Traditionelle Europäische Medizin im Aufwind - Karl-Heinz Steinmetz - E-Book

Traditionelle Europäische Medizin im Aufwind E-Book

Karl-Heinz Steinmetz

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Beschreibung

In Sachen Wiederentdeckung ist die TEM oder TEN (Traditionelle Europäische Naturheilkunde), wie sie in der Schweiz und von gewissen Autoren bevorzugt genannt wird das jüngste Kind, das aber inzwischen erwachsen geworden ist. In den letzten Jahrzehnten wurde, gerade durch Bücher des Bacopa-Verlags, Pionierarbeit geleistet. Die TEM/TEN ist zurück! Sie wird von Heilpraktikern, Ärzten, Masseuren und Therapeuten aufgegriffen; Vereine, Akademien, Institute und Zentren sind entstanden; es gibt ein wachsendes Echo in der Öffentlichkeit und in den Medien. Die TEM steht an einer wichtigen Schwelle: Sie vernetzt sich gerade gesamteuropäisch (Schweiz, Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich, Tschechien etc.). Sie verschafft sich Gehör und gewinnt an Einfluss. Im Bild gesprochen kann man sagen, die TEM/TEN befinde sich im Aufwind. Bevor der Flug beginnt, ist es allerdings angeraten, eine Standortbestimmung vorzunehmen und die Zukunftsperspektiven in Augenschein zu nehmen eine spannende Aufgabe, der sich dieser Band widmet. Mit dieser Grundlagenreflexion wendet sich dieses Buch an alle TEM -Interessierten jeglicher Fachrichtung, vom Profi bis zum Laien. In einem ersten Teil wagen prominente Vertreter der TEM Blitzlichter, um den Stand und die Möglichkeiten aus ihrer Warte zu beleuchten. In einem zweiten Abschnitt reflektieren anerkannte Vertreter verschiedene Facetten der TEM, wobei die unterschiedlichsten Sparten (also auch Kinderheilkunde, Massage, gesunde Bewegung etc. und nicht nur die Heilpflanzenkunde) zur Sprache kommen. Im dritten Kapitel geht es um zentrale Einsatzfelder der TEM in der Therapie, im ärztlichen Bereich, im eigenen Haus, in der Apotheke und schließlich im Bereich von Kurzentren sowie Kliniken. Abgerundet wird der Band durch einen vierten Block, der sich Kontexten der TEM widmet etwa Genderfrage, Regionalität sowie gesundheitspolitische Herausforderungen in Europa und weltweit.

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Steinmetz Karl-Heinz Hutter Louis

Traditionelle Europäische Medizin im Aufwind

Standortbestimmungen und Zukunftsperspektiven der TEM/TEN

Impressum

Haftung: Alle Angaben in diesem Buch basieren auf sorgfältiger Auswertung der Recherchen und Erfahrungen der Autoren und Autorinnen. Weder die Verfasser und Verfasserinnen noch der Verlag können für Angaben über Dosis und Wirkung Gewähr übernehmen. Es bleibt in der alleinigen Verantwortung der Leserinnen und Leser, diese Angaben einer eigenen Prüfung zu unterziehen. Auf die geltenden gesetzlichen Bestimmungen wird ausdrücklich hingewiesen.

Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, der Übersetzung, des Vortrags, der Radio-und Fernsehsendung und der Verfilmung sowie jeder Art der fotomechanischen Wiedergabe, der Telefonübertragung und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen und Verwendung in Computerprogrammen, auch auszugsweise, sind vorbehalten. Die Nutzung im Rahmen von Lehrveranstaltungen, Vorträgen und Publikationen ist auszugsweise unter Angabe der Quelle (Autoren und Autorinnen, Titel) erlaubt und erwünscht. Jede weitergehende Nutzung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen bedarf der schriftlichen Genehmigung der Autoren und Autorinnen. (Anfrage unter [email protected])

© Bacopa Verlag

4521 Schiedlberg/Austria

Telefon: +43(0)7251-22235

E-Mail: [email protected], [email protected]

www.bacopa-verlag.at/ www.bacopa.at

Cover: Christiana König

Layout und Satz: Christiana König

ISBN: 9783991140863

1. Auflage 2024

Inhalt

Impressum

Einleitung

Blitzlichter

Traditionelle Europäische Medizin (TEM) – Eine Standortbestimmung

Paracelsus und die Wurzeln abendländischer Heilkunst

Facetten

Wo die TEM Knospen treibt – Gemmotherapie und Traditionelle Europäische Medizin

Kunst der Hand – Skizze zu manuellen Verfahren der TEM

Zyklus der Frauenheilkunst – ausgewählte Perioden der Gynäkologie in der TEM

Nutrisophie – Skizze zur Ernährungslehre der TEM

Dem Wohle des Patienten verpflichtet – die Phytotherapie der TEM

Kinder in der TEN/TEM

Konstitutionsmedizin – Ein zentrales Konzept in der TEN-Praxis

Einsatzfelder

Die TEN in der Schweiz – Vom Birchermüesli zum eidgenössisch diplomierten Naturheilpraktiker

TEM in der Pflege – ein Erfahrungsbericht und Ausblick

Das Herz ist der Brückenkopf – TEM im Wellness- und Spa-Bereich

Die Traditionelle Europäische Medizin in den heutigen Apotheken

Mein Weg zum glücklichen TEM-Arzt – ein Essay

Kontexte

Traditionelle Europäische Medizin und die Volksheilkunde – eine Betrachtung aus kulturanthropologischer Sicht

Welches gesundheitspolitische Gewicht hat die TEM?

Gesundheitspädagogische Konzepte von Frauen in der TEM

Italien und die Mediterrane Traditionelle Europäische Medizin (MTEM)

TEM soll zusammenwachsen, sich harmonisieren und professionalisieren – ein Aufruf

Traditionelle Persische Medizin zwischen ḥukamā’ und heutigem klinischen Einsatz – Skizze eines Wissens- und Praxistransfers

Über die Autoren und Autorinnen

Weitere Bücher zum Thema TEN – Traditionelle Europäische Naturheilkunde

Endnoten

Facta et dicta memorabilia, um 1470, Ms. Dep. Breslau 2/2, f. 244, Digitalisat Archiv InstiTEM, Fotocredit: Staatsbibliothek Berlin

Einleitung

von den Herausgebern Karl-Heinz Steinmetz und Louis Hutter

Wenn man in einer beliebigen europäischen Großstadt Passanten befragt, ob sie schon mal etwas von TCM oder Ayurveda gehört haben, dann begegnet einem in erster Linie Zustimmung. Zwar wird man in den wenigsten Fällen tieferes Wissen erfragen können, aber ein bisschen „Akupunktur“ oder „Kochen nach den fünf Wandlungsphasen“ aus China beziehungsweise „Stirnölguss“ und die „drei Doshas“ aus Indien haben viele schon gehört. Ein ganz anderes Bild zeigt sich, wenn man nach der TEM, der Traditionellen Europäischen Medizin, oder nach der TEN, der Traditionellen Europäischen Naturheilkunde (wie sie in der Schweiz und von einigen Autoren bevorzugt genannt wird) fragt. Viele Menschen haben buchstäblich noch nie etwas davon gehört, was kein Wunder ist, da das Thema in den Massenmedien bisher kaum präsent ist.

Etwas anders schaut es innerhalb der Gesundheitsszene aus, und bei Menschen, die sich dezidiert mit der Integrativmedizin beschäftigen. Hier gilt die TEM schon seit Langem als Geheimtipp, ganz nach dem Motto „warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah“. Von der breiten Masse beinahe unbemerkt ist die TEM inzwischen, als jüngste Neuentdeckung der traditionellen Medizin, erwachsen und flügge geworden. In den letzten Jahrzehnten wurde gerade auch durch Bücher des Bacopa-Verlags Pionierarbeit geleistet. Die TEM ist definitiv zurück: Heilpraktiker, Ärzte, Masseure, Apotheker und Hebammen greifen das Thema auf. In der Schweiz, in Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich, Tschechien und weiteren Ländern sind Vereine, Akademien, Institute, Zentren und Projekte entstanden oder beginnen gerade, sich zu formieren.

