst! Aber was wollte er hier?

Hier blieb man als Fremder nicht. Weil es keinen Grund gab, das zu tun.

Ich versuchte, mich zu sammeln und souverän zu wirken. Nicht wie Elsa »vons Land«, wie die Mückemoorer sagen würden.

»Na ja, wenn du etwas Vernünftiges willst, ist das schon schwierig. Wir haben nur die Linde, und da ist es … sehr einfach.«

Es war schwierig, ihm deutlich zu machen, wo genau mein Problem mit seinem Besuch lag. »Hier kommen sonst keine Fremden her. Wenn, schlafen höchstens mal ein paar Gäste nach einer Hochzeitsfeier dort.«

»Kein Problem«, antwortete Leone. »Ich brauch nicht viel. Nur ein Bett und eine Dusche. Und eine Toilette. Lange will ich nicht bleiben.«

»Die haben nur Badewannen und Klos mit Metallstrippe zum Abziehen. Hab ich gehört«, rutschte es mir heraus, weil ich mich tatsächlich für die Linde schämte. »Wir sind in Mückemoor«, fügte ich hinzu, als würde das alles erklären.

»Fremdenführerin solltest du jedenfalls nicht werden.« Jetzt zwinkerte er mir tatsächlich zu, und ich merkte, wie ich unweigerlich grinsen musste. Werbung hatte ich wirklich nicht gerade gemacht.

»Wie komme ich dahin?«, fragte Leone, meine Einwände weiter ignorierend. »Zur Linde?«

Ich wies mit dem Kopf in die Seitenstraße, wo sich der Gasthof befand. »Da lang. Kannst du nicht verfehlen.«

»Danke. Wie heißt denn du eigentlich?«

Bei der Frage fühlte ich, wie ich rot anlief. Hoffentlich sah man mir das nicht an. »Ich bin Elsa.«

Schließlich konnte ich mir aber eine Frage doch nicht verkneifen. »Was willst du eigentlich hier in diesem … Kaff?«

Pegasus war inzwischen ungeduldig geworden und scharrte mit dem Huf über den Asphalt.

Leone ließ sich auch davon nicht aus der Ruhe bringen. »Ich will hier Urlaub machen. Was sonst soll man in einem Dorf in Norddeutschland tun?«

»Urlaub? Hier? Ende Oktober?«

Ganz ehrlich? Das klang ziemlich verrückt.

»Du spinnst doch!«, rutschte es mir heraus.

Leone zuckte mit den Schultern und nahm den Rucksack wieder auf. »Ich muss dann. Vielleicht laufen wir uns ja noch einmal über den Weg. So klein, wie das hier ist, wird es sich wohl kaum vermeiden lassen.« Er winkte kurz und lief weiter. Geschmeidig, lautlos und leicht gebückt.

Verwirrt sah ich ihm hinterher.

Etwas war faul an der Sache. Kein Mensch machte Urlaub in Mückemoor – und schon gar nicht um diese Zeit, wo sich der Nebel oft tagelang nicht lichtete oder der Sturm es unmöglich machte, vor die Tür zu gehen.

Nachdenklich schaute ich Leone hinterher. Warum ich plötzlich fröstelte, wusste ich auch nicht. Erst Pegasus’ nervöses Tänzeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch auf die inzwischen längst wieder menschenleere Dorfstraße gestarrt hatte.

»Du hast ja recht«, murmelte ich und drückte meine Fersen in seine Flanken. »Ab ins Moor!«

3

Ich übergab Pegasus an Jonas, der bei ihm zum Glück in den besten Händen war. Ich kannte kaum jemanden, der Pferde so liebte wie er.

Sein Großvater war ein guter Freund von meinem Opa Kurt, und so war Jonas schon von klein auf regelmäßig bei uns auf dem Hof gewesen. Wir hatten zusammen auf dem Heuboden gespielt und auch stundenlang beim Versorgen der Pferde geholfen. Es war eigentlich selbstverständlich, dass mein alter Kinderfreund Pferdewirt auf dem Trautmannshof geworden war.

»Ihr seht beide kaputt und zufrieden aus«, sagte Jonas und riss mich aus meinen Gedanken. »Lief das Training gut?«

Ich nickte. »Auf jeden Fall – Pegasus war heute in Topform! Danke fürs Übernehmen, ich muss dann auch schon rein, es gibt bald Essen.«

Zwar war noch etwas Zeit, aber ich wollte weiteren Fragen aus dem Weg gehen. Lieber zog ich mich noch ein bisschen auf mein Zimmer zurück. Ich musste die Begegnung mit Leone auch erst mal verarbeiten.

