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In 'Tragödie im Palazzo Pavonazetti (Ein Venedig-Krimi)' von Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem wird der Leser in die malerische Kulisse Venedigs entführt, wo ein mysteriöser Mord im prächtigen Palazzo Pavonazetti die Ruhe und Harmonie der Stadt bedroht. Der Roman kombiniert geschickt Elemente des Kriminalromans mit einer liebevollen Beschreibung der venezianischen Atmosphäre, die von der Autorin meisterhaft eingefangen wird. Adlersfeld-Ballestrems präziser und eleganter Schreibstil fesselt den Leser von der ersten Seite an und lässt ihn bis zur Auflösung des Falls aufs Höchste mitfiebern. Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem, eine bekannte deutsche Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, war für ihre detaillierten und atmosphärischen Beschreibungen bekannt. Die Faszination für Venedig und ihre Liebe zum Krimigenre inspirierten sie dazu, 'Tragödie im Palazzo Pavonazetti' zu verfassen. Ihre Expertise als Autorin von historischen Romanen und Kriminalgeschichten spiegelt sich deutlich in diesem Werk wider. Für Liebhaber von atmosphärischen Krimis und historischen Romanen ist 'Tragödie im Palazzo Pavonazetti' ein absolutes Muss. Adlersfeld-Ballestrems meisterhafte Darstellung von Venedig und die spannende Handlung machen dieses Buch zu einem fesselnden Leseerlebnis, das sowohl Krimifans als auch Geschichtsinteressierte gleichermaßen begeistern wird.
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Seitenzahl: 317
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Begreift ihr's nicht, daß wir Gewürm nur sind,Bestimmt, zum Engelsschmetterling zu werdenDer schutzlos sich zum Himmelsrichter aufschwingt?Dante, Purgaforio X.120.
Wer jemals das wunderbare Schloß Farnese, zwischen Rom und Viterbo gelegen, besucht hat, wird gewiß gern der Behauptung zustimmen, daß seine landschaftliche Lage ganz einzig schön ist. Dieser wahrhaft königliche Palast, heute Nationaleigentum, führt lange schon ein Dornröschen-Dasein, hoch über der römischen Maremma am Fuß des Monte Venere gelegen, ein Lug-ins-Land ohnegleichen. Rechts der Lago di Vico, in welchem der Monte Venere sich spiegelt, links der See von Bracciano, der wie ein schimmernder Saphir in seinem Bett liegt, überragt von dem großartigen, wie aus dem Fels gehauenen Schloß der Orsini, jetzt der Odescalchi, ihm gegenüber am andern Ende Anguillara mit der schönen, vielgezinnten Burg des römischen Patriziergeschlechtes gleichen Namens. Der Überlieferung nach stand in alten Zeiten unweit von Bracciano die antike Stadt Sabate, die der See nach und nach überwältigte; an klaren Tagen soll man noch durch das glasklare Wasser die Häuser, Tempel und Statuen unversehrt stehen sehen. Über den See hinweg, in bläulichem Dunst verschwimmend, sieht man wie eine Silhouette die Kuppel der Peterskirche von Rom; gradaus aber bis ans Meer die römische Maremma, in welcher milchweiße Rinderherden grasen, und aus grünen Laubinseln hier und da ein schlanker Campanile aufsteigt, wie beispielsweise aus den Ruinen der lange schon der Malaria wegen von ihren Einwohnern verlassenen Stadt Galera, auch einst ein Sitz der Orsini. Zur Rechten sieht man über herrliche Wälder und fruchtbare Felder die Türme von Viterbo ragen am Fuß des Monte Cimino, dem Ausläufer des Soracte, die Umgebung dieser hochinteressanten Stadt inkrustiert mit Schlössern und Landsitzen – ein einzig schönes Landschaftsbild, dessen Beleuchtung, mit der Tageszeit wechselnd, ihm immer neue Reize verleiht, nicht zum mindesten, wenn die Abendnebel violett aus der Maremma aufsteigen, und in eine Sonnenuntergangsglut übergehen, die so märchenhaft intensiv ist, daß man sie mit eignen Augen gesehen haben muß, um sie zu glauben, denn gemalt wiedergegeben würde man diesen von Purpur zum Scharlach gesteigerten Farbenrausch, der in Gold, Lichtgelb und Apfelgrün verschwimmt, für ein Phantasiegebilde des Malers halten, der imstande war, eine solche Pracht auf der Leinwand zu verewigen.
Zu Füßen des berühmten Palazzo Farnese liegt das Städtchen Caprarola, eigentlich nur aus einer langen Straße bestehend, zu deren Seiten einige um etwas hinausgerückte Landhäuser oder Villen liegen, und dahin flüchten sich vor der Sommerhitze, die Rom zu einem Hochofen macht, zur Villegiatura1 einige wenige, die hier Aufnahme finden können. Warm, sehr warm ist's ja dann auch hier auf dieser an sich nur unbedeutenden Höhe, aber die Nacht bringt erfrischende Kühle von den Seen und vom Meere her, die Luft ist staubfrei und belebend wie prickelnder Champagner, hohe Laubbäume gewähren willkommenen Schatten, und der Duft von Tausenden blühender Feldblumen durchwürzt die klare, reine Atmosphäre.
In der Villa Gelsomino, der Sora Luigia Allori gehörend, von der man behauptete, daß sie das Licht der Welt bereits in dem türkisch gemusterten Kattunschlafrock, ohne den sie noch keine Seele gesehen, erblickt hatte, waren mit dem unerträglich heiß gewordenen Wetter in Rom zwei ›zahlende Gäste‹ eingezogen. Die Villa war nur ein kleines, rosa getünchtes, mit grüngestrichenen venetianischen Fensterläden versehenes Häuschen, halb versteckt in Jasmingebüsch, das ihm den Namen gegeben, und von den wenigen Räumen, die es enthielt, vermietete die gute, dicke Sora Luigia die beiden netten Zimmer, die ihr Stolz waren: eine kühle Cammera da letto2 und den danebenliegenden Salotto, von dem man auf die schattige Veranda gelangte, welche fast den gleichen herrlichen Ausblick, nur niedriger gelegen, bot wie droben der Palazzo Farnese.