Die TEM steht derzeit an einer wichtigen Schwelle: Sie beginnt sich gesamteuropäisch aufzustellen. Im Bild gesprochen könnte man sagen, es sei inzwischen eine gewisse Thermik entstanden und die TEM befände sich im Aufwind. Deutlicher Ausdruck dafür ist, dass unter dem programmatischen Namen „TEM-Forum“ eine Gruppe von TEM-Begeisterten sich gerade vernetzt, um einen Prozess anzustoßen, in dessen Verlauf ein gesamteuropäischer Dachverband entstehen soll. Die beiden Herausgeber sind die Initiatoren dieses Prozesses und haben sich daher vorgenommen, zusammen mit dem Bacopa-Verlag eine Standortbestimmung vorzunehmen und vor allem auch Zukunftsperspektiven auszuloten.

Dabei zeigt der vorliegende Sammelband auf den ersten Blick, dass eine gemeinsame TEM erst langsam Gestalt annimmt und noch viele Schritte aufeinander zu gegangen werden müssen. Die unterschiedlichen Autoren dieses Bandes kommen aus verschiedenen Richtungen, Berufsfeldern, Traditionen und Interessenslagen. Die Herausgeber haben sich gerade dieser Vielfalt wegen bewusst dafür entschieden, die Differenzen nicht einzuebnen, sondern stehen zu lassen und sogar eigens sichtbar zu machen – nicht nur bei der Frage der gendergerechten Sprache, die jede Autorin und jeder Autor eigenverantwortlich handhaben durfte, sondern auch bezüglich der Frage nach Literaturangaben, Bildern, des Schreibstils oder des spezifischen Zugriffs aufs Thema. Der Band versammelt sehr unterschiedliche Beiträge – vom persönlichen, essayistischen Text bis hin zum regelrechten Fachartikel.

Die Texte sind, unbeschadet ihrer Buntheit, nach einem klaren Schema geordnet, und der aufmerksame Leser wird schnell entdecken, dass es tatsächlich eine organische Gesamtgestalt der TEM gibt, die immer wieder deutlich hervorblitzt.

Im ersten Teil wagen zwei prominente Vertreter der TEM Blitzlichter, um das Thema aus ihrer individuellen Warte zu beleuchten. Im zweiten Abschnitt reflektieren dann sowohl anerkannte als auch bisher unbekannte Vertreter verschiedene therapeutische Facetten der TEM, wobei die unterschiedlichsten Sparten (Kinderheilkunde, Massage, Frauenheilkunde, Heilpflanzentherapie, Gemmotherapie etc.) zur Sprache kommen. Im dritten Kapitel geht es dann um zentrale Einsatzfelder der TEM – im ärztlichen Bereich, auf der Pflegestation, in der Apotheke oder im Bereich von Kurzentren. Abgerundet wird der Band durch einen vierten Block, der sich den mannigfachen Kontexten der TEM widmet: der Frage nach der Volksheilkunde, der Genderfrage, der Regionalität (Stichwort „Mediterraner Raum“) sowie den diversen gesundheitspolitischen Herausforderungen in Europa und weltweit, weswegen auch ein Gastbeitrag aus der Traditionellen Persischen Medizin (als einer Schwester der TEM) mit aufgenommen wurde.

Die beiden Herausgeber wünschen dem Leser zunächst ein Lesevergnügen bei der Lektüre dieses inspirierenden Bandes, dann spannende Einsichten und Durchblicke in Sachen TEM, und laden schließlich dazu ein, mitzuwirken beim Projekt, das Profil der TEM weiter zu schärfen und in der Öffentlichkeit breit bekannt zu machen – damit die TEM endlich ihren unverzichtbaren Beitrag zur Gesundheitssorge leisten kann.

Kauterien und Schröpfgläser, Archiv InstiTEM

Blitzlichter

Traditionelle Europäische Medizin (TEM) – Eine Standortbestimmung

von Arnold Mayer

„Es kann ein Arzt schulgerecht (Anmerkung AM: im Sinne von fachgerecht) physikalisch-diätetisch (Anmerkung AM: d.h. mit Naturheilverfahren) behandeln, ohne von Naturheilkunde das mindeste zu verstehen. Es ist also nicht die Methodik, welche die Naturheilkunde kennzeichnet.“1

Dieses Zitat aus einem Werk von Alfred Brauchle umreißt sehr treffend, worum es sich bei TEM handelt und was eben keine TEM darstellt. Die Anwendung von Naturheilmitteln und Naturheilverfahren ist nicht zwangsläufig eine Behandlung nach den der TEM. Bei Naturheilverfahren handelt es sich um therapeutische Methoden, und diese lassen sich auch unter den Vorgaben der klinischen Medizin anwenden. Was also macht hier den Unterschied? Die TEM und ihre praktische therapeutische Umsetzung beruht auf feststehenden Paradigmen und Prämissen, die deutlich von der modernen Variante der Medizin abweichen. Der Begriff der „Naturheilkunde“ wird in der TEM also nicht im modernen Sinne, als Anwendung von Heilmitteln aus der Natur, interpretiert. Vielmehr wird hier der Terminus in seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden. „Natur“ bedeutet im lateinischen Wortsinn das innerste Wesen. Naturheilung ist demnach eine Heilung, welche vom innersten Wesen eines Organismus ausgeht.

Wichtige Grundelemente der TEM sind:

1. Die Heilung geht primär vom Organismus selbst aus: Jeder Organismus ist dazu befähigt Störungen der physiologischen Funktionen selbst zu beheben. Er besitzt die Fähigkeit sich aktiv gegen schädliche Einflüsse der Außenwelt abzuschirmen und geschädigte Gewebe zu regenerieren oder Funktionsabweichungen wieder in ein neues physiologisches Gleichgewicht zu bringen. Medicus curat, natura sanat! Diese Fähigkeit beruht auf der vis medicatrix naturae (Naturheilkraft); sie greift regulierend ein, wenn Störungen der Physiologie drohen oder bereits eingetreten sind. Die Naturheilkraft hat nicht nur die Aufgabe Krankheiten im Sinne der Selbstheilungskraft zu beheben, sie ist auch dazu befähigt die Gesundheit aufrechtzuerhalten.

Die Naturheilkraft stellt nun aber keine gesonderte Fähigkeit lebendiger Wesen dar; sie ist vielmehr identisch mit der Lebenskraft (vis vitalis). Letztere hat die Aufgabe, permanent die vitalen Prozesse im Organismus zu regulieren und in Gang zu halten. Zugleich ist sie zuständig für eine sinnvolle Interaktion zwischen Innenwelt (Organismus, Stoffwechselsystem) und Außenwelt.

Diese Prämisse führt zum logischen Schluss, dass Gesunderhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit eine Leistung der täglichen Lebensführung sind. Die tägliche Aktivität der Lebenskraft ist die Kraftquelle für die Leistungsfähigkeit der Naturheilkraft. Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sondern durch den Lebenswandel – so lautet die dazu passende Ermahnung von Sebastian Kneipp. Gesundheit und Krankheit werden maßgeblich von der täglichen Interaktion des Menschen mit seiner Lebensumwelt und seiner allgemeinen Lebensführung bestimmt. Deshalb stellt die diaita (Lebensordnung) ein Kernelement jeder Behandlung in der TEM dar. Das alleinige Verabreichen von Arzneimitteln zur Beseitigung der Symptomatik dagegen ist lediglich eine Fortsetzung der klinischen Medizin mit anderen Mitteln.