Meine Mutter konnte äußerst ungnädig werden, wenn ich zu spät oder nicht angemessen gekleidet aufkreuzte. Das sonntägliche Essen war ein wichtiges Ritual in unserer Familie, und es galt als ungeschriebenes Gesetz, anwesend zu sein. Für Opa Kurt – er war noch immer die graue Eminenz des Gutshofs, auch wenn offiziell Ralf, der neue Mann meiner Mutter, inzwischen die Leitung innehatte – war das gemeinsame Essen besonders wichtig, zumal er allein in seiner Einliegerwohnung auf dem Hof lebte. Unter der Woche versorgte Opa sich meist selbst, aber der Sonntag galt als Familientag.

Es würde auffallen, wenn ich so in Gedanken versunken wäre. Deshalb zog ich es vor, eine halbe Stunde zu chillen und vielleicht mit Mieke zu chatten, bevor ich mich mit meiner Familie an den Tisch setzte.

Im Laufe der Jahre hatte ich so manche Strategie entwickelt, damit niemand bemerkte, wenn mich etwas beschäftigte, was die anderen nichts anging. Das fand ich überlebenswichtig.

Draußen wehte es noch immer, und ich wurde sofort von einem Blätterreigen umgeben. Es rauschte und knisterte unter meinen Sohlen, als ich mich durch das bunte Meer zur Haustür kämpfte. Morgen würde unser Gärtner alle Hände voll zu tun haben, damit der Gutshof wieder gepflegt aussah.

Darauf wurde bei uns großen Wert gelegt.

Sauberkeit. Manieren. Ordnung.

Typische Mückemoor-Attribute.

Ich schlich in mein Zimmer, die ganze Zeit darauf bedacht, keinem zu begegnen. Mama würde sofort fragen, ob beim Training irgendwas Besonderes passiert war und lauter so Zeugs, das Mütter eben interessierte.

Darauf konnte ich heute getrost verzichten.

Ich schmiss mich aufs Bett und griff zu meinem Handy, das wie vermutet auf dem Nachtschrank lag.

Mieke hatte mir tatsächlich geschrieben.

Hi, hab Halsweh und kann heute nicht kommen. Melde dich doch später, dann können wir kurz quatschen.

Ich antwortete sofort.

Bin grad vom Training zurück. Habe mein Handy wie immer vergessen. Schade, dass du nicht dabei warst!

Bei dem Scheißwetter und Wind hast du’s trotzdem durchgezogen?

Ich wollte das jetzt nicht verteidigen, denn dass ich Leone begegnet war, fand ich viel spannender. Mieke würde sich ärgern, das verpasst zu haben. Sie liebte es, jede Neuigkeit als Erste erzählen zu können.

Da glich sie ihrer Mutter, die als schlimmste Tratschtante in Mückemoor galt.

Jap, so schlimm war es nicht. Aber mir ist da was passiert!

Und was?

Plötzlich schämte ich mich doch. Da kam ein fremder Typ ins Dorf, und ich reagierte genauso wie die alten Klatschbasen und hatte nichts Besseres zu tun, als die Neuigkeit sofort weiterzuverbreiten.

Ist ja nur Mieke, dachte ich.

Zu kompliziert als Message.

Klingt spannend. Willst du nachher kurz kommen? Bin neugierig.

Gern. Aber erst gibt es Schweinebraten und Rotkohl.

👍

Ich ging schnell duschen und machte mich fertig, sodass ich pünktlich im Esszimmer war.

»Wie war das Training?«, fragte meine Mutter sofort. Sie stellte die Platte mit dem Braten auf den Tisch, und der Duft von Rotkohl und Soße flutete das Speisezimmer.

Ich ließ mich auf meinen Platz fallen und antwortete ausweichend: »Das Wetter war ungemütlich, sonst okay.«

Eigentlich war es ja super, dass sie sich für mich und meinen Sport interessierte, aber heute brannte ich darauf, endlich Mieke von Leone zu erzählen. Wobei ich mich schon fragte, warum mich der Typ so beschäftigte. Er hatte doch nur nach einer Unterkunft gefragt.

Gut, er hatte auch schöne Augen. Und lange Locken.