Auf dieser Veranda saßen an einem schönen, frühen Sommermorgen, der die ganze Landschaft zu ihren Füßen in strahlender Glorie zeigte, die Gäste der Sora Luigia am sauber gedeckten Frühstückstisch, auf dem zum Schmuck in schlanker Glasvase ein Strauß süß duftender Damaskusrosen prangte. Es waren diese Gäste der weithin berühmte Privatdetektiv Dr. Franz Xaver Windmüller und seine schöne junge Frau, mit deren Heimführung er nicht nur seine zahlreichen römischen Freunde, Bewunderer und Verehrer vor wenig mehr als einem Monat nicht bloß überrascht, sondern, was mehr war, freudig überrascht hatte, als er sie als Herrin in seine Villa am Gianicolo in Rom gebracht. Die Geschichte ›Woans ick tau 'ne Fru kamm‹ ist in der Erzählung seines letzten Falles unter dem Titel ›Mit veilchenblauer Seide‹ ausführlich geschildert worden, soll darum nicht besonders wiederholt werden, aber es darf nicht verschwiegen werden, daß es alle, die ihn kannten, doch lebhaft interessiert hatte, daß er, den man für einen eingefleischten Junggesellen gehalten, im Herbst seines tatenreichen Lebens, das an Ehren und – Gefahren überreich war, dem Zauber einer Frau erlag, die zwar auch aus ihrer ersten Jugend heraus war, trotz ihrer fünfunddreißig Jahre aber noch so frisch und blühend aussah, daß selbst die schärfsten weiblichen Augen ihr zehn Jahre weniger zu geben geneigt waren, und man gern begriff, daß sie das Herz dieses Mannes zu gewinnen vermocht hatte.
Ihm selbst, obschon ja sein noch ungelichtetes Haar an den Schläfen zu ergrauen begann, sah man es gewiß auch nicht an, daß er ›des Lebens Mittaghöhe‹ schon überschritten. Ungebeugt war seine hohe, schlanke, elegante Gestalt, klar sein scharfes Augenpaar, das dabei so gütig blicken konnte und um das nunmehr erst wenige ›Krähenfüße‹ ihre verräterischen Runen gezogen; ohne sonderliche Altersrunzeln war sein glattrasiertes, feines Gesicht mit dem markanten Moltkeprofil. Wer seinen Beruf nicht kannte, hätte ihn nie auf den gefürchteten ›Bluthund‹ der Herren Verbrecher eingeschätzt, ihn vielmehr für einen Gelehrten gehalten, der er übrigens in gewissem Sinne auch war als der Menschenkenner, der den homo sapiens zu seinem Studium gewählt und zu seinem Privatvergnügen auch noch das des Kunstgewerbes, wofür seine kleine, aber prächtige Antiquitätensammlung in seiner römischen Villa ebenso Zeugnis ablegte, wie die Schublade voll Ordensauszeichnungen für die Erfolge seines eigentlichen Berufes. Hatte er doch längst schon aufgegeben, ›niederes Wild‹ zur Strecke zu bringen, dafür aber als Jäger von ›Hochwild‹ an hohen Stellen reichen Lorbeer gepflückt.
Und nun saß er wie jeder x-beliebige Sommerfrischler auf der Veranda der Sora Luigia und sah mit vor Glück leuchtenden Augen seiner schönen Frau zu, wie sie mit ihren schlanken, weißen Händen den Kaffee einschenkte und ihm ein Brötchen strich.
»Sie hat die goldnen Augen der Waldeskönigin«, zitierte er für sich zum wer weiß wievielten Male das Eichendorffsche Gedicht, denn diese ›goldnen‹ Augen in der dunklen Umrahmung, die so pikant von dem aschblonden Haar ihrer Besitzerin abstach, hatten es ihm nun einmal angetan – klare, reine Augen, die immer der geheime Traum seines bewegten Lebens gewesen, bis er sie endlich gefunden, da schon der Herbst ihm den ersten Reif aufs Haupt gestreut.
Mit dem trefflichen Kaffee der Sora Luigia, die im übrigen auch für die sonstige Nahrung ihrer Gäste sorgte als die treffliche Köchin, die sie war, hatte die Ragazza, der dienende Geist des Hauses, auf den Namen Assunta hörend, die bereits vom Postboten von Ronciglione abgelieferte Post mitgebracht: ein paar unwichtige Briefe sowie die Zeitungen von gestern für Windmüller und einen dicken Brief für Frau Evis; und als sie ihn nach genossenem Frühstück öffnete und ihn sowie eine gedruckte Einlage gelesen, sah sie lächelnd zu ihrem Gatten auf, der eben eine der Zeitungen weglegte.
»Meine Cousine und Doppelgängerin Lilias läßt ihren begeistert bewunderten neuen Vetter, dich nämlich, grüßen«, sagte sie, seinen fragenden Blick beantwortend. »Wichtiges schreibt sie ja eigentlich nicht, es sei denn wichtig, daß es ihr und den Ihrigen soweit gut geht. Aber denke nur, sie legt ihrem Brief einen Zeitungsausschnitt bei, aus dem man über Deutschland erfährt, was in Rom vorgeht! Ist das nicht allerhand? Hier hast du das Blatt, lies selbst und sage mir, was Wahres daran ist.«
Windmüller nahm den offenbar einem Zeitungsfeuilleton entnommenen Ausschnitt und las nicht ohne gelegentliches Kopfschütteln unter dem in riesigen Lettern gedruckten Titel:
1 Sommeraufenthalt
2 Schlafzimmer
›Gespensterjagd in Rom. Das schwarzrote Phantasma‹3
den umfangreichen Artikel, wortwörtlich hier wiedergegeben, wie folgt:
Seit einigen Wochen trat in Rom ein neues Phantasma in die mitternächtliche Erscheinung, und zwar in einem Stadtviertel, das bisher ganz unberührt von derartigen Erfahrungen gewesen war. Zuerst wurde es von einem jungen Mann gesichtet als ein etwas seltsam gekleidetes, augenscheinlich weibliches Wesen. Sie, die einsame Wandlerin, trug einen feuerroten, kniefreien Rock über schwarzen Seidenstrümpfen, einen schwarzen Hut, tief ins Gesicht gedrückt, ein rotes Seidentuch um den Hals geschlungen und schwarze Handschuhe. Nun, eine interessante Begegnung, – dachte sich unternehmungslustig der junge Mann und besann sich bereits auf die Begrüßungsformel, womit unternehmungslustige junge Männer alleinspazierengehende Mädchen anzusprechen pflegen. Doch im letzten Augenblick hielt ihn eine unerklärliche Scheu zurück. Er bemerkte jetzt auch einige Einzelheiten, die ihn noch mehr einschüchterten. So ging diese junge Dame in Rot und Schwarz auf eine ganz eigentümliche Weise, das Gesicht gesenkt, die Schritte unnatürlich verlängert, lastend schwer und doch wieder unheimlich leicht hüpfend. Als sie zufällig einmal den Blick hob, sah der junge Mann in zwei weißliche, verschwimmende Augen, die in ein Nichts zu starren schienen. Und zum Schluß machte er noch eine furchtbare Entdeckung:
die seltsame Nachtwandlerin hatte überhaupt keine Füße! Etwa zehn Zentimeter über dem Erdboden hörten ihre Beine auf. Da packte den jungen Mann ein Entsetzen, das er bisher nicht gekannt hatte. Er floh nach der entgegengesetzten Richtung und gelangte in seine Wohnung mit Angstschweiß auf der Stirn und mit schlotternden Gliedern.