2. Die Gesundheitsfähigkeit, das heißt die Befähigung zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung eines gesunden Zustandes von Körper und Geist, wird bestimmt durch die sogenannten res (= Ursachen). Diese Ursachen für Gesundheit und Krankheit werden in drei Gruppen eingeteilt. Die angeborenen Faktoren für Gesundheit und Krankheit, die Faktoren, die sich aus den Lebensumständen ergeben, und die Faktoren, die als schädliche Impulse zwangsläufig schädigend auf den Organismus wirken.

Die angeborenen Faktoren (res naturales) bilden die genotypischen Grundlagen aller Fähigkeiten des Individuums, bezogen auf die Strukturen und Funktionen des Körpers sowie des Geistes. Sie bilden die Basis der Gesundheitsfähigkeit. Zuoberst stehen hier die spiritus (Lebensgeister) welchen die organisierenden Kräfte darstellen und die Ursache für alle Funktionen sind. Die spiritus entsprechen in etwa dem Konzept des Chi in der TCM. Sie bilden die organisierende Grundstruktur und sind deshalb von besonderer Bedeutung in allen diagnostischen und therapeutischen Überlegungen. Die TEM postuliert drei spiritus von besonderer Bedeutung. Diese regulieren im Zusammenspiel den gesamten Organismus und stellen in der Summe die Lebenskraft dar. Die Lebenskraft und die daraus hervorgehende Naturheilkraft sind also nichts anderes als die Aktivitäten dieser drei spiritus. Der spiritus naturalis hat seinen Sitz in der Leber und reguliert die grundlegenden Stoffwechselfunktionen. Der spiritus vitalis hat seinen Sitz im Herzen und reguliert Rhythmus und Dynamik im Körper. Der spiritus animalis hat seinen Sitz im Gehirn und ist zuständig für die Leistungen des Nervensystems, für die innere Vernetzung des Organismus und die Interaktion zwischen Innenwelt und Außenwelt.

Weitere res naturales sind die Elementarkräfte warm, kalt, feucht, trocken. Aus ihren Mischungen leiten sich die Funktionsprinzipien des Körpers ab: sanguis (feucht-warm), chole (warm-trocken), phlegma (kalt-feucht), melanchole (trocken-kalt). Das Verhältnis dieser Kräfte zueinander bestimmt das angeborene und unveränderliche Temperament eines Menschen. In ihm sind alle funktionellen und strukturellen Freiheitsgrade und Beschränkungen verankert.

Die res non naturales sind modifizierende Faktoren, die nicht angeboren sind. Es handelt sich hierbei um Einflüsse der Lebensführung und Lebensumstände. Die res non naturales können stärkend oder schwächend auf die angeborene Natur einwirken. Sie sind deshalb von besonderer therapeutischer Bedeutung, da sich mit ihrer Hilfe die Selbstheilungskräfte stärken lassen.

Die res contra naturam schließlich sind pathogen wirkenden Außeneinflüsse, wie physikalische und chemischen Noxen, Viren, Bakterien, Pilze. Gegen die Schädlichkeit dieser gesundheitswidrigen Kräfte bildet das System der res non naturales einen Schutzschild.

3. Eine TEM-Therapie erfolgt nicht schematisiert analog zu einer vorliegenden Indikation; sie hat sich individualisiert am jeweiligen erkrankten Menschen zu orientieren. Es wird also nicht nach einer Beseitigung der Krankheit gesucht, sondern es wird die Wiederherstellung und Stärkung der Gesundheit angestrebt. Nach den oben dargestellten Prämissen sind alle Krankheiten ein individuell zu betrachtendes Problem. Das klinische Konzept des Goldstandards in der Therapie einer Erkrankung ist mit dem Konzept der TEM nicht vereinbar. Therapiehandbücher der TEM können deshalb nicht nach Krankheitsbildern der klinischen Medizin aufgebaut werden. Sie müssen sich vielmehr an unterschiedlichen Konfigurationen eines entgleisten Organismus orientieren.

Diese Basisannahmen stellen also den Unterschied dar – zwischen einer Naturheilkunde im Sinne der TEM und einer bloßen Anwendung von Naturheilverfahren. Dabei ist der Vitalismus, also die Annahme der Existenz einer Lebenskraft als Grundlage für Leben und Heilung, von zentraler Bedeutung. Therapiekonzepte, welche die drei zentralen spiritus nicht berücksichtigen, sind deshalb nicht gemäß dem State of the Art der TEM.

Diagnostische und therapeutische Konzepte können folglich nur unter Beachtung der oben beschriebenen Prämissen in die TEM integriert werden. Es scheint also nicht legitim, ein beliebiges Naturheilverfahren einfach zum Bestandteil der TEM zu erklären. Hierfür muss das therapeutische oder diagnostische Verfahren dem Grundkonzept der TEM angepasst werden. Das Verfahren muss im wörtlichen Sinne „assimiliert“ werden, um Teil des Gesamtkonzeptes der TEM zu werden.

Die TEM muss, zudem, heute nicht neu erfunden werden, denn sie existiert bereits seit Jahrhunderten. Sie muss weitergelebt und weiterentwickelt (aber eben nicht „vergewaltigt“) werden. Hierfür ist es unabdingbar, sich intensiv mit den Grundwerken der TEM zu befassen und deren Grundkonzepte dann für den Einsatz in der modernen Praxis zu übertragen. Die Entwicklung von diagnostischen oder therapeutischen Konzepten, welche mehr der eigenen Phantasie als den überlieferten Grundlagen entspringen, sind weder sinnvoll noch authentisch. Die Werke von Hippokrates, Galen, Avicenna, der Schule von Salerno, Montpellier etc. müssen der Orientierungspunkt sein. Damalige Irrtümer und Fehleinschätzungen gilt es natürlich zu korrigieren, aber eine Ignorierung dieser Fundamente der TEM würde die Traditionellen Europäischen Medizin ad absurdum führen.

Diese Problematik sei kurz an einem Beispiel dargestellt: Ein Patient mit akutem Gelenkrheuma wird in einer TEM-Praxis als Patient mit einer durch Gelbgalle ausgelösten Entzündung dieses Gelenkes behandelt. Es wird außerdem das Vorhandensein einer gelbgalligen Schärfe diagnostiziert. Der Patient selbst wird als ein Cholero-Melancholiker bestimmt. Die Verordnung von beispielsweise Rhus toxicodendron D6 stellt nun zwar die Anwendung eines Naturheilverfahrens dar, ist aber sicher keine Therapie im Sinne der TEM. Es stellt sich die Frage, wozu der ganze Wust an humoralmedizinischer Nomenklatur dienen soll, wenn am Ende des Tages dieselbe Therapie steht, die in jeder anderen naturheilkundlichen Praxis auch angewendet wird. TEM hat nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn deren diagnostisches und therapeutisches Konzept zu einem „alternativen“, will sagen individualisierten Therapieansatz führt.

Hierzu muss das Grundkonzept von „Rheuma“ in der TEM betrachtet werden – beginnend beim spiritus naturalis der Leber und der damit verbundenen Funktionen von Verdauung und Elimination. Es sind ferner die Faktoren der res naturales und non naturales zu berücksichtigen. Die Arzneimittelauswahl muss sich an der individuellen Entgleisung der Kräfteverhältnisse von warm, kalt, feucht und trocken orientieren. Mit dieser Vorgehensweise kommt man zu einem völlig anderen und komplexeren Therapieplan. Das ist die wahre Stärke der TEM.