»Hauptsache, du konntest Pegasus bewegen. War Mieke mit? Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!« Mama setzte sich mit einem Seufzen und reichte die Schüssel mit den Klößen herum.

»Pegasus ist wirklich fit«, antwortete ich. »Mieke war nicht da. Sie ist krank. Ich gehe gleich noch zu ihr.«

»Du bist recht einsilbig, min Deern«, sagte Opa Kurt mit dem typischen Schalk in seinen Augen. »Ist dir beim Reiten im Moor ein Geist begegnet?«

Ich schüttelte den Kopf, und weil ich vor meinem Großvater nur wenige Geheimnisse hatte, entfuhr es mir dann doch. »Nein, kein Geist, nur ein junger, fremder Mann.«

Ich tat, als wäre ich sehr damit beschäftigt, ein Stück Fleisch auf meine Gabel zu spießen.

Trotzdem bekam ich genau mit, wie Opa Kurt mich erstaunt anschaute.

»Interessant«, antwortete er. »Er scheint ja ganz schön Eindruck auf dich gemacht zu haben.«

Oje, das ging jetzt voll in die falsche Richtung.

Rasch stopfte ich mir ein Stück vom Kloß in den Mund, um Zeit zu gewinnen.

»Elsa sieht aus, als hätte es sie erwischt«, mischte sich jetzt auch Ralf ein.

Der sollte sich bitte vollkommen aus meinem Leben raushalten. Auf seine Sprüche hatte ich nun wirklich keine Lust.

Ich schluckte das Stück Kloß runter. Fast blieb mir der Brei im Hals stecken, aber es war mir wichtig, das sofort richtigzustellen.

»Quatsch, ich kenne den doch gar nicht.«

So, nun war es raus. Aber mir glaubte keiner, dass Leone mich nicht interessierte.

Opa Kurt zog belustigt die Brauen hoch. »Hat er dir in der kurzen Zeit schon den Kopf verdreht? Es mutet doch sehr mysteriös an, wenn du ihn erwähnst, ohne ihn zu kennen.«

Ich schüttelte vehement den Kopf. »Nein, um Gottes willen! Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt!«

Das fehlte mir noch, dass jetzt in Mückemoor das Gerücht umging, ich hätte mich in einen wildfremden Typen verknallt. Und da Diskretion bei solchem Gerede nicht immer das oberste Gebot war, auch wenn alle so taten, als ob, würde das in Windeseile bei Leone ankommen. Peinlicher ging es kaum.

»Er war nur komisch«, erklärte ich.

Nun wurde mein Großvater richtig hellhörig, und auch Mama und Ralf schauten mich neugierig an.

»Wie meinst du das?«, fragte Opa Kurt.

»Na, eben eigenartig.« Ich schnitt ein Stück vom Braten ab, um möglichst locker zu wirken. »Er hatte einen Ledermantel an und stell dir vor: Er will in der Linde Urlaub machen.«

Nun kicherte selbst meine Mutter los, was ihr von Ralf einen überraschten Blick bescherte. Fröhlichkeit war nicht so sein Ding. Wenn er schmunzelte, war das schon ein Höchstmaß an Emotionen.

Meine Mutter kümmerte das nicht. »Urlaub in Mückemoor? Und dann im Herbst? Wie lustig!«

»Genau das habe ich auch gedacht.«

Mich beruhigte, dass meine Familie das ebenso befremdlich fand wie ich. Zumindest war das Verliebtheitsthema vom Tisch!

Jetzt gelang es mir tatsächlich, entspannter zu sein.

»Er hat dich sicher nur veräppelt«, meinte Opa Kurt. »Kein Mensch macht hier Urlaub.«

»Und was macht er dann hier?«, fragte ich. »Das ist doch merkwürdig.«

»In der Tat.« Opa runzelte die Stirn. »Aber was geht es uns an? Wenn er sieht, dass sich in Mückemoor Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, wird er schon von allein wieder verschwinden.«

Damit war für ihn das Thema erledigt, und ich konnte in Ruhe meinen Nachtisch genießen. Es gab Rote Grütze mit Vanillesoße, mein Leibgericht.

Schließlich hatte ich so viel gegessen, dass ich glaubte zu platzen. Ich wäre am liebsten aufgesprungen, weil ich, so schnell es ging, zu Mieke wollte. Aber ich beherrschte mich und faltete meine Serviette sorgfältig zusammen.