Diese nächtliche Begegnung sprach sich schnell herum, wurde belächelt, bespöttelt und als mutwillige Erfindung aufgenommen. Jedenfalls war die Zahl der Ungläubigen anfangs weit größer als die der Gläubigen. Doch bald wurde die unheimliche Erscheinung auch von andern gesehen, bald in dieser, bald in jener Straße; und überall wo sie auftauchte, blieb kaltes Entsetzen zurück. Die Zahl der Ungläubigen nahm rapid ab. Die wenigen aber, die sich einen letzten Rest von Mut bewahrt hatten, organisierten eine Jagd auf das schwarz-rote Phantasma, um das Geheimnis zu lüften und die Unbekannte als das zu entlarven, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach sein mußte.
Es war ein aufgeregtes und lärmendes Treiben in diesen Tagen im ganzen Stadtviertel. Doch wo sich auch immer die Spukgestalt sehen ließ, stockte die beginnende Verfolgung schon nach den ersten Sprüngen; die Verfolgte war immer so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war, so als hätte sie der Erdboden verschlungen. Es ist verständlich, daß sich zum Schluß auch die Polizei mit dem ruhestörenden Lärm in dem sonst so friedlichen Stadtteil beschäftigte und auch ihrerseits die Jagd auf das Phantasma begann, allein schon, um den lächerlichen Aberglauben der Einwohner zu zerstören. Also wurden einige Polizeibeamte mit der Klärung der ›Angelegenheit‹ betraut.
Wirklich gelang es auch einem der Gesetzhüter, die unheimliche Spaziergängerin zu sichten, wie sie in dem bekannten schwarz-roten Aufputz eine halbdunkle Straße entlangglitt. Kurz entschlossen, stürzte er hinter ihr her. Aber die Unbekannte schien eine ausgezeichnete Langstreckenläuferin zu sein. Die Verfolgung dauerte bereits geraume Zeit, und immer noch wollte es dem Polizisten nicht gelingen, den Zwischenraum zwischen sich und der Verfolgten zu verringern. Doch endlich schloß eine hohe Treppe die Straße ab, durch die eben die Jagd ging; auf dieser Treppe mußte die Verfolgung ihr Ende nehmen, mußte sich das Geheimnis entschleiern, denn sie führte auf einen Platz, der keine Ausgänge hatte. Der schon atemlose Verfolger strengte also seine letzten Kräfte an. Doch was geschah nun? Die Fliehende nahm mehr als zehn Stufen auf einmal und flog in einer rasenden Schnelligkeit die Treppe hinauf. Aber der Beamte sprang ebenso schnell nach. Fast hatte er die Unbekannte erreicht, als diese, eben am Ende der Treppe angelangt, zu Boden stürzte. Wollte es der Zufall, daß in diesem verhängnisvollen Augenblick auch der Verfolger stürzen mußte? Er griff noch nach dem roten Rock . . .
Als er nach kaum einer Zehntelsekunde wieder aufblickte, bereit, die Unruhestifterin, die ein ganzes Stadtviertel in Aufregung versetzt hatte, zu verhaften, fand er zu seinem größten Schreck niemanden mehr. Seine rechte Hand, mit der er nach ihr gegriffen hatte, lag in einer schwarzen Wasserpfütze, in der sich die Lichter der Laternen rot spiegelten. Ein schriller Pfiff auf der Signalpfeife; Schutzleute stürmten aus andern Straßen herbei . . . aber das Phantasma blieb verschwunden, wie so viele Male schon. Der Erdboden hatte es wie einen schweren, sich senkenden Nebel aufgesaugt.
Soweit die Berichte der Zeitungen . . . Und bis heut weiß man immer noch nicht, wer das seltsame Wesen ist. Nur behauptet der Polizist, der im letzten, verhängnisvollen Augenblick zu Boden stürzte, daß er in ein bleiches, tieftrauriges Gesicht geschaut hätte, das eher einem Manne, als einer Frau anzugehören schien.
Jedenfalls wagt sich nach Mitternacht niemand mehr in dem vom schwarz-roten Phantasma heimgesuchten Stadtviertel auf die Straße; wer jedoch seine Wohnung aus irgendeinem Grunde verlassen muß, der bekreuzigt sich vorher dreimal und verlängert furchtsam, den kalten Griff der Angst im Nacken, die Schritte. . .
»Nun, was sagst du dazu? Was ist deine Meinung von dieser sonderbaren Sache?« fragte Frau Evis gespannt, als Windmüller seine Lektüre beendet.
»Ich erinnere mich ihrer aus den römischen Zeitungen, welche sie anscheinend nun für erledigt halten«, erwiderte Windmüller nach einer Weile. »Ohne Augenzeuge der seltsamen Erscheinung gewesen zu sein, kann man Stellung dazu nicht gut nehmen, jedoch wäre eine Aufklärung der Frage nicht uninteressant, ob, von wem und warum alle diese Leute genasführt worden sind.«
»Oh, du meinst also, die ganze Geschichte ist nichts, als eine Täuschung?«
»Das muß man wohl solange annehmen, bis das Gegenteil bewiesen worden ist.«
»Ich wüßte einen, der es könnte – dich!« rief Frau Evis lebhaft, und als Windmüller nur lächelnd mit den Achseln zuckte, setzte sie schmeichelnd hinzu: »Hättest du nicht Lust dazu? Oder meinst du, es sei keine Aufgabe für dich, das heißt für deine Bedeutung?«
Windmüller antwortete nicht gleich. Er blickte sie zunächst stumm an, während sein eben noch so freundliches Gesicht ernst wurde. Dann sagte er:
»Als ich unserm nunmehrigen Diener, meinem früheren gelegentlichen Gehilfen, dem unschätzbaren Thelesphor Pfifferling mitteilte, daß ich mich verheiraten und damit meinen bisherigen Beruf aufgeben würde –«
»Franz Xaver – davon weiß ich ja kein Wort!« fiel sie erschrocken ein.