Joachim Broy hat es auf den Punkt gebracht, als er im Unterricht gefragt wurde, wie man denn Rheuma behandelt: „Wie man Rheuma behandelt, davon habe ich keine Ahnung. Aber wenn mal der Herr XY mit Rheuma in meine Praxis kommt, dann werde ich genau wissen, wie ich Herrn XY behandeln muss.“2

Die Pharmakologie der TEM baut selbstverständlich ebenfalls auf den genannten Prämissen auf. Die Wirkungen von Arzneien werden zunächst anhand der Elementarqualitäten beschrieben. Eine Arznei kann warm, kalt, feucht und trocken wirken. Dabei sind meist Mischungen zwischen den aktiven Qualitäten (warm, kalt) und den passiven Qualitäten (feucht, trocken) zu beobachten. Bei der Betrachtung traditionellen Pharmakodynamik (Lehre der Wirkentfaltung von Arzneistoffen im Organismus) wird nochmals die starke Individualisierung in der TEM deutlich. Die Qualitäten beschreiben nämlich nicht per se den direkten Charakter einer Arznei, sondern die Reaktion des Körpers auf die Arznei. In der Theorie der TEM wirken die Elemente (Feuer, Wasser, Luft, Erde) über ihre Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) auf den Körper ein, sie gehen dabei aber nicht in den Organismus über. Ein warmes Mittel ist nicht deshalb warm, weil es auf direktem Weg Wärme in den Organismus trägt. Die Wärmebildung ist dabei eine Reaktion des Körpers auf die Arznei. Der Körper reagiert auch nicht immer analog auf eine Substanz. Das heißt, ein Mittel kann auch entgegengesetzte Reaktionen im Körper hervorbringen. Ein kühlendes Mittel wirkt zunächst immer kühlend; in der Gegenreaktion kann es aber zu einer reaktiven Erwärmung kommen. Eine solche Sekundärwirkung kennt man beispielsweise vom Kneipp‘schen Guss. Das kalte Wasser führt nach dem Guss zur nachhaltigen Durchwärmung des Körpers.

Der Grad der Arzneimittelwirkung gibt nicht an, wie warm, kalt, feucht oder trocken die Substanz selbst ist, sondern wie intensiv die Reaktion des Körpers bei der Metabolisierung der Substanz vom Normalzustand der Physiologie abweicht. In der Arzneitherapie liegt der Fokus nicht allein auf der Arzneisubstanz und ihren Effekten, sondern gleichermaßen auf den individuellen Stoffwechselgegebenheiten des jeweiligen Menschen. Ein und dieselbe Substanz kann bei den unterschiedlichen Temperamenten stark variierende Wirkungen entfalten. Dies gilt auch für die unterschiedlichen Altersgruppen, das Geschlecht, die aktuelle Tages- und Jahreszeit, der individuelle Zustand von Gesundheit und Krankheit; all diese Faktoren beeinflussen die Wirkentfaltung der Arzneien.

Für die Beurteilung der Arzneiwirkung, respektive die Eingruppierung in die Qualitäten und deren Intensität (Grad), liefern die Quellen dezidierte Vorgaben. Es ist nun aber eine Verfälschung der TEM, wenn eine Arznei behelfsweise gemäß der Literatur der chinesischen Medizin eingruppiert wird, nur weil in der europäischen oder arabischen Literatur keine Wirkangaben zu den fraglichen Mitteln überliefert sind. Ebenso fragwürdig ist es, wenn in modernen Werken auf eine Qualitätenangabe verzichtet wird, da eine entsprechende Eingruppierung in alten Werken nicht zu finden ist. Man müsste hier vielmehr eine Einschätzung der Arzneiwirkung im Konsens von anerkannten TEM-Experten vornehmen.

Und um zum Schluss nochmals auf den Konnex von Krankheit und Lebensordnung gemäß der TEM sprechen zu kommen, sei Hippokrates als einer der normativen Gestalten der TEM im Sinne eines Schlusswortes zitiert: „Krankheiten überfallen den Menschen nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern sind die Folgen fortgesetzter Fehler wider die (eigene) Natur.“3

Wegwarte (Cichorium intybus) - Foto von Louis Hutter

Paracelsus und die Wurzeln abendländischer Heilkunst

von Olaf Rippe

Der Gebrauch von Heilpflanzen zu rituellen und heilkundlichen Zwecken war mit Sicherheit bereits dem Neandertaler bekannt, wie archäologische Funde belegen. Doch die genaue Weltsicht unserer Urahnen und ihre Vorstellungen von Krankheit und Heilung können wir nur vermuten. Selbst bei schriftlichen Zeugnissen aus historischer Zeit, sei es aus Ägypten oder der Antike, müssen wir davon ausgehen, dass damals eine Weltvorstellung die Heilkunst geprägt hat, die uns heute weitgehend fremd und unverständlich ist. Der Blick in die Vergangenheit wird umso unschärfer, je mehr wir unsere heutige Begrifflichkeit von Krankheit und Heilung als Maßstab nehmen, um die Ursprünge einordnen zu können. Denn eins ist sicher: unser materialistisches Verständnis von Krankheiten war unseren Vorfahren unbekannt.

Ist das alte Wissen deswegen aber heute entbehrlich oder sogar falsch? Je länger man sich mit dem Thema befasst, desto mehr lautet die Antwort: Nein! Ganz im Gegenteil birgt gerade die Verknüpfung unterschiedlicher Weltvorstellungen, auch wenn sie vergangen sind, die Möglichkeit zu neuen Erkenntnissen; doch dazu braucht es Offenheit, Respekt vor den alten Meistern und etwas mehr Demut. Wir mögen technisch viel erreicht haben, wir werden heute älter denn je und wir sind den Elementarkräften nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert wie damals; doch im metaphysischen Sinne sind wir nicht unbedingt sehr weit gekommen. Hier können wir viel von der Weisheit unserer Ahnen lernen.

Im Geiste des Paracelsus

Im Jahre 1993 gründeten mein Lehrer Max Amann (1932–2022), meine Frau Margret Madejsky und ich die Arbeitsgemeinschaft Natura Naturans mit dem Zusatz: Traditionelle Abendländische Medizin, kurz TAM. Zu dieser Zeit gab es einen regelrechten Boom von TCM und Ayurveda. Die Aufmerksamkeit wandte sich nicht ohne Grund nach Osten, kennzeichnet doch beide Medizinsysteme die große Achtung gegenüber den traditionellen Überlieferungen, die philosophischen Grundlagen und die gelungene Einbettung in das moderne Medizinsystem der jeweiligen Kulturen. Dem wollten wir mit der TAM etwas Gleichwertiges entgegensetzen.

Im Westen ist man bei diesem Thema nämlich ziemlich gespalten: Die Naturheilkunde hat zwar bis heute zahlreiche Anhänger und ist sicher ein tragender Bestandteil des Medizinsystems, doch ist sie eher pragmatisch ausgerichtet. Vielen Therapeuten geht es weniger um Philosophie, sondern mehr um eine erfolgreiche Methodik. Erschwerend kommt die allgemeine Ignoranz der vorherrschenden universitären Medizin hinzu und die immer wieder erlebte Konkurrenzsituation. Statt eines Miteinanders zum Wohle der Patienten gibt es eher ein Gegeneinander, und dies sogar unter den Anhängern der Naturheilkunde selbst. Ein untragbarer Zustand, dem wir mit unserer Arbeit etwas entgegensetzen möchten.

Im Gründungsjahr von Natura Naturans feierten wir den 500. Geburtstag des Paracelsus (1493–1541). Seiner Weltvorstellung und Heilkunst fühlen wir uns auf besondere Weise verpflichtet. Wir erforschten sein Werk, richteten unsere Seminare auf dieses Wissen aus und schrieben Bücher in seinem Geist. Heute freuen wir uns, dass aus unseren Samen der TAM und Paracelsusmedizin so viele Früchte gewachsen sind.