Einfach auf den Tisch werfen war nicht erlaubt, dann würde Ralf wieder unnötig am Rad drehen. Und da ich zu meinem Stiefvater nicht das allerbeste Verhältnis hatte, war ich nicht wild darauf, es noch weiter abkühlen zu lassen, indem ich ihn unnötig provozierte. Mama würde zu ihm halten, irgendwie waren die beiden sich immer einig.

Freundlich lächelte ich in die Runde. »Darf ich aufstehen? Ich möchte jetzt zu Mieke gehen.«

»Klar, mach das und grüß sie schön!«, meinte Mama, nur Ralf runzelte die Stirn.

»Pass auf, wenn du diesem jungen Mann begegnest. Wer weiß, was er im Schilde führt«, sagte er mit seiner Fistelstimme, die sich immer in ungeahnte Höhen schraubte, wenn er sich aufregte.

»Vorurteile hast du auch gar nicht, oder?«, entfuhr es mir dann doch, weil es mir gegen den Strich ging, wenn er ständig seine überflüssigen Kommentare abgab.

Wie immer konnte ich es nicht sein lassen, ihn ein wenig zu provozieren.

»Und du hast recht, ich muss mich in Acht nehmen. Er sah nicht nur verwegen, sondern auch südländisch aus. Macht dir das Kummer? Ich habe da keine Bedenken, weil ich Menschen nicht danach beurteile, woher sie kommen.«

»Was soll das?« Ralf schien nun ernsthaft verärgert.

Ich wusste selbst, wie ungerecht ich war, indem ich ihm so etwas unterstellte.

Mama warf mir bereits einen bittenden Blick zu. Das kannte ich schon und schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Er war freundlich und machte nicht den Eindruck, als wollte er mich überfallen.« Ich zwinkerte ihnen zu.

»Das machen sie ja nie«, grummelte Ralf. »Und dann plötzlich …«

Ich stand auf und hob zum Abschied die Hand, aber so einfach wollte Ralf mich nicht gehen lassen.

»Hat er dir seinen Namen verraten?«, fragte er, schenkte sich ein Glas Wasser ein, nahm es in die Hand und betrachtete die aufsteigenden Kohlensäureperlen nachdenklich.

»Er heißt Leone, mehr weiß ich nicht. Ich muss dann!«

Mit einem Mal war es wieder da. Dieses ungute Gefühl, das mich befallen hatte, als mir Leone vorhin begegnet war. Aber das hatte nichts mit seinem Aussehen zu tun, sondern damit, dass ich sicher war, er würde in Mückemoor keinen Urlaub machen wollen. Leone hatte andere Gründe, hier aufzutauchen. Nur welche?

Ich verließ das Esszimmer und hörte noch, wie mein Stiefvater sagte: »Sie weiß doch bestimmt mehr. Elsa schwindelt ständig! Ist klar, von wem sie das hat.«

Ich ballte die Faust, denn Ralf spielte in einer Tour auf meinen unzuverlässigen Vater an. Ich war selbst sauer auf ihn, aber Ralf stand es nicht zu, über ihn zu urteilen.

Von meinem Vater war mir nur ein Bild geblieben. Und mein Teddy, der noch immer am Kopfende von meinem Bett thronte und dem ich jeden Abend eine gute Nacht wünschte. Aber das wusste nur Mieke. Meine anderen Freunde würden mir wahrscheinlich einen Vogel zeigen. Sonst redete bestimmt niemand mehr mit seinem Teddy. Deren Väter waren ja auch noch da. Die verschwanden nicht einfach von einem Tag auf den anderen.

Jedes Mal, wenn ich nicht so funktionierte, wie Ralf es sich vorstellte, argumentierte er mit meinen angeblich schlechten Genen.

Meiner Meinung nach hatte mein Stiefvater sich hier eingeschlichen wie eine Giftspinne. Jetzt saß er in seinem Netz und begutachtete die fette Beute. Was wäre er denn ohne Mama?

Ralf, der jüngste Sohn des Nachbarhofes, der nach alter Tradition in der Erbfolge keine Rolle gespielt hatte. Durch die Heirat mit meiner Mutter hatte er es nun doch zur Leitung eines der ältesten Gehöfte Mückemoors gebracht. Sein einziger Wermutstropfen musste sein, dass er den Namen Trautmann hatte annehmen müssen. Da kannte Opa keine Kompromisse. In Mückemoor fügte es sich. Immer.