»Ja nun, das ist doch selbstverständlich«, erklärte er mit etwas künstlicher Gelassenheit. »Jeder andre Beruf, eingeschlossen der eines Soldaten und eines Seemanns, die ja allzeit kriegsbereit sein müssen, ist meines Dafürhaltens kein Ehehindernis; aber ein Detektiv, der sein Leben beständig zu Markte trägt, sollte keine Frau nehmen, sie nicht der nie und zu keiner Stunde nachlassenden Sorge um Leben und Gesundheit des Gatten aussetzen. Evis, noch weißt du nicht, ahnst es selbst vermutlich nicht im entferntesten, was es bedeutet, dem Verbrechen in seine dunkelsten Winkel nachzuspüren. Es geht dabei wahrlich nicht allemal so ungefährlich zu, wie zum Beispiel bei ›dem Fall, der keiner war‹, den ich für deine Cousine Lilias so befriedigend für sie und mich erledigte – auch der hatte seine Seiten, von denen man nicht wissen konnte, was dabei zu erwischen war –, oder bei meinem letzten, der mir als höchsten Lohn dich errang. Das war ein Kinderspiel gegen jene Fälle, in denen ich selbst für mein Leben keine fünf Pfennige mehr gegeben hätte. Man kann im voraus niemals wissen, in welche Lagen man bei der Übernahme eines Falles geraten wird, und darum dachte ich, es sei nun an der Zeit, meinem Beruf Valet zu sagen –«
»Den Beruf, den du mit Leib und Seele geliebt und ausgeübt hast, Franz Xaver!«
»Das habe ich wahrlich, Evis, weil ich in ihm einem idealen Zweck diente, dem Zweck, das Verbrechen zu sühnen, Unschuldige zu schützen. Immer hin aber lebt der Mensch nicht nur von seinen Idealen, auch das Herz fordert endlich einmal sein Recht, und dieses wurde mir in dir zuteil. Also, um zu dem zu kommen, was ich vorhin sagen wollte: als ich dem Pfifferling kund und zu wissen tat, was mein Entschluß war, erregte ich damit die ebenso beleidigende wie schmeichelhafte, geradezu homerische Heiterkeit dieses Kamels, das mir versicherte, ich sei allemal niederträchtig schlechter Laune gewesen, wenn mir mal bloß vierzehn Tage lang kein neuer Fall angetragen wurde! Daß du mich für einen solchen begeistern willst, beweist mir, daß Pfifferling die Wahrheit gesprochen, recht gehabt hat. Bin ich denn wirklich schon in solch‹ niederträchtig schlechter Laune dir gegenüber gewesen?«
Evis, deren Augen bei Windmüllers Erklärung verdächtig feucht geworden waren, mußte nun unter Tränen hellauf lachen.
»Ich habe noch nichts davon gespürt – das kann ich beeidigen. Unsern braven Pfifferling habe ich nie für ein Kamel gehalten, und wenn er dir seine Meinung in diesen drastischen, beziehungsweise ungeschickten Worten kundtat, so beweist das nur, daß ich mit meiner guten Meinung von ihm recht habe; denn was er damit ausdrücken wollte, sollte doch nur heißen, daß es dir unmöglich sein würde, einem Beruf zu entsagen, der dir in Fleisch und Blut übergegangen ist, in welchem du geleistet hast, was dir ein andrer so leicht nicht nachmachen würde. Franz Xaver, du weißt, mußt es wissen, daß meine ganze Verwandtschaft, alles was Sennheim heißt, meine Cousine Lilias eingeschlossen, auf dich schwört, dich für einen herrlichen Menschen hält und ich dich für ›den Herrlichsten von allen‹ – und mit gutem Grund. Was du mir eben gesagt, ist nur ein neuer Beweis dafür, und meine Antwort ist ohne jeden Rückhalt: Mit meiner Einwilligung sollst und darfst du deinem Beruf nicht entsagen! Unter keinen Bedingungen! Ist's ein Wort?«
Statt aller Antwort stand Windmüller auf und schloß seine ›Waldeskönigin mit den goldnen Augen‹ in die Arme.
»Das sprach meine tapfre Evis, die mit wahrem, echtem Heldenmut, durch Feuer und Wasser siegreich aus einer Prüfung hervorgegangen ist, wie sie härter kaum ausgedacht werden konnte«, sagte er bewegt. »Seit ich dich heimgeführt, Geliebteste, bin ich aber tatsächlich noch nicht in die Lage gekommen, zwischen meinem Entschluß, meinen Beruf aufzugeben, und der Versuchung, einen neuen Fall zu übernehmen, einen harten Kampf auszufechten. Aber sollte eine Gelegenheit sich bieten, dann wollen wir miteinander beraten, ob –«
»Nein, das werden wir nicht beraten. Darüber hast du einzig und allein zu entscheiden,« fiel sie ein, »ohne irgendwelche Rücksicht auf mich zu nehmen! Ich habe ja doch mit offnen Augen den Detektiv Windmüller geheiratet, wußte ganz genau, daß seine Arbeit kein harmloses Kinderspiel bedeutet, und wenn du dabei in Gefahr kommst, dann wird mein Herz dich schützen, weil es dich doch begleitet.«
Windmüller tat einen tiefen Atemzug und streckte beide Arme aus.