Paracelsus ist für uns der eigentliche Schnittpunkt der verschiedenen Strömungen in der abendländischen Medizin. In seinem Werk hat er einerseits das bis zu seiner Zeit tradierte Wissen integriert, andererseits aber auch visionär in die Zukunft geschaut. Mit seinen Ideen zu Berufskrankheiten, Stoffwechselerkrankungen, psychischen Leiden oder Infektionen war er definitiv seiner Zeit um Jahrhunderte voraus. Paracelsus, den man auch gerne als „Luther der Medizin“ bezeichnet, war nicht nur ein begnadeter Therapeut; er war auch Philosoph, Okkultist, Naturforscher, Anthropologe, Alchimist, Pharmazeut, Astrologe, Psychologe, ein Kritiker und Reformator der Medizin; und er war ein Laientheologe, der das Heilen als ein Wirken im Namen Gottes verstand.

Er selbst nannte als Quelle seines Wissens das einfache Volk, aber auch die Kabbala oder Hermes Trismegistos, womit er sich in die Tradition der altägyptischen Priesterärzte stellte. Natürlich hatte er auch Lehrer, denn er studierte in Ferrara Medizin. Seinen Vater erwähnte er in diesem Zusammenhang besonders. Dieser war in den Diensten der Fugger als Arzt und Alchimist tätig, und von ihm lernte er nicht nur die Heilkunde, sondern auch die Scheidekunst, die er als Grundlage zur Herstellung hochwertiger Arzneien nutzen sollte. Sein Wissen schrieb er in seinem kurzen Leben auf Tausenden von Seiten nieder – noch ein Aspekt, in dem er alle seine Zeitgenossen übertraf.

Allein sein Zorn – er selbst sagte von sich, Mars hätte ihn vergiftet –, aber auch sein renitenter und unangepasster Charakter, verhinderten zu Lebzeiten den durchschlagenden Erfolg. Berühmt wurde er dennoch.

Was Paracelsus auszeichnet, ist die Integration unterschiedlicher Vorstellungen aus verschiedenen Kulturen und Epochen sowie ein visionärer offener Geist, frei von jedem Dogma. Durch diese Geisteshaltung kommt es zwangsläufig zu einem Synergismus, der altbekannte Zusammenhänge neu denken lässt. Im Wesentlichen lassen sich dabei drei unterschiedliche Weltvorstellungen finden, die er in sein Werk integrierte und aus der sich letztlich die Moderne Medizin als vierte Säule der Medizin entwickeln sollte.

Die Magische Medizin

Den Ursprung der Heilkunde kann man am besten als „Magische Medizin“ bezeichnen. Für unsere Urahnen galt die Natur als beseelt. Die Schöpfung empfand man als Ausdruck des Wirkens höherer, göttlicher Bewusstseinsebenen. Nichts war ohne Sinn, alles stand zueinander in Beziehung und der Mensch verstand sich als Teil der Schöpfung, die er als gleichwertig wahrnahm und der er sich nicht gegenüberstellte, was einem Tabubruch gleichgekommen wäre.

Die Welt war voller Geister, Elementarwesen und Wunder, die gütig, aber auch gewaltig und unberechenbar sein konnten. Gut und Böse waren ambivalente Vorstellungen und gleichsam „unbekannt“. Die Natur war in einem steten Wandlungsprozess begriffen, in dem sich auch Menschen in Tiere oder Pflanzen verwandeln konnten und umgekehrt, und in der sich der Mensch als Kind der Bäume sah. Mythen, Märchen und Sagen erzählen noch heute von diesem alten Wissen; oder wer es literarischer möchte, der könnte die Metamorphosen des römischen Dichters Ovid lesen.

In dieser Zeit war rituelles Heilen ein wesentlicher Vollzug, um die Verbundenheit zur Schöpfung immer wieder zu erneuern. Krankheiten waren das Wirken unsichtbarer Mächte, oder sie entstanden durch Zauberei. Entsprechend waren die Heilwege voller Magie. In dieser mythischen Welt hatte der Mensch unsichtbare Begleiter, und auch die Pflanzen oder andere Naturobjekte galten als Träger magischer Kräfte und als von Geistern beseelt. Die Natur hatte Augen und Ohren, sie konnte sehen, sprechen und uns Menschen zuhören.

Das richtige Heilmittel erkannte man an seinen Signaturen. So wie wir den Charakter eines Menschen von seinen Gesichtszügen, seiner Gestik oder anderen Körpermerkmalen ableiten, so gilt das auch für Natursubstanzen, ganz besonders für Pflanzen, aber z.B. auch für Fossilien und Steinen, mit ihren jeweiligen Zeichnungen.

Heilmittel waren Nahrung für die Seele, die in der Krankheit aus dem inneren Kosmos gefallen war. In Rausch und Ekstase fand die Seele ihren Weg zur Heilung. Selbst Wundarzneien waren von guten Geistern beseelt, die den dunklen dämonischen Kräften Paroli bieten konnten. Das Johanniskraut war hier noch das Herrgottsblut, das die Wunden magisch heilte. Mit Amuletten, Beschwörungen, Räucherungen und allerlei Kräuterzauber betrieb man eine „sympathiemagische Heilkunst“. Schamanische Kulturen unserer Zeit, wie etwa in Südamerika, Afrika oder Nepal, vermitteln noch einen Eindruck, wie es möglicherweise gewesen sein könnte. In dieser Zeit wurden Heiler immer von den Geistern und Göttern auserwählt. Schulen oder ein Studium waren unbekannt. Lehrmeister war die Natur selbst, und die mündliche Überlieferung, die „Empirie der Ahnen“.

Wenn Paracelsus vom einfachen Volk sprach, dem er sein eigentliches Wissen verdankte, nämlich das Lesen der Signaturen im Buch der Natur, dann nahm er direkt Bezug auf diese magische Epoche. Er therapierte mit Amuletten und er kannte eine Magie mit Puppen, wie man sie bis heute im Voodoo kennt. Auch Elementarwesen waren ihm nicht fremd. In seiner Welt gab es Sylphen und Nymphen. Die Signaturenlehre bildete auch bei ihm den Weg der Heilmittelerkenntnis; einen Weg, den die Menschheit weltweit und zu allen Zeiten kannten. Die Signaturenlehre bietet auch heute noch eine erweiterte Erkenntnis vom Wesen einer Substanz und dessen Heilpotential. Die Anwendung der Signaturenlehre bedeutet übrigens nicht, auf das Wissen über Wirkstoffe zu verzichten.

Die hermetische Medizin

Der vielleicht größte kulturelle Umbruch der Menschheit ereignete sich, als aus Nomaden Bauern und Viehzüchter wurden. Es war der Beginn der Hochkulturen, in denen Götter dem Menschen das Wissen über Schrift und Zahl offenbarten, aber auch seine einzigartige Stellung zwischen Kosmos und Erde. Aus babylonischer Zeit, und später aus den altägyptischen Mysterienkulten, stammen die Vorstellungen, dass die Natur und damit auch der Mensch Träger kosmischer und okkulter Kräfte ist. Kosmos, Mensch und Natur standen in geheimer Beziehung zueinander. Im Rhythmus der Gestirne erkannte man Gesundheit und Krankheit. Dies könnte man auch als „hermetische Medizin“ bezeichnen.

Nun brauchte es nicht mehr allein eine göttliche Berufung zur Ausübung der Heilkunst, sondern sie konnte auch in Schulen gelehrt werden. Priesterärzte vermittelten zwischen Menschen und Götterwelt. Tempel wurden gebaut, den Göttern zu Ehren, die durch Maß und Zahl eine göttliche Harmonie zum Ausdruck brachten, und in denen der Mensch zu den Göttern Kontakt aufnahm.