Ich wollte jetzt nur noch fort von hier, rannte die Stufen hinab, riss im Vorübergehen die Winterjacke von der Garderobe und stürzte hinaus.

4

Es würde mir helfen, mit Mieke zu quatschen. Mit etwas Glück wusste sie inzwischen mehr über Leone. Ihre Mutter war im Häkelclub und beim Heimatverein aktiv. Die wussten dort sogar, wenn sich die Holzwürmer vermehrt hatten. Miekes Mutter hatte auch sonst ihre Ohren überall, und vermutlich war sie längst informiert. Ein Fremder im Dorf, der zudem so ungewöhnliche Sachen trug – das hatte sich bestimmt schon bis zu den Blohms herumgesprochen.

Miekes Haus lag nur ein paar Gehminuten vom Trautmannshof entfernt. Der Wind blies in einzelnen Böen schon wieder so heftig, dass ich mich dagegen anstemmen musste.

Nach etwa fünf Minuten stand ich vor dem typisch norddeutschen Haus aus rotem Klinker und ebenfalls rot gedecktem Krüppelwalmdach. Die weißen Sprossenfenster und die Fensterbögen waren rund gemauert und verliehen ihm einen gewissen Charme. Neben dem Haus befand sich eine Garage mit weißem Holztor, in der das Familienauto parkte.

Kurz nachdem ich geklingelt hatte, öffnete Miekes Mutter. Wie immer tat sie alles zu schnell und zu hektisch.

»Elsa? Du?«

»Ich wollte zu Mieke.«

»Sie hat heftige Halsschmerzen. Dass du dich bloß nicht ansteckst!« Miekes Mutter trat einen Schritt beiseite und ließ mich rein. Im Flur roch es nach gebratenem Hähnchen.

»Und zieh bitte die Schuhe aus! Nicht dass es Fußabtritte auf den weißen Fliesen gibt.«

Ich musste schmunzeln. Typisch Frau Blohm. Natürlich kannte ich die Regeln längst, ich war ja ständig hier. Aber Miekes Mutter ging da lieber auf Nummer sicher.

Ich schlüpfte aus den Schuhen und rannte die Treppe rauf.

Mieke lag mit ihrem Mathebuch auf dem Bett und strahlte mich an. »Alles gut im Stall?«

»Ja, dein Tommy steht in der Box, und Jonas hat wie immer alles im Griff.« Ich musterte sie. »Krank wirkst du allerdings nicht. Wenn du keine Lust hattest zu trainieren, hättest du es auch direkt sagen können.«

Mieke hustete. Es klang gekünstelt. »Blöde Erkältung, weißt du? Will echt nichts riskieren. Morgen schreiben wir doch die dumme Matheklausur.«

So ein Mist. Das hatte ich vollkommen vergessen! Es erklärte Miekes Ausrede. Sie war sehr ehrgeizig – ich hingegen konnte mir keinen weiteren Patzer erlauben. Es würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als den restlichen Nachmittag mit mathematischen Formeln zu verbringen.

»Aber du bist doch nicht da, um mit mir über Halsschmerzen und Matheklausuren oder mein verpasstes Training zu reden«, sagte Mieke. Die Neugierde in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Du hast doch gesagt, dir wäre was Seltsames passiert.«

»So ist es«, bestätigte ich.

»Hey, spann mich nicht auf die Folter! Was ist passiert?«

Ich kam nicht dagegen an, den Moment zu genießen. Es kam selten genug vor, dass ich etwas vor ihr wusste.

»Ich bin vorhin einem Typen begegnet«, begann ich. »Etwa so alt wie wir.« Dann fasste ich alles ausführlicher zusammen.

Sofort folgte die große Enttäuschung, denn Mieke war keineswegs so ahnungslos, wie ich gedacht hatte.

»Ach der!« Sie winkte ab. »Von dem hat Mama schon erzählt. Der heißt Leone Greco.«

Barbara Blohm wusste also tatsächlich schon wieder alles.

»Und was sagt sie noch?«, fragte ich neugierig und wechselte das Standbein. »Mach mal Platz!«

Mieke rutschte zur Seite, und ich ließ mich neben ihr auf das Bett fallen.

»Niemand weiß, was er hier will. Tant’ Gerdes will dem mal auf den Zahn fühlen. Er wohnt bei ihr in der Linde.«

»Der Arme, ob er weiß, worauf er sich da eingelassen hat?« Ich musste lachen.