»Ich hätte es wissen müssen, daß ich dich trotz allem bis zur Stunde unterschätzt habe«, sagte er mit frohem Lachen. »Evis, Geliebteste, so wären wir denn auch in diesem Punkte einig! Vielmehr, du hast mit dem feinen, unfehlbaren Instinkt deines tapfern, warmen Herzens gespürt, daß dein alter Franziskus Xaverius auf der Bärenhaut verkommen würde, solange Kopf und Corpus ihm den Dienst noch nicht versagen. Ceterom censeo: Was diesen Wisch mit dem Bericht von dem schwarz-roten Phantasma in Rom betrifft, so will ich ihn preisen als die Anregung zu dieser klärenden Aussprache; sonst hat er wohl keinen Wert. Es ist ohne weiteres verständlich. daß die Sache als ›Fall‹ für mich überhaupt nicht in Betracht kommt; denn erstens ist man doch gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, sie durch mich zum Beispiel aufklären zu lassen, und zweitens ist dadurch niemand zu Schaden gekommen, außer dem das sogenannte Phantasma verfolgenden Polizisten, der dabei in eine Wasserpfütze gefallen ist. Wenn das ja auch nicht gerade wohlgetan haben mag, sintemalen Pflastersteine oder steinerne Treppenstufen als Sprungfedermatratzen für gewöhnlich keine Verwendung finden – blaue Flecke und beschmutzte Kleidungsstücke dürften als Grund, einen Windmüller in Bewegung zu setzen, nicht genügen. Und nun, Geliebteste, wie wär's mit einem Spaziergang in den Park des Palazzo Farnese? Denn ich weiß, daß es dahin dein Herz sehr zieht.«
Evis war gleich bereit, und als sie unterwegs waren, meinte sie:
»Du hattest ganz recht, Franz Xaver, daß es mich sehr in den Park droben zieht, von dem ich schon soviel gehört und gelesen, aber ich muß schon gestehen, daß auch das Schloß selbst zu sehen mich außerordentlich reizt. Ich weiß nicht, ob du es verstehen kannst, daß Häuser, alte Häuser mit einer Vergangenheit, einen großen Zauber auf mich ausüben, daß nicht nur ihre Mauern, auch ihre Einrichtungsgegenstände mir allerhand erzählen können.«
»Das kann ich sehr gut verstehen, Liebste«, versicherte Windmüller. »Ich neige sehr zu Hudson's Theorie von der Imprägnierung von Räumen und Gegenständen durch Menschen, die sie früher bewohnten und benutzen. Diese Imprägnierung zu empfinden, ist aber nicht jedermanns Sache, sondern einfach individuelle Begabung, die unter Hunderten vielleicht nur einem einzigen verliehen ist. Es gibt ja zum Beispiel auch Leute, welche es fühlen, ob ein Gegenstand, den sie berühren, echt ist, oder nur eine wenn auch noch so geschickte Fälschung – auch ein Beweis für Hudson's Imprägnierungstheorie. Ich kenne sogar einen Edelsteinhändler, der die Echtheit eines Juwels nur durch die bloße Berührung erkennt. Die oft gehörte Redensart ›Ja, wenn die Steine reden könnten –‹ ist eine gedankenlose Phrase, denn die Steine reden und wissen viel dem zu erzählen, der ihre Sprache, das heißt ihre Geschichte kennt. Und wo das in unbekannten Gebäuden nicht zutrifft, wo die Sprache versagt, da tritt bei damit Begabten das Gefühl, die Intuition in Kraft. Ja es gibt Menschen, die in solchen Mauern und Räumen zu sehen vermögen, was für die Augen dicht daneben Stehender unsichtbar bleibt. Das sind psychologische Rätsel, vor denen die exakte Wissenschaft haltmachen, die Segel streichen muß. Man könnte zu diesem Punkt ein tiefes Wort in Beziehung bringen, das ich unlängst irgendwo fand: ›Das ist der religiöse Mensch, dem der Sinn für die Wirklichkeit des Übersinnlichen aufgegangen ist.‹ Ich hab's dir angesehen, Liebste, als wir das Schloß Bracciano besichtigten, daß du darin mehr und andres gespürt hast, als die Durchschnittstouristen, denen es vor und nach uns gezeigt wurde. Nun, Caprarola hat auch viel zu erzählen; also heut wollen wir zuerst das Schloß besichtigen.«
»Ja, o ja! Bitte!« rief sie lebhaft. »Du aber, der du seine Geschichte kennst, mußt mich zuvor das Nötigste darüber wissen lassen.«
»Ob es mehr ist, als was du selbst schon gelesen hast, möchte ich dahingestellt sein lassen«, meinte Windmüller, über ihren Eifer lächelnd. »Zu einer flüchtigen Skizze jedoch dürfte Wissen und Zeit genügen. Soviel weißt du ja schon, daß der Palast, der diesen Titel wahrlich mit Recht führt, von Vignola in den Jahren 1547-1559 für den gelehrten Kardinal Alessandro Farnese erbaut wurde, und zwar auf dem festungsartigen, mit Bastionen versehenem Unterbau, den Pier Luigi Farnese bereits im Jahre 1530 von Baldassare Peruzzi errichten ließ. Um den kreisrunden Hof dieses Gebäudes erbaute nun Vignola in höchst genialer Weise den imposanten, zweistöckigen Palast, der seinesgleichen suchen dürfte, schon weil er die Form eines Pentagons, eines Fünfecks hat, dessen fünf Seiten all die gleiche Länge haben. Also, avanti!«
Da die Villa Gelsomino ungefähr auf der halben Höhe der steil ansteigenden Straße lag, welche gewissermaßen das Städtchen Caprarola bildet, so erreichten die Wanderer für die zu ersteigende Höhe rasch genug die wie aus dem Fels gehauenen Bastionen, über welche terrassenförmig ansteigende Treppen mit steinernen Balustraden zu dem an sich schon großartigen Unterbau führen, über dem sich die höchst elegante Front des Palastes erhebt. Die Brücke vor dem Portal überschreitend, erhielten sie auf Grund eines von Windmüller vorgezeigten Permesso4, mit dem er sich vorsorglich schon in Rom versehen, Eintritt in den nach oben offnen, kreisrunden Hof, eingefaßt von den Loggien des Erdgeschosses und der beiden Stockwerke – Loggien, deren architektonische Gliederung und Verzierungen durch Säulen des dorischen, jonischen und korinthischen Stils in den drei verschiedenen Stockwerken, durchbrochene Balustraden und Nischen zwischen den reichdekorierten Türen, welche zu den Zimmern und Sälen führen, an Pracht und Eleganz ihresgleichen suchen.