Hier liegen auch die Wurzeln der Metallurgie, die wesentlich für das Verständnis der Alchimie sind. Gold galt den Ägyptern als Fleisch der Götter, und Silber als deren Knochen. Im Elektrum, einer Legierung aus Gold und Silber, sah man ein Ebenbild der göttlichen Vereinigung.

Es war die Geburtsstunde einer astrologischen, alchimistischen Sicht der Welt, und von Stoffen mit heilkundlichem Potenzial, die nur durch Menschenhand geschaffen werden konnten. Die reine Natur galt es zu überwinden, um das Göttliche zu erfahren. Aus dieser Zeit stammen die kosmologischen Ideen der Bezüge zwischen Metallen sowie Organe und den Planeten oder der Analogie des Menschen zum Tierkreis. Die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen, aber auch die Mondphasen, bilden Rhythmen, die Krankheit und Gesundheit entscheidend mitbestimmen. Die Sterne prägen den Charakter der Natursubstanzen, aber auch den des Menschen. In der Therapie gilt es, diese beiden Größen miteinander in Beziehung zu setzen.

Paracelsus stellte sich explizit in die Tradition des Hermes Trismegistos und er propagierte eine astrologische Medizin, ohne deren Kenntnisse sein Werk dem Uneingeweihten ein Geheimnis bleibt, wobei besonders die Metalle eine wesentliche Rolle spielen. Letztendlich ist im Sinne des Paracelsus der Mensch nur auf diese Weise sehend, und in einer entmystifizierten Welt entsprechend blind und taub. Sucht man heute nach den Erben dieses alten Wissens, so wird man vor allem in der Anthroposophischen Medizin fündig, die sich sehr auf Paracelsus bezieht, aber auch in der Alchimie und Spagyrik, wie sie von Paracelsisten bis heute gepflegt wird. Dass diese Weltsicht eher im kleinen Kreis weiter erforscht wird, sollte einen nicht verwundern, wenn man die Komplexität der Hermetik bedenkt. Wer es dennoch wagt, der wird reich beschenkt.

Die philosophische Medizin

Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der Geschichte ist die antike Kulturepoche zu Zeiten des Hippokrates. Aus den vier Wurzelkräften, den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, die in homerischer Zeit noch als göttlich wahrgenommen wurden, entwickelte Polybios, der Schwiegersohn des Hippokrates, das System der Vier Säfte, deren Mischung über Gesundheit und Krankheit entschied. Er nannte sie Schwarze Galle, Gelbe Galle, Blut und Schleim, und setzte sie mit den Elementen gleich, aus denen die Welt allein zusammengesetzt ist. Dieser Paradigmenwechsel ist einzigartig. Götter und Geister wurden in eine andere Welt verbannt; Krankheit wurde jetzt etwas materiell Fassbares. Es kam zu einem zuvor unbekannten Tabubruch – zum Bruch mit den Göttern.

Wenn Gesundheit einzig von den Elementenkräften abhängig ist, dann gibt es auch die Frage nach der Schuld, denn verantwortlich für die Disharmonie der Säfte waren ja nicht mehr die Geister, sondern etwas Substanzielles im Menschen selbst, und dieses galt es zu entfernen und auszugleichen. Man sprach daher von der materia peccans, der „schuldigen“ Materie – Gut und Böse hielten Einzug in die Medizin. Ein tugendhaftes Leben garantierte Gesundheit, Laster führten zur Krankheit.

Es war das Zeitalter der Philosophen und einer philosophischen Medizin, die noch heute weitgehend unsere Vorstellungen in der Medizin prägt. Auch die Heilwirkung einer Pflanze war nun ein logisch ableitbares Wirkprofil: zusammenziehend, befeuchtend, austrocknend oder erwärmend. Aus „zusammenziehend“ wurden schließlich Gerbstoffe und aus „erwärmend“ Scharfstoffe; es war der Ursprung einer reduktionistischen modernen Sicht auf die Welt.

Die Vorstellung von den Elementen war mehr als zwei Jahrtausende gültig, und sie ist in vielerlei Hinsicht geeignet, um die Heilkunde auf ein philosophisches Konzept aufzubauen. Ohne Kenntnis der Elemente bleibt vieles in der Medizingeschichte ein Geheimnis. Die Astrologie baut darauf, aber auch die Klostermedizin, die Humoralmedizin und damit die Naturheilkunde von heute; und natürlich die Alchimie und die Anthroposophische Medizin. Das ist die lichtvolle Seite. Die dunkle Seite entwickelte dieses System im ausgehenden Mittelalter durch eine dogmatische Engstirnigkeit, die keine anderen Ursachen mehr zuließ, und dies mit einer Auswirkung bis in die Neuzeit hinein. Die Realität weicht eben oft vom philosophischen Denkmodell ab, was die „Protagonisten der reinen Lehre“ nicht wahrhaben wollten. Erst Paracelsus und seine Schüler revoltierten dagegen, und so verwundert es nicht, dass viele Zeitgenossen sie der Ketzerei beschuldigten. Wie Paracelsus schrieb, landeten 21 seiner Schüler auf dem Scheiterhaufen; er selbst entkam oft nur mit viel Glück den Schergen der Macht. Seine Suche nach einer Verbindung aus Naturerkenntnis, Hermetik, Astrologie und Alchimie und damit nach einer erweiterten Sicht auf diese Welt, entsprach eben nicht dem Zeitgeist.

Vom Universalismus zum Reduktionismus

Als das römische Reich unterging, sich das Christentum mit Feuer und Schwert in Europa durchsetzte und Eiferer die alten „heidnischen“ Schriften verbrannten, da flohen viele Eingeweihte nach Arabien. Dort schätzte man ihr Wissen und es kam im Mittelalter zu einer noch nie gekannten Hochblüte der Medizin und mit ihr auch zu bahnbrechenden Entdeckungen in der Pharmazie. Im Westen herrschte dagegen in dieser Hinsicht eher Stillstand und allgemeiner Verfall. Durch spirituelle Strömungen im Christentum entwickelte sich jedoch im Abendland eine besondere Form der Mystik. Es war die Zeit der Gralsritter, die nach höherer Weihe suchten, und des Minnesangs. Später waren es die Rosenkreuzer-Bruderschaften, die das alte Mysterienwissen hüteten. Die Künste der antiken Ärzte verblasste zusehends und überlebte mehr schlecht als recht in der Klostermedizin. Aber auch hier gab es neue Strömungen, man denke nur an Hildegard von Bingen, deren Werke Paracelsus sehr zu schätzen wusste.

Als Folge der Kreuzzüge kam schließlich viel von dem alten Wissen zurück nach Europa. Universitäten entstanden und ein Apothekerwesen nach arabischem Vorbild. Mühevoll musste man griechische Texte durch die Vermittlung der arabischen Übersetzung ins Lateinische übertragen – die Antike erlebte dadurch ihre Renaissance. Angeregt durch die Schriften arabischer Ärzte und Alchimisten finden sich im ausgehenden Mittelalter dann Ursprünge der Iatrochemie, die Herstellung von Laborsubstanzen, die ganz durch Menschenhand geschaffen werden. In dieser Methodik war Paracelsus mit Sicherheit der Meister schlechthin. Seine Schriften zeigen seine große Könnerschaft hierin.