»Wem sagst du das«, meinte Mieke. »Ich war einmal in einem der Zimmer.«

»Erzähl!«

»Kalt. Zugig. Ungemütlich. Trist. Und es stinkt! Ich kann dir gar nicht genau sagen, wonach, aber es roch alt und süßlich. Die grellgelbe Tapete mit den dunklen Kringeln wirkte so, als ob man davon aufgesaugt wird.« Mieke schüttelte sich.

»Und dann das Bad! Eine echte Nasszelle. Dunkelbraun gefliest, gerade mal so groß, dass die Duschwanne darin Platz findet. Das Waschbecken ist dermaßen winzig, darin kann man sich kaum die Hände waschen. Außerdem hatte es einen Sprung. Und das einzige Klo befindet sich mitten auf der Etage mit dem Charme einer heruntergekommenen Bahnhofstoilette.«

»Dann wird er wohl nicht lange bleiben«, meinte ich.

»Abwarten.« Mieke ruckelte sich im Bett etwas höher.

»Was weißt denn du über den Fremden? Er ist echt schon Dorfgespräch.«

»Leider auch nicht viel.« Ich zuckte mit den Schultern. »Außer …«, ich machte eine dramatische Pause, »… dass er ziemlich gut aussieht!«

Wenn ich jetzt erwähnte, dass er Schokoaugen hatte …

Mieke quietschte begeistert auf. »Das hat meine Mutter natürlich verschwiegen.«

Wir mussten beide lachen.

»Erzähl mir alles!«

»Er sieht gut aus«, begann ich vorsichtig. »Ist etwas auffällig gekleidet. Mit Ledermantel und so. Ein dunkelhaariger, braungebrannter Typ, ich denke, Italiener, und seine Stimme …«

»Lass mich raten. Dazu Schokoaugen und voll dein Typ. Ein italienischer Traummann!«

Mist, sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

Mieke hatte großes Interesse daran, mich zu verkuppeln, weil sie schon ewig in Jonas verliebt war. Wahrscheinlich hoffte sie, er würde ihre Gefühle endlich erwidern, wenn ich erst mal vergeben war und er einsehen musste, dass er sich keine Hoffnungen mehr zu machen brauchte.

Jetzt half nur, Ruhe zu bewahren. Erst mal galt es schließlich abzuwarten, was Leone wirklich im Dorf wollte. »Ansonsten weiß ich nur, dass der Typ in Mückemoor Urlaub machen will«, fuhr ich betont gleichgültig fort, ohne auf ihre Bemerkung mit den Augen einzugehen. »Magere Ausbeute, wie du merkst.«

»Urlaub?« Mieke prustete genauso los wie meine Mutter vorhin. »Hier? Was stimmt denn mit dem nicht?«

»Es gibt sicher einen anderen Grund«, entfuhr es mir. »Er machte den Eindruck, als ob … als ob er was sucht.«

Mieke legte die Hände vor den Mund und rief mit hohler Stimme: »Huhu! Bestimmt eine Leiche im Moor!«

Ihre Stimme kiekste, wahrscheinlich, weil Mieke der Hals doch wehtat, und ich fiel in ihr Lachen ein.

»Das wär mal was. Aber mal ehrlich: Wie oft kommt es vor, dass tatsächlich jemand im Moor verschwindet? Wir haben es noch nie erlebt.«

Mieke glänzten die Augen, sie konnte sich immer so schön in solche Spinnereien reinsteigern. »Aber früher gab es welche. Man sagt sogar, dass nach dem Krieg ein paar freiwillig ins Moor gegangen sind. Weil sie mit dem Erlebten nicht klarkamen. Also weil sie als Soldaten Menschen umgebracht haben.«

Ich seufzte. »Genau, und nach denen sucht der Typ jetzt. Er ist also ein Ghostbuster.«

»Wahrscheinlich eher ein Zombie und aus einem unserer Online-Spiele entwichen. Wo wir schon dabei sind: Wollen wir heute Abend zocken?«

Ich hob abwehrend die Hände. So gern ich zugesagt hätte, aber dann erwartete mich morgen der mathematische Super-GAU.

»Das wird leider nichts. Ich muss auch wenigstens einen kurzen Blick in die Matheunterlagen werfen.«

Ich stand auf, es war besser, wenn ich mich jetzt mit Mathe und nicht mit Leone Greco und seinen Plänen in Mückemoor befasste. »Ich geh dann mal los. Wenn du mehr über unseren geheimnisvollen Fremden herausfindest, sagst du Bescheid, okay?«

»Darauf kannst du dich verlassen«, antwortete Mieke. Sie griff wieder nach dem Mathebuch. »Ich bin jetzt echt neugierig geworden, warum es diesen Typen ausgerechnet hierherverschlagen hat.« Sie zwinkerte mir zu.