Aus dem Hof führt eine wunderbare Spiraltreppe zu den oberen Etagen, deren Säle und Gemächer von den beiden Zuccari, von Tempesta und Vignola, aufs reichste dekoriert beziehungsweise al fresco gemalt, ausschließlich der Verherrlichung des Hauses Farnese gewidmet sind, aber durch die Menge der darauf befindlichen zeitgenössischen Portraits das Interesse sowohl des Historikers wie des Laien aufs höchste beanspruchen, besonders an dieser Stelle, der die meisten der dargestellten Personen jener Epoche durch ihre Gegenwart eine besonders intime Note hinterlassen haben, und wer ihre Geschichte kennt, wird sie im Geist, angetan mit den prachtvollen Kostümen ihrer Zeit, durch die wundervollen Räume dieses Palastes wandeln sehen. Aber auch noch andre Räume, als die ausschließlich den festlichen Zusammenkünften bestimmten, lohnen die Mühe ihrer Besichtigung. So die Kapelle im gedämpften Licht ihrer bunten Glasfenster, zwischen denen die Fresken des Apostel und der Heiligen Gregorius, Stephanus und Laurentius gemalt sind, mit dem reichen Plafond, dessen Muster auf dem eingelegten Fußboden gleichsam wie ein Spiegelbild wiederholt ist. Ferner das Arbeitszimmer des Kardinals Alessandro Farnese und in seinem Schlafgemach die geheime Treppe für eine mögliche Flucht, eine in jenen Tagen durchaus nicht überflüssige Maßregel. Sodann ein Saal, dessen Wände mit riesigen Karten bekleidet sind, gleich der geographischen Galerie im Vatikan; ein anderer mit dem wunderbaren Fresco der ›Mora‹, für das seinerzeit vergeblich zwölftausend Scudi geboten wurden; wieder ein andrer Raum mit dem Gemälde der Erscheinung des Erzengel Michael nach der Vision des heiligen Papstes Gregor des Großen, hier wie auf allen Gemälden umgeben von den Bildnissen der Familie Farnese und ihrer Begleiter bis zu den damals so beliebten ›Hofzwergen‹, welche hier aus gemalten Türen mit verblüffender Naturtreue heraustreten.
Zurückkehrend durch die große Eingangshalle, in welcher eine aus Steinen konstruierte Grotte und eine prächtige Fontäne zur Bewunderung hinreißen, verließen Windmüller und seine Frau das Schloß durch das Gartenportal. Ins Freie tretend, fand Evis zum erstenmal Worte, indem sie ausrief:
»Stunden und Stunden möchte man da drinnen bleiben und schauen, wie die Farnese in naturgetreuer Darstellung die großen Momente ihres Lebens vor unsern Augen sich abspielen lassen! Und immer wieder möchte man durch die Fenster einen langen, langen Blick auf die wunderbare Landschaft werfen, die sich wie ein Gemälde von überwältigender Schönheit vor einem ausbreitet, von jeder der fünf Seiten des Palastes anders, immer aber reizvoll zu sehen und zu bewundern.«
»Wir können oft noch wiederkommen, denn mein Permesso ist perpetuo – immerwährend«, versicherte Windmüller, entzückt von ihrer Begeisterung. »Nun aber bleibe deiner Sinne Meister, sage ich mit Turandot, als sie ihren Schleier lüftete, denn nun kommst du in Armidas Zaubergarten.«
Damit hatte er wahrlich nicht zuviel gesagt, denn der Zauber, der über dem in seiner Einsamkeit überwältigend schönen Park des Palazzo Farnese seine Kreise zieht, wirkt auch noch in der Erinnerung mit gleicher Kraft nach.
Unter dem blauen römischen Himmel, feenhaft beleuchtet von dem strahlenden Sonnenlicht eines Sommertages, wandelt der Besucher auf den langen, grasbewachsenen Pfaden und zwischen hohen, verschnittenen Lorbeer- und Taxushecken, deren sanftes Grün durch die üppig blühenden Ringelblumen zu ihren Füßen wie mit einem goldigen Widerschein verklärt wird, der auch auf die hochragenden Säulen-Zypressen noch sein Licht wirft. Von den oberen Terrassen gelangt man in ein Laubwäldchen, das auf einem Teppich gelber Orchideen, Iris, Lilien, Saxifragen, Cyclamen und Salomonssiegeln mit ihren maiglöckchenartigen Blütendolden steht, und am Ende der hindurchführenden Allee angelangt, steht man plötzlich vor einer Statue des Schweigens, den Finger auf die Lippen gelegt. Hier rauscht und plätschert den wiederaufsteigenden Pfad entlang eine künstliche Kaskade herab durch eine Reihe steingefaßter Bassins, begleitet von einer ganzen Menagerie steinerner Tiergestalten, besprüht von dem Gischt des Wassers, und daneben aufwärts steigend, erreicht man den gleichfalls von Vignola erbauten entzückenden Pavillon, das Sommerhaus des Parks. Den Rasen davor fassen Statuen ein, die der Kunstkritik vielleicht manches zum Aussetzen bieten, aber durch ihren Zustand halben Verfalls und mit grünem Moos bewachsen, recht malerisch wirken. Einige dieser Gestalten stehen ruhig, auf den seltenen Besucher herabblickend, da, andre spielen alte Instrumente, denen ihre Nachbarn still lauschen; zwei Dryaden flüstern einander wichtige Geheimnisse ins Ohr; ein impertinenter Faun bläst sein Muschelhorn seinem Gefährten so laut entgegen, daß dieser sich die Ohren mit beiden Händen zuhalten muß, und eine Nymphe ist im Begriff, von ihrem Piedestal herabzusteigen, um ein Bad zu nehmen; doch da die andern Herrschaften ziemlich alle Mangel an Bekleidung leiden, so hat sie vielleicht etwas andres vor.
Hinter dem Sommerhaus rauscht der Bach wiederum über eine steinerne Treppe herab, bewacht von dräuenden, steinernen Löwen und Greifen, und dahinter ist nur noch eine grüne Wildnis, streben Felsen empor, vergoldet vom Sonnenschein.
Es wurde Frau Evis schwer, sich von dem verträumten Zauber dieses stillen Parks loszureißen, der ihnen an diesem, wie an vielen kommenden Tagen allein gehörte, denn nur selten finden Fremde den Weg nach dem abseits ihrer Route liegendem, nicht ganz leicht zu erreichenden Caprarola, und die es dahin zieht, gehören nicht zu der großen Herde, sondern nur zu der kleinen Gemeinde der Wissenden, der Kenner und Freunde römischer Vergangenheit, der Maler und jener, die gern von der großen Heerstraße Abstecher machen.