Er vertrat auch die These einer spezifischen und subtilen „Tugend“ in jeder Substanz, die man alchimistisch extrahieren sollte. Seine Schüler machten sich auf die Suche, doch es sollte noch einige Generationen dauern, bis man fündig wurde. Es ist eine Ironie der Medizingeschichte, dass praktisch zeitgleich Anfang des 19. Jahrhunderts zwei ganz unterschiedliche Entdeckungen geschahen. Der Apotheker Sertürner extrahierte den ersten Einzelwirkstoff der Medizingeschichte aus dem Opium und nannte ihn Morphium. Parallel entwickelte der Arzt Samuel Hahnemann durch das Studium der alten Schriften das Prinzip der Homöopathie. Er postulierte die Transmutation der Substanz durch Dynamisierung (Verdünnen und Verschütteln), um allein das Geistartige zur Wirkung zu bringen. Was beide miteinander verband war ihre rationale, „naturwissenschaftliche“ Grundhaltung und die Abwesenheit hermetischer Ideen – denn Astrologie, Signaturen, Elementarwesen oder Götter und Geister waren beiden fremd. Und doch kamen sie zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Scheinbar unversöhnlich stehen sich beide Ansichten bis heute gegenüber, dabei haben beide Ideen ihre Berechtigung, aber alles eben zu seiner Zeit und an seinem Platz.

Mit der Entdeckung Sertürners kam es zur Entstehung der reduktionistischen und vorerst letzten Säule der Medizin. Das Heilmittel ist nunmehr gänzlich auf etwas Stoffliches reduziert. Den Wirkstoff gilt es zu extrahieren, und wenn dies gelingt, kann man ihn vielleicht auch synthetisch erzeugen und modifizieren. Hatte Paracelsus dies mit Tugend in der Substanz gemeint? Ja und nein. Einerseits findet man im Wirkstoff ein wesentliches wirksames Prinzip; es bleibt jedoch die Frage, ob es nicht auch andere Ebenen von Wirkung geben kann.

Die Welt zerfällt heute in Einzelteile, die man bis ins Kleinste analysieren kann; der hermetische Blick für die universellen Gesetzmäßigkeiten gilt dabei als hinderlich und überholt. Paracelsus hingegen sprach von etwas Unsichtbarem, von der geläuterten Substanz, von einer Vollendung der Schöpfung durch alchimistische Kunstgriffe. Heilmittel konnten bei ihm sowohl substanziell als auch substanzlos sein. Je nach Krankheit nahm er mal dies, mal jenes. Die bedeutendsten Heilmittel, er nannte sie Arkana, waren für ihn aber ohne corpus und damit ohne Giftigkeit, wie sie typisch für ein wirkstofforientiertes Arzneimittel ist – und an diese Idee knüpfte Samuel Hahnemann an.

Für Paracelsus war der Labortisch zudem auch ein Altar, und das Heilen Ausdruck der Liebe, in der er die höchste Arznei sah. Dieser Geist ist heute rar geworden. So wurde aus dem alchimistischen Labor schließlich eine Industrie, und Konzerne bestimmen heute mit ihrem Profitstreben die Maximen des medizinischen Denkens und Handelns.

Die moderne Medizin kennt inzwischen die DNS, Gehirnströme, Viren und Bakterien. In vielerlei Hinsicht ist dies ein Zugewinn, auf den man nicht verzichten möchte, wenngleich der allgemeine Fortschritt auch zu Hiroschima und Auschwitz geführt hat, und sich nun daran macht, die DNS nach Gutdünken zu verändern. Götter und Geister existieren in dieser Welt nicht mehr. In diesem Sinne ist der moderne Mensch spirituell obdachlos geworden; allein in den unendlichen Weiten des Kosmos, ohne Orientierung und Hoffnung auf Erlösung. Der Arzt Bernhard Aschner, der die Schriften des Paracelsus neu herausbrachte, erkannte darin den Nihilismus in der modernen Medizin. Um diesen zu überwinden, sollte man die Schriften des Paracelsus studieren.

Abb.: Die Vier Säulen der Abendländischen Medizin

Abb.: Das Große Werk – Recueil de manuscits chymiques, Handschrift von 1760

Das Bild ist in horizontale und vertikale Bereiche eingeteilt, die alle miteinander verbunden sind. Im oberen Bereich, im Himmlischen und Geistigen, sehen wir die zwei Urelemente Wasser und Feuer und in ihrer Mitte Gott als großen Baumeister, der mit den Insignien Sense und Zirkel auch den Saturn als Hüter der Schwelle symbolisiert. Zu seinen Füßen sehen wir das Symbol für Sulfur als Phönix aus der Asche. Eine Ebene darunter, im mittleren und seelischen Bereich, finden wir unter dem Wasser die Mutter des Lebens Luna, und unter dem Feuer Sol als Vater des Lebens und als Ergebnis ihrer Vereinigung Merkur in ihrer Mitte. Somit ergeben sich sieben Bilder, die symbolisch für die fünf Wandelplaneten sowie Sonne und Mond stehen. Unterhalb von Merkur ist nun die Materie selbst dargestellt, zunächst einmal als Würfel, der das Feste oder das Sal-Prinzip verkörpert. Weiter sehen wir sieben Blumen, von denen eine jede einer kosmischen Kraft zugeordnet ist, also Sonne und Mond sowie den damals bekannten Wandelplaneten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Ihre Farben deuten ihren unterschiedlichen sulfurischen Charakter an (Sulfur ist der Brunnen der Farben, so Paracelsus), aber auch ihre potenziellen Heilkräfte, die man auf alchimistischem Wege freisetzt. Die Blumen sind in zwei Gruppen zu vier und drei Blumen geordnet, da sich alle wesentlichen okkulten Prinzipien auf diese beiden Zahlen beziehen: die vier Elemente und die drei Prinzipien; sie ergeben addiert die sieben kosmischen Kräfte; sie ergeben multipliziert die 12 Sternzeichen – und somit ist die Natur ein Spiegel kosmischer Kräfte. Insgesamt ist das Bild auch eine Anleitung, wie man aus dem Groben das Feine mittels Destillation oder ähnlichen Verfahren aufschließen kann.

Knospe des Schwarzen Johannisbeerstrauchs (Ribes nigrum) - Foto von Louis Hutter

Kurzmonographie:

Biotop: Erlengesellschaft.

Vorherrschende Gestirne: Venus, Merkur

Vorherrschende Elemente: Feuer, Luft

Humorale Wirkung: Warm 2, neutral; Kochungs- und Krisenfördernd; Übermässige Schwarzgalle, Gelbgalle, Schleim und Schärfen ausleitend; wärmt und öffnet Nieren, Milz, Leber und Lungen; stärkt das Sanguis; fördert die Spiritusverteilung; antiskrofulös; sthenisierend

Moderne Wirkung: regt Cortisolbildung an, entzündungshemmend, antiallergisch, harntreibend, immunmodulierend, adaptogen

Facetten

Wo die TEM Knospen treibt – Gemmotherapie und Traditionelle Europäische Medizin

von Louis Hutter

Nous sommes liés à la forêt par des liens étroits qui s‘objectivent parfaitement sur le plan macromoléculaire.

Wir sind eng mit dem Wald verbunden, was sich auf makromolekularer Ebene perfekt objektivieren lässt.

(Pol Henry, Gemmothérapie thérapeutique par les extraits embryonnaires, 124)

Der Kontext der Gemmotherapie

Dieser Artikel beleuchtet die Verbindung zwischen der Gemmotherapie und der Traditionellen Europäischen Medizin (TEM), indem ihr Ursprung im historischen Kontext der Medizingeschichte dargestellt und ihr Entwicklungsverlauf näher erläutert wird.

Im 20. Jahrhundert, eine Zeit des bedeutenden medizinischen Fortschritts, erregten zwei Forschungsergebnisse in der Medizin große Aufmerksamkeit und sind auch heute von Aktualität. Zum einen ist das die Untersuchungen des Arztes und Forschers Hans Selye (1907–1982) über die Reaktionen von Lebewesen auf innere und äußere Stressfaktoren und seine darauf basierende Formulierung des allgemeinen Adaptationssyndroms. Dieses beschreibt ein konsistentes Reaktionsmuster des Organismus auf langanhaltenden Stress. Zum anderen handelt es sich um das vom Soziologen und Forscher Aaron Antonovsky (1923–1994) in den 1970er Jahren entwickelte Konzept der Salutogenese. Hierbei liegt der Fokus auf der ständigen und komplexen Balance von Risiko- und Schutzfaktoren für die Gesundheit, wodurch Gesundheit nicht als fixer Zustand, sondern als ein sich ständig anpassendes Kontinuum verstanden wird.