Als ich das Zimmer verließ, stand Miekes Mutter im Flur und staubte die Bilderrahmen ab. Sie hatte definitiv gelauscht. Leone Greco schien das Dorf schon nach so kurzer Zeit ordentlich aufzumischen.

5

Ich brauchte dringend frische Luft! Den ganzen Nachmittag und bis in den Abend hinein hatte ich versucht, meinen Kopf mit den Matheformeln vollzustopfen. War mir eher schlecht als recht gelungen, weil ich ständig an diesen Fremden denken musste.

Ich verspürte aber auch keine Lust, zu gamen und Mieke deswegen zu schreiben. Mir würde es guttun, ein wenig allein zu sein.

Langsam spazierte ich durch Mückemoor, auch in der Hoffnung, Leone über den Weg zu laufen. Ich wusste gar nicht, was ich zu ihm sagen sollte, wenn ich ihm begegnete, aber ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren.

Der Himmel war wolkenverhangen, die Dunkelheit umarmte die Häuser sacht.

Das Dorf war wie ausgestorben. Wären hinter den Gardinen nicht vereinzelt Lichter zu erkennen gewesen, wäre ich mir wie in einem Geisterfilm vorgekommen. Es war erst zwanzig Uhr, und in Mückemoor schienen die Gehwege bereits hochgeklappt. Die meisten Menschen hockten vor der Glotze oder spielten Karten. Schafskopp war bei den Alten ziemlich angesagt. Viel mehr konnte man hier ja auch nicht tun.

Ich lief die Hauptstraße hinunter und bog dann nach links ab, bis ich vor der Linde stand.

In den Gästezimmern brannte kein Licht. Also war Leone entweder unterwegs oder in der Gaststube.

Dort hielt sich sonntags auch immer mein Großvater mit seinem Stammtisch auf. Ich könnte also unter einem Vorwand hineingehen und ihn etwas fragen. Zum Beispiel, ob er mich morgen zur Schule fahren würde, weil ich Mathe schrieb. Das wäre weniger stressig, als sich in den überfüllten Schulbus zu quetschen und den Tag mit feuchter und abgestandener Luft zu beginnen.

Die Idee gefiel mir, und ich betrat die Gaststube.

Obwohl Rauchverbot herrschte, war die Luft hier zum Schneiden dick, ungelüftet und überheizt, wie es war. Mein Großvater saß mit Ralf, Jonas, dessen Großvater Heino Janßen, Miekes Vater und anderen aus dem Dorf am Stammtisch und trank sein Bier. Sie waren tief in eine Diskussion verstrickt.

Leone konnte ich leider nicht entdecken.

Gerade wollte ich mich wieder nach draußen stehlen, als sich die Tür, die zum Treppenhaus führte, öffnete, und Leone hereinkam. Er hatte seinen Rucksack geschultert und schaute sich erst einmal im Lokal um.

Die Linde gehörte Tant’ Gerdes, die gerade dabei war, hinter dem Tresen ein Bier zu zapfen, und ihn nun musterte wie ein ekliges Insekt.

Obwohl er leise eingetreten war, verstummten die Gespräche sofort. Leone stand unsicher da und schien zu überlegen, wohin er sich setzen sollte.

»Moin«, sagte er und durchbrach damit das unangenehme Schweigen. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Immerhin hatte er dazugelernt.

»Moin«, schallte es vom Stammtisch zurück, die Blicke der Männer verfolgten ihn argwöhnisch.

Leone fühlte sich sichtlich unwohl und steuerte den freien Tisch in der Nische neben dem Stammtisch an.

Ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte, denn noch hatte mich keiner gesehen, ich stand immer noch im Vorbau des Eingangs.

Das nutzte ich und schlüpfte kurzerhand in die nächste Sitzecke, wo ich mich hinter der Holzverkleidung verstecken konnte. Auf diese Weise bekam ich alles mit, ohne dabei gesehen zu werden. Und wenn doch, konnte ich immer noch eine Limonade bestellen.

Die Wirtin kam sofort an Leones Tisch und baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihm auf.

»Essen?«