Nach einem Blick auf die Uhr mahnte Windmüller jedoch zum Aufbruch; denn die gute Sora Luigia hatte ihnen beim Fortgehen anvertraut, daß sie ihren Gästen heute zur Colazione5 ihr capolavoro6, nämlich Risotto mit Hühnerlebern, dazu eine insalata mista7 vorsetzen würde, – ein Gericht, das langes Stehen nicht verträgt.
Angeregt, hochbefriedigt und begeistert von dem Erleben dieses Morgens, traten Windmüller und seine Frau den freilich nicht weiten, aber doch schon recht heißen Heimweg zur Villa Gelsomino an und begegneten dabei einem aufwärts steigenden Herrn, der mit einem Blick auf Windmüller im Vorübergehen grüßte, jedoch keine Miene machte, stehenzubleiben. Letzterer grüßte wieder und sah dem andern kopfschüttelnd nach.
»Wer war der Herr?« fragte Evis leise.
»Ja, wenn ich das sagen könnte!« erwiderte Windmüller. »Kennen muß er mich, weil er mich grüßte, aber wo ich ihn hintun soll, ist mir schleierhaft, und habe doch sonst solch' gutes Gedächtnis für Physiognomien.«
»Der Mann sah entsetzlich elend aus«, meinte sie.
»Ja, und das mag wohl auch die Ursache sein, daß ich mich seiner nicht erinnere.«
Am Torgatter ihrer Villa stand die Sora Luigia in der Glorie ihres in allen Farben des Regenbogens leuchtenden türkischen Schlafrocks, anscheinend ihre Gäste erwartend, über das ganze, fette, mit stattlichem schwarzen Schnurrbart verzierte Gesicht vor Wohlwollen strahlend.
»Der Risotto ist fertig!« rief sie ihnen schon von weitem entgegen, und als sie im Vorgärtchen eintraten: »Haben Sie den Conte del' Poggio-Oliveto gesehen, Signor? Er muß Ihnen doch begegnet sein.«
»Das war der Conte del' Poggio-Oliveto?« wiederholte Windmüller. »Den hätte ich wahrhaftig nicht wiedererkannt! Allerdings bin ich ihm nur einmal in Gesellschaft begegnet, kenne ihn nicht näher, aber er hat sich auch irgendwie sehr verändert.«
»Er sieht wie der leibhaftige Tod aus!« bestätigte die Sora Luigia, ihre fette, weiße Hand wie zur Bekräftigung auf den voluminösen Busen legend. »Nun, ein Wunder ist es nicht; er kann es wohl nicht überwinden, seine junge Frau verloren zu haben.«
»War er verheiratet? Das wußte ich nicht«, sagte Windmüller. »Wann ist sie gestorben?«
»Sie – sie hat ihn verlassen. Ist bei Nacht und Nebel davongelaufen«, berichtete Sora Luigia mit Nachdruck.
»Oh –«, machte Windmüller ohne sonderliches Interesse, denn ein derartiges Familiendrama stand ja leider nicht ohne Beispiel da. Damit wollte er ins Haus treten, aber Sora Luigia war mit dem, was sie noch wußte, nicht fertig und brauchte dann allemal jemand, dem sie ihr Herz ausschütten mußte – einfach mußte!
»Gia!« seufzte sie. »Mich hat das Unglück des Signor Conte erschüttert. Denn Sie müssen wissen, daß meine leibliche Nichte, die Faustina Matti Cameriera bei der Contessa del' Poggio-Oliveto war, und diese stammt, wie ich auch, aus Viterbo, denn sie ist die einzige Tochter des Herrn Marchese Aquacalda, der seinen Palazzo zunächst dem Dom dort hat. Kennen die Herrschaften den Herrn Marchese –? Oder die Frau Marchesa, die eine Tochter des Herzogs von Rocca Saracinesca ist? Dio mio, wenn man bedenkt, daß die Contessa kaum ein Jahr verheiratet und erst neunzehn Jahre alt ist, so schön, so blutjung und doch eine – traviata!8 Ist es dann ein Wunder, wenn der Herr Graf aussieht wie der Tod?«
Windmüller murmelte mit teilnahmsvollem Achselzucken etwas Unverständliches, indem er seiner Frau in das Haus folgte, und es ist bedauerlich, sagen zu müssen, daß ihm das eben gehörte Ehedrama den Appetit an dem trefflichen Risotto mit Hühnerlebern nicht verdorben hatte, daß die das Gericht begleitende insalata mista sich seines ungeteilten Beifalls erfreute. Auch dem nachfolgenden Stracchino9 tat er alle Ehre an und ebenso den köstlichen Gartenerdbeeren, welche das Werk der Sora Luigia krönten.
»Du bist müde, Evis«, bemerkte er dabei mit besorgtem Blick.