In diese Ära fällt auch das Wirken des belgischen Arztes und Forschers Pol Henry (1918–1988), der als der „Vater der modernen Gemmotherapie“ bekannt ist. Zusammen mit seinem Team entdeckte er einen Zusammenhang zwischen der Abfolge des Waldsukzessionsprozesses4 und den Phasen eines Krankheits- und Genesungsverlaufes. Alle drei Konzepte zeichnen sich durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Medizin aus, der sich von der vorwiegend pathogenetischen Orientierung der damaligen Zeit unterscheidet.

Das von Hans Selye beschriebene allgemeine Adaptationssyndrom beschreibt ein grundlegendes, in drei Phasen (Alarmphase, Widerstandsphase, Erschöpfungsphase) verlaufendes Muster, das jeder Krankheitsentstehung vorausgeht. Die von Anton Antonovsky beschriebene Salutogenese fordert letztendlich eine Neuausrichtung des medizinischen Denkens, bei der die Gesundheit und nicht die Krankheit in den Mittelpunkt gerückt wird. Diese ermutigt die Menschen, aktiv an der Gestaltung ihres Wohlbefindens mitzuwirken. Die von Pol Henry praktizierte biologisch-analoge Methode konzentriert sich auf die zyklischen, genetisch determinierten Lebensprozesse. Die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten gelten sowohl für Gesundheit als auch für Krankheit und müssen notwendigerweise berücksichtigt werden.

Diese drei Konzepte zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht auf die endlose Spezifizierung und Unterteilung von Krankheiten und damit verbundenen Therapiemethoden konzentrieren, sondern vielmehr die Krankheit verallgemeinern, die naturgegebenen art- und individualspezifischen Bedürfnisse des Menschen in den Vordergrund rücken und damit der Allgemeinmedizin wieder mehr Beachtung zukommen lassen – und das in einer Zeit, wo die Spezialisierung in der Medizin Hochkonjunktur hatte.

Die Gemmotherapie und Pol Henrys biologisch-analoge Methode

Die Gemmotherapie ist in den frankophonen Ländern sowie in Italien seit vielen Jahrzehnten äußerst beliebt und erfreut sich mittlerweile in vielen anderen europäischen Ländern einer zunehmenden Bekanntheit. Diese Popularität verdankt sie vielfach Apotheken und Drogerien, die in ihren Broschüren die Selbstanwendung von Gemmomazeraten zur Linderung unkomplizierter Beschwerden für Laien propagieren. Diese Form der Gemmotherapie konzentriert sich auf die Behandlung von Symptomen und ist für den Eigengebrauch aufgrund ihrer Einfachheit gut geeignet. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Variante nicht den ursprünglichen Absichten von Pol Henry entspricht, der stets ein ganzheitliches Therapiesystem im Einklang mit den Naturgesetzen anstrebte.

Die Gemmotherapie hat sich im Laufe der Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt, von ihren Anfängen bis heute. Die Entwicklung der Gemmotherapie zeigt verschiedene Strömungen. Es gibt drei „klassische“ Linien, die bereits zu Lebzeiten von Pol Henry praktiziert wurden, sowie zwei „erweiterte“ Varianten der Gemmotherapie, die eine Verbindung zur traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und der traditionellen europäischen Medizin (TEM) unterhalten.

Die klassische Gemmotherapie umfasst daher:

• die biologisch-analoge Methode

• die klinische oder symptomorientierte Methode

• die Drainage-Methode

Die erweiterte Gemmotherapie beinhaltet zudem:

• die TCM-analoge Methode

• die TEM-analoge Methode

Die biologisch-analoge Methode, die von Pol Henry entwickelt wurde, basiert auf dem von ihm entdeckten Zusammenhang zwischen der Abfolge des Waldsukzessionsprozesses und den Phasen von Krankheiten. Diese Methode ist deutlich dynamischer als die beiden nachfolgend beschriebenen, und sie verknüpft wissenschaftliche Erkenntnisse mit einem analogen Ansatz, erfordert jedoch ein überdurchschnittliches Maß an Kenntnissen über die Natur und den menschlichen Körper, weshalb sie auch nicht so leicht von Laien praktiziert werden kann.

Die klinische Methode wählt die anzuwendenden Gemmomazerate basierend auf die Krankheitssymptome der Betroffenen und ist die am häufigsten praktizierte Form der Gemmotherapie.

Die Drainage-Methode hat schließlich das Ziel, Körpergewebe zu entschlacken und zu revitalisieren. Gemmomazerate erweisen sich nämlich in der Praxis als ausgezeichnete Drainagemittel für spezifische Gewebe.

Die erweiterte Gemmotherapie verknüpft die biologisch-analoge Methode mit den traditionellen Konzepten der TCM und TEM. Im Falle der TCM-analogen Methode gab François Ramakers (1944–2013) den Impuls; im Falle der TEM/TEN-analogen Methode kam der Impuls vom Naturheilpraktiker Louis Hutter und der Naturheilpraktikerin Christa Ganz, beide aus der Schweiz.

Pol Henrys biologisch-analoge Methode

Pol Henry, der sich sehr für Pflanzensoziologie und Traditionelle Heilsysteme (darunter speziell die Alchemie) interessierte, entdeckte gemeinsam mit seinem Forschungsteam einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen der Waldsukzessionsfolge und den Phasen von Krankheiten, die mit dem Verhalten von Serumproteinen in Korrelation standen. Dies untersuchte er mithilfe der Serumprotein-Elektrophorese. Infolgedessen erkannte er, dass Extrakte aus charakteristischen Pflanzen verschiedener Pflanzengesellschaften eine ausgleichende Wirkung auf spezifische Phasen von Krankheiten haben. Zusätzlich stellte sich heraus, dass die Kombination von Pflanzen aus der gleichen Gesellschaft einen synergistischen Effekt hat. Durch die genaue Analyse der im Blutserum enthaltenen Proteine konnte Pol Henry genau bestimmen, welche Pflanzengesellschaft mit welcher Krankheitsphase korreliert.

Schematische Darstellung der Korrelation von Bluteiweißen mit den Krankheitsphasen und der Waldsukzessionsfolge

Zum Beispiel ist im Akutstadium einer Krankheit, gekennzeichnet durch einen Anstieg der Alpha-1-Globuline im Blutserum, die korrespondierende Erlengesellschaft eine wichtige Quelle für Heilmittel. Diese Gesellschaft besteht charakteristischerweise aus Pflanzen wie der Schwarzerle, dem Faulbaum, der Grauweide, der Schwarzen Johannisbeere, der Gelben Schwertlilie, der Wasserminze und dem Wolfstrapp. Wenn die Krankheit in den subakuten Zustand übergeht, verlieren die Pflanzen der Erlengesellschaft an Effektivität, und stattdessen werden Pflanzen aus der Eichengesellschaft relevant. Dieses Prinzip gilt auch für andere Pflanzengesellschaften und ihre entsprechende Beziehung zu den Proteinen im Blutserum.

Die zentrale Idee hinter diesem Ansatz ist nicht die bloße Symptombekämpfung, sondern vielmehr die Unterstützung der körpereigenen Abwehr- und Adaptationskräfte während der jeweiligen Phase, in der sich der Betroffene unmittelbar befindet. Damit nimmt Pol Henry, ähnlich wie Hans Selye, eine übergeordnete Perspektive ein, die über die bloße Symptombehandlung hinausgeht und über phasenspezifische therapeutische Reize die Heterostase unterstützt.

Die TEM-analoge Methode