»Nicht einmal besonders«, versicherte sie »Aber mir geht dieser Conte aus Viterbo, dem wir vorhin begegneten, nicht aus dem Sinn, weil er so schrecklich leidend aussah, ja, mir einen geradezu tragischen Eindruck machte.«
»Ja, lieber Gott, eine Erfahrung, wie er sie gemacht, kann, ohne Spuren zu hinterlassen, wohl kaum einem Menschen begegnen; namentlich, wenn der Mann seine Frau sehr geliebt hat«, sagte Windmüller. »Übrigens ist er nicht aus Viterbo, sondern aus Rom, wo er im tiefsten Herzen der Stadt einen alten Kasten von einem Palazzo besitzt und darin eine ganz exquisite Sammlung alten Porzellans aufgespeichert haben soll. Mir wurde er, soweit ich mich erinnere, als eine Art von Sonderling geschildert, ungesellig und menschenscheu, nebenbei aber wohlhabend genug, um sich in seinem Palast und als Besitzer des Landgutes Poggio-Oliveto im Sabinergebirge halten zu können, ohne den größten Teil des ersteren vermieten zu müssen, wie es doch selbst die notorisch reichen Granden von Rom tun. Die Erwähnung Viterbos hat mich jedoch darauf gebracht, daß ich dir, Liebste, diese Perle unter den italienischen Städten unbedingt zeigen muß, was bei ihrer Nähe nur einen netten Ausflug bedeutet. Der Ort an sich lohnte sich zwar eines längeren Aufenthalts, aber wenn es dir recht ist, machen wir zunächst nur eine Tagespartie daraus, um noch zu Wagen zwei schöne Punkte in der Nähe der Stadt zu besuchen, nämlich das sehenswerte Dominikanerkloster Santa Maria della Quercia mit seinem wunderbaren Schrein, das auf dem Wege zu der köstlichen Villa Lante liegt, die du kennenlernen mußt.«
»Ob es mir recht ist!« rief Evis begeistert. »Wann fahren wir?«
»Oh, frische Fische, gute Fische! Also nehmen wir gleich den morgigen Tag in Aussicht. Ich werde uns das Wägelchen des Wirtes vom Albergo10 in Caprarola bestellen, uns nach Ronciglione hinabzufahren. Von da ist's mit der Bahn nur noch ein Katzensprung bis Viterbo, wo wir am besten erst die Stadt besichtigen, und nachdem wir unsern inneren Menschen gestärkt haben, einen schönen Nachmittag in der Villa Lante verleben, die dich entzücken wird durch die Pracht ihrer Gartenanlagen.«
Obwohl das Barometer früh am Morgen etwas gefallen war, als Windmüller und seine Frau sich zum Aufbruch rüsteten, war bei ihrer Ankunft in Viterbo der Himmel so rein und klar wie tags zuvor. Der erste Teil des Programms, die Besichtigung der ›Stadt der schönen Brunnen und der schönen Frauen‹ verlief vollkommen planmäßig und befriedigend. Sie durchstreiften die Straßen und winkligen Gassen, von denen jede eine Studie ist mit ihren köstlichen, skulptierten Fensterkrönungen, ihren gotischen Fenstern und Türbogen, ihren eigenartigen Freitreppen, die auf wuchtigen Pilastern ruhen, ihren alten Palästen noch existierender und längst erloschenen Patrizierfamilien, traten in die alten, ehrwürdigen Kirchen, sahen mit Rührung die blutjung dahingeschiedene National-Heilige, Santa Rosa di Viterbo, in ihrem Glassarge nach siebenhundert Jahren noch unversehrt, nur mumifiziert liegen und beendeten ihren Streifzug mit der Besichtigung des berühmten päpstlichen Palastes. Nachdem sie sich in der offenen Loggia daselbst an der herrlichen Aussicht sattgesehen, war es Mittag geworden, und die breite Freitreppe hinabsteigend, schlugen sie die Richtung nach dem übrigens trefflichen Albergo ein, in welchem sie ihre Colazione einzunehmen gedachten. Dabei durch ein schmales Gäßchen gehend, an dessen Ende ein Briefkasten angebracht war, kam ihnen um die Ecke ein vornehm aussehender älterer Herr mit grauem Spitzbart entgegen, der einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes zog und ihn in den Kasten werfen wollte, als er, Windmüller erblickend, stutzte, und, die Hand wieder zurückziehend, den Hut lüftete und verwundert ausrief:
»Ja, sehe ich denn recht? Herr Doktor Windmüller?«
Dieser, wiedergrüßend, wollte eben fragen, mit wem er die Ehre habe, als jener auch schon einfiel:
»Sie erinnern sich meiner wohl kaum mehr, denn es ist schon lange her, daß ich Sie bei meinem Sachwalter Dr. Nemi in Rom kennenlernte. Damals – es war kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges, war ich noch nicht ergraut; Sie aber sind noch ganz unverändert. Ich bin der Marchese Aquacalda.«
»Es hätte kaum noch Ihrer Namensnennung bedurft, denn schon erinnerte ich mich der Begegnung mit Ihnen bei meinem Freunde Nemi, dem ›weißen Löwen‹, erwiderte Windmüller verbindlich. »Gestatten Herr Marchese, Sie meiner Frau vorzustellen.«
Der Marchese machte Evis mit der ganzen tadellosen Grandezza seiner Rasse eine tiefe Verbeugung und nahm dann lebhaft das Wort:
»Dieser Brief, den ich eben im Begriff war in den Kasten zu werfen, trägt Ihre Anschrift, Herr Doktor, und sein Inhalt besteht aus der Anfrage, ob und wann Sie mir eine Unterredung behufs Übernahme einer Angelegenheit gewähren würden, deren Erledigung durch Sie mir dringend am Herzen liegt.«
»Herr Marchese«, erwiderte Windmüller nach kurzem Zögern, »ich befinde mich zur Zeit mit meiner Frau in Villegiatura in Caprarola und kam heut nur nach Viterbo, um ihr die Stadt zu zeigen, und nachmittags nach der Villa Lante hinauszufahren. Wir sind eben auf dem Wege zu unsrer Colazione – – – wenn Ihre Angelegenheit Zeit hätte, bis wir wieder nach Rom zurückkehren – –«
»Herr Doktor, ich fürchte, das hat sie nicht – mehr noch, ich fürchte sogar, daß schon zuviel Zeit darüber verloren ist«, fiel der Marchese sichtlich bestürzt ein. »Es wäre mir ja natürlich sehr peinlich, Ihre Villegiatura zu stören, aber ich bekenne, daß ich mich in einem Zustand schwerer Sorge und Bekümmernis befinde, aus dem befreit zu werden, ich meine Hoffnung nach dem Rate Nemi's auf Ihre Hilfe gebaut hatte.«
»So geben Sie mir diesen für mich bestimmten Brief, aus dem ich ja ersehen werde, um was es sich handelt«, schlug Windmüller vor.
»Nein, der Brief enthält nur die Frage, ob und wann ich Sie sprechen kann«, versetzte der Marchese und sah dabei so niedergeschlagen aus, daß Evis sich berechtigt fühlte, zu intervenieren.
»Darf ich mir einen Vorschlag erlauben?« fragte sie teilnehmend. »Wie wäre es, wenn mein Mann Sie, Herr Marchese, nach Ihrem Hause begleitete, um zu hören, was Sie ihm zu sagen haben, während ich gern noch ein wenig umherstreife. Wir könnten uns dann an einem zu bestimmenden Punkt treffen.«
»Signora, diesen sehr gütigen Vorschlag anzunehmen, würde ich mir niemals erlauben,« versicherte der Marchese mit vollem Ernst, »aber ich weiß einen besseren: Sie und Ihr Herr Gemahl begleiten mich in mein nur wenige Schritte von hier entferntes Haus, wo meine Frau glücklich sein würde, Sie zu begrüßen, und wenn Sie beide uns die Ehre erweisen wollen, an unserer Colazione in etwa einer Stunde teilzunehmen, so könnte ich vorher dem Herrn Doktor meine Angelegenheit vortragen.«